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Am Sonntag kurz nach Einbruch der Dunkelheit begann Sallys Pferd, ein Wallach, zu lahmen und Berrigans rechter Stiefel verlor die Sohle, also banden sie den Wallach an einen Baum, Berrigan stieg auf das dritte Pferd und Sandman führte die Pferde der beiden Mädchen. »Wenn wir nicht alle vier Pferde in den Seraphim Club zurückbringen, können sie uns des Pferdediebstahls beschuldigen«, sagte Sandman, der sich Gedanken über das zurückgelassene Tier machte.
»Dafür könnten sie uns henken«, erwiderte Berrigan grinsend, »aber darüber würde ich mir keine Sorgen machen, Captain. Nach allem, was ich über den Seraphim Club weiß, werden sie uns sicher nicht anzeigen.«
Die übrigen drei Pferde waren so erschöpft, dass Sandman vermutete, sie wären schneller vorangekommen, wenn sie die Tiere zurückgelassen hätten, aber da Meg sich bereit gefunden hatte, zumindest einen Teil der Wahrheit zu sagen, wollte er sie nicht durch den Vorschlag ärgern, zu Fuß zu gehen. Außerdem jammerte sie schon wieder, die Füchse würden ihre Hühner fressen, hörte aber auf zu klagen, als Sally zu singen begann. Als Erstes stimmte sie ein Lieblingslied aller Soldaten an, Der Tambourmajor, eine Ballade über ein Mädchen, das seinen Rotrock so sehr liebt, dass es ihm, als Tambourmajor verkleidet, in sein Regiment folgt und erst enttarnt wird, als es in einem Fluss badet und beinah von einem anderen Soldaten vergewaltigt wird. Nachdem sie ihm entkommt, finden die Offiziere heraus, wer sie in Wirklichkeit ist, und bestehen darauf, dass sie ihren Geliebten heiratet. »Ich mag Geschichten, die gut ausgehen«, sagte Berrigan lachend, als Sally ihr zweites Lied anstimmte, ebenfalls ein Lieblingslied der Soldaten, allerdings über ein Mädchen, das nicht entkommt. Sandman war zwar ein bisschen entsetzt, aber keineswegs verwundert, dass Sally den gesamten Text kannte. Berrigan sang mit, und sogar Meg lachte an der Stelle des Liedes, an der ein Oberst an die Reihe kommt und versagt. Sally sang immer noch, als eine Straßenpatrouille hinter einem hohlen Baumstamm am Straßenrand vorpreschte.
Die berittene Patrouille hatte den nicht ganz unbegründeten Verdacht, dass die vier zerlumpten Reisenden die drei Kutschpferde gestohlen hatten, und trat ihnen mit vorgehaltener Pistole entgegen. Der Pistolenlauf und die Messingknöpfe seines blauen Uniformrocks und der roten Weste glänzten im Mondschein. »Halt! Im Namen des Königs«, sagte er, um nicht mit einem Straßenräuber verwechselt zu werden. »Wer seid ihr? Wohin geht ihr?«
»Name?«, herrschte Sandman den Mann an. »Name, Dienstgrad? In welchem Regiment haben Sie gedient?« Die Rotwämse hatten alle in der Kavallerie gedient. Da man annahm, dass junge Männer leichter in Versuchung geraten könnten, stellte man nur gesetzte, ältere und gut beleumundete Kavalleristen ein, um die königlichen Landstraßen von Straßenräubern frei zu halten.
»Ich stelle hier die Fragen«, erwiderte der Rotwams, allerdings zögernd, weil in Sandmans Ton eine unverkennbare Autorität lag. Sandman mochte staubige, zerknitterte Kleider tragen, aber dass er ein ehemaliger Offizier war, merkte man ihm an.
»Stecken Sie die Waffe weg, Mann, sofort!«, befahl Sandman bewusst in einem Ton, als sei er immer noch in der Armee. »Ich bin in offizieller Mission unterwegs, im Auftrag des Innenministers, Viscount Sidmouth. Dieses Schreiben trägt sein Siegel und seine Unterschrift, und wenn Sie nicht lesen können, sollten Sie uns besser sofort zu Ihrem Magistrat bringen.«
Der Rotwams senkte vorsichtig den Pistolenlauf und schob die Waffe in die Satteltasche. »Haben Sie Ihre Kutsche verloren, Sir?«
»Dreißig Meilen von hier ist uns ein Rad gebrochen«, sagte Sandman. »So, lesen Sie jetzt den Brief oder bringen Sie uns lieber zum Magistrat?«
»Ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist, Sir.« Der Rotwams wollte nicht zugeben, dass er nicht lesen konnte, und auf keinen Fall wollte er seinen Vorgesetzten stören, der inzwischen sicher bei einem üppigen Abendessen saß, daher gab er einfach den Weg frei und ließ Sandman und seine drei Gefährten passieren. Sandman nahm an, dass er darauf hätte bestehen können, zum Magistrat gebracht zu werden und sich eine andere Kutsche oder zumindest vier frische, gesattelte Pferde geben zu lassen, aber das hätte Zeit gekostet, viel Zeit, und es hätte vermutlich Megs heikle Gemütsruhe gestört. So gingen sie also weiter, erreichten weit nach Mitternacht die London Bridge und von dort das Wheatsheaf, wo Sally Meg mit in ihr Zimmer nahm und Sandman Berrigan seine Kammer überließ, während er sich im Hinterzimmer nicht auf einen der großen Sessel, sondern auf den Holzboden legte, damit er in der Nacht mehrfach wach würde. Als die Glocken von St. Giles um sechs Uhr morgens läuteten, schleppte er sich die Treppe hinauf, weckte Berrigan und wies ihn an, die Mädchen aus dem Bett zu holen. Er rasierte sich, suchte sein sauberstes Hemd heraus und bürstete den Schmutz von seinen zerfallenden Stiefeln, bevor er sich um halb sieben mit Berrigan, Sally und einer äußerst widerstrebenden Meg auf den Weg in die Great George Street machte, wo er seine Untersuchung abzuschließen hoffte.
Lord Alexander Pleydell und sein Freund, Lord Christopher Carne, mussten würgen, als sie den Presshof betraten, so grauenhaft war der Gestank, schlimmer als die üblen Dünste der Abwässer, die aus dem Fleet Ditch in die Themse rannen. Der Wärter, der sie begleitete, kicherte: »Ich merke den Geruch gar nicht mehr, Mylords, aber ich schätze, auf seine Art ist er verteufelt schlimm, verteufelt schlimm. Passen Sie auf die Stufen auf, Mylords, Vorsicht.«
Behutsam ließ Lord Alexander das Taschentuch sinken. »Woher kommt der Name Presshof?«
»Früher hat man hier die Gefangenen ausgepresst, Mylord. Zerquetscht, Mylord. Mit Steinen beschwert, Mylord, um sie dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Das machen wir heute nicht mehr, Mylord, leider, darum lügen sie auch wie die indischen Teppichhändler.«
»Sie wurden zu Tode gequetscht?«, fragte Lord Alexander entsetzt.
»Nein, nein, Mylord, nicht bis sie tot waren. Nicht bis sie tot waren, wenn nicht gerade was schief gegangen ist und sie zu viele Steine draufgepackt haben!« Er kicherte amüsiert über diese Vorstellung. »Nein, Mylord, sie wurden nur ausgepresst, bis sie die Wahrheit gesagt haben. Das kann einen Mann oder eine Frau schon überreden, die Wahrheit zu sagen, Mylord, wenn sie eine halbe Tonne Steine auf der Brust haben!« Der Wärter kicherte wieder. Er war ein dicker Mann in Lederhose, fleckigem Rock und einem kräftigen Knüppel in der Hand. »Da kriegt man schwer Luft«, sagte er immer noch amüsiert, »sehr schwer Luft.«
Lord Christopher schauderte über den grauenhaften Gestank. »Gibt es hier keine Kanalisation?«, fragte er gereizt.
»Das Gefängnis ist ganz modern, Mylord«, beeilte der Wärter sich zu versichern, »ganz modern, wirklich, mit richtiger Kanalisation und richtigen Klostühlen. Die Wahrheit ist, wir verwöhnen sie, Mylord, wirklich, wir verwöhnen sie, aber sie sind dreckige Viecher. Sie beschmutzen ihr eigenes Nest, das wir ihnen sauber und ordentlich geben.« Er legte den Knüppel aus der Hand und verschloss und verriegelte das Tor, durch das sie auf den langen, schmalen Hof gelangt waren. Selbst an diesem trockenen Tag wirkten die Pflastersteine feucht, als seien Elend und Ängste über Jahrhunderte hinweg in den Granit gesickert und ließen sich nicht mehr herauswringen.
»Wozu wird der Hof genutzt, wenn Sie die Gefangenen nicht mehr auspressen?«, erkundigte sich Lord Alexander.
»Die zum Tode Verurteilten können sich über Tag frei im Presshof bewegen, Sir«, erklärte der Wärter. »Das ist ein Beispiel, Mylords, wie gut wir sie behandeln. Wir verwöhnen sie, wahrhaftig. Es gab mal eine Zeit, da war ein Gefängnis noch ein Gefängnis, keine Schänke.«
»Sie verkaufen hier alkoholische Getränke?«, fragte Lord Alexander scharf.
»Nicht mehr, Mylord. Mister Brown, der Gefängnisverwalter, hat den Grogausschank geschlossen, weil der Abschaum besoffen und liederlich wurde, Mylord, aber viel hat sich nicht geändert, weil sie sich das Zeug jetzt aus dem Lamb oder dem Magpie and Stump bringen lassen.« Er lauschte auf eine Kirchenglocke, die die Viertelstunde schlug. »Meine Güte! Auf der Grabeskirche schlägt es schon Viertel vor sieben! Wenn Sie nach links gehen, Mylords, treffen Sie Mister Brown und die anderen Herren im Aufenthaltsraum.«
»Aufenthaltsraum?«, fragte Lord Alexander.
»Wo die Verurteilten sich über Tag aufhalten, Mylord«, erklärte der Wärter, »außer an Feiertagen und hohen Festtagen wie heute, und hinter den Fenstern da links sind die Salzkisten, Mylords.«
Obwohl Lord Alexander gegen die Hinrichtung von Verbrechern war, empfand er eine merkwürdige Faszination für alles, was er sah, und musterte die fünfzehn vergitterten Fenster. »Dieser Name, Salzkisten, wissen Sie, woher er kommt?«, fragte er.
»Nein, Mylord«, antwortete der Wärter lachend, »aber ich glaube, sie heißen so, weil sie übereinander gestapelt sind wie die Kisten.«
»Was sind die S-salzkisten?«, fragte Lord Christopher, der heute morgen äußerst begriffsstutzig war.
»Wirklich, Kit«, fuhr Lord Alexander ihn unvermittelt scharf an, »jeder weiß doch, dass so die Zellen heißen, in denen die zum Tode Verurteilten ihre letzten Tage verbringen.«
»Das Wartezimmer des Teufels, Mylord«, sagte der Wärter, öffnete die Tür zum Aufenthaltsraum und streckte demonstrativ die offene Hand aus.
Lord Alexander, der sich seiner liberalen Gesinnung brüstete, wollte sich schon überwinden, dem Wärter die Hand zu schütteln, als ihm auffiel, was diese Geste zu bedeuten hatte. »Ach«, sagte er bestürzt, angelte aber rasch in seiner Tasche nach Kleingeld und zog die erstbeste Münze heraus, die er fand. »Danke, guter Mann.«
»Vielen Dank, Eure Lordschaft, vielen Dank«, sagte der Wärter, und als er verwundert sah, dass er einen ganzen Sovereign Trinkgeld bekommen hatte, zog er hastig den Hut und tippte sich ehrerbietig mit dem Knöchel an die Stirn. »Gott segne Sie, Mylord, Gott segne Sie.«
William Brown, der Gefängnisverwalter, eilte den beiden neuen Gästen entgegen, um sie zu begrüßen. Er war keinem der beiden je begegnet, erkannte Lord Alexander aber an seinem Klumpfuß, nahm den Hut ab und verbeugte sich respektvoll. »Herzlich willkommen, Eure Lordschaft.«
»Brown, nicht wahr?«, fragte Lord Alexander.
»William Brown, Mylord, ja. Verwalter des Gefängnisses Newgate, Mylord.«
»Darf ich Sie mit Lord Christopher Carne bekannt machen«, stellte Lord Alexander seinen Freund mit einer vagen Handbewegung vor. »Der Mörder seiner Stiefmutter wird heute gehenkt.«
Der Verwalter verbeugte sich vor Lord Christopher. »Ich denke, für Eure Lordschaft wird diese Erfahrung sowohl eine Rache wie auch ein Trost sein. Erlauben Sie mir nun, Ihnen den Ordinarius von Newgate vorzustellen?« Er führte die beiden zu einem untersetzten Mann in altmodischer Perücke, Soutane, Chorhemd und Beffchen, der mit plumpem, lächelndem Gesicht wartete. »Reverend Doktor Horace Cotton«, stellte der Verwalter ihn vor.
»Herzlich willkommen, Eure Lordschaft.« Cotton verbeugte sich vor Lord Alexander. »Eure Lordschaft sind, wie ich glaube, ebenso wie ich im heiligen Priesterstand?«
»Das bin ich«, bestätigte Lord Alexander, »und dies ist mein besonderer Freund, Lord Christopher Carne, der ebenfalls hofft, eines Tages die Weihen zu empfangen.«
»Ach!« Cotton faltete die Hände und wandte den Blick zur Decke. »Ich halte es für einen Segen, wenn unser Adel, die wahren Führer unserer Gesellschaft, sich als Christen zeigen. Das ist ein leuchtendes Beispiel für das gemeine Volk, finden Sie nicht auch? Wie ich höre, erleben Sie heute Morgen mit, wie Gerechtigkeit für das schwere Verbrechen gegen Ihre Familie geübt wird, Mylord?«
»Das hoffe ich«, sagte Lord Christopher.
»Ach wirklich, Kit!«, sagte Lord Alexander. »Die Rache, die deine Familie sucht, wird in der Ewigkeit durch das Höllenfeuer geübt …«
»Gelobt sei der Herr!«, warf der Ordinarius ein.
»Und es ist weder angemessen noch zivilisiert von uns, Menschen vorschnell ihrem gebührenden Schicksal zuzuführen«, beendete Lord Alexander seine Ausführung.
Der Verwalter schaute ihn verwundert an. »Sie wollen die Todesstrafe doch sicher nicht abschaffen, Mylord?«
»Wenn man einen Mann henkt, verweigert man ihm die Chance auf Bußfertigkeit«, erklärte Lord Alexander. »Man verweigert ihm die Chance, Tag und Nacht von seinem Gewissen geplagt zu werden. Es sollte genügen, sämtliche Verbrecher einfach nach Australien zu deportieren, finde ich. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass das Leben dort die reinste Hölle ist.«
»Sie werden in der echten Hölle an ihrem Gewissen leiden«, warf Cotton ein.
»Das werden sie, Sir, das werden sie, aber mir wäre es lieber, wenn ein Mensch noch in dieser Welt Reue zeigte«, sagte Lord Alexander, »denn in der nächsten hat er sicher keine Chance auf Erlösung mehr. Indem wir Menschen hinrichten, nehmen wir ihnen ihre Chance auf göttliche Gnade.«
»Das ist ein völlig neues Argument«, räumte Cotton, wenn auch skeptisch, ein.
Lord Christopher hatte diesem Gespräch mit gequälter Miene zugehört und platzte nun heraus: »Sind Sie mit Henry Cotton verwandt?«
Sofort brach das Gespräch ab, abgewürgt durch Lord Christophers unvermittelten Themenwechsel. »Mit wem, Mylord?«, fragte der Ordinarius.
»Henry Cotton«, wiederholte Lord Christopher. Er schien unter dem Eindruck einer starken Gemütsbewegung zu stehen, als fände er es nahezu unerträglich, im Gefängnis Newgate zu sein. Er war blass, hatte Schweiß auf der Stirn und zitterte. »Er lehrte Griechisch an der Christuskirche und ist jetzt zweiter Bibliothekar der Bodleyanischen Bibliothek«, erklärte er.
Der Ordinarius trat einen Schritt von Lord Christopher fort, der aussah, als werde er sich gleich übergeben. »Mylord, ich denke, ich bin eher mit dem Viscount Combermere verwandt, wenn auch nur entfernt«, antwortete der Ordinarius.
»Henry Cotton ist ein guter Mann«, sagte Lord Christopher, »ein sehr guter Mann. Ein echter Gelehrter.«
»Er ist ein Pedant«, schimpfte Lord Alexander. »Sie sind mit Combermere verwandt, sagen Sie, ehemals Sir Stapleton Cotton? Bei der Schlacht von Salamanca verlor er beinahe seinen rechten Arm, und das wäre ein tragischer Verlust gewesen.«
»Ja, wahrhaftig«, sagte der Ordinarius inbrünstig.
»Sonst hast du in der Regel kein Mitgefühl mit Soldaten«, wandte Lord Christopher ein.
»Combermere kann ein raffinierter Schlagmann sein«, erklärte Lord Alexander, »zumal gegen Bälle mit Drall. Spielen Sie Kricket, Cotton?«
»Nein, Mylord.«
»Es ist gut gegen Blähungen«, erklärte Lord Alexander rätselhaft und wandte sich ab, um den Aufenthaltsraum einer hochherrschaftlichen Prüfung zu unterziehen. Er musterte die Deckenbalken, rüttelte an einem der Tische und schaute in die Töpfe und Kessel, die sich neben der Glut im offenen Kamin stapelten. »Wie ich sehe, leben unsere Verbrecher nicht ohne einen gewissen Komfort«, stellte er fest und musterte seinen Freund stirnrunzelnd. »Fühlst du dich wohl, Kit?«
»Ja, ja, bestimmt«, sagte Lord Christopher hastig, sah aber alles andere als gesund aus. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn und war noch bleicher als sonst. Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem Taschentuch. »Es ist nur, dass die Erwartung, einen Mann in die Ewigkeit befördert zu sehen, nachdenklich stimmt«, erklärte er, »sehr nachdenklich. Eine solche Erfahrung ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.«
»Allerdings nicht«, bestätigte Lord Alexander und musterte gebieterisch die übrigen Frühstücksgäste, die sich mit unheiligem Vergnügen auf das bevorstehende Ereignis dieses Morgens zu freuen schienen. Drei von ihnen standen dicht bei der Tür und lachten über einen Scherz, worauf Lord Alexander sie missbilligend anschaute. »Armer Corday«, sagte er.
»Wieso bedauern Sie den Mann, Mylord?«, fragte Reverend Cotton.
»Wahrscheinlich ist er unschuldig«, erklärte Lord Alexander, »aber wie es scheint, wurde der Beweis für seine Unschuld nicht gefunden.«
»Wenn er unschuldig wäre, Mylord, bin ich überzeugt, dass unser Herrgott es uns hätte wissen lassen«, stellte der Ordinarius mit väterlichem Lächeln fest.
»Wollen Sie behaupten, man hätte noch nie einen Unschuldigen gehenkt?«, fragte Lord Alexander.
»Das würde Gott nicht zulassen«, erwiderte Reverend Cotton.
»Dann sollte Gott besser zusehen, dass er heute Morgen in die Stiefel kommt«, sagte Lord Alexander und drehte sich um, als die verriegelte Tür am anderen Ende des Raumes sich plötzlich mit lautem Quietschen öffnete. Einen Herzschlag lang erschien niemand in der Tür, und alle Gäste hielten offenbar den Atem an, bis unter hörbarem Aufseufzen ein kleiner, stämmiger Mann mit einer dicken Ledertasche hereinstapfte. Er hatte ein rotes Gesicht, trug braune Gamaschen, eine schwarze Kniebundhose und einen schwarzen Rock, der sich über seinem vorgewölbten Bauch spannte. Respektvoll zog er seinen schäbigen braunen Hut, als er die wartenden Adeligen bemerkte, entbot ihnen aber keinen Gruß und wurde auch von keinem der Anwesenden gegrüßt.
»Dieser Mann ist Botting«, flüsterte der Ordinarius.
»Ein merkwürdiger Name für einen Henker«, sagte Lord Alexander taktlos laut. »Ketch, das wäre ein ordentlicher Name für einen Henker. Aber Botting, das klingt nach einer Viehseuche.«
Botting warf einen vernichtenden Blick zu dem großen rothaarigen Lord Alexander herüber, der von dieser Feindseligkeit nicht ganz ungerührt blieb, aber es war Lord Christopher, der einen Schritt zurückwich, vielleicht aus Angst vor dem bulligen Gesicht des Henkers, das von Warzen, Narben und Grützbeuteln entstellt und ständig unwillkürlichen Zuckungen ausgesetzt war. Botting bedachte die übrigen Gäste mit einem sardonischen Blick und schob eine Bank beiseite, um seine Ledertasche auf einen Tisch zu stellen. Wohl wissend, dass er beobachtet wurde, öffnete er die Schnallen seiner Tasche und holte vier Docken dünner, weißer Kordel heraus. Er legte sie auf den Tisch und zog zwei schwere Seile aus der Tasche, die an einem Ende eine Schlinge und am anderen eine Öse aufwiesen. Beide Seile legte er auf den Tisch, daneben zwei weiße Baumwollsäcke und trat geschickt einen Schritt zurück. »Guten Morgen, Sir«, begrüßte er den Gefängnisverwalter.
»Ach, Botting!« Die Überraschung im Ton des Verwalters sollte zeigen, dass er den Henker gerade erst bemerkt habe. »Einen schönen guten Morgen wünsche ich Ihnen ebenfalls.«
»Das ist es wahrhaftig, Sir«, sagte Botting. »Kaum ein Wölkchen am Himmel, kaum eins. Heute nur die beiden Kunden, Sir?«
»Nur die beiden, Botting.«
»Es sind ziemlich viele Leute da, nicht allzu viele, aber doch genug«, sagte Botting.
»Schön, schön«, sagte der Verwalter vage.
»Botting!«, schaltete Lord Alexander sich ein und ging auf ihn zu, wobei sein Klumpfuß schwer über die unebenen Bodendielen stampfte. »Sagen Sie, Botting, ist es wahr, dass Sie Adelige an einem seidenen Strang aufhängen?« Botting wirkte verblüfft, dass einer der Gäste des Gefängnisverwalters ihn ansprach, zumal eine so ungewöhnliche Erscheinung wie Reverend Lord Alexander Pleydell mit seinem roten Haarschopf, der Hakennase und der schlaksigen Gestalt. »Also?«, fragte Lord Alexander herrisch. »Stimmt das? Ich habe es gehört, aber in Fragen, die eine Hinrichtung durch den Strang betreffen, sind Sie ja sicher die fons et origo für zuverlässige Angaben. Finden Sie nicht auch?«
»Ein Seidenstrang, Sir?«, fragte Botting verständnislos.
»Mylord«, korrigierte der Ordinarius ihn.
»Mylord! Ha!«, sagte Botting, der seinen Gleichmut wieder fand und sich amüsiert vorstellte, dass Lord Alexander vielleicht an seine eigene Hinrichtung dachte. »Ich enttäusche Sie nur ungern, Mylord«, sagte er, »aber ich wüsste nicht, woher ich einen Seidenstrang bekommen sollte.« Botting strich über die Schlingen auf dem Tisch. »Das hier, das ist bester Bridport-Hanf, Mylord, der Beste, der zu haben ist, und guten Bridport-Hanf bekomme ich immer. Aber Seide? Das ist eine andere Sache, Mylord, ich wüsste nicht mal, wo ich danach suchen sollte. Nein, Mylord. Falls ich je das hohe Privileg hätte, einen Adeligen zu henken, würde ich es mit Bridport-Hanf machen, wie bei jedem anderen.«
»Völlig richtig, guter Mann«, strahlte Lord Alexander über die Gleichheitsbestrebungen des Henkers. »Gut! Vielen Dank.«
»Sie verzeihen, Mylord?« Der Verwalter bedeutete Lord Alexander, er möge den breiten Mittelgang zwischen den Tischen frei machen.
»Bin ich im Weg?« Lord Alexander klang überrascht.
»Nur im Augenblick, Mylord«, sagte der Verwalter, und gleich darauf hörte Lord Alexander das Klirren von Eisen und schlurfende Schritte. Die anderen Gäste erhoben sich mit feierlichen Mienen. Lord Christopher Carne wich einen Schritt zurück, noch bleicher als zuvor, und wandte das Gesicht zu der Tür, die auf den Presshof führte.
Als Erstes kam ein Wärter. Er grüßte den Verwalter, indem er sich mit dem Fingerknöchel an die Stirn tippte, und stellte sich neben einen niedrigen Holzblock, der auf dem Boden stand. Er hielt einen kräftigen Hammer und einen Meißel in der Hand, und Lord Alexander überlegte, welchem Zweck sie wohl dienen mochten, wagte aber nicht zu fragen. Die Gäste, die der Tür am nächsten standen, nahmen ihre Hüte ab, weil der Sheriff und sein Vertreter zwei Gefangene in den Aufenthaltsraum führten.
»Branntwein, Sir?« Ein Diener des Gefängnisverwalters trat zu Lord Christopher Carne.
»Danke.« Lord Christopher konnte den Blick nicht von dem schlanken, bleichen jungen Mann wenden, der als Erster mit schweren Fußeisen durch die Tür gekommen war. »Das«, sagte er zu dem Diener, »das ist Corday?«
»Ja, Mylord.«
Lord Christopher stürzte den Branntwein hinunter und griff nach einem zweiten.
Und die beiden Glocken, die Sturmglocke des Gefängnisses und die Glocke der Grabeskirche, begannen für die beiden Todgeweihten zu läuten.
Sandman hatte erwartet, dass ein Diener ihm die Tür des Hauses in der Great George Street öffnen würde, aber es war Sebastian Witherspoon, der Privatsekretär des Viscount Sidmouth, der verwundert die Augenbrauen hob. »Eine unpassende Zeit, Captain«, bemerkte Witherspoon und musterte erstaunt Sandmans arg mitgenommenes Äußeres und die ungepflegte Erscheinung seiner drei Begleiter. »Ich hoffe doch, Sie erwarten kein Frühstück für alle?«, sagte er voller Verachtung.
»Diese Frau kann bezeugen, dass Charles Corday nicht der Mörder der Countess of Avebury ist«, erklärte Sandman, ohne sich mit Höflichkeiten wie einer Begrüßung aufzuhalten.
Witherspoon tupfte sich die von Eigelb verschmierten Lippen mit einer Serviette ab. Er warf einen Blick auf Meg und zuckte die Achseln, als wolle er zu verstehen geben, dass ihre Zeugenaussage wertlos sei. »Das kommt äußerst ungelegen«, murmelte er.
»Ist Viscount Sidmouth da?«, fragte Sandman bestimmt.
»Wir sind bei der Arbeit, Sandman«, sagte Witherspoon streng. »Seine Lordschaft ist, wie Sie zweifellos wissen, Witwer, und seit seinem traurigen Verlust sucht er Trost in harter Arbeit. Er fängt früh an, arbeitet bis spät abends und duldet keine Störung.«
»Hier geht es um Arbeit«, sagte Sandman.
Witherspoon schaute noch einmal Meg an und schien erst jetzt ihr Aussehen zu bemerken. »Muss ich Sie daran erinnern, dass der Junge für schuldig befunden wurde und das Recht in einer Stunde seinen Lauf nehmen wird? Ich sehe wahrhaftig nicht, was sich zu diesem späten Zeitpunkt noch unternehmen ließe.«
Sandman trat von der Tür weg. »Grüßen Sie Lord Sidmouth von mir und richten Sie ihm aus, dass wir um eine Audienz bei der Königin ersuchen werden.« Er hatte keine Ahnung, ob die Königin ihn empfangen würde, aber er war sich völlig sicher, dass Witherspoon und der Innenminister sich bei der Königsfamilie nicht unbeliebt machen wollten, da sie Ehren und Pensionen zu vergeben hatte. »Ich glaube, Ihre Majestät hatte sich dieses Falles angenommen und wird sicher mit Interesse von Ihrer ritterlichen Haltung hören. Guten Tag, Witherspoon.«
»Captain!« Witherspoon machte die Tür weit auf. »Captain! Kommen Sie doch herein.«
Er führte sie in einen leeren Salon. Das Haus lag zwar in einer vornehmen Gegend nahe dem Parlamentsgebäude, strahlte aber etwas Provisorisches aus. Es war nicht ständig bewohnt, sondern wurde offensichtlich kurzfristig an Politiker wie Lord Sidmouth vermietet, die vorübergehend eine Bleibe suchten. Die einzigen Möbel im Salon waren zwei Polstersessel mit verblichenen Bezügen und ein schwerer Schreibtisch mit einem thronartigen Stuhl. Auf dem Schreibtisch lag ein Gebetbuch in Schmuckeinband neben einem unordentlichen Stapel Zeitungen, in denen Artikel mit Tinte eingekreist waren. Als sie allein in dem tristen Salon warteten, sah Sandman, dass es sich um Artikel über Aufstände handelte. In ganz Großbritannien gingen Menschen auf die Straße, um gegen den Kornpreis und die Einführung von Maschinen in den Fabriken zu protestieren. »Manchmal denke ich, die moderne Welt ist ein sehr trauriger Ort«, sagte er.
»Sie hat auch ihre Tröstungen, Captain«, antwortete Berrigan leichthin mit einem Seitenblick auf Sally.
»Aufstände, brennende Heuschober«, sagte Sandman. »Das gab es früher nicht! Die verdammten Franzosen haben die Anarchie in die Welt gebracht.«
Berrigan grinste. »Früher war alles besser, was? Nichts als Kricket und Cremetorte?«
»Wenn wir nicht gerade gegen die Franzen gekämpft haben? Ja, so schien es zumindest.«
»Nein, Captain.« Der Sergeant schüttelte den Kopf, »Sie hatten damals Geld. Wenn man Geld hat, ist alles einfacher.«
»Amen«, sagte Sally inbrünstig und wandte sich zur Tür, durch die Witherspoon gerade den Innenminister hereinführte.
Viscount Sidmouth trug einen gemusterten, seidenen Morgenmantel über Hemd und Hose. Er war frisch rasiert, und seine weiße Haut glänzte wie poliert. Seine Augen waren wie immer kalt und missbilligend. »Wie es scheint, haben Sie beschlossen, uns Ungelegenheiten zu machen, Captain«, sagte er scharf.
»Ich habe nichts dergleichen beschlossen, Mylord«, entgegnete Sandman streitlustig.
Sidmouth runzelte die Stirn über diesen Ton und musterte Berrigan und die beiden Frauen. Es war zu hören, wie hinten im Haus Geschirr abgeräumt wurde, was Sandman zu Bewusstsein brachte, wie hungrig er war. »Also«, sagte der Innenminister angewidert, »wen bringen Sie mir da?«
»Meine Helfer, Sergeant Berrigan und Miss Hood …«
»Helfer?« Sidmouth war amüsiert.
»Ich muss ihre Unterstützung anerkennen, Mylord, wie Ihre Majestät es gewiss ebenfalls tun wird, wenn sie vom Ausgang unserer Ermittlungen erfährt.«
Dieser nicht sonderlich subtile Hinweis ließ den Innenminister das Gesicht verziehen. Er schaute Meg an und prallte beinahe zurück vor ihren stechenden kleinen Augen und dem Anblick ihrer pockennarbigen Haut. »Und Sie, Madam?«, fragte er frostig.
»Miss Margaret Hargood«, stellte Sandman vor. »Sie war Zofe der Countess of Avebury und am Tag des Mordes im Schlafzimmer der Countess anwesend. Sie begleitete Corday persönlich vor dem Mord aus dem Schlafzimmer, brachte ihn aus dem Haus und kann bezeugen, dass er nicht zurückkam. Kurz, Mylord, sie kann bezeugen, dass Corday unschuldig ist.« Sandman sprach mit einer gehörigen Portion Stolz und Genugtuung. Er war müde und hungrig, sein Knöchel schmerzte, seinen Stiefeln und Kleidern war der Fußmarsch von Kent nach London anzusehen, aber bei Gott: Er hatte die Wahrheit herausgefunden.
Sidmouths ohnehin schmale Lippen verengten sich zu einer blutleeren Linie, als er Meg anschaute. »Ist das wahr, Frau?«
Meg richtete sich auf. Sie war nicht im Geringsten von Seiner Lordschaft eingeschüchtert, sondern musterte ihn von oben bis unten, schniefte und sagte: »Ich weiß gar nichts.«
»Wie bitte?« Der Innenminister erbleichte über ihren unverschämten Ton.
»Er ist gekommen und hat mich entführt!«, kreischte Meg und zeigte mit dem Finger auf Sandman. »Dazu hatte er verdammt noch mal kein Recht! Holt mich einfach von meinen Hühnern weg. Soll er doch abhauen und hingehen, wo er hergekommen ist, ist mir doch egal, wer sie umgebracht hat. Oder wer dafür stirbt.«
»Meg.« Sandman versuchte es mit Bitten.
»Nimm die verdammten Finger weg von mir!«
»Meine Güte«, sagte Viscount Sidmouth gequält und ging zur Tür. »Witherspoon, wir verschwenden unsere Zeit.«
»In Australien gibt es ganz große Wespen«, sagte Sally, »Entschuldigen Sie, Eure Lordschaft.«
Selbst Viscount Sidmouth in seiner dürren, engstirnigen Anwaltsmentalität war gegen Sallys Charme nicht unempfindlich. In diesem düsteren Zimmer wirkte sie wie ein Sonnenstrahl, und er lächelte sie sogar an, auch wenn er nicht recht verstand, was sie meinte. »Wie bitte?«, fragte er sie.
»Ganz große Wespen gibt’s in Australien«, wiederholte Sally, »und da wandert dieses Weib hin, weil sie vor Gericht nicht für Charlie ausgesagt hat. Das hätte sie nämlich tun müssen, hat sie aber nicht. Sie will ihren Kerl schützen, verstehen Sie? Und Sie schaffen sie doch bestimmt nach Australien, oder, Mylord?« Sally unterstrich diese rhetorische Frage mit einem anmutigen Knicks.
Der Innenminister runzelte die Stirn. »Australien? Das zu entscheiden, ist Sache der Gerichte, mein Kind …« Er brach ab und starrte verblüfft Meg an, die vor Angst zitterte.
»Sehr große Wespen in Australien«, bestätigte Sandman, »berüchtigt.«
»Aculeata Gigantus«, ergänzte Witherspoon eindrucksvoll.
»Nein!«, schrie Meg.
»Riesenwespen«, sagte Sally genüsslich, »mit Stacheln wie Haarnadeln.«
»Er war es nicht!«, rief Meg. »Ich will nicht nach Australien!«
Sidmouth starrte sie an, wie das Publikum die Frau mit Schweinekopf im Lyzeum bestaunt haben musste. »Wollen Sie sagen, dass Charles Corday den Mord nicht begangen hat?«, fragte er eisig.
»Der Marquess war es nicht! Er war es nicht!«
»Nicht der Marquess?«, fragte Sidmouth völlig verständnislos.
»Der Marquess of Skavadale, Mylord«, erklärte Sandman, »in dessen Haus sie versteckt wurde.«
»Er kam erst nach dem Mord«, erklärte Meg verzweifelt aus Angst vor den mythischen Wespen. »Der Marquess kam, als sie schon tot war. Er kam oft ins Haus. Und er war immer noch da!«
»Wer war immer noch da?«, fragte Sidmouth.
»Er!«
»Corday?«
»Nein!«, sagte Meg. »Er!« Sie schaute von Sandman zum Innenminister, der immer noch verständnislos aussah. »Ihr Stiefsohn, der seit einem halben Jahr den Acker seines Vaters gepflügt hat.«
Sidmouth verzog angewidert das Gesicht. »Ihr Stiefsohn?«
»Lord Christopher Carne, Mylord«, erklärte Sandman, »Stiefsohn der Countess und Erbe des Earl-Titels.«
»Ich habe ihn mit dem Messer gesehen«, schnaubte Meg, »und der Marquess auch. Er heulte. Lord Christopher! Er hasste sie, aber er konnte seine dreckigen Finger nicht von ihr lassen. Er hat sie umgebracht! Es war nicht der schwächliche Maler!«
Unzählige Fragen schossen Sandman durch den Kopf, aber Lord Sidmouth herrschte Witherspoon an: »Schicken Sie zur Polizeistation Queen Square und richten Sie aus, ich wäre ihnen sehr verbunden, wenn sie mir unverzüglich vier Beamte und sechs gesattelte Pferde bereit stellen würden. Aber geben Sie mir zuerst etwas zu schreiben, Witherspoon, Papier, Feder, Wachs und Siegel.« Er schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims. »Beeilen wir uns, Mann.« Sein Ton war säuerlich, als ärgere er sich über diese zusätzliche Arbeit, aber Sandman konnte es ihm nicht verübeln. Er tat das Richtige, und er tat es schnell. »Beeilung«, drängte der Innenminister.
Und sie beeilten sich.
»Fuß auf den Block, Junge! Nicht trödeln!«, fuhr der Wärter Charles Corday an, der aufschluchzte, dann aber den rechten Fuß auf den Holzblock stellte. Der Wärter setzte den Meißel an den ersten Reifen und hämmerte ihn entzwei. Corday stöhnte bei jedem Schlag und wimmerte, als die Fessel fiel. Lord Alexander sah, dass die Knöchel des Jungen voller Schwären waren.
»Den anderen Fuß, Junge«, befahl der Wärter.
Die beiden Glocken läuteten und würden erst verstummen, wenn die beiden Leichen abgeschnitten wurden. Die Gäste des Gefängnisverwalters beobachteten schweigend die Gesichter der beiden Gefangenen, als könnten sie in diesen Augen, die bald das Jenseits erblicken sollten, einen Hinweis auf die Geheimnisse der Ewigkeit finden.
»Gut, Junge, und jetzt geh zum Henker!«, sagte der Wärter. Charles Corday stöhnte verwundert, als er die ersten Schritte ohne Fußeisen ging. Er stolperte, konnte sich aber an einem Tisch abfangen.
»Ich weiß nicht«, sagte Lord Christopher Carne, brach aber abrupt ab.
»Was, Kit?«, fragte Lord Alexander aufmerksam.
Lord Christopher, der gar nicht gemerkt hatte, dass er gesprochen hatte, fuhr erschrocken auf, nahm sich dann aber zusammen. »Du sagst, es bestehen Zweifel an seiner Schuld?«, fragte er.
»Ja, wahrhaftig«, bestätigte Lord Alexander und zündete sich eine Pfeife an. »Sandman war sich der Unschuld des Jungen recht sicher, aber ich nehme an, dass sie sich nicht beweisen lässt. Leider, leider.«
»Wenn aber der wahre Mörder gefunden würde«, fragte Lord Christopher und starrte gebannt auf Corday, der zitternd vor dem Henker stand, »könnte der Mann dann für das Verbrechen vor Gericht gestellt werden, für das Corday bereits schuldig gesprochen und gehenkt wurde?«
»Eine sehr gute Frage«, sagte Lord Alexander begeistert, »und eine, auf die ich keine Antwort weiß. Aber ich denke mir, wenn der wahre Täter gefasst würde, müsste Corday posthum freigesprochen werden, findest du nicht auch, und man kann nur hoffen, dass ein solcher Freispruch im Himmel anerkannt und der arme Junge aus den niederen Regionen geholt wird.«
»Steh still, Junge«, knurrte Jemmy Botting Corday an. »Trink das, wenn du willst. Es hilft.« Er deutete auf einen Becher Branntwein, aber Corday schüttelte den Kopf. »Wie du willst, Junge, wie du willst«, sagte Botting, nahm eine der vier Kordeln und band Corday die Ellbogen so fest auf den Rücken, dass der Junge gezwungen war, die Brust vorzustrecken.
»Nicht zu fest, Botting«, wandte der Gefängnisverwalter ein.
»Früher hatte der Henker einen Helfer dafür«, murrte Botting. »Da war der Strangknecht für das Fesseln zuständig. Das war nicht meine Aufgabe.« Da er von Corday kein Trinkgeld bekommen hatte, legte er die erste Fessel besonders schmerzhaft an, lockerte sie aber nun ein wenig, bevor er Corday die Hände vor den Bauch band.
»Das ist für uns beide«, sagte Reginald Venables, der große, bärtige Gefangene, und warf eine Münze auf den Tisch. »Also lockere meinem Freund die Fesseln.«
Botting warf einen Blick auf die Münze, war von der Großzügigkeit beeindruckt und lockerte Cordays Fesseln, bevor er ihm eine der Schlingen um den Hals legte. Als Corday vor dem Sisalstrang zurückschreckte, trat Reverend Cotton vor und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gott ist unsere Zuflucht und Stärke, junger Mann«, sagte er, »und eine allgegenwärtige Hilfe in Zeiten der Not. Flehe zum Herrn, er wird dich erhören. Bereust du deine schlimmen Sünden, mein Junge?«
»Ich habe nichts getan!«, jammerte Corday.
»Ruhig, mein Sohn, ruhig«, drängte Cotton, »und denke in demütigem Schweigen über deine Sünden nach.«
»Ich habe nichts getan!«, schrie Corday.
»Charlie! Mach denen doch nicht die Freude«, mahnte Venables. »Denk dran, was ich dir gesagt habe, geh wie ein Mann!« Venables trank den Becher Branntwein und kehrte Botting den Rücken zu, damit er ihm die Ellbogenfesseln anlegen konnte.
»Aber allein schon die Tatsache, dass der Mann verurteilt und bestraft wurde, dürfte die Behörden doch zögern lassen, den Fall erneut aufzurollen?«, sagte Lord Christopher zu Lord Alexander.
»Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden«, erklärte Lord Alexander unbestimmt. »Aber ich nehme an, dass dein Einwand begründet ist. Niemand gibt gern einen Irrtum zu, am wenigsten ein Politiker, also darf der wahre Mörder sich wohl ein gutes Stück sicherer fühlen, wenn Corday erst einmal tot ist. Armer Junge, armer Junge. Er ist ein Opfer der Unfähigkeit unserer Rechtsprechung, was?«
Botting legte Venables die zweite Schlinge auf die Schultern. Reverend Cotton trat einen Schritt von den Gefangenen zurück und schlug das Seelenamt in seinem Gebetbuch auf: »Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.«
»Ich habe nichts getan«, schrie Corday und schaute nach links und rechts, als suche er einen Ausweg.
»Ruhig, Charlie«, sagte Venables leise, »ruhig.«
Der Sheriff und sein Vertreter, beide in Roben, Amtsketten sowie einem Stab mit Silberspitze, waren offenkundig zufrieden, dass die beiden Gefangenen ordnungsgemäß vorbereitet waren, und traten zum Gefängnisverwalter, der sich förmlich vor ihnen verbeugte und dem Sheriff ein Dokument reichte. Der Sheriff warf einen Blick auf das Schriftstück und steckte es mit einem Kopfnicken in eine Tasche seiner pelzbesetzten Robe. Bisher waren die beiden Gefangenen der Obhut des Gefängnisverwalters von Newgate unterstellt, nun gehörten sie dem Sheriff, der sie wiederum in die Hand des Teufels geben würde. Der Sheriff schob seine Robe auseinander und nestelte seine Taschenuhr heraus. Er ließ den Deckel aufschnappen und schaute auf das Zifferblatt. »Es ist ein Viertel vor acht«, sagte er und wandte sich an Botting: »Sind Sie bereit?«
»Bereit, Euer Ehren, zu Euren Diensten«, antwortete Botting, setzte seinen Hut auf, nahm die beiden Baumwollsäcke und schob sie in eine Tasche.
Der Sheriff ließ die Uhr zuschnappen und ging auf den Presshof. »Wir haben um acht Uhr einen Termin, meine Herren«, verkündete er, »gehen wir.«
»Scharfe Nierchen!«, sagte Lord Alexander. »Gott, ich kann sie schon riechen. Komm, Kit!«
Sie schlossen sich der Prozession an.
Und die Glocken läuteten unaufhörlich.
Es war nicht weit.
Eine Viertelmeile bis Whitehall, dort auf den Strand und eine Dreiviertelmeile bis Temple Bar, von dort war es knapp eine Drittelmeile die Fleet Street hinunter, über den Graben und Ludgate Hill hinauf, bis links Old Bailey abzweigte. Es war wirklich keine Entfernung, schon gar nicht, nachdem die Polizeistation am Queen Square einige Polizeipferde geschickt hatte. Sandman und Berrigan saßen auf, der Sergeant auf einer Stute, die, wie ein Wachmann beschwor, lammfromm war, und Sandman auf einem lebhafteren Wallach. Witherspoon brachte die Begnadigung vor das Haus und reichte sie Sandman. »Möge Gott Sie schnell vorankommen lassen, Captain«, sagte Witherspoon.
»Wir treffen uns im ‘Sheaf, Sal!«, rief Berrigan und tat einen Satz nach hinten, als seine Stute Sandmans Wallach Richtung Whitehall folgte. Drei Polizisten ritten vorweg, einer blies in eine Trillerpfeife, während die anderen beiden mit gezücktem Schlagstock einen Weg zwischen Karren, Fuhrwerken und Kutschen bahnten. Ein Straßenkehrer, der gerade die Fahrbahn überquerte, sprang laut fluchend beiseite. Sandman steckte das kostbare Dokument in die Tasche und sah sich nach Berrigan um, der große Mühe mit seiner Stute hatte. »Hacken runter, Sergeant! Hacken runter! Zerren Sie nicht an den Zügeln, lassen Sie sie einfach laufen! Sie passt schon auf Sie auf.«
Sie kamen an den königlichen Stallungen vorbei und nahmen auf dem Strand den Bürgersteig. Sie ritten vorbei an der Apotheke Kidman, jagten zwei Fußgänger in den tiefen Ladeneingang und passierten das Messerwarengeschäft Carrington, wo Sandman seinen ersten Degen gekauft hatte. Er war beim Angriff auf Badajoz zerbrochen, wie er sich erinnerte. Es war keine Heldentat, nur sein eigener Arger über die Unfähigkeit der Armee, die französische Festung zu nehmen, die ihn veranlasst hatte, in seiner Wut mit dem Degen auf einen zurückgelassenen Munitionswagen einzudreschen, wobei die Klinge am Heft abgebrochen war. Sie galoppierten vorbei am Sans Pareil, jenem Theater, in dem die Schauspielerin Celia Collet den Earl of Avebury bezaubert hatte. Der alte Narr hatte eine gierige Schönheit geheiratet, und als sich herausstellte, dass ihre unsterbliche Liebe nichts anderes war als unersättliche Lust, und sie sich trennten, zog sie wieder nach London, wo sie sich ihre frühere Theaterdienerin, Margaret Hargood, als Kupplerin holte, um sich den Luxus zu verschaffen, den sie ihrer Ansicht nach beanspruchen durfte. So hatte die Countess ihre Männer in die Falle gelockt, sie erpresst und sich bereichert, bis die dickste Fliege von allen ihr ins Netz ging. Der unschuldige, naive Lord Christopher Carne war seiner Stiefmutter verfallen, sie hatte ihn verfährt, ihm den Kopf verdreht, ihn schaudern und stöhnen lassen und ihm dann gedroht, es den Treuhändern des Erbguts, seinem Vater und der ganzen Welt zu sagen, wenn er ihr nicht noch mehr Geld aus seiner großzügigen Apanage zahlte. Da Lord Christopher wusste, dass seine Stiefmutter immer mehr von ihm fordern würde, wenn er erst einmal das Vermögen geerbt hätte, bis seine Schatulle leer wäre, hatte er sie getötet.
All dies hatte Sandman erfahren, während Viscount Sidmouth von eigener Hand die Begnadigung geschrieben hatte. »Eigentlich müsste der Kronrat dieses Dokument abfassen«, sagte der Innenminister.
»Dazu bleibt wohl kaum Zeit«, wandte Sandman ein.
»Das ist mir klar, Captain«, sagte Sidmouth scharf. Die Feder kratzte und winzige Tintentröpfchen spritzten, als er seine Unterschrift kritzelte. »Geben Sie dies mit meiner Empfehlung dem Sheriff von London oder einem seiner Vertreter«, sagte er und streute Sand auf die feuchte Tinte. »Einer von ihnen ist sicher bei der Hinrichtung anwesend. Wenn sie fragen, warum ein solcher Befehl nicht vom Kronrat unterzeichnet und durch den Schriftführer von London an sie weitergeleitet wurde, erklären Sie, dass keine Zeit blieb, um das ordnungsgemäße Verfahren einzuhalten. Seien Sie bitte so nett und geben Sie mir diese Kerze und den Siegellack?«
Das Siegel auf dem Begnadigungsschreiben war noch warm, als Sandman und Berrigan nun durch die Stadt ritten. Sandman überlegte, mit welcher Schuld Lord Christopher leben musste und dass der Mord an seiner Stiefmutter ihm nichts genutzt hatte, da der Marquess of Skavadale ihn auf frischer Tat ertappt hatte und die finanziellen Probleme seiner Familie, die kurz vor dem Ruin stand, mit einem Schlag gelöst sah. Meg konnte bezeugen, dass Lord Christopher der Mörder war, und solange sie lebte und unter dem Schutz des Marquess stand, würde Lord Christopher für ihr Schweigen zahlen müssen. Und sobald Lord Christopher mit dem Titel des Earl das Vermögen seines Großvaters geerbt hätte, wäre er gezwungen worden, sein gesamtes Erbe an Skavadale zu übertragen, der Meg, durch die er diesen Wohlstand aus dem Avebury-Vermögen hätte erpressen können, mit ein paar Hühnern abgespeist hätte.
Sidmouth hatte in die Kanalhäfen sowie nach Harwich und Bristol Boten geschickt, um nach Lord Christopher Carne suchen zu lassen. »Und was ist mit Skavadale?«, hatte Sandman gefragt.
»Wir wissen nicht, ob er bereits Geld erpresst hat«, erklärte Sidmouth spröde, »und wenn das Mädchen die Wahrheit sagt, hatten sie nicht vor, mit ihrer Plünderung zu beginnen, bevor Lord Christopher den Earl-Titel geerbt hatte. Wir mögen ihre Absichten zwar missbilligen, Captain, aber wir können sie nicht für ein Verbrechen bestrafen, das noch nicht begangen wurde.«
»Skavadale hat die Wahrheit vertuscht!«, wandte Sandman verärgert ein. »Er hat die Polizei gerufen und ausgesagt, er habe den Mörder nicht erkannt. Er hätte zugelassen, dass ein Unschuldiger in den Tod geht!«
»Und wie wollen Sie das beweisen?«, fragte Sidmouth kurz angebunden. »Seien Sie zufrieden, dass Sie den wahren Mörder gefunden haben.«
»Und vierzig Pfund Belohnung verdient haben«, warf Berrigan strahlend ein, was ihm einen überaus missfälligen Blick Seiner Lordschaft eintrug.
Als die Hufschläge ihrer Pferde an den Mauern der Kirche St. Clement widerhallten und Sandman sein Spiegelbild dutzendfach in den Rundfenstern des Steakhauses Clifton sah, dachte er, wie gut ihm jetzt ein Schweinesteak mit Nierchen schmecken würde. Unmittelbar vor ihnen lag das Stadttor Temple Bar, unter dem sich Karren und Fußgänger drängten. Die Polizisten riefen, die Karren sollten weiterfahren, schoben sich mit ihren Pferden in das Gedränge und brüllten die Kutscher an, ihre Peitschen einzusetzen. Ein mit Schnittblumen beladenes Fuhrwerk versperrte nahezu den gesamten Torbogen, und einer der Polizisten schlug mit seinem Knüppel darauf ein, dass Blüten und Blätter auf das Pflaster spritzten. »Lassen Sie!«, brüllte Sandman. »Lassen Sie!« Er hatte eine Lücke auf dem Bürgersteig entdeckt und zwängte sich mit seinem Pferd hinein, wobei er einen dünnen Mann mit Hut umwarf. Berrigan folgte ihm, und sobald sie den Torbogen hinter sich gelassen hatten, stellte sich Sandman in die Steigbügel und trieb sein Pferd Richtung Fleet Ditch, dass die Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster Funken schlugen.
Die ersten Kirchenglocken begannen zu läuten, und Sandman schien es, als sei die ganze Stadt erfüllt von einer Kakophonie aus Glockengeläut, Hufschlägen, Alarm und Verhängnis.
Er glitt zurück in den Sattel, gab dem Pferd einen Klaps und ritt wie der Wind.
Als Lord Alexander durch den hoch aufragenden Bogen der Schuldnerpforte trat, sah er vor sich den dunklen Hohlraum unter dem Galgenpodest, der ihn stark an den Unterbau einer Theaterbühne erinnerte. Von außen, wo die Zuschauer sich auf der Straße sammelten, wirkte der mit schwarzem Stoff verhängte Galgen massig, dauerhaft und finster. Von seiner Warte aus sah Lord Alexander jedoch, dass es eine Illusion auf rohen Holzbalken war, eine Bühne für eine Tragödie, die mit dem Tod endete. Rechter Hand führte eine Holzstiege in den Schatten hinauf, knickte scharf links ab und mündete in einem überdachten Pavillon im hinteren Teil des Galgenpodests. Der überdachte Pavillon ähnelte den privilegierten Theaterlogen, die wichtigen Gästen den besten Blick auf das Drama boten.
Lord Alexander ging als Erster die Treppe hinauf und wurde mit lautem Jubel empfangen. Wer er war, kümmerte niemanden, aber sein Erscheinen kündete die Ankunft der beiden zum Tode Verurteilten an, und die Menge war das Warten leid. Lord Alexander musste im Sonnenschein blinzeln, zog den Hut und verbeugte sich vor dem Pöbel, der die Geste mit Lachen und Beifall honorierte. Es war keine große Menge erschienen, aber sie füllte die Straße über hundert Meter nach Süden und blockierte die Einmündung in die Newgate Street im Norden. Alle Fenster des Magpie and Stump waren besetzt, und selbst auf dem Dach der Schänke saßen Zuschauer.
»Wir wurden gebeten, uns nach hinten zu setzen«, sagte Lord Christopher, als Lord Alexander in der ersten Reihe Platz nahm.
»Wir wurden gebeten, in der ersten Reihe zwei Plätze für den Sheriff frei zu lassen«, berichtigte Lord Alexander ihn, »und die sind frei. Setz dich, Kit. Was für ein herrlicher Tag! Glaubst du, das Wetter hält sich? Budd am Samstag, ja?«
»Budd am Samstag?« Lord Christopher wurde angerempelt, als die anderen Gäste sich auf die hinteren Plätze zwängten.
»Kricket, mein Junge! Ich habe Budd tatsächlich überreden können, gegen Jack Lambert anzutreten, und Lambert, der brave Kerl, hat sich bereit erklärt, zurückzutreten, wenn Rider Sandman seinen Platz einnimmt! Das hat er mir gestern nach der Kirche gesagt. Also, das ist ein Traumspiel, was? Budd gegen Sandman. Du kommst doch, oder?«
Johlen übertönte das Gespräch auf dem Galgenpodest, als die Sheriffs in Kniebundhosen, Seidenstrümpfen, Schuhen mit Silberschnallen und pelzbesetzten Roben erschienen. Lord Christopher schien ihre Ankunft nicht zu bemerken, sondern starrte auf den Galgenbaum. Er schien enttäuscht, dass er nicht blutbefleckt war, zuckte jedoch zusammen, als er die beiden unverhüllten Särge erblickte, die auf ihre Last warteten. »Sie war böse«, raunte er.
»Selbstverständlich kommst du«, sagte Lord Alexander und runzelte die Stirn. »Was hast du gesagt, mein Lieber?«
»Meine Stiefmutter, sie war böse.« Lord Christopher schien zu frösteln, obwohl es nicht kalt war. »Sie und ihre Zofe, sie waren Hexen!«
»Willst du ihren Mord rechtfertigen?«
»Sie war böse«, wiederholte Lord Christopher nachdrücklich, offenbar ohne die Frage seines Freundes zu hören. »Sie sagte, sie würde Ansprüche auf das Vermögen stellen, an die Treuhänder, weil ich ihr ein paar Briefe geschrieben hatte. Sie log, Alexander, sie log!« Er zuckte zusammen bei der Erinnerung an die langen Briefe, in die er seine Hingabe an seine Stiefmutter ergossen hatte. Er hatte keine Frauen gekannt, bis sie ihn in ihr Bett genommen hatte, und er war ihr vollständig verfallen. Er hatte sie angefleht, mit ihm nach Paris zu gehen, und sie hatte ihn in seinem Wahn bestärkt, bis sie sich eines Tages über ihn lustig gemacht und die Falle hatte zuschnappen lassen. Er solle ihr Geld geben, hatte sie verlangt, sonst würde sie ihn zum Gespött von ganz Paris, London und jeder anderen europäischen Hauptstadt machen. Sie hatte gedroht, Kopien seiner Briefe zu verbreiten, damit alle seine Schande sähen, und so hatte er ihr Geld gegeben, aber sie hatte immer mehr gefordert, und er hatte gewusst, dass die Erpressung nie enden würde. Deshalb hatte er sie getötet.
Er hatte sich eines Mordes nicht für fähig gehalten, aber als er sie in ihrem Schlafzimmer ein letztes Mal angefleht hatte, ihm seine Briefe zurückzugeben, und sie ihn nur ausgelacht, als Schwächling und als ungeschickten, dummen Jungen bezeichnet hatte, hatte er das Messer aus seinem Gürtel gezogen. Es war eigentlich keine Waffe, sondern kaum mehr als eine alte Klinge, die er benutzte, um die Seiten neuer Bücher aufzuschneiden, aber in seiner wahnsinnigen Wut hatte es genügt. Er hatte sie erstochen, auf ihre verhasste, wunderbare Haut eingestochen, sie aufgeschlitzt, und hinterher war er in den Flur gestürzt, hatte die Zofe der Countess und einen Mann gesehen, die ihn vom Fuß der Treppe in der Diele anstarrten. Er war wieder zurück ins Schlafzimmer gelaufen und hatte in panischer Angst gewimmert. Er hatte erwartet, Schritte auf der Treppe zu hören, aber niemand war gekommen, und so hatte er sich zu Ruhe und Besonnenheit gemahnt. Er hatte nur einen Augenblick auf dem Flur gestanden, kaum lange genug, um erkannt zu werden! Er hatte ein Messer vom Tisch des Malers genommen und es auf die rot befleckte Leiche geworfen, dann hatte er den Schreibtisch der Toten nach seinen Briefen durchsucht, war damit über die Hintertreppe entkommen und hatte sie zu Hause verbrannt. Er hatte in seiner Wohnung gehockt und auf seine Verhaftung gewartet, hatte aber am nächsten Tag erfahren, dass die Polizei den Maler festgenommen hatte.
Lord Christopher hatte für Corday gebetet. Es war natürlich nicht richtig, dass der Maler sterben sollte, aber Lord Christopher konnte sich auch nicht eingestehen, dass er selbst für den Mord an seiner Stiefmutter den Tod verdiente. Er würde mit seinem Erbe Gutes tun! Er würde Barmherzigkeit üben. Er würde für den Mord und für Cordays Unschuld tausend Mal bezahlen. Sandman hatte diese tätige Reue bedroht, und daher hatte Lord Christopher seinen persönlichen Diener zu Rate gezogen und behauptet, Rider Sandman hege einen Groll gegen ihn und habe vor, die Treuhänder zu verklagen und das Avebury-Vermögen in einem Gerichtsprozess sperren zu lassen. Er hatte demjenigen tausend Guineen versprochen, der das Vermögen von dieser Bedrohung befreite. Sein Diener hatte wiederum andere Männer angeheuert, die Lord Christopher großzügig für einen Mordversuch an Sandman entlohnt hatte. Wie es schien, hatten sich nun weitere Aufwendungen erübrigt, da Sandman offenbar gescheitert war. Corday würde sterben, und danach würde niemand mehr zugeben wollen, dass man einen Unschuldigen auf Bottings Bühne hatte tanzen lassen.
»Aber deine Stiefmutter hatte doch sicher keinen Anspruch t auf das Vermögen, falls im Testament deines Großvaters nicht ausdrücklich vorgesehen ist, dass du für die Witwe deines Vaters aufzukommen hast. Ist das so?« Lord Alexander hatte über die Äußerung seines Freundes nachgedacht.
Lord Christopher schaute ihn verständnislos an, gab sich aber große Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was sein Freund gerade gesagt hatte. »Nein«, antwortete er, »das gesamte Vermögen geht an den Erben. An mich allein.«
»Dann wirst du ein überaus reicher Mann, Kit«, sagte Lord Alexander, »und ich wünsche dir alles Gute mit deinem großen Reichtum.« Er wandte sich von seinem Freund ab, als lauter Jubel, der lauteste an diesem Morgen, das Erscheinen des Henkers begrüßte.
»Ich werde meine Zunge im Zaum halten, solange ich schaue das Gottlose.« Reverend Cottons Stimme wurde lauter, als er hinter dem ersten Gefangenen die Stiege heraufkam.
Als Erster erschien ein Wärter, hinter ihm Corday, immer noch unbeholfen, da er nicht mehr gewohnt war, ohne Fußeisen zu gehen. Auf der obersten Stufe stolperte er und taumelte gegen Lord Alexander, der ihn am Ellbogen packte. »Ruhig, guter Mann«, sagte Lord Alexander.
»Hüte ab!«, brüllte die Menge den Leuten in den vorderen Reihen zu. »Hüte ab!« Mit lautem Grölen drängte die Menge nach vorn gegen die niedrigen Holzgeländer, die den Galgen umgaben. Die Männer des Marschalls der Stadt, die unmittelbar hinter der Absperrung aufgereiht standen, hoben ihre Stäbe und Lanzen.
Lord Alexander fühlte sich bedrängt von dem Lärm, der von der Granitfassade des Gefängnisses widerhallte. Hier kommt England zum Zug, dachte er, man stillt den Blutdurst des Pöbels in der Hoffnung, dass er nicht mehr verlangt. Ein Kind, das auf den Schultern seines Vaters saß, beschimpfte den unverhohlen weinenden Corday mit Unflätigkeiten. Die Menge hatte es gern, wenn ein Mann oder eine Frau mutig in den Tod ging, und Cordays Tränen trugen ihm nichts als Hohn ein. Plötzlich spürte Lord Alexander den drängenden Wunsch, den jungen Mann zu trösten, mit ihm zu beten, aber er blieb sitzen, weil Reverend Cotton bereits dicht neben Corday stand. »0 lehre uns, unsere Tage zu zählen«, psalmodierte Reverend Cotton, »auf dass wir unsere Herzen der Weisheit öffnen«.
Die Menge grölte höhnisch, weil Corday zusammengebrochen war. Botting war zur Hälfte die Leiter hinaufgestiegen und hob gerade den Strang an, der auf den Schultern des Gefangenen lag, um die Öse an einem der Haken am Galgenbaum zu befestigen, als Cordays Beine weich wurden. Reverend Cotton sprang zurück, der Wärter stürzte vor, aber Corday konnte nicht mehr stehen. Er zitterte und schluchzte.
»Erschieß den Kerl, Jemmy!«, schrie ein Mann aus der Menge.
»Ich brauche einen Helfer«, knurrte Botting den Sheriff an, »und einen Stuhl.«
Einer der Gäste bot an, aufzustehen, und man stellte seinen Stuhl auf die Falltür. Als der Menge klar wurde, dass es eine ungewöhnliche Hinrichtung geben würde, klatschte sie Beifall. Botting und ein Wärter hievten Corday auf den Sitz, und der Henker löste unsanft die Ellbogenfessel und band damit den Gefangenen an den Stuhl. Nun konnte er gehenkt werden, und Botting stieg auf die Leiter, hängte den Strang ein, kam herunter und schob die Schlinge fest über Cordays Kopf. »Heulende Memme«, raunte er und zog die Schlinge zu. »Stirb gefälligst wie ein Mann.« Er nahm einen der weißen Baumwollsäcke aus seiner Tasche und zog ihn über Cordays Kopf. Lord Alexander war verstummt und erkannte an den Bewegungen des Baumwollstoffs Cordays Atemzüge. Der Kopf des Jungen war auf seine Brust gesunken, und hätte der Stoff vor seinem Mund nicht gebebt, hätte man meinen können, er wäre schon tot.
»Zeige deinen Dienern dein Werk«, betete Reverend Cotton, »und ihren Kindern deine Herrlichkeit.«
Venables kam die Stiege herauf, nur mit einem pflichtschuldigen Johlen von der Menge begrüßt, die sich auf Cordays Kosten bereits verausgabt hatte. Dennoch verbeugte der hünenhafte Mann sich vor seinem Publikum, ging ruhig zur Falltür und wartete auf Strang und Augenbinde. Das Galgengerüst knarrte unter seinem Gewicht. »Mach schnell, Jemmy«, sagte er laut, »und mach es richtig.«
»Ich kümmere mich schon um dich«, versprach der Henker, »ich kümmere mich um dich.« Er holte den weißen Sack aus seiner Tasche und zog ihn Venables über den Kopf.
»Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen«, sagte Reverend Cotton.
Lord Alexander, den die letzten Minuten angewidert hatten, bemerkte Unruhe am schmalen Südende der Straße.
»Gepriesen sei der Name des Herrn«, betete der Ordinarius.
»Gott verdammt!« Sandman steckte im Verkehrsgedränge an der Kreuzung Ludgate Hill und Farringdon Street fest. Zu seiner Rechten stank der Fleet Ditch in der Morgensonne. Ein Kohlenfuhrwerk, das in die Fleet Street biegen wollte, hatte sich an der Ecke festgefahren, und nun gaben ein Dutzend Männer gute Ratschläge, während ein Anwalt in einer Mietdroschke seinen Kutscher drängte, den Pferden des Kohlenfuhrwerks die Peitsche zu geben, obwohl sie gar keinen Platz hatten, sich zu rühren, weil ein noch größeres Fuhrwerk, beladen mit Eichenbalken, sich an ihnen vorbeischob. Die Polizisten ritten, Trillerpfeife blasend und Knüppel schwingend, hinter Sandman auf die Kreuzung, der einen Fußgänger mit einem Tritt aus dem Weg beförderte, sein Pferd nach links lenkte, den Anwalt, dessen Droschke ihn behinderte, mit Flüchen bedachte und sich unvermittelt von einem wohlmeinenden Bürger aufgehalten sah, der glaubte, Sandman sei vor den Polizisten auf der Flucht, und dessen Pferd nun am Zaumzeug festhielt.
»Hände weg!«, schrie Sandman. Berrigan ritt neben ihn, schlug den Mann auf den Kopf und zerdrückte seinen Hut; Sandmans Pferd war wieder frei, und er lenkte es mit Tritten neben das Fuhrwerk mit den riesigen Eichenbalken.
»Ihr braucht euch gar nicht so zu beeilen!«, rief der Fahrer. »Jedenfalls nicht, wenn ihr zu der Hinrichtung wollt. Die Kerle baumeln bestimmt schon!« Sämtliche Glocken der Stadt hatten bereits die volle Stunde geschlagen, jene, die immer zu früh bimmelten, und selbst die Nachzügler hatten bereits acht geschlagen, doch da die Totenglocke der Grabeskirche noch läutete, wagte Sandman zu hoffen, dass Corday noch lebte. Er brach aus dem Verkehrsgewühl aus und trieb sein Pferd Richtung St. Paul’s Cathedral, die sich mit Treppenstufen, Säulen und Kuppel oben auf Ludgate Hill erhob.
Auf halber Höhe des Hügels bog er nach Old Bailey ein, wo der Weg vor dem Gerichtsgebäude zum Glück frei war. Ein Stück weiter, wo die Straße sich vor dem großen Gefängnishof von Newgate verbreiterte, verstopfte die brodelnde Menge plötzlich die Straße in ihrer ganzen Breite, und er kam nicht weiter, obwohl er schon den Galgenbaum über dem schwarzen Podest in den Himmel ragen sah. Er stellte sich in die Steigbügel und trieb schreiend sein Pferd in die Menge wie die Royais, die Scots Greys und die Inniskillings es getan hatten, als sie das französische Corps in Waterloo geschlagen hatten.
»Platz da!«, brüllte Sandman, »Platz da!« Er sah die Männer auf dem Galgengerüst und bemerkte, dass einer saß, was ungewöhnlich war. Er sah den Priester und auf dem hinteren Teil des Podests eine Gruppe von Zuschauern und Beamten; die Menge widerstand seinem heftigen Drängen, er wünschte, er hätte eine Waffe, um auf sie einschlagen zu können, doch dann ritten die Polizisten neben ihn und gingen mit ihren langen Schlagstöcken gegen das Gedränge vor.
Ein Seufzen ging durch die Menge, Sandman sah nur noch den Priester auf der schwarzen Bühne des Galgenpodests, das sich über die Hälfte der Straße an ihrer breitesten Stelle erstreckte.
Die Falltür hatte sich geöffnet.
Und die Glocke der Grabeskirche läutete für die Sterbenden.
Venables fluchte auf den Ordinarius und auf den Gefängnisverwalter, aber nicht auf Jemmy Bottings, denn er wusste nur zu gut, dass der Henker seinen Tod beschleunigen konnte. »Hör auf zu flennen!«, befahl er Corday.
»Ich habe nichts getan!«, jammerte dieser.
»Glaubst du, du bist der erste Unschuldige, der hier oben stirbt?«, fragte Venables. »Oder der Hundertste? Das hier ist der Galgen, Charlie, der kennt keinen Unterschied zwischen Schuldigen und Unschuldigen. Bist du da, Jemmy?« Da Venables den weißen Sack über dem Kopf hatte, konnte er nicht sehen, dass der Henker an den Rand des Podestes gegangen war, um den Sicherungsbolzen herauszuziehen. »Bist du da, Jemmy?«
»Es dauert nicht mehr lange, Jungs«, sagte Botting. »Geduld«. Er verschwand über die Hintertreppe.
»Da ist Rider!« Lord Alexander war aufgesprungen, sehr zur Verärgerung der Gäste in den hinteren Reihen. »Es ist Rider!«
Endlich hatte die Menge gemerkt, dass etwas Unvorhergesehenes geschah. Der erste Hinweis war, dass Lord Alexander, groß und auffallend, am Pavillon stand und in Richtung Ludgate Hill zeigte. Sie drehten sich um und sahen Reiter, die sich gewaltsam einen Weg durch die Menge bahnten.
»Lasst sie durch!«, riefen einige.
»Was ist los?«, brüllte Venables von der Falltür. »Was ist los?«
»Setzen Sie sich, Mylord«, wies der Sheriff Lord Alexander an, der ihn einfach überhörte.
»Rider!«, rief er über die Köpfe der Menge hinweg, aber seine Stimme ging im Tumult unter.
Jemmy Botting fluchte, weil er an dem Seil gezogen hatte, der mit Talkum eingeriebene Trägerbalken sich aber nicht rührte, sondern lediglich bebte. »Verdammt und zugenäht!«, fluchte er, griff zum zweiten Mal nach dem Seil und zerrte mit aller Gewalt daran. Dieses Mal gab der Träger so schnell nach, dass Botting hinten überfiel, während über ihm der Himmel sichtbar wurde. Die Falltür öffnete sich mit einem dumpfen Schlag, und die beiden Körper fielen in die Versenkung. Venables zuckte würgend, während Cordays Beine gegen den Stuhl schlugen.
»Sheriff! Sheriff!«, Sandman näherte sich dem Galgen. »Sheriff!«
»Eine Begnadigung?«, brüllte Lord Alexander. »Eine Begnadigung?«
»Ja!«
»Kit! Hilf mir!« Lord Alexander hinkte auf seinem Klumpfuß zu Corday, der zuckend und würgend am Galgen hing. »Hilf mir, ihn hochzuziehen!«
»Lassen Sie ihn los!«, brüllte der Sheriff, als Lord Alexander nach dem Strang griff.
»Lassen Sie los, Mylord!«, befahl Reverend Cotton. »Das ziemt sich nicht!«
»Lassen Sie mich, Sie verdammter Narr!«, schnaubte Lord Alexander und stieß Cotton fort. Er packte den Strang und versuchte, Corday wieder auf das Podest zu ziehen, aber seine Kräfte reichten nicht annähernd aus. Der weiße Baumwollsack vor Cordays Mund bebte.
Sandman schob die letzten Leute unsanft beiseite und rammte mit seinem Pferd die Barriere. Er tastete in seinen Rocktaschen nach der Begnadigung, glaubte einen grausamen Augenblick lang, er habe sie verloren, fand schließlich das Schriftstück und streckte es zum Galgen hinauf, aber der Sheriff kam nicht, um es entgegenzunehmen. »Es ist eine Begnadigung!«, rief Sandman.
»Kit, hilf mir!« Lord Alexander zerrte kraftlos an Cordays Strang; konnte den Sterbenden aber nicht einmal zwei Finger breit anheben und wandte sich an Lord Christopher. »Kit! Hilf mir!« Lord Christopher riss hinter seiner dicken Brille die Augen weit auf und presste beide Hände vor den Mund. Er rührte sich nicht.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, brüllte Jemmy Botting Lord Alexander unten aus dem Galgengerüst an, kletterte über die Stützbalken nach oben und zerrte an Cordays Beinen, um sich nicht um einen Toten betrügen zu lassen. »Sie kriegen ihn nicht!«, schrie er Lord Alexander an. »Sie kriegen ihn nicht! Er gehört mir! Er gehört mir!«
»Nehmen Sie!«, rief Sandman dem Sheriff zu, der sich immer noch weigerte, sich nach unten zu beugen und das Begnadigungsschreiben anzunehmen, doch in diesem Augenblick zwängte sich ein schwarz gekleideter Mann neben Sandman.
»Geben Sie mir das«, sagte er. Er wartete nicht ab, bis Sandman der Aufforderung nachkam, sondern riss ihm das Schriftstück aus der Hand, schwang sich über die Absperrung vor dem Galgen, sprang mit einem gewaltigen Satz hoch und klammerte sich an den Rand des Galgengerüsts. Einen Augenblick lang suchten seine schwarzen Stiefel in den Stoffbahnen Halt, bis er die Kante der offenen Falltür erwischte und sich auf die Plattform zog. Es war Sallys Bruder, ganz in Schwarz gekleidet und das schwarze Haar mit einem schwarzen Band zurückgebunden. Die Stammgäste im Publikum jubelten, weil sie ihn erkannten und bewunderten. Es war Jack Hood, Robin Hood, der Mann, den jeder Magistrat und Polizist in London gern auf Jemmy Bottings Bühne hätte tanzen sehen und der sich über ihren Ehrgeiz mokierte, indem er zu jeder Hinrichtung in Newgate erschien. Als er endlich das Galgenpodest erklommen hatte, drückte er dem Sheriff Cordays Begnadigung in die Hand. »Nimm das, verdammt!«, schnaubte Hood, und verdutzt über die Frechheit des jungen Mannes, nahm der Sheriff das Dokument tatsächlich entgegen.
Hood trat neben Lord Alexander und griff nach dem Strang, aber Jemmy Botting, der fürchtete, sein Opfer in letzter Minute zu verlieren, war bereits auf Cordays Schoß geklettert und beschwerte die sich zuziehende Schlinge zusätzlich mit seinem Gewicht. »Er gehört mir!«, schrie er Lord Alexander und Hood an. »Er gehört mir!« Cordays Röcheln ging im Lärm unter. Hood zerrte, konnte aber Corday zusammen mit Bottings Gewicht nicht heben. »Er gehört mir!«, schrie Botting.
»Sie!«, herrschte Sandman einen Lanzenträger des städtischen Marschalls an. »Geben Sie mir Ihren Hirschfänger! Sofort!«
Völlig verdutzt, aber eingeschüchtert von Sandmans Befehlston, zog der Mann seinen kurzen Krummsäbel heraus, der eher dekorativ als nützlich war. Sandman riss ihm die Klinge aus der Hand und wurde umgehend von einem anderen Wachmann angegriffen, der glaubte, Sandman plane einen Überfall auf den Sheriff. »Hauen Sie ab!«, schnaubte Sandman, während Berrigan dem Wachmann mit der Faust auf den Kopf schlug.
»Warten Sie!«, rief der Sheriff. »Es muss Ordnung herrschen. Es muss Ordnung herrschen!« Das Grölen der Menge dröhnte durch die Straße. »Marschall!«, rief der Sheriff, »Marschall!«
»Geben Sie den Säbel her!«, brüllte der Marschall Sandman an.
»Hood!«, rief Sandman und stellte sich in die Steigbügel. »Hood!« Hände reckten sich hoch, um ihn aus dem Sattel zu zerren, aber Sandman hatte inzwischen den Straßenräuber auf sich aufmerksam gemacht und warf ihm den Säbel zu. »Schneiden Sie ihn ab, Hood! Schneiden Sie ihn ab!«
Geschickt fing Hood den Säbel. Die Polizisten, die Sandman und Berrigan von Whitehall an eskortiert hatten, drängten die Männer des Marschalls ab. Lord Christopher Carne starrte Rider Sandman mit großen Augen und offenem Mund an, der nun ebenfalls Seine Lordschaft bemerkte. »Wachmann«, sagte Sandman zu dem berittenen Polizisten neben ihm, »verhaften Sie diesen Mann. Den Mann da drüben.« Als Sandman mit dem Finger auf Lord Christopher deutete, drehte dieser sich um, als wolle er fliehen, aber die Treppe führte vom Pavillon direkt ins Gefängnis.
Jemmy Botting hatte die Arme um Cordays Hals geschlungen, umarmte ihn wie einen Liebhaber und schwang sich auf dem hängenden Mann mit seinem ganzen Gewicht auf und ab. »Mir, mir«, krähte er und hörte das Röcheln in der Kehle des Jungen. Jack Hood säbelte mit der Klinge an dem Seil herum. »Nein!«, schrie Botting. »Nein!« Aber der Strang, der angeblich aus bestem Bridport-Hanf war, ließ sich schneiden wie Binsenschnur, und plötzlich fielen Corday und Botting, immer noch umschlungen, nach unten, die Stuhlbeine zersplitterten auf dem Pflaster und das durchtrennte Strangende flatterte lose im Londoner Wind.
»Wir müssen ihn abschneiden«, erklärte der Sheriff, der endlich die Begnadigung gelesen hatte.
Die Menge, wechselhaft wie eh und je, bejubelte das vorhin noch verhöhnte Opfer, weil es dem Henker ein Schnippchen geschlagen hatte. Er würde leben, frei sein und malen.
Sandman saß ab und reichte einem Wachmann die Zügel seines Pferdes. Andere Polizisten hatten die Leiter benutzt, die für den Fall bereit stand, dass Zuschauer die Hand eines Gehenkten berühren wollten, und ergriffen nun Lord Christopher Carne. Als Sandman sah, dass Seine Lordschaft weinte, empfand er kein Mitgefühl. Er hörte Venables röcheln und sah den Strang des Sterbenden über dem schwarz verhängten Podest zucken. Er wandte sich ab und versuchte vergebens, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass zumindest eine Seele vor dem Galgen bewahrt wurde.
»Danke, Sergeant«, sagte er.
»Dann ist es also vorbei«, sagte Berrigan und saß ab.
»Es ist vorbei«, bestätigte Sandman.
»Rider!«, rief Lord Alexander vom Galgengerüst. »Rider!«
Sandman drehte sich um.
Lord Alexander hinkte um die offene Fallgrube herum. »Rider! Würdest du am Samstag Kricket spielen?«
Sandman starrte seinen Freund einen Augenblick fassungslos an, dann schaute er zu Hood. »Danke«, rief er, aber es ging im Johlen der Menge unter. Sandman verbeugte sich. »Danke«, wiederholte er.
Hood erwiderte die Verbeugung und hielt einen Finger hoch. »Nur einer, Captain«, rief er, »nur einer, und sie hängen Tausende, bevor Sie ihnen einen weiteren abjagen.«
»Es geht gegen Budd!«, rief Lord Alexander. »Rider, hörst du mich? Rider! Wohin gehst du?«
Sandman hatte sich abgewandt und den Arm um Berrigans Schulter gelegt. »Wenn Sie im ‘Sheaf frühstücken möchten, sollten Sie sich beeilen, bevor die ganze Meute in den Schankraum einfällt. Und danken Sie Sally in meinem Namen, ja? Ohne sie hätten wir es nicht geschafft.«
»Sicher nicht«, sagte Berrigan, »Und Sie? Wohin gehen Sie?«
Sandman humpelte vom Galgen fort, unbemerkt von der Menge, die forderte, dass man Corday, ihren neuen Helden, auf das Podest bringen solle. »Ich, Sam?«, antwortete Sandman. »Ich besuche einen Mann und bitte ihn um ein Darlehen, damit Sie und ich nach Spanien gehen und ein paar Zigarren kaufen können.«
»Sie wollen um ein Darlehen bitten?«, fragte Berrigan. »In den Stiefeln?«
Sandman musterte seine Stiefel, deren Sohlen klafften wie Fischmäuler. »Ich will ihn um ein Darlehen bitten und um die Hand seiner Tochter, und obwohl ich nicht viel für Wetten übrig habe, wette ich um den Preis eines Paars neuer Stiefel, dass er zu beidem Ja sagen wird. Er bekommt keinen reichen Schwiegersohn, Sam, er bekommt nur mich.«
»Da hat er aber Glück«, sagte Berrigan.
»Sie haben Glück, und Sally ebenfalls«, sagte Sandman grinsend. Gemeinsam gingen sie Old Bailey hinunter. Hinter ihnen erstickte Venables langsam, während Corday in das Sonnenlicht des neuen Tages blinzelte. An der Ecke Ludgate Hill schaute Sandman sich noch einmal um und sah den Galgen schwarz wie das Herz des Teufels, dann bog er um die Ecke und war verschwunden.