172636.fb2 Die Galgenfrist - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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Rider Sandman stand an diesem Montagmorgen erst spät auf. Man hatte ihm sieben Guineen gezahlt, um für die Kricketmannschaft von Sir John Hart gegen ein Team aus Sussex anzutreten. Den Gewinnern hatte eine Prämie von hundert Guineen gewinkt. Sandman hatte im ersten Innings dreiundsechzig Läufe erzielt und zweiunddreißig im zweiten, aber Sir Johns Mannschaft hatte trotzdem verloren. Das war am Samstag, und während Sandman zuschaute, wie die anderen Schlagmänner wild auf schlecht gezielte Bälle eindroschen, war ihm klar geworden, dass der Spielausgang eine abgekartete Sache war. Die Buchmacher hatten mit einem mühelosen Sieg von Sir Johns Mannschaft gerechnet, nicht zuletzt, weil der berühmte Rider Sandman mit von der Partie war, nun wurden sie geschröpft, denn jemand hatte offenbar mit hohem Einsatz auf das Team aus Sussex gesetzt, das mit einem Innings und achtundvierzig Läufen Vorsprung gewann. Das Gerücht kursierte, Sir John habe selbst gegen seine Mannschaft gewettet, und dass er Sandman nicht in die Augen schauen konnte, machte dieses Gerücht glaubwürdig.

Also war Captain Rider Sandman zu Fuß nach London zurückgegangen.

Er ging zu Fuß, weil er es ablehnte, mit Männern eine Kutsche zu teilen, die sich hatten bestechen lassen, um ein Spiel zu verlieren. Er liebte Kricket, er war ein guter Spieler und hatte einmal in einem berühmten Spiel hundertvierzehn Läufe für eine englische Mannschaft erzielt, die gegen eine Auswahlelf des Marquess of Canfield angetreten war. Liebhaber dieses Sports reisten meilenweit, um Rider Sandman, den ausgedienten Hauptmann des 52. Infanterieregiments seiner Majestät, spielen zu sehen. Aber er hasste Bestechung, verabscheute Korruption und neigte zu Jähzorn. Daher hatte er sich auf einen heftigen Streit mit seinen verräterischen Mannschaftskollegen eingelassen, und während sie in dieser Nacht in Sir Johns komfortablem Haus schliefen und am nächsten Morgen bequem nach London fuhren, verzichtete Sandman auf beides. Er war zu stolz.

Stolz und arm. Weder die Fahrt mit der Postkutsche noch das Entgelt für einen einfachen Fuhrmann konnte er sich leisten, weil er Sir John Hart den Lohn für das Spiel in seiner Wut ins Gesicht geschleudert hatte – was, wie Sandman zugeben musste, dumm war, weil er dieses Geld ehrlich verdient hatte. Also ging er zu Fuß nach Hause, verbrachte die Nacht zum Sonntag in einem Heuschober in der Nähe von Hickstead und wanderte den ganzen Sonntag, bis die Sohle an seinem rechten Stiefel fast durchgelaufen war. Erst spät am Abend erreichte er die Drury Lane, ließ in seiner gemieteten Dachkammer die Kricketausrüstung auf den Boden fallen, zog sich aus, fiel auf das schmale Bett und schlief. Er schlief immer noch, als in Old Bailey die Falltür fiel und das Johlen der Menge Tausende Vögel aufgeschreckt in den rauchverhangenen Londoner Himmel flattern ließ. Sandman träumte auch um halb neun noch. Er träumte unruhig und schweißgebadet, stieß einen unzusammenhängenden Alarmruf aus, Hufschlag und das Donnern von Musketen und Kanonen im Ohr, Krummsäbel und blanke Degen vor Augen, und dieses Mal sollte sein Traum damit enden, dass die Kavallerie die gelichteten Reihen der Rotröcke durchbrach, doch dann vermengte sich das Hufgetrappel mit Schritten auf der Treppe und einem flüchtigen Klopfen an seiner dünnen Mansardentür. Er schlug die Augen auf, erkannte, dass er kein Soldat mehr war, und noch bevor er auf das Klopfen antworten konnte, stand Sally Hood im Zimmer. Einen Moment lang hielt Sandman die strahlenden Augen, das Kalikokleid und das goldene Haar für einen Tagtraum, doch dann lachte Sally. »Ich habe Sie geweckt. Gott, tut mir Leid!« Sie wollte schon gehen.

»Schon gut, Miss Hood.« Sandman tastete nach seiner Uhr. Er schwitzte. »Wie spät ist es?«

»Saint Giles hat gerade halb neun geschlagen«, antwortete sie.

»Meine Güte!« Sandman konnte kaum fassen, dass er so lange geschlafen hatte. Es gab nichts, wofür er hätte aufstehen müssen, aber das frühe Aufstehen war ihm schon lange zur Gewohnheit geworden. Er setzte sich im Bett auf und zog sich die dünne Decke vor die Brust, als ihm einfiel, dass er unbekleidet war. »An der Tür hängt ein Morgenmantel, Miss Hood, wenn Sie so nett wären?«

Sally holte den Morgenmantel. »Es ist nur, ich bin schon spät dran«, erklärte sie ihr Erscheinen in seinem Zimmer, »mein Bruder ist weg, ich muss zur Arbeit und kriege die Häkchen an meinem Kleid nicht zu, sehen Sie?« Sie kehrte ihm den Rücken zu und zeigte ihm ihren nackten Rücken. »Ich hätte ja Mrs. Gunn gefragt, aber sie guckt sich heute die Hinrichtung an. Weiß Gott, was sie überhaupt sieht, wo sie doch halb blind und ständig betrunken ist, aber sie hat was für eine gute Hinrichtung übrig, und in ihrem Alter hat sie ja nicht mehr viel Freude. Schon gut, Sie können jetzt aufstehen, ich habe die Augen zu.«

Vorsichtig stand Sandman auf, denn in seiner winzigen Dachkammer gab es kaum eine Stelle, an der er stehen konnte, ohne sich den Kopf an den Dachbalken zu stoßen. Er war sechs Fuß und einen Zoll groß, hatte hellblondes Haar, blaue Augen und ein langes, grobknochiges Gesicht. Er war nicht gut aussehend im herkömmlichen Sinn, dafür war sein Gesicht zu markant, aber aus seiner Miene sprachen eine Kompetenz und Freundlichkeit, die ihn bemerkenswert machten. Er zog seinen Morgenmantel über und schloss den Gürtel. »Sie sagen, Sie müssen arbeiten?«, fragte er Sally. »Eine gute Arbeit, hoffe ich?«

»Nicht gerade das, was ich mir gewünscht habe«, sagte Sally, »weil es nicht auf den Brettern ist.«

»Auf den Brettern?«

»Auf der Bühne, Captain«, erklärte sie. Sie bezeichnete sich als Schauspielerin, was sie vielleicht ja auch war, obgleich Sandman kaum Anzeichen sah, dass die Bühne viel Verwendung für Sally hatte, die sich ebenso wie er selbst knapp am Rande der Anständigkeit durchschlug, wenn auch nur dank ihres Bruders, eines äußerst geheimnisvollen jungen Mannes, der zu seltsamen Tageszeiten arbeitete. »Aber es ist keine schlechte Arbeit«, fuhr sie fort, »und anständig obendrein.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Sandman, der spürte, dass Sally nicht darüber sprechen mochte. Er fragte sich, warum sie eine anständige Arbeit derart vehement verteidigte, während Sally überlegte, warum Sandman, der offensichtlich ein Gentleman war, sich eine Dachkammer in der Taverne Wheatsheaf in Londons Drury Lane gemietet hatte. Abgebrannt, so viel stand fest, aber trotzdem, ausgerechnet das Wheatsheaf? Vielleicht wusste er es nicht besser. Das Wheatsheaf war eine berüchtigte Unterweltspelunke, in der von Taschendieben bis Einbrechern, von Bettlern bis Bankräubern alles verkehrte, und Captain Rider Sandman machte auf Sally den Eindruck eines grundehrlichen Mannes. Aber er war nett, fand Sally. Er behandelte sie wie eine Dame, und obwohl sie nur ab und an ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, wenn sie sich auf den Gasthausfluren begegnet waren, hatte sie eine gewisse Freundlichkeit bei ihm bemerkt. Genügend Freundlichkeit, um ihn an diesem Montagmorgen in seinem Zimmer zu stören. »Und was ist mit Ihnen, Captain?«, fragte sie. »Arbeiten Sie auch?«

»Ich suche eine Stelle, Miss Hood«, sagte Sandman. Es entsprach der Wahrheit, aber er fand keine. Er war zu alt für eine Lehre, besaß keine Ausbildung in Juristerei oder Bankwesen und war zu heikel, um eine Anstellung als Sklaventreiber auf den Zuckerrohrinseln anzunehmen.

»Ich hab gehört, Sie sind Kricketspieler«, sagte Sally.

»Ja, das bin ich.«

»Und ein berühmter dazu, sagt mein Bruder.«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Sandman bescheiden.

»Aber damit können Sie doch bestimmt Geld verdienen, oder?«

»Nicht so viel, wie ich brauche«, sagte Sandman, außerdem galt das nur für den Sommer und falls er bereit wäre, sich auf Bestechung und Korruption einzulassen. »Ich habe hier ein kleines Problem. Es fehlen einige Haken.«

»Das ist, weil ich nie dazu komme, sie anzunähen«, sagte Sally. »Machen Sie einfach, was geht.« Sie starrte auf seinen Kaminsims, auf dem ein Stapel Briefe lagen, deren ausgefranste Ränder erkennen ließen, dass sie vor langer Zeit abgeschickt worden waren. Sie schwankte leicht vor und erkannte, dass der oberste Brief an eine Miss Soundso adressiert war, den Namen konnte sie nicht lesen, aber dieses eine Wort zeigte ihr, dass die Dame Captain Sandman wohl den Laufpass gegeben und ihm seine Briefe zurückgesandt hatte. Armer Captain Sandman, dachte Sally.

»Und an manchen Stellen sind Haken, aber keine Ösen«, sagte Sandman.

»Deshalb habe ich das hier mitgebracht«, sagte Sally und ließ ein ausgefranstes Seidentuch über ihre Schulter baumeln. »Stecken Sie es in die Lücken, Captain. Sorgen Sie dafür, dass ich anständig aussehe.«

»Heute werde ich einige Bekannte aufsuchen«, kam Sandman noch einmal auf ihre Frage von vorhin zurück, »und schauen, ob sie mir eine Anstellung anbieten können, und heute Nachmittag werde ich der Versuchung nachgeben.«

»Ooh!« Sally grinste ihn mit funkelnden blauen Augen über die Schulter an. »Versuchung?«

»Ich werde mir ein Kricketspiel auf dem Artilleriegelände anschauen.«

»Könnte mich nicht reizen«, sagte Sally. »Übrigens, Captain, wenn Sie frühstücken wollen, sollten Sie es bald tun, nach neun kriegen Sie keinen Bissen mehr.«

»Nicht?«, fragte Sandman, obwohl er nicht die geringste Absicht hatte, in der Taverne für ein Frühstück zu bezahlen, das er sich nicht leisten konnte.

»Das ‘Sheaf ist immer brechend voll, wenn es in Newgate eine Hinrichtung gibt«, erklärte Sally. »Hinterher wollen alle frühstücken, wissen Sie? Macht hungrig. Mein Bruder ist auch hin. Er geht immer nach Old Bailey, wenn sie einen aufknüpfen. Sie haben ihn gern dabei.«

»Wer?«

»Seine Freunde. Meistens kennt er einen von den armen Hunden, die zappeln.«

»Zappeln?«

»Aufhängen, Captain. Henken, aufknüpfen, zappeln, baumeln, den Hals zuschnüren, den Newgate-Morris tanzen, auf Jemmy Bottings Bühne tanzen, am Strang gurgeln. Wenn Sie hier leben, müssen Sie die Ausdrücke der Unterwelt lernen, Captain.«

»Das sehe ich ein«, sagte Sandman. Er hatte gerade angefangen, das Seidentuch in die Lücken des Kleides zu flechten, als Dodds, der Laufbursche des Gasthauses, den Kopf durch die halb offene Tür steckte und grinste, weil er Sally Hood in Captain Sandmans Zimmer erwischt hatte und der Captain ihr Kleid richtete, wobei sein Haar zerzaust war und er nichts als einen alten Morgenmantel trug.

»Wenn du dein blödes Maul nicht zumachst, fängst du noch Fliegen damit«, sagte Sally. »Er ist nicht mein Schatz, du dreckiger Mistkerl. Er macht mir nur das Kleid zu, weil mein Bruder und Mutter Gunn zum Galgen sind. Genau da endest du auch, wenn es eine verdammte Gerechtigkeit gibt.«

Dodds achtete nicht auf ihre Tirade, sondern hielt Sandman ein versiegeltes Schreiben hin. »Brief für Sie, Captain.«

»Nett von dir«, sagte Sandman und beugte sich zu seinen über einen Stuhl gefalteten Kleidern, um einen Penny herauszuholen. »Warte einen Moment«, befahl er dem Jungen, der keinerlei Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen, bevor er ein Trinkgeld erhalten hatte.

»Geben Sie ihm bloß nichts!«, protestierte Sally. Sie schob Sandmans Hand fort und nahm Dodds den Brief ab. »Der kleine Fußabtreter hat ihn vergessen, stimmt’s? Heute Morgen ist überhaupt kein Brief gekommen! Wie lange ist er schon hier?«

Dodds schaute sie beleidigt an. »Seit Freitag«, gab er schließlich zu.

»Wenn ein Brief am Freitag kommt, lieferst du ihn verdammt noch mal auch am Freitag ab! So, und jetzt mach dich aus dem Staub!« Sie schlug die Tür hinter dem Jungen zu. »Verflixter Faulpelz. Man sollte ihn nach Newgate schicken und am Galgen tanzen lassen. Das würde ihm seinen verdammten Hals schon lang ziehen.«

Sandman steckte das Seidentuch weiter in die Lücken zwischen den Haken und Ösen des Kleides, trat zurück und nickte. »Sie sehen ganz entzückend aus, Miss Hood.«

»Finden Sie?«

»Wahrhaftig«, bestätigte Sandman. Das hellgrüne Kleid mit dem Kornblumenmuster passte in seinen Farben gut zu Sallys honiggoldener Haut und ihrem lockigen Haar, das ebenso blond war wie Sandmans. Sie war hübsch mit ihren hellblauen Augen, der nicht durch Pockennarben entstellten Haut und ihrem ansteckenden Lächeln. »Das Kleid steht Ihnen wirklich gut«, sagte er.

»Es ist das einzige halbwegs gute Kleid, das ich habe«, sagte sie. »Es muss mir also gut stehen. Danke.« Sie reichte ihm den Brief. »Machen Sie die Augen zu, drehen Sie sich drei Mal auf der Stelle und sagen Sie laut den Namen Ihrer Liebsten, bevor Sie ihn aufmachen.«

Sandman grinste. »Und wozu soll das gut sein?«

»Das bedeutet gute Nachrichten, Captain«, erklärte sie ernsthaft, »gute Nachrichten«. Mit einem Lächeln verschwand sie.

Sandman lauschte ihren Schritten auf der Treppe nach und betrachtete den Brief. Vielleicht war es eine Antwort auf seine Anfragen wegen einer Stelle? Das Briefpapier war ohne Zweifel von bester Qualität, und die Handschrift wirkte gebildet und stilvoll. Er schob einen Finger unter die Umschlagklappe, um das Siegel zu erbrechen, hielt aber dann inne. Obwohl er sich vorkam wie ein Narr, schloss er die Augen, drehte sich drei Mal auf der Stelle und sprach laut den Namen seiner Liebsten: »Eleanor Forrest«. Dann öffnete er die Augen, brach das rote Briefsiegel auf und faltete den Bogen auseinander. Er las, las noch einmal und überlegte, ob es eine gute Nachricht war.

Der ehrenwerte Viscount Sidmouth entbot Captain Sandman seinen Gruß und bat um die Ehre seines baldigsten Besuchs, vorzugsweise am Vormittag in Lord Sidmouths Büro. Um umgehende Antwort an Lord Sidmouths Privatsekretär wurde gebeten.

Sandmans erster Gedanke war, dass der Brief schlechte Neuigkeiten bedeuten müsse, dass sein Vater den Viscount Sidmouth ebenso betrogen habe wie so viele andere und dass seine Lordschaft ihm nun schrieb, um Ansprüche auf die jämmerlichen Überreste des Sandman-Vermögens zu erheben. Das war jedoch Unsinn. Soweit Rider Sandman wusste, war sein Vater Lord Sidmouth nie begegnet, denn wäre das der Fall gewesen, so hätte er sich zweifellos damit gebrüstet, da Sandmans Vater die Gesellschaft bedeutender Männer geliebt hatte. Und es gab nur wenige bedeutendere Männer als den ehrenwerten Henry Addington, erster Viscount Sidmouth, ehemaliger Premierminister von Großbritannien und nun Innenminister seiner Majestät.

Weshalb wollte der Innenminister Rider Sandman sehen?

Es gab nur eine Möglichkeit, es zu erfahren.

Sandman zog sein sauberstes Hemd an, putzte seine abgetragenen Stiefel mit dem schmutzigsten Hemd, bürstete seinen Rock aus, kleidete sich, seine Armut verleugnend, als der Gentleman, der er war, und machte sich auf den Weg zu Lord Sidmouth.

Viscount Sidmouth war ein durch und durch dünner Mann mit dünnen Lippen, dünnem Haar, dünner Nase, schmalem Kiefer, spitzem Kinn und Augen von der Wärme eines spitz behauenen Feuersteins. Seine dünne Stimme war präzise, trocken und unfreundlich. In seinem Spitznamen, »der Doktor«, schwang weder Wärme noch Zuneigung mit, aber er war treffend, denn seine Lordschaft war nüchtern, missbilligend und kalt. Er hatte Sandman zwei und eine viertel Stunde warten lassen, doch daraus konnte Sandman dem Innenminister wohl keinen Vorwurf machen, da er unangemeldet in seinem Büro erschienen war. Nun, während eine Schmeißfliege an einem der Oberlichter brummte, musterte Lord Sidmouth seinen Besucher stirnrunzelnd über den Schreibtisch hinweg. »Sir John Colborne hat Sie empfohlen.«

Sandman antwortete mit einem wortlosen Kopfnicken. Es gab nichts zu sagen. Eine Großvateruhr tickte laut in einer Ecke des Büros.

»Sie waren in Sir Johns Bataillon in Waterloo, stimmt das?«, fragte Sidmouth.

»Ja, Mylord.«

Sidmouth knurrte, als habe er nicht viel für Männer übrig, die in Waterloo waren, und Sandman überlegte, dass dies durchaus denkbar war, da Großbritannien sich mittlerweile in zwei Lager zu spalten schien, in die Männer, die gegen die Franzosen gekämpft hatten, und jene, die zu Hause geblieben waren. Die Letzteren waren neidisch, vermutete Sandman, und deuteten ganz gern an, sie hätten die Chance verpasst, sich im Ausland zu amüsieren, weil schließlich jemand den Wohlstand Britanniens habe sicherstellen müssen. Die Kriege gegen Napoleon lagen inzwischen zwei Jahre zurück, aber diese Kluft hielt sich beharrlich, obgleich Sir John Colborne einen gewissen Einfluss bei der Regierung besitzen musste, wenn seine Empfehlung bewirkt hatte, dass man Sandman zum Innenminister rief. »Sir John teilt mir mit, dass Sie eine Anstellung suchen?«, fragte der Innenminister.

»Ich muss, Mylord.«

»Muss?«, hakte Sidmouth nach. »Muss? Sie beziehen doch als ehemaliger Offizier sicher ein Ruhegeld? Und Ruhegeld ist kein geringes Einkommen, möchte ich meinen?« Die Frage klang säuerlich, als missbillige Seine Lordschaft zutiefst, dass Pensionen an Männer gezahlt wurden, die durchaus imstande waren, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

»Ich habe keinen Anspruch auf Ruhegeld, Mylord«, sagte Sandman. Er hatte sein Offizierspatent verkauft und wegen der Friedenszeiten weniger dafür erzielt, als er erhofft hatte, aber es hatte gereicht, um ein Haus für seine Mutter zu pachten.

»Sie haben keine Einkünfte?«, fragte Sebastian Witherspoon, der Privatsekretär des Innenministers, von seinem Stuhl neben dem Schreibtisch seines Herrn.

»Nur geringe«, antwortete Sandman, hielt es aber für besser, nicht zu sagen, dass er sein kleines Einkommen mit Kricket verdiente. Der Viscount Sidmouth wirkte nicht wie ein Mann, der so etwas billigen würde. »Nicht genug«, berichtigte Sandman seine Antwort, »und ein großer Teil dieser Einkünfte fließt in die Begleichung kleinerer Schulden meines Vaters. Schulden bei Kaufleuten«, fügte er für den Fall hinzu, dass der Innenminister annehmen könnte, er versuche die beträchtlichen Summen abzuzahlen, die er wohlhabenden Investoren schuldete.

Witherspoon runzelte die Stirn. »Rechtlich sind Sie nicht für die Schulden Ihres Vaters verantwortlich, Sandman.«

»Ich bin für den guten Namen meiner Familie verantwortlich«, antwortete Sandman.

Lord Sidmouth schnaubte verächtlich, sei es als Hohn über Sandmans guten Namen, als ironische Antwort auf seine offenkundigen Skrupel oder, was wahrscheinlicher war, als Kommentar zu Sandmans Vater, der sich angesichts einer drohenden Inhaftierung oder Verbannung wegen seiner hohen Schulden das Leben genommen, seinem Namen Schande gemacht und seine Frau und seine Familie ruiniert zurückgelassen hatte. Der Innenminister musterte Sandman lange und säuerlich und schaute dann zu der Schmeißfliege, die gegen das Fenster flog. Die Großvateruhr tickte hohl. Im Zimmer war es heiß. Sandman spürte unbehaglich den Schweiß, der sein Hemd durchnässte. Das Schweigen zog sich in die Länge, während der Innenminister, wie Sandman vermutete, abwog, ob es klug sei, dem Sohn Ludovic Sandmans eine Stellung anzubieten. Fuhrwerke rumpelten unter dem Fenster vorbei. Hufgeklapper durchschnitt die Luft. Endlich kam Lord Sidmouth zu einer Entscheidung: »Ich brauche einen Mann für eine Aufgabe, aber ich sollte Ihnen gleich sagen, dass es sich nicht um eine dauerhafte Position handelt. Es ist keineswegs dauerhaft.«

»Es ist alles andere als dauerhaft«, warf Wither­spoon ein.

Sidmouth wirkte verdrossen über den Beitrag seines Sekretärs. »Die Position ist durchaus vorübergehend«, sagte er mit einer Geste auf einen großen, hüfthohen Korb, der voller Papiere auf dem Teppich stand. Manche waren gerollt, andere gefaltet und mit Siegellack verschlossen, während einige ihren Anspruch auf amtlichen Charakter durch rotes Band kenntlich machten. »Das sind Petitionen, Captain«, erklärte Lord Sidmouth in einem Ton, der seine Verachtung für Bittschriften unverhohlen zum Ausdruck brachte. »Ein verurteilter Verbrecher kann an den Regenten ein Gnadengesuch stellen oder sogar um vollständigen Straferlass ersuchen. Das ist ihr Vorrecht, Captain, und sämtliche Petitionen dieser Art aus ganz England und Wales landen in diesem Büro. Wir bekommen davon alljährlich an die zweitausend! Anscheinend gelingt es jedem zum Tode Verurteilten, in seinem Namen eine Petition einreichen zu lassen, und alle müssen gelesen werden. Werden sie nicht alle gelesen, Witherspoon?«

Sidmouth’ Sekretär, ein junger, pausbäckiger Mann mit stechenden Augen und eleganten Manieren, nickte. »Sicher werden sie geprüft, Mylord. Es wäre nachlässig von uns, solche Bitten unbeachtet zu lassen.«

»Nachlässig, wahrhaftig«, sagte Sidmouth feierlich, »und wenn das Verbrechen nicht allzu abscheulich ist, Captain, und wenn Personen von Stand bereit sind, sich für den Verurteilten zu verwenden, zeigen wir eventuell Milde. Wir verwandeln möglicherweise ein Todesurteil in, sagen wir, eine Verbannung.«

»Sie, Mylord?«, fragte Sandman, verwundert über das Wörtchen »wir«.

»Die Petitionen sind an den König gerichtet«, erklärte der Innenminister, »aber die Entscheidung liegt im Grunde bei mir. Meine Entscheidungen werden anschließend vom Kronrat ratifiziert, und ich kann Ihnen versichern, Captain, ich meine ratifiziert, nicht in Frage gestellt.«

»Wahrhaftig nicht!« Witherspoon klang amüsiert.

»Ich entscheide«, erklärte Sidmouth gehässig. »Es gehört zu den Zuständigkeiten dieses hohen Amtes, Captain, zu entscheiden, wer hingerichtet und wer verschont wird. In Australien gibt es Hunderte Seelen, die ihr Leben diesem Amt verdanken, Captain.«

»Und ich bin sicher, dass ihre Dankbarkeit keine Grenzen kennt«, warf Witherspoon aalglatt ein.

Sidmouth schenkte seinem Sekretär keine Beachtung, sondern schob Sandman eine mit Band versehene Schriftrolle zu. »Und ab und an, allerdings äußerst selten, veranlasst eine Petition uns zu einer Untersuchung des Sachverhalts. In diesen seltenen Fällen beauftragen wir jemanden mit einer Untersuchung, allerdings tun wir das nur ungern, Captain.« Er stockte, offensichtlich um Sandman Gelegenheit zu der Frage zu geben, warum das Innenministerium nur widerstrebend eine Untersuchung einleitete, aber diese Frage kam Sandman anscheinend nicht in den Sinn, während er das Band der Schriftrolle entfernte. »Ein zum Tode Verurteilter hat in jedem Fall ein Gerichtsverfahren hinter sich«, erklärte der Innenminister dennoch. »Er oder sie wurde von einem Gericht für schuldig befunden und verurteilt, und es ist nicht Aufgabe der Regierung Seiner Majestät, Fakten zu überprüfen, die von einem ordentlichen Gericht festgestellt wurden. Es entspricht nicht unserer Politik, die Gerichtsbarkeit zu untergraben, Captain, doch ab und an, äußerst selten, führen wir eine Untersuchung durch. Bei dieser Petition handelt es sich um einen dieser seltenen Fälle.«

Sandman entrollte die Bittschrift, die in bräunlicher Tinte auf billigem gelbem Papier geschrieben war. Er las: Gor ist mein Zeuge, er is ein guhter Junge. Er könnte nie die Lady Avebury umbringen, Got weis, das er nicht mal ner Fliege was thun könnte. In dieser Weise ging es noch lange weiter, aber Sandman konnte nicht länger lesen, da der Innenminister seine Erläuterungen fortsetzte.

»Die Angelegenheit betrifft Charles Corday«, erklärte Lord Sidmouth. »Das ist nicht sein richtiger Name. Wie Sie selbst sehen, stammt die Petition von Cordays Mutter, die mit Cruttwell unterschreibt, aber der Junge hat offenbar einen französischen Namen angenommen. Weiß Gott, warum. Er wurde wegen Mordes an der Countess of Avebury verurteilt. Sie erinnern sich sicher an den Fall?«

»Ich fürchte nein, Mylord«, antwortete Sandman. Er hatte sich nie für Kriminalfälle interessiert, nie die Newgate Calendars gekauft oder die Handzettel gelesen, die berühmt berüchtigte Schurken und ihre verruchten Taten feierten.

»Da gibt es nichts Geheimnisvolles«, sagte der Innenminister. »Der Elende hat die Countess of Avebury vergewaltigt und erstochen, den Galgen also mehr als verdient. Wann soll die Hinrichtung stattfinden?«, fragte er Witherspoon.

»Heute in einer Woche, Mylord«, antwortete Witherspoon.

»Wenn es nichts Geheimnisvolles gibt, warum soll der Fall dann untersucht werden?«, erkundigte sich Sandman.

»Weil die Bittstellerin, Maisie Cruttwell«, Sidmouth sprach den Namen aus, als hinterließe er einen sauren Beigeschmack im Mund, »Näherin Ihrer Majestät, Queen Charlotte, ist und Ihre Majestät geruht hat, sich der Sache anzunehmen.« Lord Sidmouth’ Ton ließ deutlich erkennen, dass er die Ehefrau Königs George III. für diese Gnade am liebsten erwürgt hätte. »Es ist meine Aufgabe und meine Pflicht, Ihrer Majestät zu versichern, dass jede erdenkliche Überprüfung stattgefunden hat und an der Schuld des Elenden keinerlei Zweifel bestehen kann. Daher habe ich Ihrer Majestät geschrieben und ihr mitgeteilt, dass ich jemanden mit der Untersuchung betraue, der die Fakten prüft und somit sicherstellt, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Sidmouth hatte all diese Ausführungen in gelangweiltem Ton gemacht, deutete aber nun mit seinem knochigen Finger auf Sandman. »Ich frage Sie, ob Sie diese Untersuchung übernehmen wollen, Captain, und ob Sie begreifen, was hier von Nöten ist.«

Sandman nickte. »Sie möchten die Königin beruhigen, Mylord, und dazu müssen Sie sich von der Schuld des Gefangenen restlos überzeugen.«

»Nein!«, fuhr Sidmouth ihn an und klang aufrichtig erzürnt. »Ich bin bereits restlos von der Schuld des Mannes überzeugt. Corday, oder wie er sich nennen mag, wurde nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren verurteilt. Die Königin braucht diese Vergewisserung.«

»Ich verstehe«, sagte Sandman.

Witherspoon beugte sich vor. »Verzeihen Sie die Frage, Captain, aber Sie hegen doch keine radikalen Überzeugungen?«

»Radikal?«

»Sie haben doch keine Einwände gegen den Galgen?«

»Für einen Mann, der vergewaltigt und tötet?« Sandman klang verärgert. »Natürlich nicht.« Die Antwort war hinreichend ehrlich, obwohl Sandman in Wahrheit noch nicht viel über den Galgen nachgedacht hatte. Er hatte noch nie eine Hinrichtung gesehen, auch wenn er natürlich wusste, dass es in Newgate einen Galgen gab, einen zweiten auf der Südseite des Flusses im Gefängnis Horsemonger Lane und weitere in jeder Stadt mit einem Geschworenengericht in England und Wales. Gelegentlich hörte er Debatten, es gäbe zu viele Hinrichtungen oder es sei unsinnig, einen hungrigen Dörfler zu henken, weil er ein Lamm für fünf Schillinge gestohlen habe, aber nur wenige wollten den Galgen vollends abschaffen. Hinrichtungen dienten als Abschreckung, Strafe und Exempel. Sie waren notwendig. Sie waren ein Werkzeug der Zivilisation, das alle rechtschaffenen Bürger vor Rechtsbrüchigen schützte.

Witherspoon lächelte zufrieden über Sandmans verärgerte Antwort. »Ich habe Sie nicht für einen Radikalen gehalten«, sagte er beschwichtigend, »aber man muss sichergehen.«

»Also«, Lord Sidmouth warf einen Blick auf die Großvateruhr, »übernehmen Sie die Untersuchung?« Er erwartete eine umgehende Antwort, aber Sandman zögerte, nicht etwa, weil er den Auftrag nicht wollte, sondern weil er bezweifelte, ob er die Qualifikationen zur Untersuchung eines Verbrechens besaß. Andererseits überlegte er, wer sie wohl besitzen mochte. Lord Sidmouth deutete sein Zögern fälschlicherweise als Widerstreben. »Die Aufgabe dürfte Sie wohl kaum überfordern, Captain«, sagte er gereizt. »Der Elende ist eindeutig schuldig, und man wünscht lediglich, die weiblichen Bedenken der Königin auszuräumen. Ein Monatsgehalt für einen Tag Arbeit?« Er hielt inne und schnaubte. »Oder fürchten Sie, die Aufgabe könnte Sie von Ihrem Kricket abhalten?«

Da Sandman auf das Geld angewiesen war, überhörte er die Beleidigungen. »Selbstverständlich übernehme ich die Aufgabe, Mylord. Es ist mir eine Ehre.«

Witherspoon stand auf zum Zeichen, dass die Audienz beendet war, und der Innenminister entließ ihn mit einem Kopfnicken. »Witherspoon wird Ihnen eine Vollmacht ausstellen. Ich erwarte Ihren Bericht. Guten Tag, Sir.«

»Zu Diensten, Mylord.« Sandman verbeugte sich, aber der Innenminister hatte sich bereits anderen Aufgaben zugewandt.

Sandman folgte dem Sekretär in ein Vorzimmer, wo ein Schreiber emsig beschäftigt war. »Es wird einen Augenblick dauern, Ihre Vollmacht zu versiegeln. Nehmen Sie bitte Platz«, sagte Witherspoon.

Sandman hatte die Corday-Petition mitgenommen und las sie nun in Ruhe durch, fand in den vielen falsch geschriebenen Worten jedoch kaum Erhellendes. Die Mutter des Verurteilten hatte lediglich unzusammenhängende Bitten um Gnade diktiert und mit einem Kreuz unterzeichnet. Ihr Sohn sei ein guter Junge, behauptete sie, eine harmlose Seele und ein Christenmensch, aber unter der Bittschrift standen zwei vernichtende Bemerkungen. Die erste lautete: Lächerlich, er ist eines abscheulichen Verbrechens schuldig. Der zweite Kommentar in unleserlicher Handschrift besagte: Lassen wir dem Gesetz seinen Lauf. Sandman zeigte Witherspoon die Petition. »Wer hat diese Anmerkungen geschrieben?«

»Die zweite ist die Entscheidung des Innenministers«, sagte Witherspoon, »geschrieben, bevor wir wussten, dass Ihre Majestät involviert ist. Und die erste? Sie stammt von dem Richter, der das Urteil gefällt hat. Es ist üblich, alle Petitionen an den betreffenden Richter weiterzureichen, bevor eine Entscheidung gefällt wird. In diesem Fall war das Sir John Silvester. Kennen Sie Ihn?«

»Ich furchte, nein.«

»Er ist der Strafrichter von London und, wie Sie daraus schließen dürfen, ein überaus erfahrener Richter. Gewiss kein Mann, der in seinem Gerichtssaal einen groben Gesetzesverstoß zulassen würde.« Er reichte dem Schreiber einen Brief. »Die Vollmacht muss selbstverständlich auf Ihren Namen ausgestellt sein. Gibt es Fallstricke in der Schreibweise?«

»Nein«, sagte Sandman. Während der Schreiber seinen Namen in die Vollmacht eintrug, las er die Petition noch einmal, aber sie lieferte keine sachdienlichen Argumente gegen den Urteilsspruch. Maisie Cruttwell behauptete, ihr Sohn sei unschuldig, konnte aber keinen Beweis dafür erbringen. Vielmehr richtete sie ein Gnadengesuch an den König. »Wieso haben Sie eigentlich mich gefragt?«, erkundigte Sandman sich bei Witherspoon. »Ich meine, Sie haben doch sicher schon früher Untersuchungen von anderen durchführen lassen? War ihre Arbeit nicht zufriedenstellend?«

»Mister Talbot arbeitete durchaus zufriedenstellend«, antwortete Witherspoon, während er nach dem Siegel suchte, das die Echtheit der Vollmacht beglaubigen würde. »Aber er ist gestorben.«

»Ach.«

»Ein Schlaganfall«, sagte Witherspoon, »sehr tragisch. Und wieso Sie? Weil, wie der Innenminister Ihnen bereits gesagt hat, Sie empfohlen wurden.« Er kramte in einer Schublade nach dem Siegel. »Ich hatte einen Cousin in Waterloo«, fuhr er fort, »einen Captain Witherspoon, Husar. Er gehörte zum Stab des Herzogs. Kannten Sie ihn?«

»Nein, leider nicht.«

»Er ist gefallen.«

»Das tut mir Leid.«

»Vielleicht war es so das Beste«, sagte Witherspoon. Endlich hatte er das Siegel gefunden. »Er sagte immer, er fürchte das Ende des Krieges. Er fragte sich, welchen Reiz der Frieden bringen könne.«

»Das war eine verbreitete Angst in der Armee«, sagte Sandman.

Der Sekretär erwärmte eine Stange Siegellack über einer Kerzenflamme. »Dieses Schreiben bestätigt, dass Sie im Namen des Innenministeriums Nachforschungen anstellen, und bittet alle Personen um ihre Mitwirkung, ohne allerdings eine entsprechende Weisung zu enthalten. Merken Sie sich diesen Unterschied, Captain, merken Sie ihn sich gut. Wir haben keine rechtliche Handhabe, Unterstützung zu verlangen«, erklärte er, während er das Wachs auf den Brief tropfen ließ und das Siegel sorgsam in den roten Fleck drückte. »Wir können also lediglich um Mithilfe ersuchen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir dieses Schreiben nach Abschluss Ihrer Untersuchungen wieder aushändigen würden. Was die eigentlichen Nachforschungen angeht, so denke ich, dass sie nicht allzu eingehend sein müssen, Captain. Die Schuld des Mannes wurde bereits zweifelsfrei festgestellt. Corday ist ein Vergewaltiger, Mörder und Lügner, wir brauchen lediglich ein Geständnis von ihm. Sie finden ihn in Newgate, und wenn Sie energisch genug auftreten, wird er zweifellos seine rohe Tat gestehen, und Ihre Arbeit ist erledigt.« Er reichte Sandman die Vollmacht. »Ich erwarte, bald von Ihnen zu hören. Wir brauchen einen schriftlichen Bericht, aber fassen Sie sich bitte kurz.« Plötzlich zog er das Schreiben zurück, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen: »Was wir auf keinen Fall wünschen, sind Komplikationen, Captain. Liefern Sie uns einen knappen Bericht, der meinem Herrn die Möglichkeit bietet, der Königin zu versichern, dass es keine Gründe für einen Straferlass gibt, und dann vergessen wir die ganze Angelegenheit.«

»Und wenn er kein Geständnis ablegt?«, fragte Sandman.

»Bringen Sie ihn dazu«, erklärte Witherspoon mit Nachdruck. »Er wird ohnehin gehenkt, Captain, ob Sie Ihren Bericht abliefern oder nicht. Es wäre nur wesentlich einfacher, wenn wir Ihrer Majestät die Schuld des Mannes bestätigen könnten, bevor der Schurke hingerichtet wird.«

»Und wenn er unschuldig wäre?«, fragte Sandman.

Witherspoon wirkte entsetzt über diese Annahme. »Wie sollte er? Er wurde bereits für schuldig befunden!«

»Sicher«, sagte Sandman, nahm das Schreiben und steckte es in seine Jackentasche. Verlegen sagte er: »Seine Lordschaft erwähnte ein Entgelt.« Er hasste es, über Geld zu reden, es kam einem Gesichtsverlust gleich, aber das galt auch für seine Armut.

»Ja«, bestätigte Witherspoon. »Mister Talbot haben wir gewöhnlich zwanzig Guineen gezahlt, aber in diesem Fall dürfte es mir schwer fallen, das gleiche Honorar zu empfehlen. Die Angelegenheit ist doch allzu banal, daher werde ich eine Zahlung von fünfzehn Guineen bewilligen. Wohin soll ich Ihnen die Anweisung schicken?« Er schaute auf sein Notizbuch und war entsetzt. »Tatsächlich? Das Wheatsheaf? In der Drury Lane?«

»Tatsächlich«, erwiderte Sandman steif. Ihm war klar, dass Witherspoon eine Erklärung verdiente, da das Wheatsheaf als Verbrecherhöhle berüchtigt war, aber diesen Ruf hatte Sandman nicht gekannt, als er dort nach einem Zimmer gefragt hatte, zudem hielt er es nicht für notwendig, sich vor Witherspoon zu rechtfertigen.

»Sie müssen es wissen«, sagte Witherspoon skeptisch.

Sandman zauderte. Er war kein Feigling, stand sogar im Ruf eines tapferen Mannes, aber diesen Ruf hatte er sich auf dem Schlachtfeld erworben, und was er nun tun musste, erforderte seinen gesamten Mut. »Sie erwähnten eine Anweisung, Mister Witherspoon. Ich überlege, ob ich Sie bewegen könnte, mir das Geld bar auszuzahlen? Ich werde sicher Auslagen haben …« Er stockte, weil ihm um sein Leben nicht einfiel, worin diese Auslagen bestehen könnten.

Doch Witherspoon und der Schreiber starrten Sandman an, als habe er gerade seine Hose fallen lassen. »Bar?«, fragte Witherspoon leise.

Sandman merkte, dass er rot wurde. »Sie möchten die Angelegenheit rasch erledigt wissen, und es könnten Eventualitäten eintreten, die Auslagen erfordern. Wie diese Eventualitäten aussehen mögen, kann ich nicht vorhersehen, aber …« Achselzuckend brach er ab.

»Prendergast«, selbst als Witherspoon mit dem Schreiber sprach, starrte er Sandman an, »gehen Sie bitte zu Mister Hodge, bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir und bitten Sie ihn, uns fünfzehn Guineen auszuzahlen«, er stockte, den Blick immer noch unverwandt auf Sandman gerichtet. »In bar.«

Nachdem das Geld geholt und ausgezahlt war, verließ Sandman das Innenministerium mit den Taschen voller Gold. Verfluchte Armut, dachte er, aber im Wheatsheaf war die Miete fällig, und er hatte seit drei Tagen nicht mehr ordentlich gegessen.

Fünfzehn Guineen. Jetzt konnte er sich eine Mahlzeit leisten. Eine Mahlzeit, etwas Wein und einen Nachmittag beim Kricket. Eine verlockende Aussicht, aber Sandman war kein Mann, der sich vor der Pflicht scheute. Er mochte zwar nur vorübergehend eine Untersuchung für das Innenministerium führen, aber wenn er diese Nachforschungen rasch erledigte, konnte er vielleicht weitere, lukrativere Aufträge von Lord Sidmouth bekommen, und da ein solcher Ausgang inständig zu wünschen war, würde er auf das Essen verzichten, den Wein vergessen und das Kricket verschieben.

Denn er hatte einen Mörder aufzusuchen und ein Geständnis zu erlangen.

Sandman machte sich also auf den Weg, die Sache zu erledigen.

Auf Old Bailey, einer trichterförmigen Straße, die sich von der Newgate Street zum Ludgate Hill allmählich verengte, wurde der Galgen abgebaut. Der schwarze Stoff, mit dem das Podest verhängt war, lag bereits zusammengefaltet auf einem Karren, und gerade reichten zwei Männer den schweren Balken herunter, an dem man die vier Gefangenen gehenkt hatte. Die ersten Flugschriften mit Schilderungen der Hinrichtungen wurden für einen Penny das Stück an die Überreste der morgendlichen Menschenmenge verhökert. Sie hatten gewartet, bis Jemmy Botting die vier Leichen aus der Senke geholt, ihnen den Strang abgenommen und sie in den Sarg gelegt hatte. Eine Hand voll Zuschauer war anschließend auf das Galgenpodest geklettert, um mit ihren Warzen und Geschwüren die Hand eines der Toten zu berühren.

Schließlich hatte man die Särge ins Gefängnis gebracht, doch manche Zuschauer waren noch geblieben, um sich den Abbau des Galgens anzusehen. Zwei Straßenhändler boten Seilstücke an, die angeblich von den Galgenstricken stammten. Anwälte in Perücke und schwarzer Robe hasteten zwischen Lamb Inn, Magpie and Stump und den Sitzungssälen des Gerichts hin und her, das neben dem Gefängnis stand. Inzwischen war die Straße wieder für den Verkehr frei gegeben, und so musste Sandman sich zwischen Fuhrwerken, Kutschen und Handkarren hindurchschlängeln, um zum Gefängnistor zu gelangen, wo er statt Wächter, Schloss und Riegel, wie er erwartet hatte, einen uniformierten Pförtner am Ende der Treppe und ein reges Kommen und Gehen vorfand. Frauen trugen Essenpakete, Säuglinge und Flaschen mit Gin, Bier oder Rum. Kinder liefen schreiend umher, während zwei Schankgehilfen aus dem Magpie and Stump auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf Holztabletts warmes Essen für Gefangene brachten, die sich ihre Dienste leisten konnten.

»Euer Ehren suchen jemanden?«, fragte der Pförtner, der Sandmans Verwirrung bemerkt und sich durch das Gedränge gezwängt hatte.

»Ich suche Charles Corday«, antwortete Sandman, und als er die verwunderte Miene des Pförtners bemerkte, fügte er hinzu, er komme vom Innenministerium. »Mein Name ist Sandman, Captain Sandman, ich führe eine amtliche Untersuchung im Auftrag von Lord Sidmouth durch.« Er holte das Schreiben mit dem imposanten Siegel des Innenministeriums hervor.

Der Pförtner interessierte sich kaum für das Schreiben. »Sie sind der Nachfolger von Mister Talbot, Gott hab ihn selig. Ein richtiger Gentleman war das, Sir.«

Sandman steckte das Schreiben ein. »Vielleicht sollte ich dem Gouverneur meine Aufwartung machen?«

»Der Verwalter, Sir, Mister Brown ist der Gefängnisverwalter, aber er legt bestimmt keinen Wert auf Ihre Aufwartung, Sir, weil das nichts bringt. Gehen Sie einfach rein, Sir, und sprechen Sie mit dem Gefangenen. Also, Mister Talbot, Gott hab ihn selig, ist immer mit ihnen in eine der leeren Salzkisten gegangen und hat ein bisschen mit ihnen geplaudert.« Grinsend deutete der Pförtner Schläge an. »Mister Talbot war sehr für die Wahrheit. Groß war er, aber das sind Sie ja auch. Wie hieß der Bursche noch gleich?«

»Corday.«

»Er ist zum Tode verurteilt, oder? Dann finden Sie ihn im Presshof, Euer Ehren. Haben Sie eine Knarre dabei, Sir?«

»Eine Knarre?«

»Eine Pistole, Sir. Nein? Manche Gentlemen tragen eine Waffe, aber das ist nicht ratsam, Sir, weil die Schweinehunde Sie überwältigen könnten. Wollen Sie noch einen Rat haben, Captain?« Der Pförtner, dessen Atem nach Rum stank, packte Sandman am Revers, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Er sagt Ihnen bestimmt, dass er es nicht getan hat, Sir. Hier drinnen gibt es nicht einen Schuldigen, keinen einzigen. Jedenfalls nicht, wenn Sie sie fragen. Sie schwören alle beim Leben ihrer Mutter, dass sie es nicht waren, aber sie waren es doch. Sie waren es alle.« Grinsend ließ er Sandmans Rock los. »Haben Sie eine Uhr, Sir? Haben Sie, Sir? Sie nehmen besser nichts mit rein, was gestohlen werden könnte. Lassen Sie es lieber hier in meinem Schrank, Sir, unter Verschluss und meinem wachsamen Auge. Um die Ecke finden Sie eine Treppe, Sir. Da gehen Sie runter und dann durch den Tunnel. Stören Sie sich nicht an dem Gestank. Aufgepasst!« Diese Warnung richtete sich an alle Anwesenden in der Eingangshalle, weil vier Arbeiter in Begleitung von drei mit Schlagstöcken bewaffneten Wachen einen schlichten Holzsarg aus dem Gefängnis trugen. »Das ist das Mädchen, das sie heute Morgen aufgeknüpft haben, Sir«, vertraute der Pförtner Sandman an. »Es wird zu den Wundärzten gebracht. Die Herren haben gern eine junge Frau zum Zerschneiden. Die Treppe runter, Sir, und dann immer der Nase nach.«

Der Gestank ungewaschener Körper erinnerte Sandman an die spanischen Quartiere erschöpfter Rotröcke. Es wurde immer schlimmer, je weiter er sich in dem gepflasterten Tunnel der Treppe am anderen Ende näherte, die in einem Wachraum neben dem wuchtigen, verriegelten Tor zum Presshof mündete. Zwei mit Knüppeln bewaffnete Schließer bewachten das Tor. »Charles Corday?«, fragte einer, als Sandman sich erkundigte, wo er den Gefangenen finden könne. »Den können Sie gar nicht verpassen. Wenn er nicht im Hof ist, muss er bei den anderen im Aufenthaltsraum sein.« Er deutete auf eine offene Tür am anderen Ende des Hofes. »Er sieht aus wie ‘ne Schnepfe, deshalb können Sie ihn auch nicht verpassen.«

»Eine Schnepfe?«

Der Mann entriegelte das Tor. »Er sieht aus wie ein Mädchen, Sir«, erklärte er boshaft. »Sind wohl ein Freund von ihm, was?« Sein Grinsen schwand, als Sandman sich umdrehte und ihn anstarrte. »Ich sehe ihn nicht auf dem Hof, Sir.« Der Mann hatte gedient und nahm unter Sandmans Blick instinktiv Haltung an. »Dann ist er bestimmt im Aufenthaltsraum, Sir. Die Tür da drüben, Sir.«

Der schmale Presshof lag eingezwängt zwischen hohen, düsteren Gebäuden. Nur wenig Licht fiel durch ein Gewirr von Eisenspitzen auf der Mauer zur Newgate Street in den Hof, wo einige Gefangene, leicht an ihren Fußeisen zu erkennen, mit Besuchern saßen. Kinder spielten an einem offenen Abwassergraben. Ein Blinder saß auf den Stufen, die zu den Zellen führten, brabbelte vor sich hin und kratzte an den Schwären seiner gefesselten Knöchel. Ein Betrunkener, ebenfalls in Ketten, schlief, während eine Frau, offensichtlich seine Ehefrau, still an seiner Seite weinte. Sie hielt Sandman irrtümlich für einen reichen Mann und streckte bettelnd die Hand aus. »Haben Sie Mitleid mit einer armen Frau, Euer Ehren, haben Sie Mitleid.«

Sandman ging in den großen Aufenthaltsraum, der voller Tische und Bänke stand. In einem offenen Kamin brannte ein Kohlenfeuer. Darüber hingen Töpfe an einem verstellbaren Schwenkarm. Zwei Frauen rührten in den Töpfen, offensichtlich kochten sie für gut ein Dutzend Leute, die an den langen Tischen saßen. Der einzige Wärter im Raum, ein jüngerer Mann mit einem Schlagstock, saß ebenfalls an einem Tisch, trank mit den Gefangenen Gin und lachte mit ihnen. Das Gelächter verstummte, als Sandman eintrat. Jemand spuckte aus. Etwas an Sandman, vielleicht seine Größe, strahlte Autorität aus, und an diesem Ort war Autorität nicht willkommen.

»Corday!«, rief Sandman im gewohnten Befehlston des Offiziers. »Ich suche Charles Corday!« Niemand antwortete. »Corday!«, wiederholte Sandman.

»Sir?« Die zittrige Stimme kam aus der abgelegensten, dunkelsten Ecke des Raumes. Sandman schlängelte sich zwischen den Tischen durch und erblickte eine jämmerliche Gestalt, die an der Wand kauerte. Charles Corday war sehr jung, kaum älter als siebzehn, dünn, ja, geradezu schmächtig, und hatte ein totenbleiches Gesicht, das von langem, blondem Haar gerahmt war und tatsächlich mädchenhaft wirkte. Er hatte lange Wimpern, zitternde Lippen und einen blauen Fleck auf einer Wange.

»Sind Sie Charles Corday?« Sandman fasste unwillkürlich eine tiefe Abneigung gegen den Jungen, der allzu zart und weinerlich aussah.

»Ja, Sir.« Cordays rechter Arm zitterte.

»Stehen Sie auf«, befahl Sandman. Corday blinzelte überrascht über den Kommandoton, gehorchte aber mit schmerzverzerrtem Gesicht, weil die Fußeisen ihm in die Knöchel schnitten. »Der Innenminister schickt mich«, sagte Sandman, »wir müssen uns irgendwo ungestört unterhalten. Vielleicht können wir eine der Zellen benutzen? Kommen wir von hier aus dorthin. Oder vom Hof aus?«

»Vom Hof, Sir«, sagte Corday, obwohl er die restlichen Erklärungen seines Besuchers kaum verstanden zu haben schien.

Sandman führte Corday zur Tür. »Ist das dein Freier, Charlie?«, fragte ein Mann in Beinschellen. »Kommt wohl, um dich zum Abschied noch mal zu knutschen, was?« Die anderen Gefangenen lachten, aber Sandman besaß die Fähigkeit des erfahrenen Offiziers, ungebührliches Benehmen zu ignorieren, und ging einfach weiter.

Als er Corday kreischen hörte, drehte er sich um und sah, dass ein unrasierter Mann mit fettigem Haar Corday an den Haaren zog wie an einer Leine. »Ich hab dich was gefragt, Charlie!«, sagte der Mann und zerrte an Cordays Haaren, dass der Junge erneut aufschrie. »Gib uns einen Kuss, Charlie«, forderte der Mann, »gib uns einen Kuss.« Die Frauen am Tisch beim Kamin lachten über Cordays Not.

»Lassen Sie ihn los«, sagte Sandman.

»Du hast hier nichts zu befehlen, Kumpel«, knurrte der unrasierte Mann. »Hier drin gibt keiner Befehle, hier gibt es keine Befehle mehr, bis Jemmy uns holen kommt, also verpiss dich, Kumpel, du kannst …« Plötzlich verstummte der Mann und gab dann einen merkwürdigen Schrei von sich. »Nein! Nein!«

Rider Sandman neigte von jeher zum Jähzorn. Er wusste es und kämpfte dagegen an. Im Alltag schlug er einen sanften, bedächtigen Ton an, gab sich höflicher als nötig, übte sich in Vernunft und Gebet aus Angst vor seinem eigenen Temperament, aber alle Gebete, Vernunft und Höflichkeit hatten seine Wutanfälle nicht ausgemerzt. Seine Soldaten hatten gewusst, dass in Captain Sandman der Teufel steckte. Es war ein wahrhaftiger Teufel, und sie wussten, dass man diesen Mann nicht erzürnen durfte, weil sein Jähzorn so plötzlich und wild aufflammte wie ein Sommergewitter. Zudem war er groß und kräftig, stark genug, den unrasierten Gefangenen hochzuheben und mit einer Wucht gegen die Wand zu schlagen, dass der Kopf des Mannes von den Steinen abprallte. Dann schrie der Mann, weil Sandman ihm die geballte Faust in den Unterleib gerammt hatte. »Ich habe gesagt, Sie sollen ihn loslassen«, fuhr Sandman ihn scharf an. »Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Sind Sie taub oder nur ein gottverdammter Idiot?« Er schlug dem Mann zwei Mal ins Gesicht. Seine Augen funkelten und in seinem Ton brodelte die Androhung noch schrecklicherer Gewalt. »Verdammt! Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?« Er schüttelte den Mann. »Antworten Sie!«

»Sir?«, brachte der unrasierte Mann mühsam hervor.

»Antworten Sie! Verdammt!« Da Sandmans Rechte an der Kehle des Gefangenen lag und ihn würgte, konnte er im Augenblick gar nichts sagen. Im Aufenthaltsraum herrschte Totenstille. Der Mann starrte erstickend in Sandmans helle Augen.

Der Wärter, über Sandmans unbändige Wut ebenso erschrocken wie die Gefangenen, kam nervös durch den Raum. »Sir? Sie erdrosseln ihn, Sir.«

»Ich bringe ihn um, verdammt noch mal«, schnaubte Sandman.

»Sir, bitte, Sir.«

Schlagartig kam Sandman zu sich und ließ den Gefangenen los. »Wenn Sie nicht höflich sein können, sollten Sie den Mund halten«, sagte er zu dem halb erstickten Mann.

»Er wird Ihnen keine Frechheiten mehr sagen, Sir«, schaltete sich der Wärter besorgt ein, »dafür verbürge ich mich, Sir.«

»Kommen Sie, Corday«, befahl Sandman und stolzierte hinaus.

Ein erleichtertes Seufzen ging durch den Raum, als er draußen war. »Wer zum Teufel war das denn?«, brachte der geschundene Gefangene durch seine schmerzende Kehle heraus.

»Nie gesehen.«

»Der hat kein Recht, mich zu schlagen«, sagte der Gefangene, und seine Freunde grummelten zustimmend, obwohl keiner Lust hatte, Sandman nachzugehen und sich mit ihm anzulegen.

Sandman führte den erschrockenen Corday über den Presshof zu der Treppe, über die man die fünfzehn Salzkisten erreichte. Die fünf Zellen im Erdgeschoss wurden alle von Prostituierten benutzt. Sandman, in dem immer noch der Jähzorn tobte, entschuldigte sich nicht für die Störung, sondern knallte lediglich die Türen zu und ging die Treppe hinauf, um eine freie Zelle im ersten Stock zu suchen. »Hier hinein«, befahl er Corday, und der verängstigte Junge schlurfte an ihm vorbei. Der Gestank in diesem alten Teil des Gefängnisses, der die blutigen Gordon-Aufstände in London überlebt hatte, ließ Sandman schaudern. Der Rest des Gefängnisses war bei den Aufständen vollständig niedergebrannt, aber dieser Trakt hatte lediglich einige Brandschäden abbekommen. Die Salzkisten wirkten eher wie mittelalterliche Verließe, nicht wie moderne Zellen. Auf dem Boden lag eine Matte, die offenbar als Matratze diente, unter dem vergitterten Fenster türmten sich unordentlich Decken für fünf bis sechs Männer, und in einer Ecke stank ein nicht geleerter Nachttopf.

»Ich bin Captain Rider Sandman«, stellte er sich Corday erneut vor. »Der Innenminister hat mich gebeten, Ihren Fall zu überprüfen.«

»Warum?«, fragte Corday, der auf den Stapel Decken gesunken war und für diese Frage allen Mut zusammennehmen musste.

»Ihre Mutter hat Beziehungen«, antwortete Sandman kurz angebunden und immer noch wütend.

»Die Königin hat sich für mich verwendet?« Corday schaute hoffnungsvoll auf.

»Ihre Majestät hat um eine Bestätigung Ihrer Schuld gebeten«, sagte Sandman pedantisch.

»Aber ich bin unschuldig«, wandte Corday ein.

»Sie wurden zum Tode verurteilt«, sagte Sandman. »Ihre Schuld steht also außer Frage.« Er wusste, dass er unerträglich aufgeblasen klang, aber er wollte diese unappetitliche Begegnung hinter sich bringen und endlich zum Kricket gehen. Schneller dürfte er fünfzehn Guineen in seinem ganzen Leben noch nicht verdient haben, dachte er, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass dieses verachtenswerte Geschöpf sich seiner Forderung nach einem Geständnis lange widersetzen könnte. Corday wirkte jämmerlich, weibisch und den Tränen nahe. Seine Kleidung war zwar unordentlich, aber modisch elegant: schwarze Hose, weiße Strümpfe, ein weißes Rüschenhemd und eine blaue Seidenweste, aber weder Krawatte noch Überrock. Sandman vermutete, dass die Kleider teurer waren als alles, was er selbst besaß. Dieser Umstand und Cordays ausdruckslose, nasale Sprechweise mit Akzent, die gesellschaftliche Ambitionen verriet, verstärkten seine Abneigung gegen den Jungen nur noch weiter. Ein wehleidiger Emporkömmling, lautete Sandmans instinktives Urteil; ein Junge, der kaum trocken hinter den Ohren war und schon die Manieren und Modetorheiten der höheren Schichten nachäffte.

»Ich habe es nicht getan!«, protestierte Corday noch einmal und brach in Tränen aus. Seine schmächtigen Schultern bebten, seine Stimme war weinerlich, und Tränen liefen ihm über die bleichen Wangen.

Sandman stand in der Zellentür. Sein Vorgänger hatte Gefangene offenbar mit Schlägen zu Geständnissen bewegt, ein Vorgehen, das Sandman nicht nachzuahmen gedachte, weil er es unehrenhaft und unzulässig fand. Daher musste er den elenden Jungen wohl oder übel überreden, die Wahrheit zu sagen. Aber zuerst sollte er aufhören zu weinen. »Warum nennen Sie sich Corday?«, fragte er in der Hoffnung, ihn abzulenken. »Ihre Mutter heißt doch Cruttwell?«

Corday schniefte. »Es gibt kein Gesetz, das es verbietet.«

»Habe ich das behauptet?«

»Ich bin Porträtmaler«, sagte Corday verdrossen, als müsse er sich selbst dieser Tatsache versichern, »und Kunden ziehen Maler mit französischen Namen vor. Cruttwell klingt nicht vornehm. Würden Sie sich von einem Charlie Cruttwell porträtieren lassen, wenn Sie einen Monsieur Charles Corday engagieren könnten?«

»Sie sind Maler?« Sandman konnte seine Verwunderung nicht verhehlen.

»Ja!« Corday schaute Sandman aus rot geweinten Augen streitlustig an, verfiel aber gleich wieder in sein Elend. »Ich bin bei Sir George Phillips in die Lehre gegangen.«

»Er ist überaus erfolgreich«, sagte Sandman boshaft, »obwohl er einen prosaischen englischen Namen trägt. Und Sir Thomas Lawrence klingt mir auch nicht gerade französisch.«

»Ich dachte, es würde helfen, meinen Namen zu ändern«, sagte Corday schmollend. »Spielt das eine Rolle?«

»Ihre Schuld spielt eine Rolle«, sagte Sandman streng. »Und wenn sonst nichts zählt, könnten Sie mit reinem Gewissen vor das Antlitz Ihres Schöpfers treten, indem Sie ein Geständnis ablegen.«

Corday starrte Sandman an, als sei sein Besucher verrückt. »Wissen Sie, wessen ich schuldig bin?«, fragte er schließlich. »Ich bin schuldig, eine Stellung über meinem Stand anzustreben. Ich bin schuldig, ein anständiger Maler zu sein. Ich bin schuldig, ein verdammt viel besserer Maler zu sein als der verfluchte Sir George Phillips, und ich bin schuldig, Gott, wie schuldig, weil ich dumm bin, aber die Countess of Avebury habe ich nicht getötet. Wirklich nicht!«

Sandman mochte den Jungen nicht, aber er lief Gefahr, sich von ihm überzeugen zu lassen, daher stählte er sich, indem er sich die Mahnung des Pförtners in Erinnerung rief. »Wie alt sind Sie?«, fragte er.

»Achtzehn«.

»Achtzehn«, wiederholte Sandman. »Gott wird sich deiner Jugend erbarmen. Wir alle machen Dummheiten, wenn wir jung sind, und du hast Furchtbares getan, aber Gott wird deine Seele wägen, es gibt immer noch Hoffnung. Du bist nicht zum Höllenfeuer verdammt, wenn du gestehst und Gott um Vergebung bittest.«

»Vergebung wofür?«, fragte Corday trotzig.

Sandman war so verdutzt, dass er gar nichts mehr sagte.

Mit roten Augen und bleichem Gesicht schaute Corday zu Sandman auf. »Sehen Sie mich doch an, sehe ich aus wie ein Mann, der die Kraft hat, eine Frau zu vergewaltigen und zu töten, selbst wenn ich es wollte? Sehe ich so aus?« Nein, das musste Sandman zumindest vor sich eingestehen, denn Corday war eine schwächliche, wenig beeindruckende Kreatur, dünn und schmächtig. Nun fing er wieder an zu weinen: »Sie sind alle gleich. Niemand hört mir zu! Ich bin allen gleichgültig! Solange nur jemand hängt, ist es allen gleichgültig.«

»Hören Sie auf zu heulen, um Himmels willen!«, schnaubte Sandman, rief sich aber sofort zur Ordnung, sich nicht gehen zu lassen. »Es tut mir Leid.«

Corday stutzte, hörte auf zu weinen und schaute Sandman stirnrunzelnd an. »Ich habe es nicht getan, ich habe es wirklich nicht getan.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Sandman und verachtete sich, weil ihm das Gespräch entglitten war.

»Ich war dabei, sie zu malen«, sagte Corday. »Der Earl of Avebury wollte ein Porträt seiner Frau und hatte Sir George damit beauftragt.«

»Er beauftragte Sir George, aber Sie malten es?« Sandman klang skeptisch. Schließlich war Corday erst achtzehn, während Sir George Phillips als einziger Rivale von Sir Thomas Lawrence gefeiert wurde.

Corday seufzte, als stelle Sandman sich absichtlich begriffsstutzig an. »Sir George trinkt«, sagte er wütend. »Er fängt zum Frühstück mit Rum und Sirup an und säuft bis zum Abend, weshalb seine Hände zittern. Er trinkt also, und ich male.«

Sandman wich auf den Korridor zurück, um dem Gestank des ungeleerten Nachttopfs in der Zelle zu entgehen. Er fragte sich, ob er vielleicht naiv sei, weil er Corday seltsam glaubwürdig fand. »Sie malten in Sir Georges Atelier?« Er fragte nicht aus Interesse, sondern um das Schweigen zu brechen.

»Nein«, antwortete Corday. »Ihr Mann wollte ihr Schlafzimmer als Kulisse für das Porträt, also habe ich da gemalt. Wissen Sie, wie viel Mühe das macht? Sie müssen eine Staffelei, Leinwand, Kreide, Ölfarben, Lappen, Stifte, Abdecktücher, Mischtiegel und noch mehr Lappen mitnehmen. Aber der Earl of Avebury bezahlte schließlich dafür.«

»Wie viel?«

»Was immer Sir George herausschlagen konnte. Achthundert Guineen? Neunhundert? Mir hat er hundert angeboten.« Corday klang verbittert über das Honorar, auch wenn es Sandman wie ein Vermögen erschien.

»Ist es üblich, ein Porträt im Schlafzimmer einer Dame zu malen?« Sandman war ehrlich erstaunt. Er konnte sich vorstellen, dass eine Frau sich in einem Salon oder unter einem Baum in einem großen, sonnigen Garten malen ließ, aber das Schlafzimmer erschien ihm als überaus verruchte Wahl.

»Es sollte ein Boudoirporträt werden«, sagte Corday, und obwohl Sandman diesen Begriff noch nie gehört hatte, konnte er sich vorstellen, was er bedeutete. »Sie sind sehr in Mode, weil heutzutage alle Frauen aussehen wollen wie Canovas Pauline Bonaparte.«

Sandman runzelte die Stirn. »Sie verwirren mich.«

Angesichts solcher Unwissenheit hob Corday flehend den Blick gen Himmel. »Der Bildhauer Canova hat ein berühmtes Bild von der Schwester des Kaisers gemalt, und jede Schönheit in Europa möchte nun in der gleichen Pose dargestellt werden. Die Frau liegt auf einer Chaiselongue, in der linken Hand einen Apfel, den Kopf auf die rechte gestützt.« Corday demonstrierte die Pose, was Sandman peinlich fand. »Entscheidend ist, dass die Frau von der Taille aufwärts nackt ist. Und von der Taille abwärts weitgehend ebenfalls.«

»Die Countess war also nackt, als Sie sie gemalt haben?«, fragte Sandman.

»Nein.« Corday zögerte und zuckte dann die Achseln. »Sie sollte nicht wissen, dass sie nackt gemalt wurde, sie trug also einen Morgenmantel und ein Morgenkleid. Für die Brüste hätten wir dann ein Modell im Studio genommen.«

»Sie wusste nichts davon?« Sandman konnte es nicht glauben.

»Ihr Mann wollte ein Porträt«, sagte Corday ungeduldig, »und er wollte sie nackt, und weil sie das abgelehnt hätte, belog er sie. Gegen ein Boudoirporträt hatte sie nichts einzuwenden, aber sie hätte sich nicht vor jedem entblättert, also wollten wir es fälschen. Ich war erst bei den Vorarbeiten, den Zeichnungen und Farbproben. Kohle auf Leinwand mit ein paar Farbtupfern, den Farben der Bettdecke, der Tapete, der Haut und Haare Ihrer Ladyschaft, dem Biest.«

Sandman sah einen Hoffnungsschimmer, denn das letzte Wort klang bösartig, wie er es als Äußerung eines Mörders über sein Opfer erwartete. »Sie mochten sie nicht?«

»Mögen? Ich verachtete sie!«, spie Corday aus. »Sie war eine aufgedonnerte Halbweltdame!« Er meinte, sie war eine Courtisane, eine hochklassige Prostituierte. »Ein Flittchen, nichts weiter«, beschimpfte Corday sie heftig. »Aber nur weil ich sie nicht mochte, habe ich sie noch lange nicht vergewaltigt oder ermordet. Außerdem, glauben Sie wirklich, eine Frau wie die Countess of Avebury würde zulassen, dass ein Malerlehrling mit ihr allein wäre? Wenn ich da war, blieb die ganze Zeit eine Zofe als Anstandsame dabei. Wie hätte ich sie da vergewaltigen oder ermorden sollen?«

»Es war eine Zofe da?«, fragte Sandman.

»Selbstverständlich«, bekräftigte Corday wütend, »eine hässliche Kuh namens Meg.«

Sandman war nun vollends verwirrt. »Meg hat vermutlich bei Ihrem Prozess ausgesagt?«

»Meg ist verschwunden«, sagte Corday müde, »deshalb werde ich gehenkt.« Er funkelte Sandman wütend an. »Sie glauben mir nicht, oder? Sie denken, ich habe das alles erfunden. Aber es war eine Zofe da, und sie hieß Meg, sie war dabei, und als es zum Prozess kam, war sie nicht aufzutreiben.« Bisher war sein Ton abwehrend, aber nun brach er plötzlich in Tränen aus. »Tut es weh?«, fragte er. »Ich weiß, dass es wehtut. Es muss!«

Sandman starrte auf die Fliesen. »Wo war das Haus?«

»Mount Street.« Corday schluchzte zusammengekauert. »Das ist gleich neben …«

»Ich weiß, wo die Mount Street ist«, fiel Sandman ihm etwas zu scharf ins Wort. Cordays Tränen waren ihm peinlich, aber ihn bedrängten Fragen, die inzwischen von echter Neugier getragen waren. »Und Sie geben zu, dass Sie an dem Tag, an dem die Countess ermordet wurde, in ihrem Haus waren?«

»Ich war da, kurz bevor sie ermordet wurde!«, sagte Corday. »Es gab eine Hintertreppe für die Dienstboten mit einer Tür, an der wurde geklopft. Ein Klopfzeichen, ein Signal, die Countess war ganz aufgeregt und drängte, ich sollte sofort gehen. Meg brachte mich über die vordere Treppe hinunter an die Haustür. Ich musste alles da lassen, Farben, Leinwand, alles, und deshalb waren die Polizisten überzeugt, dass ich schuldig sei. Innerhalb einer Stunde kamen sie in Sir Georges Atelier und nahmen mich fest.«

»Wer hatte die Polizei gerufen?«

Corday zuckte die Achseln. »Meg? Ein anderer Dienstbote?«

»Und die Polizisten fanden Sie in Sir Georges Atelier. Wo ist das?«

»Sackville Street. Über dem Juwelier Gray.« Corday starrte Sandman mit roten Augen an. »Haben Sie ein Messer?«

»Nein.«

»Falls Sie eins haben, möchte ich Sie bitten, es mir zu geben. Geben Sie es mir! Ich würde mir lieber die Adern aufschneiden, als hier zu bleiben! Ich habe nichts getan, rein gar nichts! Trotzdem werde ich den ganzen Tag geschlagen und misshandelt, und in einer Woche werde ich aufgehängt. Warum noch eine Woche warten? Ich bin schon jetzt in der Hölle. Ich bin in der Hölle!«

Sandman räusperte sich. »Warum bleiben Sie nicht hier oben in der Zelle? Hier wären Sie allein.«

»Allein? Ich bliebe keine zwei Minuten allein! Unten ist es sicherer, wo zumindest Zeugen dabei sind.« Corday wischte sich die Augen mit dem Ärmel. »Was machen Sie jetzt?«

»Jetzt?« Sandman war verdutzt. Er hatte mit einem Geständnis gerechnet und vorgehabt, anschließend ins Wheatsheaf zu gehen und einen respektvollen Bericht zu schreiben. Doch nun war er völlig aus der Fassung gebracht.

»Sie sagten, der Innenminister hat Sie mit Nachforschungen beauftragt. Werden Sie nachforschen?« Cordays Blick forderte ihn heraus, doch dann sank sein Mut. »Ihnen ist es gleichgültig. Allen ist es gleichgültig!«

»Ich werde Nachforschungen anstellen«, sagte Sandman knurrig. Plötzlich konnte er den Gestank, die Tränen und das Elend nicht mehr ertragen, machte kehrt und lief die Treppe hinunter. Als er in die etwas frischere Luft des Presshofs kam, überfiel ihn für einen Augenblick die Angst, die Wärter könnten sich weigern, ihm das Tor zum Tunnel zu öffnen, aber das taten sie natürlich nicht.

Der Pförtner schloss seinen Schrank auf und holte Sandmans Uhr heraus, eine goldene Breguet, die Eleanor ihm geschenkt hatte. Sandman hatte sie ihr zusammen mit ihren Briefen zurückgeben wollen, aber sie hatte beides nicht angenommen. »Haben Sie Ihren Mann gefunden, Sir?«, erkundigte sich der Pförtner.

»Ja.«

»Bestimmt hat er Ihnen ein schönes Garn gesponnen«, kicherte der Pförtner. »Er hat Ihnen ein Garn gesponnen, was? Sie können den schönsten Humbug erzählen wie die Pfaffen, Sir. Aber es ist ganz einfach zu wissen, wann ein Busche lügt, Sir, ganz einfach.«

»Das würde ich gern hören«, sagte Sandman.

»Sie reden, Sir, daher wissen Sie, dass sie lügen, sie reden.« Der Pförtner hielt das für einen guten Witz und schüttelte sich vor Lachen, als Sandman die Treppe hinunterging.

Er stand auf dem Bürgersteig, ohne die Passanten zu bemerken. Er fühlte sich besudelt durch den Gefängnisbesuch. Er ließ den Deckel seiner Breguet aufspringen, sah, dass es kurz nach halb zwei Uhr nachmittags war, und fragte sich, wo sein Tag geblieben war. Für Rider, in aeternam, lautete Eleanors Inschrift im Uhrendeckel, und dieses erwiesenermaßen falsche Versprechen trug auch nicht zur Besserung seiner Stimmung bei. Er ließ gerade den Deckel zuschnappen, als ein Arbeiter ihm eine Warnung zurief. Nachdem Falltür, Pavillon und Treppe des Galgengerüsts abgebaut waren, wurden die Dielenbretter des Podeste heruntergeworfen, und die Planken fielen gefährlich dicht neben Sandman zu Boden. Ein Fuhrmann mit einem riesigen Wagen Backsteine peitschte die Flanken seiner Pferde blutig, obwohl die Tiere in dem Gewirr der Fahrzeuge, die die Straße blockierten, nicht weiterkommen konnten.

Sandman steckte die Uhr in die Tasche und wandte sich nach Norden. Er war hin- und hergerissen. Das Gericht hatte Corday schuldig befunden, doch obwohl Sandman keinerlei Sympathien für den jungen Mann aufzubringen vermochte, fand er seine Geschichte glaubwürdig. Der Pförtner hatte sicher Recht, in Newgate war jeder von seiner eigenen Unschuld überzeugt, aber Sandman war auch nicht völlig naiv. Er hatte mit großem Geschick eine Kompanie Soldaten geführt und hielt sich für fähig zu erkennen, wann ein Mann die Wahrheit sagte. Wenn Corday unschuldig war, ließen sich die fünfzehn Guineen, die Sandman schwer in der Tasche lasteten, weder schnell noch leicht verdienen.

Er brauchte Rat.

Also ging er zum Kricket.