Nicht von Hauptmann Hastings selbst erzählt
Mr. Alexander Bonaparte Cust saß reglos da. Sein Frühstück stand unangetastet vor ihm und war kalt geworden. Gegen den Teekrug hatte er eine Zeitung gelehnt, in der er mit fieberhaftem Interesse las.
Plötzlich sprang er auf, lief eine Weile im Zimmer hin und her und ließ sich dann wieder schwer auf seinen Stuhl fallen. Er vergrub den Kopf mit einem unterdrückten Stöhnen in den Händen. Er hörte nicht, dass die Tür aufging. Seine Wirtin, Mrs. Marbury, stand auf der Schwelle.
«Ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht ein hübsches… Nanu, was ist denn los? Ist Ihnen nicht gut?»
Mr. Cust hob den Kopf.
«Nein, nein, es ist nichts, Mrs. Marbury. Mir ist heute früh ein wenig schwindlig.»
Mrs. Marbury sah das Frühstückstablett.
«Und gegessen haben Sie auch nichts! Haben Sie wieder Ihre Kopfschmerzen?»
«Nein. Oder doch… Ich weiß nicht, ich bin einfach ein bisschen durcheinander.»
«Das tut mir aber leid. Dann bleiben Sie also heute zu Hause, ja?»
Mr. Cust stand energisch auf.
«Nein, nein! Was denken Sie denn? Ich muss meinen Geschäften nachgehen – sehr wichtigen Geschäften.»
Seine Hände zitterten stark. Angesichts seiner Erregung versuchte Mrs. Marbury, ihn zu beruhigen.
«Nun, wenn es sein muss, dann müssen Sie eben gehen. Weit heute?»
«Nein, ich fahre nur nach –» Stocken. «Nach Cheltenham.»
Das murmelte er so leise und unsicher, dass Mrs. Marbury ihn verwundert ansah.
«Cheltenham ist eine nette Stadt», bemerkte sie. «Ich bin einmal von Bristol aus hinübergefahren. So hübsche Geschäfte gibt es dort.»
«Ja, hübsch – gewiss, ja.»
Mrs. Marbury bückte sich mühsam – Bücken entsprach ihrer Figur ganz und gar nicht – und hob die Zeitung auf, die zerknittert am Boden lag.
«Nichts als diese Mordsache steht in den Zeitungen», stellte sie missbilligend fest, nachdem sie gierig die Schlagzeilen verschlungen hatte. «Ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut! Die Berichte kann ich schon gar nicht mehr lesen. Mir kommen diese Scheußlichkeiten vor wie seinerzeit die Geschichten über Jack the Ripper.»
Mr. Cust bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort heraus.
«Und jetzt soll der nächste Mord in Doncaster stattfinden! Und noch dazu morgen!», fuhr Mrs. Marbury fort. «Es schaudert einen förmlich, nicht wahr? Wenn ich in Doncaster wohnen würde, und wenn mein Name ein D als Anfangsbuchstaben hätte, dann nähme ich den nächsten Zug und führe weg – jawohl! Ich würde nichts riskieren! Sagten Sie etwas, Mr. Cust?»
«Nein, nichts, Mrs. Marbury, nichts.»
«Er denkt wahrscheinlich, dass er bei den Rennen die größte Chance haben wird. Es sollen ja Hunderte von Polizisten aufgeboten worden sein und ihn… Mr. Cust, Sie sehen wirklich miserabel aus. Möchten Sie vielleicht einen Schnaps? Im Ernst – Sie sollten heute nicht auf Tour gehen!»
Mr. Cust riss sich zusammen.
«Ich muss, Mrs. Marbury. Bis jetzt bin ich immer pünktlich meinen – Verpflichtungen nachgekommen. Man muss – die Leute müssen Vertrauen zu einem haben, verstehen Sie? Wenn ich eine Aufgabe übernommen habe, dann führe ich sie auch durch. Nur so kann man vorwärts kommen… mit seinen Geschäften vorwärts kommen.»
«Schön, aber wenn Sie wirklich krank sind?»
«Ich bin nicht krank, Mrs. Marbury. Ich mache mir nur Sorgen über – verschiedene ganz persönliche Dinge. Und außerdem habe ich schlecht geschlafen, das ist aber auch alles.»
Sein Ton klang so bestimmt, dass Mrs. Marbury sich zögernd dazu entschloss, das Frühstückstablett zu nehmen und langsam aus dem Zimmer zu gehen.
Mr. Cust zog einen Koffer unter dem Bett hervor und begann zu packen. Pyjama, Toilettennessessär, Reservekragen und Lederpantoffeln. Dann schloss er einen Wandkasten auf, entnahm ihm eine Reihe von flachen Schachteln und tat sie ebenfalls in den Koffer.
Nachdem er den Fahrplan, der auf dem Tisch lag, konsultiert hatte, ergriff er den Koffer und verließ das Zimmer. Im Vorzimmer unten stellte er den Koffer wieder ab und schlüpfte in seinen Mantel. Während er den Hut aufsetzte, seufzte er tief auf, so tief, dass das junge Mädchen, das eben aus einer Tür trat, ihn besorgt ansah.
«Ist etwas nicht in Ordnung, Mr. Cust?»
«Nein, nein, Miss Lily.»
«Sie haben so abgrundtief aufgeseufzt!»
«Haben Sie jemals Vorahnungen, Miss Lily?», fragte Mr. Cust plötzlich.
«Ich glaube nicht… nicht dass ich wüsste… Natürlich hat man Tage, wo man spürt, dass alles schief gehen wird, und andere, da weiß man, dass einem alles gelingt…»
«Eben», sagte Mr. Cust und seufzte wieder.
«Also denn, auf Wiedersehen, Miss Lily. Leben Sie wohl. Sie waren immer sehr, sehr nett zu mir… alle.»
«Sie verabschieden sich ja so feierlich, als würden Sie nicht mehr zurückkommen», lachte Lily.
«Nein, nein. Natürlich komme ich zurück.»
«Also auf Wiedersehen am Freitag. Wohin fahren Sie diesmal? Wieder ans Meer irgendwohin?»
«N-nein… nein, nach Cheltenham.»
«Auch ganz hübsch. Aber doch nicht so schön wie die Badeorte Torquay zum Beispiel. Dort möchte ich in meinen nächsten Ferien einmal hin. Übrigens müssen Sie ja ganz in der Nähe des Mörders gewesen sein – dieses ABC. Das Verbrechen ist doch gerade damals passiert, als Sie dort waren, nicht wahr?»
«J-ja, gewiss, aber Churston ist doch sechs, sieben Meilen entfernt.»
«Trotzdem! Das ist ja direkt aufregend! Vielleicht sind Sie auf der Straße an dem Mörder vorbeigegangen! Vielleicht standen Sie dicht neben ihm!»
«Ja, das könnte freilich sein», sagte Mr. Cust mit einem so verzerrten, geisterhaften Lächeln, dass Lily Marbury erschrak.
«Mr. Cust, Sie sehen schlecht aus.»
«Aber nein, ich fühle mich sehr wohl. Auf Wiedersehen, Miss Marbury.»
Er zog umständlich seinen Hut vor ihr, ergriff dann wieder seinen Koffer und hastete auf die Tür zu.
«Armer, alter Narr», murmelte Lily Marbury mitleidig. «Meiner Ansicht nach ist der Mann nicht mehr ganz richtig im Kopf.»
Inspektor Crome befahl seinem Untergebenen: «Stellen Sie mir eine Liste von allen Strumpffabrikanten zusammen und lassen Sie sie zirkulieren. Ich brauche eine Aufstellung aller Verkäufer, Reisenden, Hausierer, die für diese Firmen auf Tour gehen.»
«Für den ABC-Fall, Sir?»
«Ja. Eine Idee von Hercule Poirot.» Das klang ziemlich abschätzig. «Wahrscheinlich wird nichts dabei herauskommen, aber wir dürfen keine Spur vernachlässigen, auch wenn sie noch so vage ist.»
«Jawohl, Sir. Monsieur Poirot hat ja seinerzeit wirklich gut gearbeitet, aber jetzt vertrottelt er vermutlich ein bisschen.»
«Er ist ein Scharlatan! Ein Poseur! Das imponiert gewissen Leuten. Mir ganz bestimmt nicht! Ja, wegen der Vorkehrungen in Doncaster…»
Tom Hartigan sagte lachend zu Lily Marbury:
«Ich habe euern alten Einspänner gesehen – heute Morgen.»
«Wen? Mr. Cust?»
«Jawohl, Cust. In Euston. Sah mal wieder aus wie ein verirrtes Huhn. Ich glaube, der Bursche ist nicht ganz normal. Man sollte ihn ein wenig beobachten. Zuerst ließ er seine Zeitung fallen und dann seine Fahrkarte. Ich hob sie auf – er hatte nicht einmal bemerkt, dass er sie nicht mehr in der Hand hielt! Dankte mir übertrieben herzlich, aber erkannt hat er mich bestimmt nicht.»
«Nun, er hat dich ja auch nur ein-, zweimal durch den Korridor gehen sehen.»
Sie tanzten einmal um das ganze Parkett.
«Du tanzt wundervoll», schmeichelte Tom.
«Ach, hör doch auf!» Aber Lily schmiegte sich noch etwas dichter an ihn. Wieder tanzten sie um den ganzen Saal.
«Hast du vorhin Euston gesagt – oder Paddington?», fragte Lily plötzlich. «Wo du den alten Cust gesehen hast?»
«Euston.»
«Ganz sicher?»
«Klar bin ich sicher.»
«Komisch. Nach Cheltenham fährt man doch ab Paddington.»
«Natürlich, aber der alte Cust fuhr nicht nach Cheltenham, sondern nach Doncaster. Das weiß ich genau, mein Mädchen, weil ich ja seine Fahrkarte vom Boden aufhob!»
«Aber mir hat er doch gesagt, er fahre nach Cheltenham…»
«Ach, da hast du ihn falsch verstanden. Er ist nach Doncaster gefahren, darauf kannst du Gift nehmen. Es gibt eben Leute, die Schwein haben! Ich habe ein paar Penny auf Firefly gesetzt und hätte den Gaul gern rennen gesehen!»
«Ich glaube nicht, dass Mr. Cust Rennen besucht. Er sieht nicht danach aus. Hoffentlich wird er nicht ermordet, Tom! In Doncaster soll doch der nächste ABC-Mord stattfinden!»
«Cust wird es nicht treffen, sein Name beginnt ja nicht mit einem D.»
«Neulich hätte es ihm aber glatt passieren können! Er war ganz in der Nähe von Churston, als der letzte Mord verübt wurde.»
«Tatsächlich? Ein komischer Zufall, wie?»
Tom lachte.
«War er vielleicht auch in Bexhill, als dort gemordet wurde?»
Lily runzelte die Stirn. «Er war fort… Ja, ich weiß, dass er fort war, weil er seinen Badeanzug vergessen hatte. Mutter stopfte ihn gerade und sagte: ‹Da haben wir es, jetzt ist Mr. Cust doch ohne seinen Badeanzug weggefahren›, und ich fauchte sie an: Ach, lass doch diesen blöden Badeanzug, in Bexhill ist ein grauenvoller Mord passiert – ein junges Mädchen ist erwürgt worden!›»
«Ja, wenn er aber seinen Badeanzug mitnehmen wollte, dann muss er doch ans Meer gefahren sein!… Du, Lily –» Er grinste spitzbübisch. «Was gibst du mir, wenn sich herausstellt, dass euer alter Einspänner der Mörder ist?»
«Mr. Cust? Der kann doch keiner Fliege etwas zu Leide tun!»
Sie tanzten – allein dem Gefühl hingegeben, beisammen und glücklich zu sein. In ihrem Unterbewusstsein jedoch hatte sich etwas festgekrallt und bohrte weiter…