172636.fb2 Die Galgenfrist - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

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4

Sergeant Berrigan richtete die Pistole noch einen Augenblick auf Sandman, bevor er sie senkte, auf den Tisch legte und mit dem Kopf auf die Bank ihm gegenüber deutete. »Dank Ihnen habe ich gerade ein Pfund gewonnen, Captain.«

»Schwein!«, spie Sally Berrigan ins Gesicht.

»Sally! Sally!«, beruhigte Sandman sie.

»Er hat verdammt noch mal kein Recht, Sie mit der Waffe zu bedrohen«, protestierte Sally und fuhr dann Berrigan an: »Wofür halten Sie sich eigentlich?«

Sandman schob sie auf die Bank und setzte sich neben sie. »Erlauben Sie mir, Ihnen Sergeant Berrigan vorzustellen, ehemals Feldwebel Seiner Majestät First Foot Guards. Das ist Miss Sally Hood.«

»Sam Berrigan«, sagte der Sergeant, offenkundig amüsiert über Sallys Wutausbruch, »es ist mir eine Ehre, Miss.«

»Mir überhaupt nicht.« Sie funkelte ihn wütend an.

»Ein Pfund?«, fragte Sandman Berrigan.

»Ich habe gesagt, diese beiden dusseligen Kerle würden Sie nicht zu packen kriegen, Sir. Nicht Captain Sandman vom 52.«

Sandman musste beinahe grinsen. »Lord Skavadale schien mich als Kricketspieler zu kennen, nicht als Soldat.«

»Ich wusste, in welchem Regiment Sie gedient haben«, sagte Berrigan. Er schnippte mit den Fingern, und sofort eilte eine der Kellnerinnen herbei. Dass Berrigan sein ehemaliges Regiment kannte, beeindruckte Sandman nicht annähernd so sehr wie die Tatsache, dass ein Fremder im Wheatsheaf so prompt bedient wurde. Sam Berrigan strahlte etwas überaus Kompetentes aus. »Ich nehme ein Ale, Miss«, sagte Sergeant Berrigan dem Mädchen und schaute Sally fragend an. »Was hätten Sie gern, Miss Hood?«

Sally rang einen Augenblick mit sich, ob sie Sam Berrigans Angebot nicht am liebsten ausschlagen würde, kam aber zu dem Schluss, dass das Leben zu kurz sei, um eine Einladung abzulehnen. »Ich nehme einen Ginpunsch, Molly«, sagte sie schmollend.

»Ale«, bestellte Sandman.

Berrigan drückte Molly eine Münze in die Hand und hielt sie fest. »Einen Krug Ale, Molly, und sorgen Sie dafür, dass der Ginpunsch so gut ist wie bei Limmer’s.«

Fasziniert knickste Molly vor dem Sergeant. »Sir, Mister Jenkins mag keine Waffen auf seinen Tischen«, flüsterte sie.

Lächelnd ließ Berrigan ihre Hand los und steckte die Pistole in eine tiefe Jackentasche. Er schaute Sandman an. »Lord Robin Holloway hat die beiden geschickt«, sagte er abfällig, »und der Marquess hat mich geschickt.«

»Marquess?«

»Skavadale, Captain. Er wollte nicht, dass Ihnen etwas zustößt.«

»Seine Lordschaft ist plötzlich sehr großzügig.«

»Nein, Sir«, antwortete Berrigan. »Der Marquess möchte keinen Arger, aber Lord Robin? Ihm ist das egal. Er ist ein Trottel, das ist er. Er hat die beiden geschickt, damit sie Sie in den Club bringen, wo er Sie herausfordern wollte.«

»Zu einem Duell?« Sandman war amüsiert.

»Pistolen, denke ich.« Berrigan war ebenfalls amüsiert. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er noch einmal mit Ihnen fechten will. Aber ich habe dem Marquess gesagt, dass die beiden es nie schaffen werden, Sie in ihre Gewalt zu bringen. Sie waren ein zu guter Soldat.«

Sandman grinste. »Woher wissen Sie, was für ein Soldat ich war, Sergeant?«

»Ich weiß genau, was für ein Haudegen Sie waren«, sagte Berrigan. Er hatte ein gutes Gesicht, fand Sandman, breit, zäh und mit selbstbewusstem Blick.

Sandman zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass ich einen besonderen Ruf hatte.«

Berrigan schaute Sally an. »Es war an einem Abend in Waterloo, Miss, und wir waren geschlagen. Ich wusste es. Ich habe genug Kämpfe erlebt, um zu wissen, wann man geschlagen ist. Wir standen einfach da und starben. Wir gaben nicht auf, verstehen Sie mich nicht falsch, Miss, aber die verdammten Franzen hatten uns geschlagen. Sie waren einfach zu viele. Den ganzen Tag hatten wir sie getötet, und ständig kamen mehr, der Tag ging zu Ende, und die letzten von ihnen kamen den Hügel herauf. Es waren vier Mal so viele wie wir. Ich beobachtete ihn«, er deutete mit dem Kopf auf Sandman, »er ging in vorderster Front auf und ab, als ob nichts auf der Welt ihm Sorgen machte. Sie hatten Ihren Hut verloren, nicht wahr, Sir?«

Sandman lachte bei der Erinnerung. »Ja, Sie haben Recht.« Eine französische Musketensalve hatte ihm seinen Zweispitz weggeblasen, er war verschwunden. Sofort hatte er den verbrannten Boden um sich her abgesucht, aber der Hut war fort. Er fand ihn nie wieder.

»Es war sein blondes Haar«, erklärte Berrigan Sally. »An einem dämmrigen Tag fiel es auf. Er ging auf und ab, keine fünfzig Schritte entfernt hatten die Franzen einen Vorposten. Alle schossen auf ihn, aber er zuckte nicht mal mit der Wimper. Ging einfach weiter.«

Sandman war verlegen. »Ich habe lediglich meine Pflicht getan, Sergeant, genau wie Sie, und ich hatte Angst, das kann ich Ihnen versichern.«

»Aber bei Ihnen konnten wir sehen, dass Sie Ihre Pflicht taten«, sagte Berrigan und schaute Sally an, die mit offenem Mund zuhörte. »Er ging auf und ab, und die kaiserliche Garde kam den Hügel herauf, und ich dachte schon, das war’s. Das war’s, Sam. Ein kurzes Leben und ein flaches Grab, denn es waren nur noch wenige von uns übrig, aber der Captain hier, der schlenderte immer noch umher wie an einem Sonntag im Hyde Park, und dann blieb er stehen, beobachtete die Franzen so kühl, wie man sich es nur denken kann, und lachte.«

»Daran erinnere ich mich nicht«, sagte Sandman.

»Doch«, beharrte Berrigan, »Der Tod kam in blauer Uniform den Hang herauf, und Sie lachten!«

»Ich hatte einen Oberfeldwebel, der immer im unpassenden Augenblick schlechte Witze machte«, sagte Sandman. »Ich vermute, er hatte gerade etwas Unanständiges gesagt.«

»Dann sah ich, wie er seine Männer um die gegnerische Flanke führte und die Feinde zum Teufel jagte«, erzählte Berrigan Sally weiter.

»Das war ich nicht«, wandte Sandman vorwurfsvoll ein. »Johnny Colborne führte uns um die Flanke. Es war sein Regiment.«

»Aber Sie übernahmen die Führung«, beharrte Berrigan. »Sie hatten die Führung.«

»Nein, nein, nein«, entgegnete Sandman. »Ich war Ihnen nur am nächsten, Sergeant, und die französischen Garden haben wir bestimmt nicht allein geschlagen. Wenn ich mich recht erinnere, steckte Ihr Regiment mitten drin?«

»Wir waren gut an dem Tag«, räumte Berrigan ein. »Wir waren sehr gut, und das mussten wir auch sein, zum Teufel, denn die Franzen waren verdammt stark.« Er schenkte zwei Humpen Ale ein und hob seinen an. »Auf Ihre Gesundheit, Captain.«

»Darauf trinken wir«, sagte Sandman, »obwohl ich bezweifle, dass Ihre Arbeitgeber sich diesem Wunsch anschließen würden.«

»Lord Robin mag Sie nicht«, bestätigte Berrigan, »weil Sie ihn zum Narren gemacht haben, aber das ist nicht schwer, weil er ein verdammter Idiot ist.«

»Vielleicht mögen sie mich nicht, weil sie nicht wollen, dass der Mord an der Countess untersucht wird«, stellte Sandman fest.

»Ich glaube, das ist ihnen gleich«, vermutete Berrigan.

»Wie ich höre, haben sie das Porträt in Auftrag gegeben, und der Marquess hat zugegeben, dass er die Tote kannte.« Sandman führte auf, was gegen Berrigans Arbeitgeber sprach. »Und sie weigern sich, Fragen zu beantworten. Ich traue ihnen nicht.«

Berrigan trank seinen Humpen leer und schenkte sich nach. Er schaute Sandman ein Weilchen an und zuckte die Achseln. »Das ist der Seraphim Club, Captain; es ist wahr, sie haben gemordet, gestohlen, bestochen und es sogar mit Straßenraub versucht. Sie bezeichnen das als Ulk. Aber die Countess umbringen? Davon habe ich nichts gehört.«

»Hätten Sie es denn erfahren?«, fragte Sandman.

»Nicht unbedingt«, räumte Berrigan ein. »Aber wir Dienstboten wissen meist, was sie treiben, weil wir hinter ihnen herräumen.«

»Weil sie sich wie die Ganoven benehmen?« Sally klang ärgerlich. Dass ihre Freunde im Wheatsheaf Straftaten begingen, war etwas völlig anderes, weil sie arm geboren wurden. »Warum wollen sie Ganoven sein? Sie sind doch schon reich, oder?«

Berrigan schaute sie an. Offensichtlich gefiel ihm, was er sah. »Genau aus dem Grund tun sie es: Eben weil sie reich sind«, sagte er. »Reich, adelig, privilegiert, und deshalb halten sie sich für besser als alle anderen. Und sie langweilen sich. Sie nehmen sich, was sie wollen, und was ihnen im Weg steht, vernichten sie.«

»Oder lassen es von Ihnen vernichten?«, vermutete Sandman.

Berrigan schaute Sandman fest an. »Es gibt achtunddreißig Seraphim und zwanzig Diener, das Küchenpersonal und die Stubenmädchen nicht mitgerechnet. Und wir zwanzig werden alle gebraucht, um ihren Dreck wegzuräumen. Sie sind reich genug, dass sie sich darum nicht zu kümmern brauchen.« Sein Ton schien Sandman warnen zu wollen. »Und sie sind Schweine, Captain, richtige Schweine.«

»Dennoch arbeiten Sie für sie«, stellte Sandman fest.

»Ich bin kein Heiliger, Captain«, sagte Berrigan, »und sie bezahlen mich gut.«

»Weil sie auf Ihr Stillschweigen angewiesen sind?«, fragte Sandman. Als er keine Antwort bekam, hakte er nach: »Über was sollen Sie Stillschweigen bewahren?«

Berrigan warf einen Seitenblick auf Sally und schaute wieder Sandman an. »Das wollen Sie gar nicht wissen.«

Sandman begriff, was der flüchtige Blick auf Sally besagen sollte. »Vergewaltigung?«

Berrigan nickte, sagte aber nichts.

»Ist das der Zweck dieses Clubs?«

»Der Zweck ist, dass sie tun können, was sie wollen«, antwortete Berrigan. »Sie sind alle Lords, Baronets oder stinkreich, und alle anderen auf der Welt sind für sie nur Bauern. Sie glauben, sie hätten das Recht, zu tun, was ihnen gefällt. Es ist nicht einer unter ihnen, der es nicht verdient hätte, gehenkt zu werden.«

»Sie inbegriffen?«, fragte Sandman. Als der Sergeant keine Antwort gab, fragte er: »Warum erzählen Sie mir das?«

»Lord Robin Holloway will Sie tot sehen, weil Sie ihn gedemütigt haben«, sagte Berrigan, »aber das lasse ich nicht zu, Captain, nicht nach Waterloo. Das war ein …« Er stockte auf der Suche nach dem passenden Wort. »Ich habe gedacht, das überlebe ich nicht«, gestand er schließlich. »Seitdem ist nichts mehr wie vorher. Wir sind durch die Hölle gegangen, Miss.« Er schaute Sally an. »Wir haben uns verbrannt, aber wir sind wieder herausgekommen.« Die Stimme des Sergeant war rau vor Erschütterung, was Sandman verstand. Er kannte viele Soldaten, die zu weinen anfingen, wenn sie nur an ihre Dienstjahre, die Kämpfe und die Kameraden dachten, die sie verloren hatten. Sam Berrigan sah hart wie Stein aus, was er zweifellos auch war, aber er war auch sehr sentimental. »Es ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich Sie nicht vor meinem inneren Auge gesehen habe«, sagte Berrigan. »Da draußen auf dem Hügel in dem verdammten Rauch. Das ist das Einzige von der ganzen Schlacht, woran ich mich erinnere, und ich weiß nicht, warum. Deshalb will ich nicht, dass Ihnen ein lahmer Schwachkopf wie Lord Robin Holloway etwas tut.«

Sandman grinste. »Ich glaube, Sie sind hier, weil Sie den Seraphim Club verlassen wollen, Sergeant.«

Berrigan lehnte sich zurück, musterte Sandman und anschließend wohlwollender auch Sally. Unter seinem prüfenden Blick errötete sie. Er zog eine Zigarre aus seiner Innentasche und zündete mit einer Zunderbüchse ein Zündholz an. »Ich habe nicht vor, lange Diener fremder Herren zu sein«, erklärte er, als seine Zigarre brannte. »Aber wenn ich meinen Dienst quittiere, werde ich ein eigenes Geschäft eröffnen, Captain.«

»Womit?«, fragte Sandman.

»Damit.« Berrigan tippte auf seine Zigarre. »Viele Herren haben während des Spanienkrieges eine Vorliebe für diese Zigarren entwickelt, aber sie sind erstaunlich schwer zu bekommen. Ich treibe sie für die Clubmitglieder auf und verdiene damit genauso viel, wie ich an Lohn bekomme. Sie verstehen, Captain?«

»Ich bin nicht ganz sicher.«

»Ich brauche Ihren Rat nicht, ich brauche Ihre Predigten nicht und ich brauche Ihre Hilfe nicht. Sam Berrigan kann selbst auf sich aufpassen. Ich bin nur gekommen, um Sie zu warnen, sonst nichts. Verschwinden Sie aus der Stadt, Captain.«

»Im Himmel herrscht Freude über einen Sünder, der bereut«, sagte Sandman.

»O nein. Nein, nein, nein«, wehrte Berrigan kopfschüttelnd ab. »Ich habe Ihnen bloß einen Gefallen getan, Captain!« Er stand auf. »Nur deshalb bin ich hergekommen.«

Sandman grinste. »Ich könnte Hilfe brauchen, Sergeant, wenn Sie sich also entschließen sollten, den Club zu verlassen, kommen Sie zu mir. Morgen verlasse ich London, aber am Donnerstagnachmittag bin ich wieder zurück.«

»Das will ich doch hoffen«, warf Sally ein.

Amüsiert hob Sandman eine Augenbraue.

»Wegen der Privatvorstellung«, erklärte Sally. »Sie kommen doch nach Covent Garden, um mir zuzujubeln, oder? Wir spielen Aladdin.«

»Aladdin?«

»Ein verdammt schlecht geprobter Aladdin. Morgen früh muss ich hin, um die Schritte zu lernen. Sie kommen doch, Captain?«

»Aber sicher«, sagte Sandman und schaute Berrigan an. »Ich bin also am Donnerstag wieder hier. Danke für das Bier, und falls Sie sich entschließen sollten, mir zu helfen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«

Berrigan starrte ihn einen Augenblick lang an, sagte aber nichts. Dann nickte er Sally zu und ging, nachdem er einige Münzen auf den Tisch geworfen hatte. Sandman schaute ihm nach. »Ein überaus bekümmerter junger Mann, Sally.«

»Ich fand ihn gar nicht bekümmert. Aber gut sah er aus, nicht?«

»Ach ja?«

»Na klar!«, sagte Sally nachdrücklich.

»Trotzdem ist er bekümmert«, sagte Sandman. »Er möchte gut sein, aber das Schlechtsein fällt ihm leichter.«

»Willkommen im Leben«, sagte Sally.

»Dann müssen wir ihm wohl helfen, gut zu werden, nicht wahr?«

»Wir?« Sie klang beunruhigt.

»Ich habe beschlossen, dass ich die Welt nicht ganz allein auf den rechten Weg bringen kann«, erklärte Sandman. »Ich brauche Verbündete, meine Liebe, und Sie sind eine der Auserwählten. Bislang gehören Sie dazu sowie jemand, den ich heute Nachmittag aufgesucht habe, vielleicht Sergeant Berrigan …« Sandman drehte sich um, als ein neuer Gast einen Stuhl umstieß, sich ausgiebig entschuldigte, mit seinem Gehstock fuchtelte und sich den Kopf an einem Deckenbalken stieß. »… und Ihr Verehrer, das macht vier«, schloss Sandman.

Vielleicht sogar fünf, denn Lord Alexander war in Begleitung eines jungen Mannes mit offenem Gesicht und bedrückter Miene. »Sind Sie Captain Sandman?« Der junge Mann wartete nicht, bis man ihn vorgestellt hatte, sondern kam durch den Raum geeilt und streckte die Hand aus.

»Zu Diensten«, sagte Sandman vorsichtig.

»Gott sei Dank, dass ich Sie gefunden habe!«, sagte der junge Mann. »Mein Name ist Carne, Christopher Carne.«

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, antwortete Sandman höflich, obwohl ihm der Name nichts sagte und das Gesicht des jungen Mannes ihm nicht bekannt vorkam.

»Die Countess of Avebury war meine Stiefmutter«, erklärte Carne. »Ich bin der einzige Sohn meines Vaters, sogar sein einziges Kind, und daher der Erbe seines Titels.«

»Aha«, sagte Sandman.

»Wir müssen miteinander sprechen«, sagte Carne. »Bitte, wir müssen uns unterhalten.«

Lord Alexander verbeugte sich vor Sally, wobei er tief rot wurde. Da Sandman wusste, dass er seinen Freund ein Weilchen sich selbst überlassen konnte, führte er Carne in den hinteren Teil des Schankraumes, wo sie in einer Nische recht ungestört waren.

»Wir müssen miteinander reden«, wiederholte Carne. »Mein Gott, Sandman, Sie können eine große Ungerechtigkeit verhindern. Und das müssen Sie, weiß Gott, tun.«

Also unterhielten sie sich.

Es handelte sich natürlich um Lord Christopher Carne. »Bitte, nennen Sie mich Kit«, bot er an.

Sandman war kein Radikaler. Er hatte nie die Meinung Lord Alexanders geteilt, eine auf Wohlstand und Privilegien gegründete Gesellschaftsordnung zu stürzen, aber er nannte Männer nur dann »Mylord«, wenn er sie oder ihr Amt solchen Respekts für würdig hielt. Er hegte keinen Zweifel, dass der Marquess of Skavadale dieses Zögern bemerkt hatte, ebenso wie Sandman erkannt hatte, dass der Marquess Gentleman genug war, es zu übergehen. Doch obwohl Sandman nicht bereit war, Lord Christopher Carne als Mylord anzureden, wollte er ihn auch nicht Kit nennen, daher war es besser, auf jede Anrede zu verzichten.

Sandman hörte lediglich zu. Lord Christopher Carne war ein nervöser, zögerlicher junger Mann mit dicken Brillengläsern. Er war sehr klein, hatte dünnes Haar und litt unter einem leichten Stottern. Alles in allem wirkte er durchaus nicht einnehmend, besaß aber eine eindringliche Art, die seine offenkundigen Schwächen ausglich. »Mein Vater ist ein grässlicher Mensch«, erklärte er Sandman, »einfach grässlich.«

»Grässlich?«

»Es ist, als seien die zehn Gebote eigens aufgestellt, um ihn herauszufordern, Sandman. Besonders das siebte Gebot!«

»Ehebruch?«

»Gewiss. Er beachtet es einfach nicht, Sandman!« Lord Christophers Augen hinter den dicken Brillengläsern weiteten sich und er errötete, als sei allein schon der Gedanke an Ehebruch ein Gräuel und die Nennung dieses Wortes eine Schande. Wie Sandman auffiel, trug er einen gut geschnittenen Rock und ein feines Hemd, aber an beiden wiesen die Manschetten Tintenflecke auf, die auf eine Vorliebe für Bücher hindeuteten. Lord Christopher fühlte sich unter Sandmans prüfendem Blick offenkundig unbehaglich. »Ich m-meine, wie jeder gewohnheitsmäßige Sünder nimmt mein Vater Anstoß daran, wenn man sich gegen ihn versündigt.«

»Ich verstehe nicht.«

Lord Christopher blinzelte. »Er hat mit den Frauen vieler Männer gesündigt, Captain Sandman«, erklärte er verlegen, »aber als seine eigene Frau ihm untreu war, wurde er wütend.«

»Ihre Stiefmutter?«

»Genau. Er drohte, sie zu töten! Ich habe es selbst gehört.«

»Die Drohung, jemanden zu töten, ist nicht dasselbe, wie tatsächlich zu töten«, stellte Sandman fest.

»Der Unterschied ist mir klar«, erwiderte Lord Christopher überraschend scharf, »aber ich habe mit Alexander gesprochen, und wie er mir sagt, haben Sie eine Verpflichtung gegenüber dem Maler Cordell übernommen?«

»Corday.«

»Genau, und ich kann einfach nicht glauben, dass er es getan hat! Welchen Grund sollte er haben? Aber mein Vater, Sandman, mein Vater hatte Grund dazu.« Lord Christopher sprach mit ungestümer Vehemenz, beugte sich sogar vor und packte Sandmans Handgelenk, während er diese Beschuldigung vorbrachte. Als ihm sein Tun klar wurde, ließ er Sandman errötend los. »Sie verstehen es vielleicht besser, wenn ich Ihnen etwas mehr über meinen Vater erzähle«, fuhr er gemäßigter fort.

Die Geschichte war bald erzählt. Die erste Frau des Earl, Lord Christophers Mutter, stammte aus einer Adelsfamilie und war, wie Lord Christopher beteuerte, eine Heilige. »Er behandelte sie schändlich, Sandman, erniedrigte, misshandelte und beschimpfte sie, aber sie ertrug es in christlicher Demut, bis sie starb. Das war 1809. Gott sei ihrer lieben Seele gnädig.«

»Amen«, fügte Sandman fromm hinzu.

»Er trauerte kaum um sie«, empörte sich Lord Christopher, »er holte sich einfach weiter Frauen ins Bett, darunter auch Celia Collett. Sie war fast noch ein Kind, Sandman, er war drei Mal so alt wie sie. Aber er war von ihr besessen.«

»Celia Collett?«

»Meine Stiefmutter, und sie war schlau, Sandman, sehr schlau.« In seinem Ton lag wieder jene Wildheit. »Sie war Tänzerin im Sans Pareil. Kennen Sie es?«

»Ich habe davon gehört«, sagte Sandman zurückhaltend. Das Sans Pareil auf dem Strand war eines der neuen Theater, die ihr Publikum mit Tanz und Gesang unterhielten. Wenn Celia, die Countess of Avebury, dort auf der Bühne gestanden hatte, musste sie schön gewesen sein.

»Sie wehrte seine Avancen ab«, nahm Lord Christopher seinen Bericht wieder auf, »sie lehnte ihn rundweg ab! Sie ließ ihn erst in ihr Bett, nachdem er sie geheiratet hatte, und dann führte sie ihn an der Nase herum, Sandman! Ich sage nicht, dass er es nicht verdient hätte, denn das hatte er, aber sie nahm alles Geld, das sie bekommen konnte, und nutzte es, um ihm Hörner aufzusetzen.«

»Sie mochten sie offensichtlich nicht?«, stellte Sandman fest.

Lord Christopher wurde erneut rot. »Ich kannte sie kaum«, erklärte er unbehaglich, »aber was hätte man an ihr schon mögen sollen? Die Frau besaß keinen Glauben, kaum Manieren und so gut wie keine Bildung.«

»Machte Ihr Vater – macht Ihr Vater sich etwas aus Glauben, Manieren oder Bildung?«, fragte Sandman.

Lord Christopher runzelte die Stirn, als habe er die Frage nicht verstanden, schließlich nickte er. »Sie haben ihn richtig erfasst. Mein Vater macht sich nicht das Geringste aus Gott, Büchern und Anstand. Er hasst mich, Sandman, und wissen Sie warum? Weil der Familienbesitz als Erbgut an mich geht, das hat sein Vater veranlasst, sein eigener Vater!« Lord Christopher klopfte auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Sandman schwieg, aber er verstand durchaus, dass die Umwandlung in ein Erbgut für den gegenwärtigen Earl of Avebury eine schwere Beleidigung darstellte, da sein Vater, Lord Christophers Großvater, aus Misstrauen gegenüber seinem Sohn dafür gesorgt hatte, dass er keine Verfügungsgewalt über das Familienvermögen bekam. Der jetzige Earl konnte zwar vom Ertrag des Gutes leben, aber Kapital, Land und Investitionen wurden von Treuhändern verwaltet, bis sie alles nach seinem Tod Lord Christopher übergeben würden. »Er hasst mich«, wiederholte Lord Christopher, »und zwar nicht nur wegen des Erbgutes, sondern auch weil ich den Wunsch geäußert habe, Priester zu werden.«

»Den Wunsch?«, fragte Sandman.

»Das ist kein Schritt, den man leichtfertig tun darf«, erklärte Lord Christopher streng.

»Wahrhaftig nicht«, bestätigte Sandman.

»Und mein Vater weiß, wenn er stirbt und das Familienvermögen an mich fällt, wird es zum Dienste Gottes verwendet. Das ärgert ihn.«

Sandman fand, dass das Gespräch von Lord Christophers Anschuldigung, sein Vater habe den Mord begangen, recht weit abgekommen war. »Ich nehme an, es handelt sich um ein beträchtliches Vermögen«, fragte er vorsichtig.

»Sehr beträchtlich«, bestätigte Lord Christopher gleichmütig.

Sandman lehnte sich zurück. Gelächter hallte durch die mittlerweile volle Schänke, die Gäste mieden jedoch instinktiv die Nische, in der Sandman und Lord Christopher sich so ernsthaft unterhielten. Lord Alexander starrte Sally mit hündischer Ergebenheit an, ohne die Männer zu bemerken, die ihre Aufmerksamkeit zu erregen suchten. Sandman schaute wieder den kleinen Lord Christopher an. »Ihre Stiefmutter führte ein großes Haus in der Mount Street«, stellte er fest. »Was ist aus den Dienstboten geworden?«

Lord Christopher blinzelte, als habe ihn diese Frage überrascht. »Ich habe keine Ahnung.«

»Sind sie auf dem Landsitz Ihres Vaters?«

»Schon möglich.« Lord Christopher klang skeptisch. »Wieso fragen Sie?«

Sandman zuckte die Achseln, als seien seine Fragen nicht sonderlich von Belang, in Wahrheit mochte er Lord Christopher nicht und wusste, dass seine Abneigung ebenso ungerecht und unvernünftig war wie sein Widerwille gegen Charles Corday. Lord Christopher fehlte es ebenso wie Corday an einer Eigenschaft, die Sandman in Ermangelung eines besseren Wortes nur als Mannhaftigkeit bezeichnen konnte. Er bezweifelte, dass Lord Christopher eine Schwuchtel war, wie Sally es nennen würde – die Blicke, die er Sally zuwarf, ließen auf das Gegenteil schließen –, dennoch steckte offenbar eine ärgerliche Schwäche in ihm. Sandman konnte sich diesen kleinen, belesenen Mann gut als Priester vorstellen, der von den geringfügigsten Sünden seiner Schäfchen ganz besessen wäre. Wegen seiner Abneigung gegen Lord Christopher hatte er keinerlei Verlangen, das Gespräch mit ihm in die Länge zu ziehen, und statt ihm zu erzählen, dass er von Megs Existenz erfahren hatte, erklärte er daher lediglich, er würde von den Dienstboten gern erfahren, was an dem Tag des Mordes geschehen sei.

»Wenn sie meinem Vater treu ergeben sind, werden sie Ihnen nichts sagen«, antwortete Lord Christopher.

»Wieso sollte diese Ergebenheit sie taub und stumm machen?«

»Weil er sie getötet hat!«, schrie Lord Christopher zu laut und errötete tief, sobald er bemerkte, dass er die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregt hatte. »Zumindest hat er veranlasst, dass sie getötet wurde. Er hat Gicht und kann nicht mehr weit gehen, aber er hat Männer, die ihm treu ergeben sind und tun, was er will, üble Burschen.« Er schauderte. »Sie müssen dem Innenminister sagen, dass Corday unschuldig ist.«

»Ich bezweifle, dass es viel bewirkt, wenn ich ihm das sage«, wandte Sandman ein.

»Nicht? Wieso? Wieso in Gottes Namen?«

»Lord Sidmouth ist der Ansicht, dass Cordays Schuld bereits bewiesen wurde«, erklärte Sandman, »um das Urteil zu ändern, muss ich ihm entweder den wahren Mörder mit einem Geständnis oder unwiderlegbare Beweise für Cordays Unschuld liefern. Meinungen allein genügen leider nicht.«

Lord Christopher starrte Sandman ein Weilchen schweigend an. »Das müssen Sie?«

»Natürlich.«

»Mein Gott!« Lord Christopher lehnte sich offensichtlich erstaunt und bleich zurück. »Sie haben also fünf Tage Zeit, den wahren Täter zu finden?«

»Ja.«

»Der Junge ist also verloren, nicht wahr?«

Sandman befürchtete es, wollte es aber nicht zugeben. Noch nicht. Denn es blieben ihm immer noch fünf Tage Zeit, die Wahrheit herauszufinden und damit eine Seele vor dem Galgen von Newgate zu bewahren.

Um halb fünf Uhr morgens glimmten zwei Lampen matt aus den Hoffenstern des George Inn. Über den Dächern zeigte sich eine fahle Morgendämmerung. Ein Kutscher in warmem Umhang gähnte ungeniert und schlug mit der Peitsche nach einem knurrenden Terrier, der von dem massiven Remisentor fortschlich. Sobald es geöffnet war, zogen einige Männer eine blau lackierte Postkutsche, deren Türen, Fenster, Deichsel und Ortscheit scharlachrot abgesetzt waren, auf das Hofpflaster hinaus, wo ein Junge die Öllaternen anzündete und ein halbes Dutzend Männer die Postsäcke in den Frachtraum luden. Acht Pferde, deren Atem in der kühlen Nachtluft Wölkchen bildete, wurden aus dem Stall geführt. Die beiden Postkutscher in königsblauer und roter Uniform, beide mit Donnerbüchsen und Pistolen bewaffnet, verschlossen die Ladeluke und schauten zu, wie die Pferde eingespannt wurden. »Noch eine Minute!«, rief eine Stimme. Sandman trank den glühend heißen Kaffee, den das Gasthaus den Passagieren der Postkutsche serviert hatte. Der Hauptkutscher stieg gähnend auf den Bock. »Alles einsteigen!«

Vier Passagiere fuhren mit. Sandman und ein Priester mittleren Alters nahmen die vorderen Sitze mit dem Rücken zu den Pferden ein, während ein ältliches Ehepaar sich ihnen gegenüber setzte. Es war so eng, dass ihre Knie zwangsläufig Sandmans berührten. Postkutschen waren leicht und beengt, aber doppelt so schnell wie die größeren Frachtkutschen. Mit quietschenden Angeln öffnete sich das Hoftor, der Kutscher gab dem Gespann die Peitsche und die Kutsche bog schwankend in die Tothill Street. Das Schlagen von zweiunddreißig Hufen hallte scharf von den Hauswänden wider, die Räder knarrten und rumpelten, als die Kutsche schneller wurde, aber noch bevor sie Knightsbridge erreichte, war Sandman fest eingeschlafen.

Gegen sechs Uhr wachte er auf und stellte fest, dass sie mit beträchtlicher Geschwindigkeit schwankend und holpernd durch eine Landschaft fuhren, die einem Flickenteppich aus Feldern und buschigen Hecken glich. Der Priester hatte ein Notizbuch auf dem Schoß, eine halbmondförmige Brille auf der Nase und eine Uhr in der Hand. Er schaute zu beiden Seiten aus dem Fenster, hielt Ausschau nach Meilensteinen und bemerkte, dass Sandman aufgewacht war.

»Etwas über neun Meilen in der Stunde!«, rief er aus.

»Tatsächlich?«

»Wahrhaftig!« Ein weiterer Meilenstein huschte vorüber, und der Priester stellte erneut Berechnungen in seinem Notizbuch an. »Zehn und drei im Sinn, das ist noch einmal eine halbe, minus sechzehn, zwei im Sinn. Also wirklich! Eindeutig neun und eine viertel Meile! Einmal bin ich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von elf Meilen in der Stunde gereist, aber das war 1804 in einem sehr trockenen Sommer. Sehr trocken, und die Straßen waren eben …« Die Kutsche holperte durch ein Schlagloch, schwankte heftig und schleuderte den Priester gegen Sandmans Schulter. »Völlig eben«, wiederholte er und schaute wieder aus dem Fenster. Der ältere Mann drückte ängstlich einen Koffer an seine Brust, als könnten Sandman oder der Priester sich als Diebe erweisen, obwohl Straßenräuber wie Sallys Bruder eine wesentlich größere Gefahr darstellten. Allerdings nicht heute Morgen, denn Sandman sah, dass zwei Rotwämse sie eskortierten. Diese berittenen Patrouillen rekrutierten sich aus ehemaligen Kavalleristen, die in blauen Uniformen mit roten Westen, bewaffnet mit Pistolen und Degen, die Straßen rund um London bewachten. Die beiden Wachen begleiteten die Kutsche, bis sie durch ein Dorf ratterte. Dort bogen sie zu einer Schänke ab, wo trotz der frühen Stunde bereits einige Männer in langen Kitteln vor der Tür saßen und Bier tranken.

Sandman schaute starren Blicks aus dem Fenster und genoss es, von London fort zu sein. Die Luft erschien ihm erstaunlich sauber. Ohne den beißenden Rauch der Kohlenfeuer und den durchdringenden Gestank nach Pferdeäpfeln leuchtete die Morgensonne auf sommerlichem Laub und ein gewundenes Flüsschen glitzerte unter Buchen und Erlen am Rand einer Weide, von der grasendes Vieh aufschaute, als der Kutscher in sein Horn stieß. Sie waren immer noch in der Umgebung von London, und die Landschaft war flach, aber gut entwässert. Gute Jagdgründe, dachte Sandman und stellte sich eine Fuchsjagd in dieser Gegend vor. Er spürte förmlich, wie sein Traumpferd über eine Hecke setzte, und hörte das Jagdhorn und die anschlagende Meute.

»Fahren Sie weit?«, unterbrach der Priester ihn in seinen Träumereien.

»Bis Marlborough,«

»Schöne Stadt, schöne Stadt.« Der Priester, ein Erzdiakon, hatte seine Berechnungen zur Geschwindigkeit der Kutsche aufgegeben und plauderte nun unermüdlich über seine Schwester, die er in Hungerford besuchen wollte. Sandman flocht einige höfliche Laute ein, schaute aber weiter aus dem Fenster. Die Ernte stand kurz bevor, und Roggen, Gerste und Weizen wiegten sich mit schweren Ähren im Wind. Allmählich wurde die Landschaft hügeliger, aber die Kutsche ratterte, schwankte und holperte mit gleich bleibender Geschwindigkeit weiter und wirbelte eine Staubwolke auf, die sich weißlich auf die Hecken legte. Das Posthorn kündete den Menschen warnend die nahende Kutsche an, und Kinder winkten, wenn die acht Pferde vorüberdonnerten. Ein Schmied stand mit rußgeschwärzter Lederschürze in der Tür. Eine Frau schwenkte wütend die Faust, als ihre Ziegenherde vor dem Lärm der Kutsche auseinander stob, ein Kind klapperte mit seiner Rassel in dem vergeblichem Bemühen, räuberische Eichelhäher aus einer Reihe Erbsenpflanzen zu verscheuchen, dann hallten Kettengerassel, Hufgeklapper und Rädergepolter von der schier endlosen Mauer eines großen Landgutes wider.

In einem solchen ummauerten Anwesen dürfte wohl auch der Earl of Avebury leben, überlegte Sandman, auf einem großen Landsitz, der durch Backsteinmauern, Jagdhüter und Wachen abgeschirmt war. Angenommen, der Earl weigerte sich, ihn zu empfangen? Es hieß, Seine Lordschaft lebe wie ein Einsiedler, und je weiter westlich die Reise Sandman führte, umso mehr fürchtete er, dass man ihn auf dem Landgut schlichtweg abweisen würde, aber dieses Risiko musste er eingehen. Er vergaß seine Befürchtungen, als die Kutsche eine Straße mit modernen Häusern erreichte, das Horn durchdringend erschallte und ihm klar wurde, dass sie in Reading waren, wo die Kutsche in den Hof eines Gasthauses bog, um die Pferde zu wechseln.

»Keine zwei Minuten, Gentlemen!« Die beiden Kutscher sprangen vom Bock und zogen ihre wollenen Umhänge aus, da es inzwischen wärmer wurde. »Keine zwei Minuten, und wir warten nicht auf Nachzügler, Mylords.«

Sandman und der Erzdiakon erleichterten sich gemeinsam in einer Ecke des Hofes und tranken in aller Eile eine Tasse lauwarmen Tees, während die frischen Pferde eingespannt und das alte Gespann nass geschwitzt an die Tränke geführt wurde. Ein Postsack war aus dem Laderaum gezerrt und ein neuer verstaut worden, bevor die beiden Kutscher wieder auf ihren Kutschbock stiegen. »Zeit, meine Herren! Zeit!«

»Eine Minute und fünfundvierzig Sekunden!«, rief ein Mann von der Gasthaustür. »Gut gemacht, Josh! Gut gemacht, Tim!«

Das Horn ertönte, die frischen Pferde spitzten die Ohren, und Sandman zog die Kutschentür zu und wurde auf den rückwärtigen Sitz geschleudert, als das Gefährt schwungvoll anfuhr. Das ältere Paar war ausgestiegen, an ihrer Stelle saß mm eine Dame mittleren Alters, die sich bereits nach einer Meile zum Fenster hinaus erbrach. »Verzeihen Sie«, stöhnte sie.

»Das Schwanken ist ganz ähnlich wie auf einem Schiff, Madam«, stellte der Erzdiakon fest und zog ein Silberflakon aus der Tasche. »Ob ein Brandy vielleicht hilft?«

»O, gütiger Gott!«, jammerte die Frau entsetzt, reckte den Hals und erbrach sich erneut aus dem Fenster.

»Die Federung ist recht weich«, erklärte der Erzdiakon.

»Und die Straße ist sehr holperig«, fügte Sandman hinzu.

»Besonders bei einer Geschwindigkeit von achteinhalb Meilen in der Stunde.« Der Erzdiakon machte sich wieder mit Taschenuhr und Stift zu schaffen und mühte sich, trotz des Schaukelns lesbare Ziffern zu schreiben.

Sandmans Laune besserte sich mit jeder Meile. Er war glücklich, wie ihm schlagartig auffiel, obwohl er nicht recht wusste, wieso. Vielleicht war es der Umstand, dass er wieder eine Aufgabe, eine ernsthafte Aufgabe im Leben hatte, vielleicht lag es aber auch daran, dass er Eleanor gesehen hatte und, wie er fand, nichts in ihrem Verhalten auf eine bevorstehende Heirat mit Lord Eagleton hindeutete.

Lord Alexander Pleydell hatte sich am Abend zuvor in der gleichen Richtung geäußert, obwohl er meist Sally Hood angehimmelt hatte, die allerdings von der Erinnerung an Sergeant Berrigan abgelenkt zu sein schien. Nicht dass es Lord Alexander aufgefallen wäre. Ihn hatte Sally ebenso wie Lord Christopher Carne so fasziniert, dass die beiden Aristokraten sie fast den ganzen Abend nur mit offenem Mund angestarrt und gelegentlich einen Gemeinplatz gestammelt hatten, bis Sandman Lord Alexander schließlich ins Hinterzimmer geführt hatte. »Ich muss mit dir reden«, hatte er ihm gesagt.

»Ich möchte mich weiter mit Miss Hood unterhalten«, hatte Lord Alexander sich aus Sorge beschwert, dass sein Freund Kit nun freie Bahn bei Sally hatte.

»Das sollst du auch«, versicherte Sandman ihm, »aber zuerst sprichst du bitte mit mir. Was weißt du über den Marquess of Skavadale?«

»Erbe des Dukedom of Ripon«, antwortete Lord Alexander auf Anhieb, »stammt aus einer der alten katholischen Familien Englands. Kein besonders kluger Mann, und Gerüchten zufolge steckt seine Familie in Geldnöten. Früher waren sie einmal sehr reich und besaßen Ländereien in Cumberland, Yorkshire, Cheshire, Hertfordshire, Kent und Sussex, aber da Vater und Sohn beide Spieler sind, könnte an den Gerüchten durchaus etwas Wahres sein. In Eton war er ein recht ordentlicher Schlagmann, kann aber nicht werfen. Wieso fragst du?«

»Und Lord Robin Holloway?«

»Jüngster Sohn des Marquess of Bleasby und ein ungemein übler Bursche, der nach seinem Vater schlägt. Hat viel Geld, keinen Verstand und hat im vergangenen Jahr einen Mann bei einem Duell getötet. Kein Kricketspieler, fürchte ich.«

»Hat er das Duell mit Degen oder Pistolen ausgetragen?«

»Degen. Es fand in Frankreich statt. Holst du Erkundigungen über den gesamten Hochadel ein?«

»Und Lord Eagleton?«

»Ein Geck, aber als linker Schlagmann recht brauchbar, er spielt gelegentlich in der Mannschaft des Viscount Barchester, ansonsten zeichnet er sich durch rein gar nichts aus. Abgesehen davon, dass er passabel Kricket spielt, ist er ein Langweiler.«

»Die Sorte Mann, die Eleanor gefallen könnte?«

Alexander starrte Sandman verwundert an. »Sei nicht albern, Rider«, antwortete er und zündete seine Pfeife an. »Sie würde ihn keine zwei Minuten ertragen!« Er runzelte die Stirn, als versuche er sich an etwas zu erinnern, aber es fiel ihm offenbar nicht ein.

»Dein Freund Lord Christopher ist überzeugt, dass sein Vater den Mord begangen hat«, sagte Sandman.

»Oder ihn begehen ließ«, warf Lord Alexander ein. »Es klingt wahrscheinlich. Kit kam zu mir, als er erfahren hatte, dass du den Fall untersuchst, was ich nur gutheißen kann. Ihm liegt ebenso wie mir daran, dass am nächsten Montag kein Unschuldiger hingerichtet wird. Darf ich jetzt gehen und mich weiter mit Miss Hood unterhalten?«

»Sag mir noch, was du über den Seraphim Club weißt.«

»Ich habe nie davon gehört, aber es klingt nach einer Vereinigung edler Kleriker.«

»Das ist es nicht, glaube mir. Hat das Wort Seraphim irgendeine besondere Bedeutung?«

Lord Alexander seufzte. »Die Seraphim gelten als die höchste Ordnung der Engel, Rider. Nach Überzeugung der Gläubigen gibt es neun Stufen: Seraphim, Cherubim, Throni, die Herrscher, die Tugenden, die Mächte, die Fürsten, die Erzengel und ganz unten die einfachen Engel. Das entspricht allerdings nicht der Glaubenslehre der Kirche von England, versichere ich dir. Das Wort Seraphim soll von einem hebräischen Wort für Schlange abstammen, was eine obskure, aber viel sagende Verbindung ist. Im Singular bedeutet Seraph eine glorreiche Kreatur mit einem Biss wie Feuer. Die Seraphim sollen zugleich auch die Schutzpatrone der Liebe sein. Ich habe keine Ahnung, warum das so ist, aber so heißt es nun einmal, ebenso wie die Cherubim die Schutzpatrone des Wissens sind. Was die anderen Chöre tun, ist mir im Augenblick entfallen. Habe ich deine Neugier befriedigt, oder soll ich meine Vorlesung fortsetzen?«

»Die Seraphim sind Engel der Liebe und des Gifts?«

»Eine grobe, aber zutreffende Zusammenfassung«, bestätigte Lord Alexander großzügig und bestand darauf, wieder in den Schankraum zu gehen, wo er sich erneut von Sally in den Bann ziehen ließ. Er blieb bis nach Mitternacht, betrank sich, redete zu viel und musste sich beim Hinausgehen von Lord Christopher stützen lassen, der kaum etwas getrunken hatte. Während Lord Alexander aus dem Wheatsheaf torkelte, beteuerte er Sally in trunkenem Nuscheln seine unsterbliche Liebe.

Als seine Kutsche fort war, fragte Sally stirnrunzelnd: »Wieso hat er mich stupide genannt?«

»Das hat er gar nicht, er hat gesagt, Sie seien der Stupor mundi, das Weltwunder«, erklärte Sandman.

»Verdammt, was ist los mit ihm?«

»Er ist von Ihrer Schönheit eingeschüchtert«, sagte Sandman, was ihr gefiel. Als er zu Bett ging, fragte er sich, wie er rechtzeitig wach werden sollte, um die Morgenpostkutsche zu erreichen, doch nun saß er hier und wurde an einem Sommertag, wie man ihn sich schöner nicht träumen konnte, durchgeschüttelt.

Die Straße führte an einem Kanal entlang, und Sandman bewunderte die bunt gestrichenen Barken, die von großen Pferden mit Bändern in der Mähne und Messingschmuck am Zaumzeug gezogen wurden. Ein Kind trieb einen Reifen über den Treidelpfad, Enten schwammen auf dem Wasser, Gott saß im Himmel und es bedurfte schon eines scharfen Auges, um zu sehen, dass nicht alles so schön war, wie es aussah. Die Reetdächer wiesen an vielen Stellen Lücken auf, und in jedem Dorf fanden sich zwei oder drei eingestürzte, überwucherte Häuser. Auf den Straßen lungerten zu viele Vagabunden herum, zu viele Bettler vor den Kirchen, und viele von ihnen waren früher Rotröcke, Schützen oder Seeleute gewesen, wie Sandman klar war. Hier gab es Elend und Not inmitten des Überflusses, das Elend steigender Preise und fehlender Arbeit. Hinter Cottages, alten Kirchen und großen Ulmen verbargen sich die Arbeitshäuser voller Flüchtlinge der Brotaufstände, die in den größeren Städten Englands aufgeflammt waren, aber dennoch war es hier atemberaubend schön. Unter rosa Heckenrosen bildete der Fingerhut ein scharlachrotes Dickicht. Sandman konnte sich an diesem Anblick gar nicht satt sehen. Er war noch keinen Monat in London, doch schon jetzt erschien ihm die Zeit zu lang.

Gegen Mittag ratterte die Kutsche über eine Steinbrücke und einen kurzen Hang hinauf in die breite Hauptstraße von Marlborough mit seinen beiden Kirchen und den geräumigen Gasthöfen. Eine kleine Menschenansammlung wartete schon auf die Postkutsche. Sandman schob sich zwischen den Leuten durch und trat unter den Torbogen der Schänke. Er fragte einen Fuhrmann, der seinen Weg kreuzte, wo er den Landsitz des Earl of Avebury finden könne. Carne Manor sei nicht weit, antwortete der Fuhrmann, nur eben über den Fluss, den Hügel hinauf bis zum Rand des Savernake. Eine halbe Stunde Fußweg, meinte er, und so ging Sandman mit knurrendem Magen südwärts auf den dichten Savernake-Wald zu.

Ihm war heiß. Er trug seinen Mantel, den er an diesem warmen Tag nicht brauchte, aber als er bei Morgengrauen aus dem Wheatsheaf aufgebrochen war, hatte er ihm gute Dienste geleistet. In einem Weiler fragte er erneut nach dem Weg und wurde auf eine gewundene Straße geschickt, die zwischen Buchenwäldern bis an die hohe Backsteinmauer von Carne Manor führte. Ihr folgte er, bis er ein Pförtnerhaus und ein schmiedeeisernes Tor erreichte, dessen steinerne Pfosten Greifskulpturen krönten. Hinter dem verschlossenen Tor führte ein von Unkraut überwucherter Kiesweg weiter. Am Pförtnerhaus hing eine Glocke, doch auf Sandmans wiederholtes Läuten antwortete niemand. Er sah auch niemanden auf dem Gutsgelände. Zu beiden Seiten der Zufahrt erstreckte sich eine Parklandschaft mit Wiesen und vereinzelten Ulmen, Buchen und Eichen, wo kein Vieh oder Rotwild weidete und das inzwischen spärliche Gras mit Kornblumen und Klatschmohn durchsetzt war. Sandman entlockte der Glocke ein letztes verlorenes Läuten. Als es im warmen Nachmittag verklang, trat er zurück und musterte die Zacken des Tores. Da sie imposant wirkten, ging er ein Stück an der Mauer entlang zurück, bis er eine Stelle fand, wo eine Ulme, die zu dicht an der Mauer wuchs, die Backsteine hochgedrückt hatte. Die Nähe des Baums zur Mauer erleichterte das Klettern. Auf der verputzten Mauerkrone hielt Sandman kurz inne, bevor er auf der anderen Seite in den Park sprang. Das Gras war hoch genug, eine Wildererfalle darin zu verstecken, daher ging er vorsichtig bis zu dem Kiesweg und wandte sich dem Haus zu, das verborgen hinter einem bewaldeten Hügel stand.

Er ging langsam und rechnete halbwegs damit, dass ein Jagdaufseher oder ein anderer Dienstbote ihn aufhalten würde, aber er sah niemanden, während er dem Weg durch einen schönen Buchhain folgte, in dessen Mitte sich eine überwucherte Lichtung mit der vermoosten Statue einer nackten Frau mit biblischem Wasserkrug auf der Schulter befand. Als Sandman den Hain durchquert hatte, sah er endlich Carne Manor eine halbe Meile entfernt liegen. Es war ein schöner Natursteinbau mit drei Spitzgiebeln und efeuumrankten Fenstern mit Mittelpfosten. Stallungen, Remise und der ummauerte Küchengarten lagen an der Westseite, während sich hinter dem Haus Rasenterassen bis an einen ruhig fließenden Bach erstreckten. Auf dem langen Weg erschien ihm seine kostspielige Reise mit einem Mal sinnlos, da der Earl im Ruf stand, wie ein Einsiedler zu leben, und man Sandman vermutlich mit der Reitgerte empfangen würde.

Seine Schritte erschienen ihm ungewöhnlich laut, als er die weite, kiesbedeckte Auffahrt vor dem Haus überquerte, auf der Kutschen wenden konnten, obwohl dichtes Unkraut, Gras und Moos erkennen ließen, dass hier nur noch selten eine Kutsche vorfuhr. Sandman ging die Stufen zum Haupteingang hinauf. Bei einer der beiden Laternen, die den Eingang flankierten, fehlte eine Glasscheibe, und auf dem Kerzenhalter thronte ein Vogelnest. Sandman zog an der Glockenkette. Als er nichts hörte, läutete er noch einmal und wartete. Die Holztür war altersgrau und fleckig vom Rost der Beschlagnägel. Bienen flogen unter das flache Vordach. Ein junger Kuckuck, der gespenstische Ähnlichkeit mit einem Falken hatte, huschte über die Auffahrt. Der Nachmittag war warm, und Sandman wünschte, er könnte seine Suche nach einem einsiedlerischen Earl aufgeben und sich im Schatten eines großen Baumes am Bachufer schlafen legen.

Ein lautes Geräusch zu seiner Rechten ließ Sandman zurücktreten. Er sah, dass ein Mann versuchte, ein Bleiglasfenster neben dem Eingang zu öffnen. Offensichtlich klemmte es, denn der Mann schlug so fest dagegen, dass Sandman glaubte, die Scheiben müssten bersten, doch schließlich gab es nach, und der Mann beugte sich heraus. Er hatte die mittleren Jahre beinahe hinter sich, war sehr blass, und sein ungekämmtes Haar ließ erkennen, dass er gerade aus tiefem Schlaf erwacht war. »Das Haus steht Besuchern nicht offen«, erklärte er.

»Das hatte ich auch nicht erwartet«, antwortete Sandman, obwohl ihm in den Sinn gekommen war, die Haushälterin, falls eine solche ihm geöffnet hätte, zu bitten, ihm die Gesellschaftsräume zu zeigen. Die meisten großen Häuser erlaubten solche Besichtigungen, doch der Earl hielt von solchem Entgegenkommen offenbar nichts. »Sind Sie Seine Lordschaft?«, fragte er.

»Sehe ich so aus?«, erwiderte der Mann gereizt.

»Ich habe geschäftlich mit Seiner Lordschaft zu sprechen«, erklärte Sandman.

»Geschäftlich? Geschäftlich?«, sagte der Mann, als habe er so etwas noch nie gehört. Unruhe schlich sich in seine bleichen Züge. »Sind Sie Anwalt?«

»Es ist eine heikle Angelegenheit«, erklärte Sandman nachdrücklich und gab damit zu verstehen, dass sie einen Dienstboten nichts anging. »Meine Name ist Captain Sandman.« Seinen Namen sagte er aus reiner Höflichkeit und als Zurechtweisung, weil man ihn nicht danach gefragt hatte.

Der Mann starrte ihn ein Weilchen an, bevor er sich ins Haus zurückzog. Sandman wartete. Die Bienen summten im Efeu, und Hausschwalben schwirrten über den überwucherten Kies, aber der Diener kam nicht wieder. Verärgert läutete Sandman erneut.

Ein Fenster an der anderen Seite des Eingangs wurde geöffnet, und derselbe Diener erschien. »Was für ein Captain?«, fragte er herrisch.

»52. Infanterieregiment«, antwortete Sandman, worauf der Diener zum zweiten Mal verschwand.

»Seine Lordschaft wünscht zu wissen, ob Sie mit dem 52. in Waterloo waren«, erklärte der Diener, als er wieder ans Fenster kam.

»Ja«, sagte Sandman.

Der Diener verschwand, doch nach einer Weile hörte Sandman, dass die Tür von innen entriegelt wurde. Endlich öffnete sie sich quietschend, und der Diener verbeugte sich flüchtig. »Wir bekommen selten Besuch«, sagte er. »Ihren Mantel und Hut, Sir? Sandman, sagten Sie?«

»Captain Sandman.«

»Ja, Sir, hier entlang, Sir.«

Aus der dunkel vertäfelten Eingangshalle führte eine weiß lackierte Treppe unter den Porträts von Männern mit kräftigen Wangen und Rüschenhemden nach oben. Der Diener ging Sandman voraus durch einen Flur in eine lange Galerie, in deren einer Wand sich hohe Fenster mit Samtvorhängen befanden, während an der anderen große Gemälde hingen. Sandman hatte erwartet, das Haus sei ebenso ungepflegt wie der Park, aber alles war sauber und roch nach Bohnerwachs. Soweit er es im Dämmerlicht der geschlossenen Vorhänge erkennen konnte, waren die Bilder von außergewöhnlicher Qualität. Italienische Gemälde, meinte er, von Göttern und Göttinnen in Weinlauben und Schwindel erregenden Berglandschaften. Satyre verfolgten nackte Nymphen. Es dauerte ein Weilchen, bis Sandman bemerkte, dass sämtliche Gemälde Akte zeigten: Eine Galerie üppig weiblichen Fleisches. Plötzlich fiel ihm ein, wie einige seiner Soldaten ein solches Gemälde bestaunt hatten, das bei der Schlacht von Vitoria gegen die Franzosen in ihre Hände gefallen war. Ein spanischer Maultiertreiber hatte die Leinwand aus dem Rahmen geschnitten und gestohlen, um sie als wasserdichte Markise zu verwenden, und die Rotröcke hatten sie ihm für zwei Pence abgekauft, um sie als Zeltboden zu benutzen. Sandman hatte sie den neuen Besitzern für ein Pfund abgekauft und ans Hauptquartier geschickt, wo man sie als eines der vielen Meisterwerke identifizierte, die bei der Plünderung aus dem Escorial, dem Palast des Königs von Spanien, entwendet worden waren.

»Hier entlang, Sir«, unterbrach der Diener ihn in seinen Träumereien. Der Mann öffnete eine Tür und meldete Sandman an, der in diesem Moment völlig geblendet war. Der riesige Raum, in den der Diener ihn geführt hatte, lag nach Südwesten, und da die Vorhänge hier geöffnet waren, schien die Sonne hell auf einen großen Tisch. Es dauerte ein Weilchen, bis Sandman den grünen, höckerigen Tisch einzuordnen vermochte, der ihm zunächst mit Blumen oder Blütenblättern übersät schien. Sobald seine Augen sich an das Sonnenlicht gewöhnt hatten, erkannte er jedoch, dass die bunten Tupfer Zinnsoldaten waren. Tausende Zinnsoldaten standen auf dem mit grünem Stoff bedeckten Tisch, auf dem das Tal nachgebildet war, in dem die Schlacht von Waterloo stattgefunden hatte. Er staunte über die Größe dieses Modells, das mindestens dreißig Fuß lang und zwanzig Fuß breit war. An einem Nebentisch saßen zwei Mädchen mit Pinseln und Farben und malten Zinnsoldaten an. Ein Quietschen lenkte seinen Blick in das gleißende Licht eines Südfensters, wo er den Earl erblickte.

Seine Lordschaft saß in einem Rollstuhl, wie Sandmans Mutter ihn in Bath gern benutzt hatte, wenn sie sich besonders schlecht fühlte, und das Quietschen kam von den ungeölten Achsen, als ein Diener den Earl zu seinem Besucher schob.

Der Earl war nach alter Mode gekleidet, bevor Männer zu nüchternem Schwarz oder Dunkelblau übergingen. Sein Rock aus rot-blau geblümter Seide hatte weit fallende Ärmel und einen breiten Kragen mit Spitzenrüschen. Eine Allongeperücke rahmte sein altes, runzeliges Gesicht, das stark gepudert, mit Rouge und einem samtenen Schönheitsfleck auf der eingefallenen Wange versehen war. Da er nicht ordentlich rasiert war, lugten weiße Bartstoppeln aus seinen Hautfalten. »Sie fragen sich gewiss, wie die Zinnsoldaten in der Tischmitte aufgestellt werden«, wandte er sich mit schriller Stimme an Sandman.

Die Frage war Sandman noch gar nicht in den Sinn gekommen, aber nun fand er sie recht verwirrend, da der Tisch viel zu breit war, um die Mitte von den Seiten aus zu erreichen. Wäre aber jemand über das Modell gegangen, hätte er unweigerlich die aus Schwamm gefertigten Bäumchen zertreten oder die unregelmäßigen Reihen der Zinnsoldaten in Unordnung gebracht. »Wie wird es gemacht, Mylord?«, fragte Sandman. Den Earl mit »Mylord« anzureden machte ihm nichts aus, da er ein alter Mann war und die Jugend dem Alter diese Höflichkeit schuldete.

»Betty, Liebste, zeige es ihm«, befahl der Earl. Eines der Mädchen legte den Pinsel beiseite und tauchte unter den Tisch. Mit einem schabenden Geräusch hob sich ein ganzer Teil des Tales in die Höhe und saß wie ein Hut auf dem Kopf der grinsenden Betty. »Das ist ein Modell von Waterloo«, sagte der Earl stolz.

»Das sehe ich, Mylord.«

»Maddox sagt, Sie waren dort. Zeigen Sie mir, welche Position das Regiment hatte.«

Sandman ging um den Tisch und deutete auf eines der Bataillone in roten Uniformröcken auf dem Hügel oberhalb des Château de Hougoumont. »Wir standen hier, Mylord«, sagte er. Das Modell war tatsächlich außergewöhnlich. Es zeigte die beiden Armeen zu Beginn der Schlacht, bevor der blutige Kampf die Reihen gelichtet hatte und Hougoumont völlig ausgebrannt war. Sandman erkannte sogar seine eigene Kompanie und nahm an, dass die kleine Figur zu Pferd unmittelbar vor den Soldatenreihen ihn selbst darstellte. Ein seltsamer Gedanke.

»Wieso lächeln Sie?«, fragte der Earl.

»Ohne besonderen Grund, Mylord.« Sandman betrachtete wieder das Modell. »Nur war ich an diesem Tag nicht zu Pferd.«

»Welche Kompanie?«

»Grenadiere.«

Der Earl nickte: »Ich werde Sie durch einen Fußsoldaten ersetzen.« Sein Rollstuhl quietschte, als er Sandman um den Tisch folgte. Seine Lordschaft trug Seidenstrümpfe mit blauen Strumpfbändern, aber ein Fuß war bandagiert. »Sagen Sie, hat Bonaparte die Schlacht verloren, weil er den Beginn hinausgezögert hat?«

»Nein«, sagte Sandman kurz angebunden.

Der Earl bedeutete dem Diener mit einer Geste, er solle den Stuhl anhalten. Er war Sandman nun so nah, dass er mit seinen verbitterten, rot geränderten Augen zu ihm aufschauen konnte. Er war wesentlich älter, als Sandman erwartet hatte. Sandman wusste, dass die Countess noch jung war, als sie starb, und schön genug für ein Aktbild, aber ihr Mann wirkte trotz Perücke, Schminke und Spitzenrüschen uralt. Außerdem stank er nach altem Puder, ungewaschenen Kleidern und Schweiß. »Wer zum Teufel sind Sie?«, knurrte der Earl.

»Ich komme von Viscount Sidmouth, Mylord, und …«

»Sidmouth?«, fiel der Earl ihm ins Wort. »Ich kenne keinen Viscount Sidmouth. Wer zum Teufel ist Viscount Sidmouth?«

»Der Innenminister, Mylord.« Da diese Mitteilung keinerlei Reaktion hervorrief, führte Sandman weiter aus: »Früher Henry Addington, Mylord, er war Premierminister. Jetzt ist er Innenminister.«

»Also kein richtiger Lord, was?«, erklärte der Earl. »Kein Aristokrat! Ist Ihnen aufgefallen, wie diese verdammten Politiker sich zu Adeligen machen? Als ob man eine Toilette in einen Brunnen verwandelte, ha! Viscount Sidmouth? Er ist kein Gentleman. Er ist bloß ein verfluchter Politiker! Ein aufgeblasener Lügner! Ein Betrüger! Ich nehme an, er ist der erste Viscount seiner Familie?«

»Das ist wohl sicher so, Mylord«, antwortete Sandman.

»Ha! Ein Gassenaristokrat? Ein gottverdammter Schleimer! Ein gut gekleideter Dieb! Ich bin der 16. Earl.«

»Wir alle bewundern Ihre Familie, Mylord«, sagte Sandman mit einer Ironie, die dem Earl völlig entging, »aber so neu sein Adelstitel auch sein mag, komme ich doch im Auftrag des Viscount.« Er zog das Schreiben des Innenministers heraus, aber der Earl winkte ab. »Wie ich gehört habe, befinden sich die Dienstboten aus Ihrem Stadthaus nun hier, Mylord?«, fragte Sandman. Er hatte zwar nichts in dieser Richtung gehört, aber vielleicht würde diese kühne Behauptung dem Earl eine Bestätigung entlocken. »Falls dies so ist, würde ich gern mit einem von ihnen sprechen, Mylord.«

Der Earl rutschte in seinem Rollstuhl herum. »Wollen Sie etwa behaupten, dass Blücher früher gekommen wäre, wenn Bonaparte früher angegriffen hätte?«, fragte er in bedrohlichem Ton.

»Nein, Mylord.«

»Hätte er früher angegriffen, hätte er also gewonnen!«, beharrte der Earl.

Sandman betrachtete das Modell. Es war beeindruckend, überaus genau, aber völlig falsch. Vor allem war es zu sauber. Selbst am Morgen vor dem Angriff der Franzosen waren alle schmutzig, weil der größte Teil der Armee am Tag zuvor auf dem Rückweg von Quatre Bras durch tiefen Morast gewatet war und anschließend die Nacht bei ständigen Regenschauern im Freien verbracht hatte. Sandman erinnerte sich an Donner und Blitz auf der fernen Hügelkette und an den Schrecken, als einige Kavalleriepferde sich nachts losgerissen und mitten durch die durchnässten Truppen galoppiert waren.

»Warum hat Bonaparte also verloren?«, fragte der Earl verdrossen.

»Weil er seine Kavallerie ohne Unterstützung durch Fußtruppen oder Artillerie hat kämpfen lassen«, erklärte Sandman kurz und bündig. »Dürfte ich Euer Lordschaft fragen, was mit den Dienstboten aus dem Haus in der Mount Street geschehen ist?«

»Und warum gefährdete er seine Kavallerie? Sagen Sie mir das?«

»Es war ein Fehler, Mylord, wie selbst die besten Generäle ihn machen. Sind die Dienstboten hierher gekommen?«

Gereizt schlug der Earl auf die geflochtenen Armlehnen seines Rollstuhls. »Bonaparte machte keine oberflächlichen Fehler! Der Mann mag Abschaum gewesen sein, aber er war gerissener Abschaum. Also warum?«

Sandman seufzte. »Unsere Reihen waren gelichtet, wir standen auf dem abgewandten Hang des Hügels, von ihrer Seite des Tales muss es so ausgesehen haben, als seien wir geschlagen.«

»Geschlagen?« Bei diesem Wort fuhr der Earl auf.

»Ich bezweifle, dass wir überhaupt zu sehen waren«, erklärte Sandman. »Der Duke hatte den Männern befohlen sich hinzulegen, aus Sicht der Franzosen muss es ausgesehen haben, als seien wir einfach verschwunden. Die Franzosen sahen einen leeren Hügel, sicher sahen sie auch unsere Verwundeten, die sich im Hintergrund in den Wald zurückzogen, sie müssen wohl gedacht haben, wir seien alle auf dem Rückzug, also griffen sie an. Mylord, sagen Sie mir, was mit den Dienstboten Ihrer Frau ist.«

»Frau? Ich habe keine Frau. Maddox!«

»Mylord?« Der Diener, der Sandman ins Haus gelassen hatte, trat vor.

»Das kalte Hühnchen, denke ich, und etwas Champagner«, befahl der Earl und bellte Sandman an: »Wurden Sie verwundet?«

»Nein, Mylord.«

»Sie waren also dabei, als die kaiserliche Garde angriff?«

»Ich war dabei, Mylord, von den ersten Kanonenschüssen der Franzosen bis zum letzten Schuss des Tages.«

Der Earl schien zu schaudern. »Ich hasse die Franzosen«, sagte er plötzlich. »Ich verabscheue sie. Eine Rasse von Tanzmeistern, und wir haben uns in Waterloo alle Ehre gemacht, Captain, alle Ehre!«

Sandman fragte sich, wieso es eine Ehre sei, Tanzmeister zu besiegen, sagte aber nichts. Er hatte schon öfter Männer wie den Earl getroffen, die völlig von Waterloo besessen waren und jede Einzelheit der Schlacht erfahren wollten, Männer, die gar nicht genug über diesen grauenvollen Tag hören konnten. Sandman wusste, dass all diese Männer eines gemeinsam hatten: Nicht einer von ihnen war dabei gewesen. Dennoch verherrlichten sie diesen Tag, hielten ihn für den erhabensten Augenblick ihres Lebens und der britischen Geschichte. Manche hatten offenbar den Eindruck, dass die Geschichte am 18. Juni 1815 zum Stillstand gekommen sei und die Welt nie wieder eine Rivalität wie die zwischen Großbritannien und Frankreich erleben würde. Diese Rivalität hatte das Leben einer ganzen Generation entscheidend geprägt, den Globus in Brand gesetzt, Flotten und Armeen in Asien, Amerika und Europa gegeneinander geführt, und da nun alles vorüber war, erschien das Leben vielen trostlos und leer. Für den Earl of Avebury wie für viele andere ließ sich diese Leere nur damit ausfüllen, dass sie die alte Rivalität immer wieder neu belebten. »Sagen Sie, wie oft hat die französische Kavallerie angegriffen?«, fragte der Earl.

»Haben Sie die Dienstboten aus der Mount Street hier ins Haus geholt?«, antwortete Sandman mit einer Gegenfrage.

»Dienstboten? Mount Street? Was faseln Sie da? Waren Sie überhaupt bei der Schlacht dabei?«

»Den ganzen Tag, Mylord. Und ich möchte lediglich von Ihnen wissen, ob eine Zofe namens Meg aus London hierher gekommen ist.«

»Wie zum Teufel soll ich wissen, was mit dem Personal dieser Hexe passiert ist? Wieso fragen Sie überhaupt danach?«

»Ein Mann ist im Gefängnis, Mylord, ihn erwartet die Hinrichtung wegen Mordes an Ihrer Frau, und es gibt allen Grund zu der Annahme, dass er unschuldig ist. Deshalb bin ich hier.«

Der Earl schaute zu Sandman auf und fing an zu lachen. Das Lachen kam tief aus seiner schmächtigen Brust, schüttelte ihn, trieb ihm Tränen in die Augen und ließ ihn beinahe an seinem Auswurf ersticken, dass er nach Atem rang. Er zog ein Taschentuch unter den Spitzenrüschen seines Ärmels hervor, wischte sich die Augen und spuckte in das Tuch. »Selbst mit ihrem Ende hat sie noch einem Mann Unrecht getan, was?«, fragte er heiser. »O ja, darin war sie gut. Meine Celia, schlecht sein konnte sie gut.« Er spuckte erneut in sein Taschentuch und funkelte Sandman wütend an. »Also, wie viele von Napoleons Bataillonen kamen den Hügel hinauf?«

»Nicht genug, Mylord. Was ist mit den Dienstboten Ihrer Frau?«

Der Earl überhörte Sandmans Frage, da inzwischen das kalte Hühnchen und der Champagner auf dem Rand des Modelltischs standen. Er befahl Betty, das Hühnchen zu schneiden, und legte ihr dabei den Arm um die Taille. Sie schauderte offenbar leicht, als er sie berührte, duldete aber seine Zärtlichkeit.

Der Earl schaute Sandman aus schmerzerfüllten Augen an; etwas Auswurf hing an seinem stoppeligen Kinn. »Ich mochte schon immer junge Frauen, junge Zarte.« Dem anderen Mädchen befahl er: »Du! Schenk den Champagner ein, Kind.« Das Mädchen trat an seine andere Seite. Während sie den Champagner einschenkte, fahr der Earl ihr mit der Hand unter den Rock und blickte Sandman weiter herausfordernd an. »Junges Fleisch, jung und zart.« Seine Dienstboten starrten die getäfelten Wände an, und Sandman schaute aus dem Fenster, wo zwei Männer mit der Sense den Rasen schnitten, während ein Dritter das Heu rechte. Zwei Reiher flogen in der Ferne über den Bach.

Der Earl ließ die beiden Mädchen los, verschlang sein Hühnchen und schlürfte Champagner. Mit einem Klaps auf den Hintern schickte er die Mädchen wieder an ihre Malarbeit. »Ich habe gehört, die Franzosen hätten mindestens zwanzig Mal angegriffen. Stimmt das?«

»Ich habe es nicht gezählt«, sagte Sandman, der immer noch aus dem Fenster schaute.

»Vielleicht waren Sie doch nicht dabei?«, vermutete der Earl.

Sandman biss nicht an. Er schaute immer noch aus dem Fenster, sah aber nicht die langen Sensen, die durch das Gras zischten, sondern einen belgischen Hang unter Rauchschwaden. Er durchlebte seinen wiederkehrenden Traum, sah die französische Kavallerie den Hang hinaufstürmen, die Pferde mühsam durch den nassen Boden pflügen. Die Luft über den britischen Stellungen schien so heiß, als habe jemand die Höllenpforten geöffnet, und in Hitze und Rauch stürmten unentwegt weitere Franzosen heran. Sandman hatte ihre Angriffe nicht gezählt, denn es waren zu viele, eine endlose Abfolge von Kavalleristen donnerte mit blutenden, hinkenden Pferden über die britischen Stellungen, Rauch von Musketen und Kanonen trieb über die britischen Standarten, der Boden unter den Füßen ein Gewirr aus zertrampelten Roggenhalmen, dick wie eine Binsenmatte, aber regennass und faulig. Die Franzosen schnitten mit rauchgeröteten Augen Grimassen und schrien mit offenem Mund für ihren untergehenden Kaiser. »Das Einzige, woran ich mich klar und deutlich erinnere, ist, dass ich Dankbarkeit gegenüber den Franzosen empfand«, sagte Sandman und wandte sich vom Fenster ab.

»Dankbarkeit, wieso?«

»Weil ihre Artillerie nicht auf uns schießen konnte, solange ihre Reiter so dicht durch unsere Stellungen stürmten.«

»Aber wie viele Angriffe führten sie? Jemand muss es doch wissen!«, sagte der Earl verärgert.

»Zehn?«, sagte Sandman. »Zwanzig? Sie kamen unentwegt. Es war wegen des Rauchs schwer zu zählen. Ich erinnere mich, dass ich sehr durstig war. Wir standen auch nicht einfach herum und schauten zu, wie sie kamen, wir schauten auch zurück.«

»Zurück? Warum?«

»Weil sie wieder zurückkommen mussten, sobald ein Angriff unsere Stellungen überrannt hatte.«

»Sie griffen also von beiden Seiten an?«

»Von allen Seiten«, sagte Sandman. Er erinnerte sich an die wirbelnden Reiter, den Morast, das von den Hufen aufspritzende Stroh und das Schreien der sterbenden Pferde.

»Wie viel Kavallerie?«, wollte der Earl wissen.

»Ich habe nicht gezählt, Mylord. Wie viele Dienstboten hatte Ihre Frau?«

Der Earl wandte sich grinsend von Sandman ab. »Bring mir einen Reiter, Betty«, befahl er. Das Mädchen brachte ihm gehorsam einen Zinnsoldaten, der einen französischen Dragoner in grüner Uniform darstellte. »Sehr hübsch, meine Liebe«, sagte der Earl, stellte den Dragoner auf den Tisch und zog Betty auf seinen Schoß. »Ich bin ein alter Mann, Captain, und wenn Sie etwas von mir wollen, müssen Sie mir schon entgegenkommen. Betty weiß das, nicht wahr, mein Kind?«

Das Mädchen nickte und zuckte zusammen, als der Earl ihr mit knochiger Hand ins Kleid fuhr, um ihre Brust zu packen. Sie war etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, ein Mädchen vom Land mit lockigem Haar, Sommersprossen und rundem, gesundem Gesicht.

»Wie muss ich Ihnen entgegenkommen, Mylord?«, fragte Sandman.

»Nicht wie Betty! Nein, nein!« Der Earl schaute Sandman verschlagen an. »Sie werden mir alles erzählen, was ich wissen will, Captain, und vielleicht, wenn Sie fertig sind, sage ich Ihnen ein bisschen von dem, was Sie wissen wollen. Der Adel hat seine Privilegien.«

Draußen in der Eingangshalle schlug die Uhr sechs, ein Geräusch, das in dem großen, leeren Haus etwas Melancholisches hatte. Sandman hatte das verzweifelte Gefühl, seine Zeit zu verschwenden. Er musste erfahren, ob Meg hier war, und er musste zurück nach London, aber er spürte, dass der Earl den ganzen Abend mit ihm spielen und ihn letzten Endes fortschicken würde, ohne seine Fragen zu beantworten. Der Earl, der Sandmans Missbilligung spürte und genoss, zog die Brust des Mädchens aus dem Kleid. »Fangen wir ganz am Anfang an, Captain«, sagte er und nuckelte an dem warmen Fleisch. »Fangen wir bei Morgengrauen an, ja? Es regnete, nicht wahr?«

Sandman ging um den Tisch, bis er hinter dem Earl stand, und beugte sich herunter, dass seine Nase beinahe die steifen Haare der Perücke berührte. »Warum sprechen wir nicht über das Ende der Schlacht, Mylord?«, fragte Sandman leise. »Sprechen wir doch über den Angriff der kaiserlichen Garde. Denn ich war dabei, als wir aus der Linie ausbrachen und die Bastarde von der Flanke angriffen.« Er beugte sich noch tiefer herunter und roch den Gestank des Lords, sah eine Laus über den Rand seiner Perücke krabbeln. Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Sie hätten die Schlacht gewonnen, Mylord, es war alles vorbei, bis auf die Verfolgung, aber wir drehten die Geschichte im Handumdrehen um. Wir marschierten aus der Linie und belegten sie mit Salvenfeuer, Mylord, und dann pflanzten wir unsere Bajonette auf. Ich kann Ihnen genau erzählen, wie es war. Ich kann Ihnen erzählen, wie wir gewonnen haben, Mylord.« Sandman geriet in Wut, in seiner Stimme lag Bitterkeit. »Wir haben gewonnen! Aber Sie werden diese Geschichte niemals erfahren, Mylord, niemals, weil ich verdammt noch mal dafür sorgen werde, dass kein einziger Offizier des 52. Regiments je mit Ihnen reden wird! Haben Sie verstanden? Kein einziger Offizier wird je mit Ihnen reden. Guten Tag, Mylord. Wenn Ihr Diener vielleicht so freundlich wäre, mich zur Tür zu bringen?« Er ging auf die Tür zu. Er würde den Diener fragen, ob Meg hierher gekommen war, und wenn nicht, womit er rechnete, wäre diese ganze Reise reine Zeit- und Geldverschwendung gewesen.

»Captain!« Der Earl hatte das Mädchen von seinem Schoß geschoben. »Warten Sie!« Sein Gesicht zuckte unter dem Rouge. Es lag Bosheit darin, eine alte, verbitterte, hartherzige Bosheit, aber da er unbedingt wissen wollte, wie sie Bonapartes hoch gelobte Garde besiegt hatten, knurrte er die beiden Mädchen und den Diener an: »Lasst mich mit dem Captain allein.«

Es verstrich viel Zeit, bis Sandman ihm seine Geschichte entlockt hatte. Aber Geduld und eine Flasche geschmuggelter französischer Cognac ließen den Earl schließlich die bittere Wahrheit über seine Ehe ausspeien, die sich weitgehend mit dem deckte, was Lord Christopher bereits erzählt hatte. Der Earl of Avebury hatte seine zweite Frau, Celia, auf der Bühne zum ersten Mal gesehen. »Beine«, sagte er verträumt, »was für Beine, Captain, was für Beine. Das war das Erste, was ich von ihr sah.«

»Im Sans Pareil?«, warf Sandman ein.

Der Earl warf ihm einen verschlagenen Blick zu. »Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Die Leute in der Stadt reden«, sagte Sandman.

»Mein Sohn?«, erriet der Earl und lachte. »Dieser kleine Dummkopf? Dieser teigige kleine Schwächling? Gütiger Gott, Captain, den hätte ich prügeln sollen, als er noch ein Kind war. Seine Mutter war eine verdammte dumme Heilige, sie zu begatten war, als triebe man es mit einer frommen Maus, und der blöde Kerl glaubt, er schlägt nach ihr, aber das stimmt nicht. Es steckt viel von mir in ihm. Da kann er noch so lange auf Knien herumrutschen, Captain, aber er denkt immer nur an Hintern und Busen, Beine und noch mal Busen. Sagt, er will Priester werden! Aber das wird er nicht. Er will nur, dass ich sterbe und der Besitz ihm gehört, Captain. Er ist ihm als Erbgut übertragen, hat er Ihnen das erzählt? Und er wird alles für Busen, Beine und Hintern ausgeben, genau wie ich es getan hätte, der einzige Unterschied zwischen diesem stotternden Narren und mir ist, dass ich mich nie dafür geschämt habe. Ich habe es genossen, Captain, genieße es immer noch, und er leidet unter seinen Schuldgefühlen. Schuld!« Der Earl spie das Wort aus, wobei seine Spucke durch den Raum flog. »Was hat der farblose Idiot Ihnen denn nun erzählt? Dass ich Celia getötet habe? Vielleicht war ich es, Captain, vielleicht ist aber auch Maddox in die Stadt gefahren und hat es für mich erledigt, doch wie wollen Sie das beweisen, he?« Der Earl erwartete eine Antwort, aber Sandman schwieg. »Wussten Sie, dass Aristokraten an einem seidenen Strang aufgehängt werden?«

»Nein, das wusste ich nicht, Mylord.«

»So heißt es jedenfalls, so heißt es«, erklärte der Earl. »Das gemeine Volk wird mit einem Stück einfachen Hanfs aufgeknüpft, aber wir Lords bekommen einen Seidenstrang, und für den Tod dieser Hexe würde ich gern einen Seidenstrang in Kauf nehmen. Sie hat mich ausgeraubt bis aufs Hemd. Ich wusste gar nicht, dass eine Frau so viel Geld ausgeben kann! Als ich wieder zur Besinnung kam, versuchte ich, ihr die Zuwendungen zu entziehen. Ich lehnte es ab, ihre Schulden zu bezahlen, und sagte den Vermögenstreuhändern, sie sollten sie aus dem Haus werfen, aber die Mistkerle ließen sie da. Vielleicht hat sie ja einen von ihnen mit ihrer Gunst bestochen. So machte sie nämlich ihr Geld, Captain, mit gekonnter Fleischeslust.«

»Wollen Sie behaupten, dass sie eine Hure war, Mylord?«

»Keine gewöhnliche Hure«, sagte der Earl. »Sie war nicht nur ein Stück käufliches Fleisch, so viel muss ich zu ihrer Verteidigung sagen. Sie nannte sich Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin, aber in Wahrheit war sie eine gerissene Hexe, und ich war so dumm, sie zu heiraten.« Er grinste in sich hinein und schaute dann Sandman aus rheumatischen Augen an. »Celia war eine Erpresserin, Captain. Sie nahm sich einen jungen Mann aus der Gesellschaft zum Liebhaber, brachte den armen Dummkopf dazu, ihr einen oder zwei Briefe zu schreiben, worin er um ihre Gunst bettelte, und wenn er sich mit einer reichen Erbin verlobte, drohte sie, die Briefe öffentlich zu machen. Sie hat ganz schönes Geld damit gemacht! Das hat sie mir selbst erzählt! Ins Gesicht hat sie es mir gesagt, dass sie mein Geld nicht braucht, weil sie selbst Geld hat.«

»Wissen Sie, welche Männer sie auf diese Weise erpresst hat, Mylord? «

Der Earl schüttelte den Kopf und starrte auf das Schlachtenmodell, um Sandmans Blick auszuweichen. »Ich wollte keine Namen wissen«, sagte er leise. Zum ersten Mal empfand Sandman Mitleid mit dem alten Mann.

»Und die Dienstboten, Mylord? Die Dienstboten aus Ihrem Londoner Haus. Was ist aus ihnen geworden?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Hier sind sie nicht«, schimpfte er. »Wieso sollte ich das Personal dieser Hexe hier haben wollen? Ich habe Faulkner gesagt, er soll sehen, dass er sie los wird, einfach los wird.«

»Faulkner?«

»Ein Anwalt, einer der Treuhänder, und wie alle Anwälte ein kriecherisches Miststück.« Der Earl schaute zu Sandman auf. »Ich weiß nicht, was aus Celias verdammten Dienstboten geworden ist, und es kümmert mich auch nicht. So, und jetzt holen Sie Maddox und sagen Sie ihm, dass Sie und ich zum Abendessen Rindfleisch möchten, und dann erzählen Sie mir verdammt noch mal, was passiert ist, als die kaiserliche Garde angegriffen hat.«

Und das tat Sandman.

Er hatte Meg zwar nicht gefunden, aber doch etwas erfahren. Ob es allerdings ausreichte, wusste er nicht.

Am nächsten Morgen fuhr er zurück nach London.