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Am späten Donnerstagnachmittag traf Sandman wieder in London ein. Er hatte die Postkutsche genommen und die Ausgabe mit der Zeitersparnis vor sich gerechtfertigt, aber kurz vor Thatcham hatte eines der Pferde ein Hufeisen verloren, und anschließend hatte ein Heuwagen mit Achsbruch eine Brücke bei Hammersmith blockiert. Sandman vermutete, dass er die letzten Meilen bis London zu Fuß schneller zurückgelegt hätte, als wenn er abwartete, bis die Straße geräumt war, aber nachdem er die Nacht in unruhigem Schlaf im Stroh des King’s Head in Marlboruogh verbracht hatte, war er müde und blieb in der Kutsche sitzen. Außerdem ärgerte er sich, weil er die Reise nach Wiltshire für vergebens hielt. Er bezweifelte, dass der Earl of Avebury seine Frau getötet hatte oder hatte töten lassen, aber er hatte ohnehin nie an seine Schuld geglaubt. Das einzig Nützliche, was Sandman erfahren hatte, war, dass die Countess ihren Lebensunterhalt mit der Erpressung ihrer Liebhaber bestritten hatte, aber das half ihm nicht herauszufinden, wer diese Liebhaber waren.
Er betrat das Wheatsheaf durch den Hofeingang, wo er sich Wasser in einen Blechbecher pumpte, der mit einer Kette am Schwengel befestigt war. Er trank ihn aus, pumpte noch einmal und drehte sich um, als er Hufschläge im Eingang zum Stall hörte. Jack Hood sattelte einen großen, prachtvollen Rappen. Der Straßenräuber grüßte Sandman mit einem knappen Kopfnicken und beugte sich herunter, um den Sattelgurt zu schließen. Jack Hood war ebenso schwarz und groß wie sein Pferd. Er trug schwarze Stiefel, eine schwarze Hose und dazu einen eng taillierten schwarzen Rock, sein langes, dunkles Haar hatte er mit einem schwarzen Seidenband im Nacken zusammengebunden. Als er sich aufrichtete, bedachte er Sandman mit einem schiefen Grinsen. »Sie sehen müde aus, Captain.«
»Müde, arm, hungrig und durstig«, bestätigte Sandman und pumpte sich einen dritten Becher Wasser.
»Das kommt vom rechtschaffenen Leben«, erklärte Hood munter und steckte zwei Pistolen in die Satteltaschen. »Sie sollten es mit der schiefen Bahn versuchen wie ich.«
Sandman trank das Wasser aus und ließ den Becher los. »Und was machen Sie, wenn man Sie erwischt, Mister Hood?«
Hood führte das Pferd in das Licht der untergehenden Sonne. Es war ein hochgezüchtetes, nervöses Tier, hochtrabend und kapriziös. Ein Pferd, das schnell war wie der Nachtwind, wenn man fliehen musste, vermutete Sandman. »Wenn ich erwischt werde?«, fragte Hood. »Dann komme ich zu Ihnen und bitte Sie um Hilfe. Sally sagt, Sie sind ein Strangmopser.«
»Ein Galgendieb.« Sandman hatte die Gaunersprache mittlerweile gut genug kennen gelernt, um den Ausdruck übersetzen zu können. »Bis jetzt habe ich aber noch niemanden vor dem Galgen bewahrt.«
»Und ich bezweifle, dass es Ihnen je gelingen wird«, sagte Hood finster. »So läuft es nicht in der Welt. Denen da oben ist doch völlig egal, wie viele sie henken, solange wir Übrigen nur merken, dass sie Leute aufknüpfen, Captain.«
»Es ist ihnen durchaus nicht gleichgültig, warum hätten sie mir sonst diesen Auftrag erteilen sollen«, entgegnete Sandman.
Hood bedachte Sandman mit einem skeptischen Blick, stellte den Fuß in den Steigbügel und saß auf. »Wollen Sie mir sagen, dass man Ihnen diesen Auftrag aus reiner Herzensgüte gegeben hat?«, fragte er, während er den linken Fuß in den Steigbügel schob. »Sind dem Innenminister plötzlich Zweifel an der Rechtsprechung in Black Jacks Gericht gekommen?«
»Nein«, räumte Sandman ein.
»Sie wurden beauftragt, weil jemand Einflussreiches wollte, dass Cordays Fall überprüft wird. Jemand Mächtiges, habe ich Recht?«
Sandman nickte. »Genau.«
»Ein Bursche kann unschuldig sein wie ein Neugeborenes, aber wenn er keine einflussreichen Freunde hat, hängt er hoch, stimmt es nicht?«, sagte Hood wütend, warf seine Rockschöße über den Rücken seines Pferdes und griff nach den Zügeln. »Und wahrscheinlich ende ich auf James Bottings Tanzboden, aber das raubt mir weder den Schlaf, noch weine ich eine Träne darüber. Der Galgen ist da, Captain, und wir leben damit, bis wir daran sterben, das werden wir nicht ändern, weil die Schweine es nicht ändern wollen. Das ist ihre Welt, nicht unsere, und sie kämpfen darum, sie so zu erhalten, wie sie sie haben wollen. Sie bringen uns um, schicken uns nach Australien oder brechen uns den Rücken in der Tretmühle, und wissen Sie, warum? Weil sie Angst vor uns haben. Sie haben Angst, dass wir es machen wie der französische Pöbel. Sie haben Angst vor einem Schafott in Newgate. Vielleicht lassen sie zu, dass Sie einen Mann retten, Captain, aber glauben Sie ja nicht, dass Sie etwas ändern könnten.« Er zog dünne schwarze Lederhandschuhe über. »Im Hinterzimmer warten ein paar Burschen auf Sie, Captain. Aber bevor Sie mit ihnen reden, sollten Sie wissen, dass ich gestern Abend im Dog and Duck gegessen habe.«
»In St. George’s Field?«, fragte Sandman, verwundert über diese Bemerkung, die scheinbar in keinerlei Zusammenhang zu der vorherigen Mitteilung stand.
»Da wohnen und essen viele Straßenritter«, sagte Hood, »weil es bequem für die westlichen Landstraßen ist.« Er meinte, dass in der Schänke viele Straßenräuber verkehrten. »Und da habe ich etwas flüstern hören, Captain. Fünfzig Mäuse für Ihr Leben.« Er hob eine Augenbraue. »Sie haben wohl jemanden geärgert, Captain. Im ‘Sheaf habe ich klar gemacht, dass niemand Ihnen ein Haar krümmen darf, weil Sie nett zu meiner Sal waren, und ich passe auf jeden auf, der auf sie aufpasst, aber ich habe nicht jede Spelunke in London im Griff.«
Sandmans Herz stockte. Fünfzig Guineen für sein Leben? War das ein Kompliment oder eine Beleidigung? »Sie wissen nicht zufällig, wer die Belohnung ausgesetzt hat?«, fragte er.
»Ich habe gefragt, aber niemand wusste es. Aber es ist eine Menge Geld, Captain, also passen Sie auf sich auf. Vielen Dank.« Der Dank galt der Tatsache, dass Sandman ihm das Hoftor geöffnet hatte.
Sandman schaute zu dem Reiter auf. »Sie schauen sich heute Abend Sally nicht auf der Bühne an?«
Hood schüttelte den Kopf. »Hab sie schon oft genug gesehen«, sagte er kurz und bündig. »Und ich habe selbst was zu erledigen, was sie sich auch nicht anschaut.« Grußlos gab er seinem Pferd die Sporen und ritt nordwärts hinter einem Fuhrwerk her, das frisch gebrannte Ziegel geladen hatte.
Sandman schloss das Tor. Als Viscount Sidmouth ihm diesen Auftrag erteilt hatte, hatte er angedeutet, es sei eine leichte Aufgabe, ein Monatsgehalt für einen Tag Arbeit, doch plötzlich stand für ein Monatsgehalt sein Leben auf dem Spiel. Sandman drehte sich um und starrte auf die schmutzigen Fenster des Hinterzimmers, da sich aber die Abendsonne in den kleinen Fensterscheiben spiegelte, konnte er nicht hineinsehen. Aber wer immer dort warten mochte, hatte ihn im Blick. Daher ging er nicht geradewegs ins Hinterzimmer, sondern nahm den Umweg durch das Fasslager zu dem Flur, wo sich eine Durchreiche befand. Vorsichtig schob er das Schiebefenster ein Stückchen auf und beugte sich herunter, um durch den Spalt zu lauern.
Hinter sich hörte er Schritte, doch bevor er sich umdrehen konnte, spürte er einen Pistolenlauf kalt an seinem Ohr. »Ein guter Soldat betreibt immer zuerst Aufklärung, was Captain?«, sagte Sergeant Berrigan. »Ich dachte mir schon, dass Sie zuerst hierher kommen.«
Als Sandman sich aufrichtete, sah er, dass der Sergeant sich freute, Sandman übertölpelt zu haben. »Und, was haben Sie jetzt vor, Sergeant?«, fragte er. »Wollen Sie mich erschießen?«
»Ich will mich lediglich vergewissern, dass Sie keine Waffe tragen«, sagte Berrigan, schob mit seinem Pistolenlauf Sandmans Rock auseinander und überzeugte sich, dass der Captain unbewaffnet war. Dann deutete er mit dem Kopf auf die Tür des Hinterzimmers. »Nach Ihnen, Captain.«
»Sergeant«, setzte Sandman an in der Absicht, an das Gute in Berrigan zu appellieren, aber von dieser Seite seines Wesens war nichts zu spüren, denn er richtete die Pistole auf Sandmans Brust. Sandman kam in den Sinn, den Lauf beiseite zu stoßen und Berrigan sein Knie zwischen die Beine zu rammen, aber der Sergeant schüttelte mit dem Anflug eines Grinsens fast unmerklich den Kopf, als wolle er Sandman warnen, es ja nicht zu versuchen. »Durch die Tür?«, fragte Sandman. Als Berrigan nickte, drehte er den Türknauf und betrat das Hinterzimmer.
Der Marquess of Skavadale und Lord Robin Holloway saßen auf dem Sofa hinter dem langen Tisch. Beide trugen elegant geschnittene schwarze Röcke, geblümte Krawatten und hautenge Hosen. Beim Anblick Sandmans flammte in Holloways Miene Zorn auf, aber Skavadale erhob sich höflich und lächelte. »Mein lieber Captain Sandman, wie nett, dass Sie sich zu uns gesellen.«
»Warten Sie schon lange?«, fragte Sandman aufsässig.
»Eine halbe Stunde«, antwortete Skavadale freundlich. »Wir hatten erwartet, Sie schon früher hier anzutreffen, aber das Warten war nicht übermäßig ermüdend. Nehmen Sie doch Platz, Sir.«
Zögernd setzte Sandman sich, nachdem er einen verstohlenen Blick auf Berrigan geworfen hatte, der die Tür des Hinterzimmers geschlossen und die Pistole gesenkt, aber nicht weggesteckt hatte. Der Sergeant blieb an der Tür stehen und beobachtete Sandman. Der Marquess of Skavadale nahm den Korken von einer Weinflasche und schenkte ein Glas ein. »Ein recht schlichter Claret, Captain, aber nach Ihrer Reise dürfte er Ihnen genehm sein. Schließlich ist das hier das Wheatsheaf, ein Etablissement nicht von Welt, sondern von Unterwelt. Das ist gut, Robin, nicht wahr? Nicht von Welt, sondern von Unterwelt?«
Lord Robin Holloway schwieg, lächelte nicht einmal, sondern starrte Sandman unverwandt an. Auf seinen Wangen prangten immer noch zwei rote Striemen, wo Sandman ihn mit dem Degen getroffen hatte. Skavadale schob das Glas Wein über den Tisch und wirkte bekümmert, als Sandman es mit einem Kopfschütteln ablehnte. »Ach kommen Sie, Captain, wir sind in freundlicher Absicht hier«, sagte Skavadale stirnrunzelnd.
»Und ich bin hier, weil man mich mit der Pistole bedroht hat.«
»Stecken Sie sie weg, Sergeant«, befahl Skavadale und prostete Sandman zu. »Ich habe in den letzten Tagen einiges über Sie erfahren, Captain. Dass Sie ein ausgezeichneter Kricketspieler sind, wusste ich selbstverständlich, aber Sie haben sich auch in anderer Hinsicht einen Namen gemacht.«
»In welcher Hinsicht?«, fragte Sandman düster.
»Sie waren ein guter Soldat«, sagte Skavadale.
»So?«
»Aber Sie hatten wenig Glück mit Ihrem Vater«, sagte Skavadale taktvoll. »Wie ich höre, unterstützen Sie nun Ihre Mutter und Ihre Schwester, nicht wahr, Captain?« Er wartete auf eine Antwort, aber Sandman rührte sich nicht. »Eine Schande, wenn Menschen von Stand zur Armut verdammt sind. Ohne Sie wäre Ihre Mutter schon lange auf Almosen angewiesen und Ihre Schwester wäre was? Gouvernante? Mätresse? Aber mit einer kleinen Mitgift könnte sie immer noch eine recht ordentliche Partie machen, nicht wahr, Captain?«
Sandman sprach immer noch nicht, aber Lord Skavadale hatte nichts als die Wahrheit gesagt. Sandmans Schwester Belle war neunzehn Jahre alt, und ihre einzige Chance, der Armut zu entkommen, bestand in einer vorteilhaften Heirat, aber ohne Mitgift konnte sie nicht auf einen respektablen Ehemann hoffen. Mit etwas Glück fände sich vielleicht ein Kaufmann, der bereit wäre, sie zu heiraten, doch Sandman wusste, dass sie einen solchen Ehemann nie akzeptieren würde, da sie ebenso wie ihre Mutter einen übertriebenen Standesdünkel hegte. Vor einem Jahr, noch vor dem Tod ihres Vaters, hatte Belle mit einer Mitgift von mehreren tausend Pfund rechnen dürfen, die ausgereicht hätten, einen Aristokraten zu reizen und ein solides Einkommen zu sichern. Diesen Aussichten trauerte sie immer noch nach und machte aus unerfindlichen Gründen Sandman dafür verantwortlich, dass sie sich zerschlagen hatten. Sandman war in London, weil er die Vorwürfe seiner Mutter und Schwester nicht länger ertragen hatte, die von ihm erwarteten, dass er seinen Vater ersetzte und ihnen grenzenlosen Luxus bot.
»Nun«, sagte Skavadale, »die Spielsucht Ihres Vaters hat Ihre Familie in Not gebracht, nicht wahr, Captain? Aber Sie bemühen sich, einen Teil der Schulden abzutragen. Sie haben den schwierigen Weg gewählt, und das ist ehrenhaft, äußerst ehrenhaft. Ist das nicht ehrenhaft, Robin?«
Lord Robin Holloway schwieg, zuckte lediglich die Achseln und musterte Sandman mit kaltem Blick.
»Was haben Sie nun vor, Captain?«, fragte Skavadale.
»Was ich vorhabe?«
»Mutter und Schwester ernähren, Schulden bezahlen und keine Anstellung, außer gelegentlich ein Kricketspiel?«, fragte Skavadale und hob in gespielter Verwunderung die Augenbrauen. »Soviel ich gehört habe, ist der Auftrag des Innenministers sehr vorübergehender Natur und dürfte wohl kaum zu dauerhaften Einkünften führen. Was haben Sie also vor?«
»Was haben Sie vor?«, gab Sandman die Frage zurück.
»Verzeihung?«
»Soweit ich weiß, geht es Ihnen nicht viel besser als mir«, erwiderte Sandman, dem einfiel, was Lord Alexander ihm über den Marquess of Skavadale erzählt hatte. »Ihre Familie besaß früher ein beträchtliches Vermögen, aber es hat auch Spieler gegeben.«
Der Marquess wirkte für einen Moment verärgert, ging aber nicht auf die Beleidigung ein, sondern antwortete leichthin: »Ich werde eine gute Partie machen, also reich heiraten. Und Sie?«
»Vielleicht mache ich ja auch eine gute Partie«, sagte Sandman.
»Tatsächlich?« Skavadale hob skeptisch die Augenbrauen.
»Ich erbe den Titel eines Herzogs, Sandman, das ist für ein Mädchen eine große Verlockung. Und was haben Sie zu bieten? Ihr Können im Kricket? Faszinierende Erinnerungen an Waterloo?« Der Ton Seiner Lordschaft war immer noch höflich, aber sein Zorn war unverkennbar. »Mädchen mit Geld heiraten entweder Geld oder Adel, Captain, weil Geld und Adel das einzige ist, was in dieser Welt zählt.«
»Und was ist mit Ehrlichkeit? Und Ehre?«, fragte Sandman.
»Nur Geld und Adel«, wiederholte Skavadale ausdruckslos. »Meine Familie mag kurz vor dem Bankrott stehen, aber wir besitzen einen Adelstitel. Bei Gott, wir haben einen Adelstitel, und der wird uns wieder zu Geld verhelfen.«
»Geld und Adel«, sagte Sandman nachdenklich. »Welchen Trost haben Sie dann für einen Mann wie Sergeant Berrigan, der von niederem Stand ist und, wie ich annehme, nur über armseligen Besitz verfügt?«
Skavadale ließ den Blick müßig zum Sergeant schweifen. »Ich rate ihm, sich einem Mann von Adel und Besitz anzuschließen, Captain. So geht es in dieser Welt nun mal zu. Er dient, ich gebe ihm seinen Lohn, und es ist zu unser beider Nutzen.«
»Und wie passe ich in diesen gottgegebenen Plan?«, fragte Sandman.
Der Anflug eines Lächelns huschte über Skavadales Gesicht. »Sie sind ein Gentleman, Captain, Sie stammen aus vornehmem Haus, aber man hat Ihnen Ihren Anteil am Wohlstand versagt. Wenn Sie erlauben, möchten wir«, er deutete auf den blassen Lord Robin Holloway, »und mit wir meine ich sämtliche Mitglieder des Seraphim Clubs, diesem Mangel abhelfen.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche, legte es auf den Tisch und schob es Sandman zu.
»Abhelfen?«, fragte Sandman verständnislos, aber Skavadale deutete nur schweigend auf das Papier, das Sandman nahm und auseinander faltete. Als Erstes sah er Lord Robin Holloways großzügige Unterschrift und als Zweites die Zahl.
Er starrte darauf und schaute Lord Skavadale an, der lächelte. Sandman schaute erneut auf das Papier. Es war ein Wechsel über zwanzigtausend Guineen, auszuzahlen an Rider Sandman, ausgestellt auf Lord Robin Holloways Konto bei der Courts Bank.
Zwanzigtausend. Seine Hände zitterten leicht. Er zwang sich, tief durchzuatmen.
Das löste all seine Probleme. Alle.
Mit zwanzigtausend Guineen könnte er die kleineren Schulden seines Vaters begleichen, seiner Mutter und Schwester ein hübsches Haus kaufen, und es bliebe noch genug übrig, um ein Einkommen von sechs- bis siebenhundert Pfund im Jahr zu sichern, was zwar wenig war im Vergleich zu dem, was seine Mutter gewohnt war, aber mit sechshundert Pfund im Jahr konnte eine Frau mit ihrer Tochter ihre Stellung im Landadel aufrecht erhalten. Es war ein respektables Einkommen. Sie konnten sich vielleicht keine Kutsche mit Pferden leisten, aber doch immerhin ein Dienstmädchen und eine Köchin, und sie konnten jeden Sonntag ein Goldstück in den Klingelbeutel werfen und ihre Nachbarinnen ausreichend stilvoll empfangen. Sie würden sich nicht länger bei Rider Sandman über ihre Armut beklagen.
Mit lautem Hufschlag und Kettengerassel fuhr ein Tafelwagen in den Hof, aber Sandman bemerkte den Lärm gar nicht. Er hing dem verlockenden Gedanken nach, die Ansprüche der Kaufleute zu ignorieren, die der Selbstmord seines Vaters an den Rand des Ruins gebracht hatte, da er schließlich nicht für die Schulden seines Vaters verantwortlich sei; damit könnte er seiner Mutter sogar ein Jahreseinkommen von achthundert Pfund sichern. Das Beste aber war, dass zwanzigtausend Guineen ein ausreichend großes Vermögen darstellen dürften, um Lady Forrests Vorbehalte gegen seine Heirat mit Eleanor zunichte zu machen. Er starrte den Wechsel an. Alles wäre wieder möglich. Eleanor, dachte er, Eleanor; er dachte an das Geld, das Eleanor mit in die Ehe bringen würde, und wusste, dass er wieder reich wäre, Pferde im Stall hätte, den ganzen Sommer Kricket spielen und den ganzen Winter zur Jagd gehen könnte. Er wäre wieder ein richtiger Gentleman und brauchte nicht mehr auf den Penny zu achten oder sich selbst um seine Wäsche zu kümmern.
Er schaute in Lord Robin Holloways Augen. Der junge Mann war ein Dummkopf, der Sandman zum Duell hatte herausfordern wollen, und nun wollte er ihm ein Vermögen schenken? Lord Robin ignorierte Sandmans Blick und starrte auf ein Spinnennetz an der Zimmerdecke. Lord Skavadale lächelte Sandman an. Es war das wohlwollende Lächeln eines Mannes, der sich über das Glück eines anderen freute, ein Lächeln, das Sandman beschämte. Er schämte sich, weil er in Versuchung geraten war, in echte Versuchung. »Sie glauben, wir wollen Sie bestechen?«, fragte Lord Skavadale besorgt, als er die Veränderung in Sandman Miene bemerkte.
»Mit solcher Großzügigkeit von Lord Robin habe ich nicht gerechnet«, sagte Sandman trocken.
»Alle Mitglieder des Seraphim Clubs haben sich beteiligt«, erklärte der Marquess, »und mein Freund Robin hat das Geld eingesammelt. Es ist natürlich ein Geschenk, kein Bestechungsgeld.«
»Ein Geschenk?«, wiederholte Sandman bitter. »Keine Bestechung?«
»Selbstverständlich ist es keine Bestechung«, bekräftigte Skavadale bestimmt, »wahrhaftig nicht.« Er stand auf, trat ans Fenster und beobachtete, wie die Bierfässer vom Tafelwagen über eine Planke heruntergerollt wurden. Schließlich drehte er sich lächelnd wieder um. »Ich empfinde es als Beleidigung, wenn ein Gentleman in Not gerät, Captain Sandman. So etwas verstößt gegen die natürliche Ordnung, finden Sie nicht auch? Und wenn dieser Gentleman ein Offizier ist, der ritterlich für sein Land gekämpft hat, ist die Beleidigung umso größer. Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, besteht der Seraphim Club aus Männern, die bestrebt sind, die Besten zu sein. Was sind Engel denn anderes als Wesen, die Gutes tun? Wir sähen Sie und Ihre Familie also gern wieder an Ihrem angestammten Platz in der Gesellschaft. Das ist alles.« Er zuckte die Achseln, als handele es sich tatsächlich bloß um eine kleine Geste.
Sandman hätte ihm nur zu gern geglaubt. Lord Skavadale klang so vernünftig und ruhig, als ob dieser Vorgang etwas ganz Alltägliches sei. Aber Sandman wusste es besser. »Sie bieten mir ein Almosen an«, sagte er.
Lord Skavadale schüttelte den Kopf. »Lediglich eine Korrektur blinden Schicksals, Captain.«
»Und was erwarten Sie von mir als Gegenleistung, wenn ich mein Schicksal von Ihnen korrigieren lasse?«, fragte Sandman.
Lord Skavadale schaute gekränkt drein, als sei es ihm nicht im Traum eingefallen, von Sandman als Gegenleistung für ein kleines Vermögen eine Gefälligkeit zu erwarten. »Ich erwarte lediglich, dass Sie sich wie ein Gentleman verhalten, Captain«, antwortete er steif.
Sandman warf einen Blick auf Lord Robin Holloway, der immer noch kein Wort gesprochen hatte. »Ich denke, das tue ich immer«, erwiderte Sandman frostig.
»Dann wissen Sie ja wohl, dass Gentlemen keine bezahlte Tätigkeit ausüben, Captain«, sagte Skavadale spitz.
Sandman schwieg.
Lord Skavadale schien leicht pikiert über sein Schweigen. »Daher werden Sie selbstverständlich jegliche bezahlte Tätigkeit aufgeben, wenn Sie diesen Wechsel annehmen, Captain.«
Sandman schaute auf das kleine Vermögen in seiner Hand. »Ich schreibe also an den Innenminister und lege das Amt als sein Ermittler nieder?«
»Das wäre sicherlich die ehrenwerteste Handlungsweise«, stellte Skavadale fest.
»Wie ehrenhaft ist es, einen Unschuldigen hinrichten zu lassen?«, fragte Sandman.
»Ist er unschuldig?«, fragte Skavadale. »Sie haben dem Sergeant gesagt, Sie wollten von Ihrer Reise aufs Land Beweise mitbringen. Ist es Ihnen gelungen?« Er wartete, aber Sandmans Miene ließ deutlich erkennen, dass er keine Beweise hatte. Skavadale zuckte die Achseln, als wolle er sagen, dann könne Sandman ja durchaus einen hoffnungslos Verlorenen aufgeben und das Geld annehmen.
Sandman war in Versuchung, ernstlich in Versuchung, aber zugleich schämte er sich dafür. So zwang er sich, den Wechsel in Stücke zu reißen. Beim ersten Riss sah er Lord Skavadale verwundert blinzeln und gleich darauf zornig werden. Plötzlich überfiel Sandman Angst, nicht vor Skavadales Wut, sondern vor seiner eigenen Zukunft und der ungeheuren Größe des Vermögens, das er ausgeschlagen hatte.
Er streute die Schnipsel auf den Tisch. Der Marquess of Skavadale und Lord Robin Holloway standen auf. Keiner sagte ein Wort. Sie schauten Sergeant Berrigan an, als erteilten sie ihm einen unausgesprochenen Befehl, und gingen, ohne Sandman eines Blickes zu würdigen. Ihre Schritte hallten noch durch den Flur, als Sandman kaltes Metall im Nacken spürte und erkannte, dass es die Pistole war. Sandman spannte sämtliche Muskeln an und überlegte, sich nach hinten zu werfen, um Berrigan aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber der Sergeant grub den kalten Lauf fest in Sandmans Nacken. »Sie hatten Ihre Chance, Captain.«
»Sie haben immer noch eine Chance, Sergeant«, antwortete Sandman.
»Aber ich bin kein Narr«, sagte Berrigan, »und ich werde Sie nicht hier töten. Nicht hier und jetzt. Zu viele Leute in der Schänke. Wenn ich Sie hier töte, tanze ich in Newgate, Captain.« Der Druck der Pistole wich, und der Sergeant flüsterte Sandman ins Ohr: »Passen Sie auf sich auf, Captain, passen Sie auf sich auf.« Den gleichen Rat hatte ihm auch Jack Hood gegeben.
Sandman hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss und die Schritte des Sergeant leiser wurden.
Zwanzigtausend Guineen, dachte er. Dahin.
Reverend Lord Alexander Pleydell hatte sich für die Vorstellung eine Loge im Covent-Garden-Theater gesichert. »Ich kann nicht sagen, dass ich große Kunst erwarte«, erklärte er, als er Sandman durch die Menge folgte, »außer von Miss Hood. Ich bin sicher, sie wird mehr als hinreißend sein.« Seine Lordschaft hielt ebenso wie Sandman die Hände fest in den Taschen, da das dichte Gedränge im Theater ein berüchtigtes Jagdrevier für Taschendiebe war. Mit schriller Stimme fragte er: »Weißt du eigentlich, dass es bei Taschendieben eine richtige Hierarchie gibt?«
»Ich habe das Gespräch mit angehört, Alexander«, antwortete Sandman. Bevor sie das Wheatsheaf verlassen hatten, hatte Lord Alexander sich eine weitere Lektion in der Unterweltsprache erteilen lassen, dieses Mal von dem Wirt Jenkins, dem es gefiel, einen adeligen Reverend zu seinen Gästen zählen zu dürfen. Lord Alexander hatte sich Notizen gemacht und zu seiner Freude erfahren, dass der niedrigste Rang der Taschendiebe die Kinder waren, die Taschentücher stahlen, während die Könige dieses blühenden Gewerbes die Diebe von Taschenuhren waren. Es gab unterschiedliche Bezeichnungen für die verschiedenen Taschendiebe wie auch für die einzelnen Taschenarten. »Garret, Hoxter, Kickseys, Pit, Rough-fammy, Salt Box Cly und Slip«, leierte Lord Alexander herunter. »Habe ich eine vergessen?«
»Ich habe nicht aufgepasst.« Sandman schob sich näher an das hell erleuchtete Vordach des Theaters heran.
»Garret, Hoxter, Kickseys, Pit, Rough-fammy, Salt Box Cly und Slip«, wiederholte Lord Alexander sehr zur Verwirrung der Umstehenden. Garret war das Uhrtäschchen in einer Weste, Rough-fammies waren die unteren Westentaschen, Hoxter hieß die Innentasche eines Gehrocks, Kickseys die Hosentaschen, Pit eine Brusttasche ohne Klappe, eine Jackentasche mit Klappe hieß Salt Box Cly und eine hintere Tasche, die am einfachsten auszuräubern war, hieß Slip. »Meinst du, Miss Hood geht nach der Vorstellung mit uns essen?«, rief Lord Alexander über den Lärm der Menge hinweg.
»Ich bin überzeugt, sie schwelgt nur zu gern in der Bewunderung einer ihrer Verehrer.«
»Einer ihrer Verehrer?«, fragte Lord Alexander besorgt. »Du denkst doch wohl nicht an Kit Carne, oder?«
Sandman dachte keineswegs an Lord Christopher Carne, zuckte aber die Achseln, als sei der Erbe des Earl of Avebury tatsächlich ein Rivale um Sallys Gunst. Lord Alexander schaute ihn äußerst missbilligend an. »Kit ist als Mann nicht ernst zu nehmen, Rider.«
»Ich fand ihn sehr ernsthaft.«
»Ich habe den Eindruck, dass er schwach ist«, sagte Lord Alexander hochmütig.
»Schwach?«
»Neulich Abend hat er Miss Hood ständig mit abwesendem Blick angestarrt!«, sagte Lord Alexander. »Lächerliches Benehmen. Ich unterhielt mich mit ihr, und er stierte nur mit offenem Mund! Weiß Gott, was sie von ihm dachte.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Sandman.
»Er stierte wie ein Fisch!« Als ein Kind aufschrie, drehte Lord Alexander sich erschrocken um. »Was ist passiert?«, fragte er besorgt.
»Jemand hat wohl Angelhaken in seiner Tasche, und ein kleiner Taschendieb hat sich die Finger aufgerissen«, vermutete Sandman. Es war eine gängige Methode, sich vor Taschendieben zu schützen.
»Diese Lektion wird das Kind wohl nicht so bald vergessen«, erklärte Lord Alexander fromm. »Aber ich darf nicht so hart über Kit urteilen. Er hat wenig Erfahrung mit Frauen und ist gegen ihre Reize nicht gefeit, fürchte ich.«
»Von einem Mann, der darauf brennt, Sally Hood tanzen zu sehen, ist das ein starkes Urteil.«
Lord Alexander grinste. »Selbst ich bin nicht vollkommen. Kit wollte heute Abend ebenfalls kommen, aber ich habe ihm gesagt, er soll sich selbst eine Eintrittskarte kaufen. Meine Güte, wahrscheinlich hätte er sogar anschließend mit zu dem Abendessen mit Miss Hood gehen wollen! Glaubst du, sie würde mit uns nach Newgate gehen?«
»Nach Newgate?«
»Zu einer Hinrichtung! Ich habe dir doch gesagt, dass ich die Gefängnisverwaltung um einen bevorzugten Platz bitten würde. Ich habe bereits einen Brief geschrieben, aber bisher noch keine Antwort bekommen. Ich bin aber sicher, dass sie meiner Bitte nachkommen werden.«
»Und ich bin sicher, dass ich nicht mitkommen werde«, rief Sandman über den Lärm hinweg. In diesem Augenblick ging es aus unerfindlichen Gründen ruckartig vorwärts, und Sandman erreichte den Eingang. Wenn das Gedränge durch bezahlte Zuschauer verursacht war, hatte Mister Spofforth ein kleines Vermögen dafür zahlen müssen. Mister Spofforth war der Mann, der das Theater an diesem Abend für seinen Schützling, Miss Sacharissa Lasorda, gemietet hatte, die als neue Vestris angekündigt wurde. Die alte Vestris war eine erst zwanzigjährige italienische Schauspielerin von atemberaubender Schönheit, die in dem Ruf stand, die Abendeinnahmen eines Theaters um dreihundert Pfund zu erhöhen, indem sie nur ihre Beine entblößte. Den Durchbruch zu einer ähnlich einträglichen Karriere versuchte Mister Spofforth nun für Miss Lasorda zu organisieren.
»Kennst du Spofforth?«, fragte Sandman seinen Freund. Sie befanden sich inzwischen im Inneren des Theaters, wo eine alte Frau sie eine muffige Treppe zu ihrer Loge hinaufführte.
»Selbstverständlich kenne ich William Spofforth.« Lord Alexanders Klumpfuß schlug laut gegen die Stufen, als er sich mannhaft die dunkle Treppe hinaufkämpfte. »Er war in Marlborough. Ein ziemlich dummer Bursche, dessen Vater ein Vermögen mit Zucker gemacht hat. Der junge Spofforth, der heute Abend unser Gastgeber ist, konnte beim Kricket zwar den Dreistab verteidigen, hatte aber keine Ahnung, wie man Feldspieler aufstellt.«
»Ich finde, das ist Aufgabe des Mannschaftskapitäns oder des Werfers«, wandte Sandman nachsichtig ein.
»Eine absurde Behauptung«, fuhr Lord Alexander ihn an. »Kricket ist kein Kricket mehr, wenn der Torhüter seine Pflicht vernachlässigt, die Spielaufstellung zu bestimmen. Er sieht genauso gut wie der Schlagmann, wer wäre also in einer besseren Position, die Aufstellung zu bestimmen, als er? Wirklich, Rider, ich bewundere deine Qualitäten als Schlagmann wie kein anderer, aber wenn es um ein theoretisches Spielverständnis geht, bist du wahrhaftig wie ein Kind.« Es war ein uralter Streit, auf den sie sich auch nun munter einließen, während sie ihre Plätze oberhalb der Bühne einnahmen. Lord Alexander hatte sein Pfeifenetui mit und zündete sich die erste Pfeife des Abends an. Der Rauch zog in Kringeln an einem großen Schild vorüber, das Rauchen im Theater verbot. Das Haus war mit über dreihundert Zuschauern voll besetzt, sie waren allerdings rüpelhaft und viele schon angetrunken, was vermuten ließ, dass Mister Spofforths Diener die Claqueure aus den Schänken geholt hatten. In einer gegenüberliegenden Loge wurden einige Zeitungsschreiber mit Champagner, Brandy und Austern bei Laune gehalten. In der benachbarten Loge saß Mister Spofforth, ein reservierter Beau mit einem Kragen bis an die Ohren, und behielt besorgt die Journalisten im Auge, die ihn so viel Geld kosteten und mit ihrem Verdikt über Wohl und Wehe seiner Geliebten entscheiden würden. Schon jetzt war einer der Kritiker eingeschlafen, ein anderer machte sich an einer Frau zu schaffen, während die beiden Übrigen den Logenkellner bedrängten, mehr Champagner zu bringen. Ein Dutzend Musiker kamen nacheinander in den Orchestergraben und stimmten ihre Instrumente.
»Ich stelle eine Mannschaft aus Gentlemen zusammen, die Ende des Monats gegen Hampshire spielen soll«, sagte Lord Alexander. »Ich hatte gehofft, dass du mitspielst.«
»Ja, gern. Soll das Spiel in Hampshire stattfinden?«, fragte Sandman besorgt, weil ihm nicht sonderlich daran gelegen war, in die Nähe von Wiltshire zu fahren und sich dem Gejammer und den Ansprüchen seiner Mutter auszusetzen.
»Hier in London«, antwortete Lord Alexander, »auf dem Thomas-Lord-Platz.«
Sandman verzog das Gesicht. »Auf diesem elenden Hügel?«
»Der Platz ist völlig in Ordnung«, sagte Lord Alexander beleidigt, »vielleicht ein bisschen abschüssig. Außerdem habe ich schon fünfzig Guineen auf den Ausgang des Spiels gesetzt. Deshalb möchte ich ja, dass du mitspielst. Wenn du in meiner Mannschaft bist, erhöhe ich den Einsatz noch.«
Sandman stöhnte. »Geld verdirbt das Spiel, Alexander.«
»Deshalb müssen wir alle, die wir gegen Korruption sind, das Spiel tatkräftig unterstützen«, beharrte Lord Alexander. »Also, spielst du?«
»Ich bin ganz aus der Übung«, warnte Sandman seinen Freund.
»Dann solltest du anfangen zu trainieren«, erklärte Lord Alexander gereizt und zündete sich eine neue Pfeife an. Er musterte Sandman stirnrunzelnd. »Glaubst du, Miss Hood hätte Spaß an Kricket?«
»Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass sie Kricket spielt.«
»Sei nicht absurd, Rider, ich meine doch als Zuschauerin.«
»Da musst du sie schon selbst fragen, Alexander«, antwortete Sandman und beugte sich über die Balustrade, um in den Saal zu schauen, wo ein Grüppchen aus dem Wheatsheaf sich anschickte, Sally zuzujubeln. Zwei Dirnen, die am Orchestergraben vorübergingen und bemerkten, dass er nach unten schaute, bedeuteten ihm mit Gesten, dass sie gern bereit wären, in die Loge hinaufzukommen. Hastig schüttelte Sandman den Kopf und zog sich außer Sichtweite zurück. »Und wenn sie tot ist?«, sagte er unvermittelt.
»Miss Hood? Tot? Warum sollte sie?« Lord Alexander wirkte sehr besorgt. »War sie krank? Das hättest du mir sagen müssen!«
»Ich spreche doch von dieser Zofe Meg.«
»Ach, von der«, sagte Lord Alexander geistesabwesend und musterte nachdenklich seine Pfeife. »Erinnerst du dich an diese spanischen Zigarren, die so in Mode waren, als du in Spanien gegen die Truppen der Aufklärung gekämpft hast?«
»Selbstverständlich.«
»Sie sind nirgendwo zu bekommen, dabei mochte ich sie gern.«
»Versuche es mal bei Pettigrews in der Old Bond Street«, empfahl Sandman leicht verärgert, weil sein Freund seine Sorge um Meg völlig ignorierte.
»Da habe ich es schon versucht. Sie haben keine. Dabei mochte ich sie wirklich gern.«
»Ich kenne jemanden, der überlegt, sie zu importieren«, sagte Sandman, dem plötzlich Sergeant Berrigans Vorhaben einfiel.
»Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist.« Lord Alexander blies den Rauch in Richtung der vergoldeten Cherubim an die Decke. »Wissen deine Freunde aus dem Seraphim Club, dass du hinter Meg her bist?«
»Nein.«
»Sie haben also keinen Grund, sie zu suchen und zu töten. Und sollten sie ihren Tod bereits beim Mord der Countess gewollt haben – vorausgesetzt, sie haben diese grauenhafte Tat wirklich begangen –, dann hätten sie ihre Leiche neben der ihrer Herrin liegen lassen, damit Corday für beide Morde verurteilt würde. Das deutet doch wohl darauf hin, dass dieses Mädchen noch lebt. Rider, mir scheint, dein Ermittlungsauftrag verlangt sehr viel logisches Denken, und deshalb bist du eine ganz schlechte Wahl für dieses Amt. Aber du kannst mich jederzeit um Rat fragen.«
»Das ist sehr nett von dir, Alexander.«
»Ich gebe mir alle Mühe, immer nett zu sein, mein Lieber«, strahlte Lord Alexander selbstzufrieden.
Jubel wurde laut, als einige Jungen im Saal herumgingen und die Lampen löschten. Die Musiker zupften ein letztes Mal versuchsweise auf ihren Instrumenten und warteten dann auf den Einsatz des Dirigenten. Einige Zuschauer im Saal forderten mit Pfiffen, dass der Vorhang sich öffne. Das Kulissenschieben erledigten meist Matrosen, die den Umgang mit Seilen und das Arbeiten in großer Höhe gewohnt waren, und wie auf See wurden auch die Kommandos durch Pfiffe erteilt und das Pfeifen des Publikums verriet die Ungeduld, aber der Vorhang blieb beharrlich geschlossen. Weitere Lampen wurden gelöscht und schließlich die Scheinwerfer am Bühnenrand geöffnet. Ein Trommelwirbel erschallte, und ein Schauspieler in wehendem Umhang sprang hinter dem Vorhang hervor, um den Prolog des Stückes auf der breiten Vorbühne zu rezitieren.
In Afrika, der Heimat fern,
ein Junge streift umher so gern,
Aladdin war unseres Helden Name …
Weiter kam er nicht, da das Publikum ihn mit einer Kakophonie aus Rufen und Pfiffen übertönte. »Wir wollen die Beine des Mädchens sehen!«, brüllte ein Mann aus der Loge neben Sandman. »Zeig uns ihre Beine!«
»Ich glaube, die Anhänger der Vestris sind hier!«, brüllte Lord Alexander seinem Freund ins Ohr.
Mister Spofforth wirkte besorgter denn je. Die Zeitungsschreiber wurden allmählich aufmerksam, nachdem die Menge laut grölte, aber die Musiker, die das alles schon kannten, begannen unbeirrt zu spielen, was die Zuschauer ein wenig beruhigte. Sie jubelten, als der Prolog abgebrochen wurde und der schwere scharlachrote Vorhang sich öffnete. Auf einer Lichtung in Afrika rahmten Eichen und gelbe Rosen ein Götzenbild, das den Eingang einer Höhle bewachte, wo ein Dutzend weiße Eingeborene schliefen. Sally war eine der Eingeborenen, die aus unerfindlichen Gründen weiße Strümpfe, schwarze Samtjäckchen und sehr kurze Schottenröckchen trugen. Lord Alexander johlte, als die zwölf Mädchen aufstanden und zu tanzen begannen. Auch die Stammkunden des Wheatsheaf, die unten im Saal saßen, jubelten laut, während die Vestris-Anhänger höhnische Kommentare grölten, da sie annahmen, der Jubel stamme von Spofforths Claqueuren. »Bringt das Mädchen raus!«, brüllte der Mann in der Nachbarloge. Eine Pflaume flog in hohem Bogen auf die Bühne und zerplatzte an dem Götzenbild, das dem Totempfahl der Indianer verdächtig ähnlich sah. Mister Spofforth versuchte mit hilflosen Gesten, das Publikum zu beruhigen, das offenbar fest entschlossen war, Unruhe zu stiften. Zumindest galt das für die Hälfte der Zuschauer, die von den Vestris-Anhängern angeheuert waren, während die andere Hälfte, von Mister Spofforth bezahlt, zu eingeschüchtert war, um dagegen anzukämpfen. Einige Zuschauer hatten Rasseln, die den hohen vergoldeten Saal mit lautem Knattern erfüllten. »Das wird übel«, sagte Lord Alexander genüsslich. »Herrlich!«
Die Theaterleitung nahm offenbar an, Miss Sacharissa Lasordas Auftritt würde die Menge beruhigen, denn das Mädchen wurde vorzeitig auf die Bühne geschoben. Mister Spofforth stand auf und klatschte, als sie von der Seite auf die Bühne stolperte. Seine Claqueure verstanden das Signal und jubelten so inbrünstig, dass sie die Buhrufe tatsächlich für eine Weile übertönten. Miss Lasorda, die die Tochter des Sultans von Afrika spielte, war dunkelhaarig und durchaus hübsch, ob aber ihre Beine den gleichen Ruhm verdienten wie die der Vestris, blieb vorerst ein Geheimnis, da sie einen langen, mit Halbmonden, Kamelen und Krummsäbeln bestickten Rock trug. Für einen Augenblick wirkte sie erschrocken, sich auf der Bühne wiederzufinden, doch dann verbeugte sie sich vor ihren Anhängern und begann zu tanzen.
»Zeig deine Beine!«, grölte der Mann in der Nachbarloge.
»Rock aus! Rock aus! Rock aus!«, skandierte die Menge auf den Sperrsitzen, und Pflaumen und Äpfel regneten auf die Bühne. »Rock aus! Rock aus! Rock aus!« Mister Spofforth machte immer noch beruhigende Handzeichen, was ihn jedoch nur zur Zielscheibe machte. Er duckte sich, als ein gut gezielter Früchtehagel seine Loge traf.
Lord Alexander liefen vor Lachen Tränen über die Wangen. »Ich liebe das Theater«, sagte er. »Mein Gott, wie ich das liebe. Das muss diesen jungen Narren mindestens zweitausend Pfund gekostet haben.«
Da Sandman seinen Freund nicht verstanden hatte, beugte er sich vor und fragte: »Was?«
Er hörte, wie etwas hinter ihm in die Logenwand einschlug, und sah dort im Schatten eine Staubwolke. Nun erst wurde ihm klar, dass ein Schuss gefallen war. Verwundert schaute er sich um und sah ein Rauchwölkchen in der dämmrigen Höhe einer der oberen Logen. Ein Gewehr, dachte er. Das Geräusch war anders als das einer Muskete. Er erinnerte sich an die Grünröcke in Waterloo, den unverwechselbaren Klang ihrer Waffen und erkannte schlagartig, dass gerade jemand auf ihn geschossen hatte. Er war so erschrocken, dass er sich zunächst nicht rühren konnte. Er starrte lediglich auf den sich ausbreitenden Rauch und merkte, dass das Publikum verstummte. Einige hatten den Schuss über das tosende Rattern, Pfeifen und Schreien hinweg gehört, andere rochen den Pulvergestank, und plötzlich schrie jemand auf der oberen Galerie. Miss Lasorda starrte mit offenem Mund nach oben.
Sandman riss die Logentür auf und sah zwei Männer mit gezückten Pistolen die Treppe herauflaufen. Er schlug die Tür zu. »Wir treffen uns im Wheatsheaf«, sagte er Lord Alexander, schwang die Beine über die Balustrade der Loge, hielt kurz inne und sprang. Er landete unsanft, knickte mit dem linken Knöchel um und wäre beinahe gefallen. Das Publikum johlte, da es Sandman für einen Bestandteil der Vorstellung hielt, einige schrien jedoch, als sie die beiden bewaffneten Männer in Lord Alexanders Loge bemerkten.
»Captain!«, rief Sally und deutete auf die Seitenkulisse.
Sandman stolperte. Der heftige Schmerz in seinem Knöchel ließ ihn gegen das Götzenbild taumeln, das den Höhleneingang bewachte. Als er sich umdrehte, sah er, dass die beiden Männer in der Loge ihre Pistolen auf ihn richteten, aber keiner wagte es, auf eine Bühne voller Tänzerinnen zu schießen. Einer der Männer schwang ein Bein über die vergoldete Balustrade der Loge. Sandman humpelte in die Seitenkulisse, wo ein als Harlekin verkleideter Mann und ein weiterer mit geschwärztem Gesicht, großer Krone und Wunderlampe warteten. Sandman schob sich zwischen ihnen durch, stolperte durch das Gewirr von Seilen eine Treppe hinunter und bog unten in einen Gang. Sein Knöchel war zwar nicht gebrochen, aber doch so verstaucht, dass jeder Schritt eine Qual bedeutete. Im Gang blieb er mit pochendem Herzen stehen und lehnte sich gegen die Wand. Er hörte die Tänzerinnen auf der Bühne kreischen, dann Schritte auf der Holztreppe und kurz darauf bog ein Mann um die Ecke. Sandman stellte ihm ein Bein, brachte ihn zu Fall und setzte ihm den Fuß in den Nacken. Der Mann stöhnte. Sandman nahm ihm die Pistole aus der plötzlich kraftlosen Hand und drehte den Mann um. »Wer bist du?«, fragte er, aber der Mann spuckte Sandman bloß an. Sandman schlug ihn mit dem Pistolenlauf und durchsuchte seine Taschen, wo er eine Hand voll Patronen fand. Er stand auf, verzog das Gesicht vor Schmerz und humpelte den Gang entlang zum Bühnenausgang. Als er erneut Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um und hob die Pistole, aber es war Sally, die auf ihn zulief, ihre Straßenkleider als Bündel an sich gepresst.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie ihn.
»Hab mir den Knöchel verstaucht.«
»Schöner Krawall da oben«, sagte Sally. »Auf den Brettern ist mehr Obst als auf dem Markt.«
»Brettern?«, fragte er.
»Auf der Bühne«, erklärte sie kurz und öffnete die Tür.
»Sie sollten wieder zurückgehen«, riet Sandman.
»Ich sollte verdammt viel, aber ich tu es nicht«, sagte Sally. »Kommen Sie.« Sie zog ihn auf die Straße. Ein Mann pfiff beim Anblick ihrer Beine in den weißen Strümpfen. Sie fauchte ihn an, er solle verschwinden, und legte sich ihren Umhang um die Schultern. »Stützen Sie sich auf mich«, sagte sie zu Sandman, der humpelte und vor Schmerz stöhnte. »Ihnen geht es verdammt schlecht, was?«
»Verstauchter Knöchel«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass er gebrochen ist.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil er nicht bei jedem Schritt knirscht.«
»Verflucht, was ist passiert?«, fragte Sally.
»Jemand hat auf mich geschossen. Mit einem Gewehr.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sandman. Jemand vom Seraphim Club? Das schien am wahrscheinlichsten, vor allem nachdem Sandman das großzügige Bestechungsgeld abgelehnt hatte, aber es erklärte nicht das Kopfgeld, das nach Jack Hoods Aussage auf Sandman ausgesetzt war. Warum sollte der Seraphim Club Verbrecher für etwas bezahlen, was sie oder ihre Bediensteten durchaus selbst erledigen konnten? »Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte er verwirrt und erschrocken.
Sie hatten das Theater durch den Bühneneingang an der Rückseite verlassen und gingen – beziehungsweise humpelten – nun unter den Arkaden des Covent-Garden-Marktes entlang. Es war noch hell an diesem Sommerabend, aber lange Schatten lagen auf dem Pflaster, das mit den Überresten von Obst und Gemüse übersät war. Eine Ratte huschte Sandman über den Weg. Ständig schaute er sich um, entdeckte aber keine offensichtlichen Verfolger. Kein Zeichen von Sergeant Berrigan oder einem anderen in schwarz-gelber Livree. »Sie rechnen sicher damit, dass ich ins Wheatsheaf gehe«, sagte er zu Sally.
»Sie wissen aber nicht, durch welche Tür sie gehen, oder?«, wandte Sally ein. »Und wenn Sie erst mal drinnen sind, sind Sie in Sicherheit, Captain. Da gibt es keinen, der Sie nicht beschützen würde.« Als hinter ihnen eilige Schritte laut wurden, drehte sie sich erschrocken um, aber es war nur ein Kind, das vor einem wütenden Mann davon lief, der den Jungen beschuldigte, ein Taschendieb zu sein. Blumenverkäufer arrangierten ihre Körbe auf dem Bürgersteig und bereiteten sich auf die Theaterbesucher vor, die bald aus den beiden Theatern in der Nähe strömen würden. Pfiffe und Rasseln wurden laut. »Die verdammten Charlies auf dem Weg zum Einsatz«, sagte Sally. Sie meinte die Polizisten von der Bow Street, die zum Covent-Garden-Theater unterwegs waren. Stirnrunzelnd musterte sie die Pistole in Sandmans Hand. »Stecken Sie die Knarre weg. Sie wollen doch nicht, dass ein Charlie sie kassiert.«
Sandman steckte die Waffe in seine Tasche. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht im Theater sein sollten?«
»Die kriegen den blöden Zirkus doch nie wieder in Gang, dabei hat es ja überhaupt nicht richtig angefangen, oder? Totgeburt. Nein, Miss Sacharissas kleiner Abend des Ruhmes ist durchgefallen, stimmt’s? Sie heißt übrigens gar nicht Sacharissa Lasorda.«
»Das hatte ich auch nicht angenommen.«
»Flossie heißt sie und war früher die Freundin des Feuerschluckers im Astley. Muss schon dreißig sein und verdiente ihre Brötchen zuletzt in einem Institut, wie ich gehört habe.«
»Sie war Lehrerin?«, fragte Sandman überrascht. Nur wenige Frauen wählten diesen Beruf, und Miss Lasorda, oder wie sie heißen mochte, wirkte nicht wie eine Lehrerin.
Sally krümmte sich vor Lachen und musste sich auf Sandman stützen. »Gott, ich liebe Sie, Captain«, sagte sie immer noch lachend. »Ein Institut ist nicht zum Lernen. Jedenfalls nicht aus Büchern. Es ist ein Bordell!«
»Ach«, sagte Sandman.
»Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte Sally, als sie das Theater in der Drury Lane erreichten, aus dem lauter Beifall erklang. »Was macht Ihr Knöchel?«
»Ich denke, ich kann allein gehen«, sagte Sandman.
»Versuchen Sie es«, ermunterte Sally ihn und schaute zu, wie Sandman ein paar Schritte humpelte. »Heute Abend ziehen Sie den Stiefel besser nicht aus«, riet sie ihm. »Sonst wird der Knöchel unheimlich dick.« Sie ging vor und öffnete den Haupteingang zum Wheatsheaf. Sandman rechnete fast damit, dass dort bereits jemand mit einer Pistole wartete, aber der Eingang war leer.
»Ich schaue besser nach, ob das Hinterzimmer frei ist«, sagte Sandman, »wir wollen schließlich nicht den ganzen Abend über die Schulter schauen.« Er führte Sally durch den voll besetzten Schankraum, wo der Wirt an einem Tisch Hof hielt. »Ist das Hinterzimmer frei?«, fragte Sandman ihn.
Jenkins nickte. »Der Herr sagte, dass Sie wiederkommen würden, Captain, und hat es für Sie reserviert. Da ist auch ein Brief für Sie, ein Knecht hat ihn gebracht.«
»Ein Diener«, übersetzte Sally für Sandman und fragte: »Welcher Herr hat das Hinterzimmer reserviert?«
»Das muss Lord Alexander gewesen sein«, erklärte Sandman. »Er wollte, dass Sie und ich mit ihm zu Abend essen.« Er nahm den Brief von Mister Jenkins und lächelte Sally an. »Sie haben doch nichts gegen Alexanders Gesellschaft?«
»Gegen Lord Alexander? Er starrt mich doch bloß wieder an wie ein Stockfisch, oder?«
»Wie unbeständig Ihre Zuneigung doch ist, Miss Hood«, sagte Sandman und erntete dafür einen Schlag gegen die Schulter.
»Es stimmt doch«, sagte Sally und ahmte Lord Alexanders stieräugige Ergebenheit grausam treffend nach. »Der arme Krüppel«, sagte sie mitfühlend und musterte den kurzen Schottenrock unter ihrem Umhang. »Ich ziehe mir besser etwas Anständiges an, sonst fallen ihm noch die Augen raus.«
Sandman tat, als bräche es ihm das Herz. »Mir gefällt der Schottenrock.«
»Und ich dachte, Sie wären ein Gentleman, Captain«, antwortete Sally und lief lachend nach oben, während Sandman die Tür zum Hinterzimmer öffnete und erleichtert auf einen Stuhl sank. Es war dunkel im Zimmer, da die Fensterläden geschlossen und die Kerzen nicht angezündet waren. Sandman beugte sich vor, zog den Laden des nächst gelegenen Fensters auf und sah, dass nicht Lord Alexander das Hinterzimmer reserviert hatte, sondern ein anderer Herr, obwohl man Sergeant Berrigan wohl nicht unbedingt als Gentleman bezeichnen konnte.
Der Sergeant räkelte sich auf dem Sofa, hob aber nun seine Pistole und richtete sie auf Sandmans Stirn. »Sie wollen Ihren Tod, Captain«, sagte er. »Sie wollen Ihren Tod und haben mich geschickt, denn wenn man eine schmutzige Arbeit ordentlich erledigt wissen will, schickt man einen Soldaten. Stimmt’s? Man schickt einen Soldaten.«
Also hatten sie Sam Berrigan geschickt.
Sandman wusste, dass er sofort etwas unternehmen sollte. Sich auf den Mann stürzen? Aber sein Knöchel pochte schmerzhaft, und er wusste, dass er sich auf keinen Fall würde schneller bewegen können als Berrigan, der gesund, kräftig und erfahren war. Er überlegte, ob er die Pistole ziehen sollte, die er seinem Angreifer im Theater abgenommen hatte, aber bis er sie aus seiner Tasche geholt hätte, hätte Berrigan längst geschossen, also beschloss Sandman, den Sergeant in ein Gespräch zu verwickeln, bis Sally wiederkäme und Alarm schlüge. Er hob den linken Fuß und legte ihn auf einen Stuhl. »Ich habe mir den Knöchel verstaucht, als ich auf die Bühne gesprungen bin«, erklärte er.
»Bühne?«
»Bei Miss Hoods Vorstellung. Jemand hat versucht, mich umzubringen.«
»Wir nicht, Captain«, sagte Berrigan.
»Jemand mit einem Gewehr.«
»Davon sind viele noch aus dem Krieg übrig«, sagte Berrigan. »Eine gebrauchte Baker ist für sieben oder acht Schillinge zu haben. Außer dem Seraphim Club will also noch jemand Ihren Tod, was?«
Sandman starrte den Sergeant an. »Sind Sie sicher, dass es nicht der Seraphim Club war?«
»Sie haben mich geschickt, Captain, nur mich«, erklärte Berrigan. »Und ich war nicht im Theater.«
Sandman überlegte, wer wohl einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt haben mochte. »Schlecht zu sein, muss eine große Erleichterung sein.«
Berrigan grinste. »Erleichterung?«
»Niemand versucht, einen umzubringen, man hat keine Skrupel, Tausende Guineen anzunehmen. Ich würde sagen, das ist eine Erleichterung. Wissen Sie, Sergeant, ich hatte solche Angst, zu werden wie mein Vater, dass ich anfing, mich genau gegenteilig zu verhalten. Ich wurde gewissenhaft und tugendsam. Es war aufsässig von mir und ärgerte meinen Vater sehr. Vermutlich tat ich es aus diesem Grund.«
Falls Berrigan über dieses seltsame Geständnis verwundert oder peinlich berührt war, ließ er es sich nicht anmerken. Er wirkte vielmehr interessiert. »Ihr Vater war schlecht?«
Sandman nickte. »Wenn es in dieser Welt Gerechtigkeit gäbe, wäre er am Galgen in Newgate geendet, Sergeant. Er war kein Gauner, wie sie hier wohnen. Er raubte keine Postkutschen aus, war kein Taschendieb oder Einbrecher, aber er machte faule Geschäfte mit dem Geld anderer und würde es immer noch tun, wäre er nicht an einen noch schlaueren Mann geraten, der es mit ihm ebenso machte. Und ich beanspruchte für mich, tugendhaft zu sein, nahm aber mein Leben lang sein Geld, nicht wahr?«
Sergeant Berrigan sicherte die Pistole und legte sie auf den Tisch. »Mein Vater war ein ehrlicher Mann.«
»War? Ist er es nicht mehr?«
Berrigan zündete zwei Kerzen an und hob einen Krug Bier vom Boden auf. »Mein Vater starb vor einigen Jahren. Er war Schmied in Putney und wollte, dass ich das Handwerk lerne, aber das wollte ich natürlich nicht. Ich wusste es ja besser, nicht wahr?« Er klang, als bereue er es. »Ich wollte es einfacher haben im Leben und nicht ständig Pferde beschlagen und Ketten schmieden.«
»Sie gingen also zur Armee, um der Schmiede zu entkommen?«
Berrigan lachte. »Ich ging zur Armee, um dem Galgen zu entkommen.« Er schenkte Bier ein und schob Sandman den Krug hinüber. »Ich war ein Kofferjäger. Wissen Sie, was das ist?«
»Vergessen Sie nicht, dass ich hier wohne«, antwortete Sandman. Kofferjäger waren Männer, die das hinten an einer Kutsche festgeschnallte Gepäck stahlen. Wenn man es geschickt anstellte, merkten Kutscher und Passagiere nichts davon. Um dies zu verhindern, sicherten viele Kutscher das Gepäck mit Stahlketten, aber ein guter Kofferjäger hatte immer ein Brecheisen bei sich, um die Ketten aus ihrer Verankerung im Chassis der Kutsche zu brechen.
»Ich wurde erwischt«, erzählte Berrigan, »und der Richter sagte, ich könnte mich verurteilen lassen oder zur Armee gehen. Neun Jahre später war ich Sergeant.«
»Und ein guter, nicht wahr?«
»Ich konnte Ordnung halten«, sagte Berrigan ausdruckslos.
»Das konnte ich merkwürdigerweise auch«, sagte Sandman, was keineswegs so befremdlich war, wie es klang. Viele Offiziere verließen sich voll und ganz auf ihre Feldwebel, wenn es um die Erhaltung der Ordnung ging, aber Sandman besaß eine natürliche Autorität und war ein guter Offizier, was er durchaus wusste. Wenn er ehrlich war, vermisste er das Militär. Er vermisste den Krieg, die Gewissheiten der Armee, die Erregung der Feldzüge und die Kameradschaft. »Spanien war das Beste«, sagte er. »In Spanien hatten wir schöne Zeiten. Natürlich auch blutige Zeiten, aber daran erinnere ich mich nicht. Waren Sie in Spanien?«
»Von 1812 bis 1814«, sagte Berrigan.
»Das waren größtenteils gute Zeiten«, sagte Sandman, »aber Waterloo war grauenhaft.«
Der Sergeant nickte. »Ja, es war schlimm.«
»In meinem ganzen Leben habe ich noch nie solche Angst gehabt«, gestand Sandman. Er hatte gezittert, als die kaiserliche Garde den Hügel stürmte. Er erinnerte sich, wie sein rechter Arm gezittert und er sich geschämt hatte, seine Angst zu zeigen. Erst sehr viel später fiel ihm auf, dass die meisten Männer auf dem Hügel und die meisten der Angreifer ebenso viel Angst hatten und sich ebenso schämten, ihre Angst zu zeigen. »Es war heiß«, sagte er, »als hätte jemand eine Backofentür aufgemacht. Erinnern Sie sich?«
»Heiß«, bestätigte Berrigan stirnrunzelnd. »Viele Leute wollen Ihren Tod, Captain.«
»Das wundert mich«, gab Sandman zu. »Als Skavadale mir das Geld anbot, war ich überzeugt, dass er oder Lord Robin die Countess ermordet haben, aber jetzt? Es gibt da noch jemanden. Vielleicht sind es die wahren Mörder, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wer es sein könnte. Es sei denn, die Antwort stünde hier drin.« Er hielt den Brief hoch, den der Wirt ihm gegeben hatte. »Können Sie mir eine Kerze herüberschieben?«
Der Brief war auf blassgrünem Papier in einer Handschrift geschrieben, die er nur zu gut kannte. Er kam von Eleanor. Ihm fiel ein, wie sein Herz jedes Mal einen Satz getan hatte, wenn einer ihrer Briefe in Spanien oder Frankreich eingetroffen war. Er erbrach ihr grünes Siegel und faltete den dünnen Briefbogen auseinander. Er hatte gehofft, aus dem Brief den Aufenthaltsort der Zofe Meg zu erfahren, aber Eleanor bat Sandman lediglich, sich am nächsten Morgen mit ihr in der Konditorei Gunter am Berkeley Square zu treffen. In einer Nachschrift hatte sie hinzugefügt: Ich glaube, ich habe Neuigkeiten, aber das war alles.
»Nein«, sagte er, »noch habe ich die Wahrheit nicht herausgefunden, aber ich glaube, dass ich sie bald erfahren werde.« Er legte den Brief beiseite. »Sollten Sie mich nicht erschießen?«
»In einer Schänke?« Berrigan schüttelte den Kopf. »Wohl eher die Kehle durchschneiden. Das ist leiser. Aber ich überlege, ob Miss Hood je wieder mit mir reden wird, wenn ich es tue.«
»Das bezweifle ich«, sagte Sandman grinsend.
»Und als ich das letzte Mal auf Ihrer Seite stand, sah es zwar schlimm aus, aber wir haben gewonnen«, sagte Berrigan.
»Und zwar gegen die Garde des Kaisers«, bestätigte Sandman.
»Also stelle ich mich wohl jetzt wieder auf Ihre Seite, Captain«, erklärte der Sergeant.
Lächelnd hob Sandman seinen Bierkrug zu einem scherzhaften Trinkspruch. »Können Sie denn in den Seraphim Club zurück, wenn Sie mich nicht töten, Sergeant? Oder wird man Ihren Ungehorsam als Grund für eine Entlassung nehmen?«
»Zurück kann ich nicht«, sagte Berrigan und deutete auf eine schwere Tasche, einen Proviantbeutel und einen alten Armeerucksack, die auf dem Boden lagen.
Sandman zeigte sich weder erfreut noch verwundert. Zwar freute er sich, aber überrascht war er nicht, da er von Anfang an gespürt hatte, dass Berrigan nach einem Weg, den Seraphim Club zu verlassen, suchte. »Erwarten Sie einen Lohn?«, fragte er den Sergeant.
»Wir teilen uns die Belohung, Captain.«
»Es gibt eine Belohnung?«
»Vierzig Pfund zahlt der Magistrat jedem, der einen echten Verbrecher überführt«, erklärte Berrigan. »Vierzig.« Als er sah, dass Sandman zum ersten Mal von einer solchen Belohnung hörte, schüttelte er fassungslos den Kopf. »Was dachten Sie denn, wovon die Wachleute leben?«
Sandman kam sich vor wie ein Narr. »Ich hatte keine Ahnung.«
Berrigan füllte beide Bierkrüge nach. »Zwanzig für Sie, Captain, und zwanzig für mich.« Er grinste. »Und was machen wir morgen?«
»Morgen gehen wir als Erstes nach Newgate«, sagte Sandman. »Anschließend treffe ich eine Dame, und Sie, nun ja, ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber das werden wir dann sehen, nicht wahr?« Er drehte sich um, als sich hinter ihm die Tür öffnete.
»Verdammt noch mal«, sagte Sally stirnrunzelnd, als sie die Pistole auf dem Tisch sah, und funkelte Berrigan wütend an. »Was zum Teufel machen Sie denn hier?«
»Ich bin natürlich gekommen, um mit Ihnen zu Abend zu essen«, sagte Berrigan.
Sally errötete, und Sandman schaute aus dem Fenster, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Er überlegte, dass zu seinen Verbündeten mittlerweile ein adeliger Priester mit Klumpfuß und radikalen Ansichten, eine scharfzüngige Schauspielerin, ein verbrecherischer Sergeant und, wie er zu hoffen wagte, Eleanor zählten.
Es blieben ihnen noch drei Tage, um gemeinsam einen Mörder zu fangen.