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Der Schreck über den Fund von fünfhundertfünfundzwanzigtausend Dollar in Donny Clatterbucks Tresor war fast so groß wie der Schreck über das Auffinden von Donny selbst.
Harry und die Tiere fuhren zu Miranda, einem Ort, wo der gesunde Menschenverstand regierte. Zu Harrys Verwunderung wollte BoomBoom mitkommen.
Sie trafen Miranda und Tracy beim Gin-Romme-Spiel an. Tracy gewann gerade.
»Klopfklopf,« sagte Harry und trat ein; Mrs. Murphy flitzte als Erste durch die Tür. »Ich komme unangemeldet, und BoomBoom ist etwa zwei Minuten hinter mir.«
Tracy erhob sich, wie es sich für einen VirginiaGentleman schickte. »Sie sehen ein bisschen angegriffen aus, Harry, mein Mädchen. Eine Stärkung gefällig?«
Sie schüttelte in dem kleinen Durchgang bei der Hintertür den Regen ab. »Eine Tasse dampfender Tee mit einem Schuss Maker's Mark wär nicht schlecht.« Sie sprach von dem berühmten süffigen Whisky, der in Loretto, Kentucky gebrannt wurde.
»Aber Harry.« Miranda stand auf und ging zum Wasserkessel. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie jemals einen Schuss in Ihren Tee gegeben haben.«
»Na ja, ich bin nass, mir ist kalt, und ich bin mächtig aufgewühlt, wie meine Großmutter zu sagen pflegte.«
BoomBoom traf kurz nach Harry ein. »Miranda, verzeihen Sie. Ich musste Sie einfach sehen.«
»Habt ihr zwei euch schon wieder gestritten?« Miranda zündete die Gasflamme an, Tracy öffnete den Schrank, in dem die Getränke aufbewahrt wurden. »BoomBoom, was darf's für Sie sein?«
»Ein Gin pur wird mich ungemein wiederbeleben.«
»Was ist bloß los mit euch zwei Mädels?« Tracy stemmte die Hände auf die Hüften.
Harry hängte ihren abgetragenen Barbour-Mantel auf, BoomBoom tat desgleichen, nur dass ihr Mantel neu und länger war. Ohne einen anständigen Barbour-Mantel, Made in England, die beste Regenbekleidung der Welt, konnte man in Albemarle nicht existieren. Tucker, die Leckereien erwartete, rückte in Mirandas Nähe. Pewter, nicht dumm, steuerte direkt auf den Tisch zu.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« BoomBoom schüttelte ihre langen blonden Haare, und Wassertropfen fielen auf den Eichenboden.
»Ich fang an.« Harry zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor. »Rick Shaw und Cynthia Cooper wurden heute Nachmittag nach Culpeper gerufen, weil man Donny Clatterbuck durch den Kopf geschossen hat.«
»O nein! Wir haben nichts gehört ...«, rief Miranda aus.
»Er war in dem Transporter, in dem Wesley Partlow nach Seans Beschreibung auf das Firmengelände gefahren kam, um Ihre Radkappen zu verkaufen, und fühlen Sie sich nicht übergangen, die Einzigen, die davon wissen, sind Donnys Angehörige. Big Mim weiß es vermutlich auch noch nicht, es sei denn, Rick ruft sie gerade an.«
Tracy und Miranda hatten sich an den Tisch gesetzt und hörten Harry zu, während sie darauf warteten, dass das Wasser kochte.
»Was geht bloß um alles in der Welt hier vor?« Miranda rieb sich mit der Handfläche die Wange.
»Das weiß keiner. Es ist unheimlich.« BoomBoom setzte sich ebenfalls, nachdem Tracy aufstand, um ihr einen Stuhl heranzuziehen, und dann wieder Platz nahm.
»Der Transporter hatte gestohlene Nummernschilder, alte mit neuen Plaketten, das weiß ich von Coop. Die Nummernschilder stammen von einer Autohandlung in Newport News. Der Händler hat keine Ahnung, wie die Schilder gestohlen werden konnten. Autos fehlten keine. Coop bat ihn, ihr ein Verzeichnis seiner Angestellten zu schicken, damit sie überprüfen kann, ob jemand schon mal straffällig geworden ist. Nichts. Der Transporter entpuppte sich als Booty Mawyers alter Farmwagen. Booty sagt, der Wagen hat die Farm nie verlassen, sondern ist in einem Schuppen vor sich hin gegammelt. Das hat er Rick erzählt, als Rick ihm die schlimme Nachricht überbrachte. Aber natürlichwurde er gefahren. Booty sagte, Don hat manchmal Heu von einem Schuppen zum anderen transportiert - aber ihr wisst ja, Booty kommt in die Jahre, und er wäre leicht zu täuschen. Er wird nichts wissen, wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.
Und ehe ich darauf komme, weswegen wir hier zusammen sind - auf dem Rücksitz des Transporters war die Dallas-Cowboys-Windjacke, genau, wie Sean gesagt hat.«
Tracy stand auf, um den Tee einzuschenken, nachdem er Miranda gebeten hatte, sitzen zu bleiben. Er stellte die Kanne auf den Tisch, dazu vier Becher. Die Flasche Maker's Mark platzierte er direkt vor Harry, öffnete dann den Kühlschrank und entnahm ihm kalten Braten. Er dachte zu Recht, dass Harry und BoomBoom noch nichts gegessen hatten. Außerdem stellte er eine gekühlte Flasche Tanqueray-Gin vor BoomBoom hin.
»Schatz, lass mich das machen.« Miranda stand auf, um das Essen anzurichten, holte hausgemachtes SiebenkornBrot, frische Butter und hiesigen Honig herbei.
Minuten später stand ein improvisiertes kaltes Abendessen vor den beiden hungrigen Frauen.
»Danke.« BoomBoom bestrich dankbar eine dicke Scheibe Brot mit Butter.
Harry plauderte, während sie auch für sich ein Sandwich machte, wobei sie ihren Lieblingen wiederholt Essensbröckchen hinwarf. »Coop sagt, in der Windjacke war nur ein Streichholzbriefchen von Roy and Nadine's, einem exklusiven Restaurant in Lexington, Kentucky. Sie hat das Restaurant angerufen und die Beschreibung von dem falschen Wesley durchgegeben, und der Geschäftsführer sagte, er kann sich an so einen Typ nicht erinnern, auch sei das wohl kaum die Art Kundschaft, die es zu Roy and Nadine's zieht. Er hat aber immerhin versprochen, seine Angestellten zu fragen, ob sie sich an jemand erinnern, der so aussah. Sie schickt Wesleys Fahndungsfoto hin. Aber jetzt erzählt BoomBoom, was weiter geschah.«
»Donny hat einen riesigen Tresor in seiner Werkstatt, ein richtiges Monstrum, größer als ich. Harry schlug vor, ich soll Rick anrufen und ihm anbieten, das Schloss aufzuschweißen. Sie hatte Recht, weil Rick die nächsten vierundzwanzig Stunden niemanden vom Kundendienst kriegen konnte und es außerdem teuer geworden wäre, ihn herzuholen. Darum bin ich hingegangen, hab das Schloss rausgeschweißt und ... stellen Sie sich vor, da ist massenhaft Geld in dem Tresor! Fünfhundertfünfundzwanzigtausend Dollar.
Fünfhundertfünfundzwanzigtausend Dollar!«, wiederholte BoomBoom.
»Ordentlich gestapelt. So neu, dass man es riechen konnte. Rick meint, es ist kein Falschgeld.« Harry trank einen Schluck Tee.
»Woher um alles in der Welt hat Donny Clatterbuck das Geld?« Miranda schlug erstaunt beide Hände vors Gesicht.
»Neu? Direkt von einer Bank oder von jemand, der Zugang zu neuen Scheinen hatte, jemand, der oft mit großen Beträgen zu tun hatte.« Tracys Gedanken schwirrten. »Jemand, der Donny entweder brauchte, um das Geld zu verstecken, und ihm einen Anteil abgab, oder jemand, der Donny selbst brauchte.«
»Wofür?« BoomBoom ließ Honig über eine mit Butter bestrichene Schnitte laufen.
»Er war ein guter Handwerker.« Harry wollte Tucker unter dem Tisch mit einem Stückchen Fleisch füttern. Pewter schnappte es sich, ehe der Hund es erwischen konnte, deswegen brach Harry noch eins für den Hund ab. Die milde Auseinandersetzung verriet, dass Harry die »Kleinen« vom Tisch weg versorgte - nicht dass es jemanden arg gestört hätte.
»Ich bin auch noch da«, erinnerte Murphy die Menschen.
Miranda gab ihr einen Leckerbissen. »Es ist so - so schwer zu glauben. Donny hat nie mit Geld um sich geworfen.«
»Nein«, bestätigte Harry.
»Er hätte das Geld auf die Bank bringen können, hat er aber nicht. Das deutet darauf hin, dass er was Ungesetzliches gemacht hat«, sagte Tracy, dessen Hand mit einem Buttermesser mitten in der Luft verharrte, »und augenscheinlich hat er den jungen Mann, der erhängt aufgefunden wurde, irgendwie gekannt. Die Frage ist, wie und warum? Der Junge sah aus, als besäße er keine zehn Cent.«
»Coop kann nirgends eine Spur von ihm finden. Wesley ist nicht sein richtiger Name«, sagte Harry.
»Ich möchte wissen, ob Marge von dem Geld weiß.« Miranda dachte an Donnys Mutter, war um ihr Wohlergehen besorgt.
»Äußerst zweifelhaft, Liebste«, meinte Tracy.
Als BoomBoom ihr Sandwich aufgegessen hatte, wurde sie gesprächiger. »Wartet, bis Lottie Pearson das hört.«
»Was hat Lottie Pearson damit zu tun?«, fragte Miranda.
»Sie hat ihn abblitzen lassen, genau wie sie Roger verschmäht hat. Sie will Geld und Prestige oder was sie dafür hält. Wenn sie hört, dass Donny Clatterbuck ein kleines Vermögen in seinem Tresor hatte, fällt sie in Ohnmacht.«
»Fünfhundertfünfundzwanzigtausend Dollar.« Miranda konnte sich so viel Geld nicht vorstellen.
»Wir haben beim Zählen geholfen. Dazu mussten wir Plastikhandschuhe anziehen, die Rick und Coop immer im Streifenwagen haben. Sie müssen Blutkontakt vermeiden, wegen AIDS, drum tragen sie diese Klinikhandschuhe bei sich.« Harry überlegte einen Moment, dann sagte sie aufgeregt: »Als ich meinen Specht zu Don brachte, ist mir der Tresor aufgefallen. Ich fragte ihn, ob er seine Millionen da drin verwahrte, und er sagte, >bloß 'ne halbe Millionc. Ich dachte, er macht Spaß.«
»>Wer Geld liebt, wird Geldes nimmer satt; und wer Reichtum liebt, wird keinen Nutzen davon haben. Das ist auch eitel. < Prediger, fünftes Kapitel, Vers neun«, zitierte Miranda.
»Hast du ein Gedächtnis«, bewunderte Tracy sie.
»Miranda ist ein Wunder.« BoomBoom lächelte.
»Mim weiß wohl wirklich nicht, was passiert ist.« Harrys Gedanken verweilten bei dem Mord. »Sonst hätte sie Sie angerufen. Rick setzt sich gewöhnlich mit ihr in Verbindung.«
»Sie ist dieses Wochenende bei Stafford und seiner Frau in New York«, sagte Miranda.
Stafford war Mims Sohn, der selten nach Hause kam, weil er seine Angehörigen umso mehr liebte, je weiter sie entfernt waren.
Mrs. Murphy putzte sich mit der Pfote das Gesicht.»Es gibt Arbeit für uns.«
»Ich geh nicht raus in den Regen«, erklärte Pewter entschieden.
»Ich hab nicht gesagt, dass wir rausgehen.«
Tucker rieb sich an ihrer Freundin.»Was hast du im Sinn?«
»Wir müssen zu Tante Tally, rumschnüffeln. Ich hätte schon bei der Teeparty dran denken sollen, aber bei dem Trubel hab ich's vergessen.«
»Bis zu Tante Tally ist es eine lange, lange Wanderung, Murphy. Du musst Harry überreden, dass sie uns hinfährt. «
»Klar, Pewter. Sie hört so gut auf mich wie jeder andere Mensch. «
Tucker dachte darüber nach.»Sie hat Recht, Murphy. Die Bäche sind über die Ufer getreten. Wir können nicht rüber. Wir müssen Harry irgendwie dazu bringen, dass sie uns hinfährt. «
Die hübsche Tigerkatze überlegte, dann legte sie ihren Schwanz um sich.»Ihr habt Recht.«
»Endlich zollt mir hier mal jemand Anerkennung«, frohlockte Pewter, dann griff sie rasch nach oben und angelte ein Stück Brot vom Tisch, ehe ein Mensch sie aufhalten konnte. Sie wusste, war das Brot erst auf dem Boden, würden die Menschen es nicht mehr anrühren, auch wenn sie sie schalten; das taten sie aber nicht, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren zu entscheiden, ob Lottie Pearson wirklich nur hinter dem Geld der Männer her war. BoomBoom sagte ja. Harry sagte vielleicht. Miranda wollte das Beste von ihr denken und Tracy entschied sich, keine Meinung zu haben.
»Lass dir das nicht zu Kopf steigen. Hört zu, wir gehn am besten morgen hin. Wenn es bloß zu regnen aufhören würde. «
»Was schwebt dir vor?« Tucker achtete die Intelligenz der Tigerkatze, ihren wachen Verstand.
»Wirmüssen den Fußboden im Esszimmer untersuchen, die Schränke in der Speisekammer aufmachen, die Stellen überprüfen, wo Tally Lebensmittel aufbewahrt. Möglicherweise müssen wir die Nebengebäude durchforsten. Ich weiß es nicht genau, aber eins kann ich euch sagen, wenn wir finden, was ich denke, dann steckt Sean O'Bannon entweder in der Sache drin, oder er ist das nächste Opfer.«