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Der Prior ließ sich fortführen wie ein verängstigtes Kind. Beim Chorgestühl angekommen, schaute er die anderen mit seltsamer Miene an, denn erst jetzt ging ihm das ganze Grauen dessen auf, was er gesehen hatte. Er preßte die Hand vor den Mund und ging schnellen Schritts durch das Kirchenschiff und zum Hauptportal hinaus, um sich draußen zu übergeben.
Athelstan blieb stehen und beobachtete die übrigen; Henry von Winchester saß da und hatte den Kopf in beide Hände vergraben. Niall und Peter steckten die Köpfe zusammen und tuschelten mit bleichen Gesichtern, und die beiden Inquisitoren saßen wie Strohpuppen da und starrten mit leerem Blick in den Altarraum. Athelstan zwang sich zur Entspannung; er atmete tief und versuchte, seinen Magen zu beruhigen und das Bedürfnis zu unterdrücken, ob dieser Blasphemie zu heulen und zu schreien.
Norbert und ein paar andere kamen mit einem Leintuch und einem neuen Sarg. Athelstan dankte Gott für Cranstons Autorität als Coroner. Bruder Norbert hüllte Alcuins Leiche in Leder, schnitt ein wenig von dem Seil ab und band das Leder fest zu, ehe er den Toten in den neuen Sarg legte. Dann schaufelte er noch mehr Weihrauchkörner auf die glühende Holzkohle, bis es aussah, als wüte ein Feuer hinter dem Altar, und duftende Wolken sich erhoben, um den durchdringenden Verwesungsgestank zu überdecken. Athelstan schaute durch das Kirchenschiff zum Hauptportal, wo der Prior vornübergebeugt stand und um Fassung rang. Cranston und Norbert zogen sich zurück; Athelstan hörte, wie sie zur Sakristeitür hinausgingen. Dann kam der Coroner zurück, und Norbert folgte ihm mit einem Tablett, auf dem ein großer Krug Wein und acht Becher standen. »Hol den Prior«, flüsterte Cranston. »Bring ihn wieder her.« Athelstan gehorchte. Der Pater Prior wirkte etwas gefaßter; seine Hände waren warm, und sein Gesicht hatte wieder ein wenig Farbe, aber seine Augen tränten immer noch vom heftigen Würgen.
»O Athelstan«, flüsterte er, als sie langsam wieder zum Altarraum hinaufgingen. »Möge Gott mir vergeben! So tief versenkt habe ich mich in die Führung eines großen Klosters, daß ich das Böse im Menschen in seiner ganzen Grauenhaftigkeit vergessen habe, und die schrecklichen Folgen der Sünde. Wer konnte so etwas tun? Einen armen Priester wie Alcuin hier vor Gottes Auge ermorden! Am Altare Christi! Und dann seinen Leichnam und den des armen Bruno schänden! Wer? Wer kann so böse sein?« Athelstan führte ihn behutsam zu einem der Chorstühle, Cranston ließ den Wein in die Becher gluckern und hielt ihnen je einen entgegen. Norbert und sich selbst bediente er zuletzt.
»Du bist ein guter Mann«, dröhnte Cranston und schlug dem Laienbruder auf die Schulter. »Ich habe oft gedacht, Athelstan könnte in St. Erconwald ein bißchen Hilfe gebrauchen, genau wie ich in den Geschäften der Stadt. Du bist genau der Kerl, den ich dafür aussuchen würde.« Er strahlte in die Runde. »Kommt, ihr alle. Du auch, Athelstan. Setz dich. ›Trinke ein wenig Wein um deines Magens willen‹, wie der heilige Paulus sagt.« Er leerte seinen Becher in einem Zug und füllte ihn zwinkernd noch einmal bis zum Rand. »Wir sollten hier im Hause Gottes keinen Wein trinken«, befand William de Conches, der sich allmählich von seinem Schrecken erholte.
»Jesus wird nichts dagegen haben!« schnappte Cranston. »Also, Bruder Athelstan, deine Annahme hat sich als richtig erwiesen.«
»Halt!« unterbrach der Prior. »Bruder Norbert, geh zu Subprior John und sag ihm, daß ich die Kirche versiegelt haben will. Niemand darf hinein. Hier wird keine Messe gelesen und keine Andacht gehalten, bis wir unsere zwei Brüder geziemend bestattet haben. Los! Trink deinen Wein aus und lauf!« Der Laienbruder gehorchte. Anselm lehnte sich in seinem Chorstuhl zurück. »Weiter, Athelstan«, sagte er leise.
Cranston ging zu Athelstan und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser lächelte und nickte, dann stellte er sich vor dem Chorgestühl auf wie ein Prediger, der zu seiner Gemeinde sprechen will.
»Bruder Alcuin mußte sterben«, begann er, »weil er etwas über das Generalkapitel wußte.«
»Was denn?« fragte Bruder Henry flehentlich, und seine großen, dunklen Augen blickten bang. Der junge Theologe beugte sich vor. »Was wußte Alcuin, das seinen schrecklichen Tod zur Folge hatte und alle diese grauenvollen Ereignisse? Was ist so gefährlich an dem, was ich geschrieben habe?« Er funkelte die Inquisitoren an.
»Deine Schriften enthalten Ketzerei«, erklärte William de Conches über die Schulter.
»Nein.« Athelstan hob die Hand. »Lassen wir das einstweilen. Bruder Henry, ich kann deine Fragen nicht beantworten. Ich kann nur vermuten, daß Bruder Bruno an Alcuins Statt sterben mußte. Das wußte der Sakristan; er bekam es mit der Angst zu tun und kam hierher, um zu beten.«
»Das hat er oft getan«, murmelte der Prior. »Er sagte, das sei einer der Vorteile, wenn man Sakristan sei: Man könne ohne Unterbrechung beten und arbeiten.«
»Genau«, bestätigte Athelstan. »Am Tag seines Todes kam Alcuin in die Kirche und verschloß wie immer die Türen. Er begab sich hinter den Hochaltar und kniete auf dem Betstuhl nieder, um zu beten, auch für den Seelenfrieden des armen Bruno. Was Alcuin aber nicht wußte, war, daß sich noch jemand in der Kirche aufhielt.«
»Wo?« fragte Bruder Henry.
»Eine gute Frage!« rief Eugenius. »Und hat Alcuin sich von seinem Mörder überfallen lassen, ohne Widerstand zu leisten?«
»Nein. Deshalb habe ich gesagt, er kniete auf dem Betstuhl. Der einzige Ort, wo ein Mörder sich verbergen konnte, war die Apsis; dort konnte er in einer der Nischen stehen. Dort stehen zwar Statuen, doch wie oft würde jemand wie Alcuin sie genauer betrachten? Sie sind lebensgroß, sie gehören zur Kirche. Aber an diesem Tag stand auch der Mörder dort, in einem dunklen Mantel, stumm und reglos wie eine der Statuen.« Athelstan schwieg, und alle reckten die Hälse, um über den Altar hinweg zu den Nischen zu spähen, von denen er redete.
»Tief genug sind sie auf alle Fälle«, bemerkte Bruder Niall. »Ja, du hast recht, Athelstan. Wenn ein Mann in dunklem Gewand in diesem trüben Licht dort stände, könnte er eine ganze Weile unbemerkt bleiben.«
»Der Mörder glitt heraus«, fuhr Athelstan fort, »und ermordete Alcuin. Wie lange könnte das gedauert haben, Sir John?« Sir John verzog das Gesicht. »Nicht mehr als ein paar Augenblicke. Das Schreckliche am Dolch ist nicht nur der Schreck, den er hervorruft, sondern auch die Schnelligkeit, mit der er tötet.«
Athelstan beobachtete die Gesichter der Anwesenden, um zu sehen, wie sie auf Cranstons Lüge reagierten, aber er bemerkte nichts Auffälliges.
»Der Rest war einfach«, fuhr er fort. »Der Mörder mußte Alcuins Leiche beseitigen. Heute morgen, als ich vor dem Sarg des armen Roger betete, fiel mir auf, wie tief er war. Der Mörder muß das gleiche bemerkt haben. Vielleicht hatte er zunächst einfach vorgehabt, den Toten in das Grabgewölbe zu werfen, aber es war ja leicht, statt dessen die Verschlüsse an Bruder Brunos Sarg zu öffnen. Darin war Platz genug, um Alcuin hineinzuzwängen und den Deckel wieder zu verschließen.«
»Aber der Sarg wurde dadurch schwerer«, wandte William de Conches ein.
»Sicher, aber würde man das bemerken?« erwiderte Athelstan. »Oh, wir haben es bemerkt, als wir den Sarg heute morgen herausheben wollten; aber bedenkt, der Sarg wird nach der Totenmesse und dem letzten Segen in das Gewölbe hinabgelassen. Wie lange dauert das, Pater Prior?«
»Nur ein paar Minuten.«
»Den Laienbrüdern würde das Gewicht sicher auffallen, aber da es beim Hinunterlassen des Sarges keine besondere Anstrengung bedeutet, würden sie es für Einbildung halten und nicht weiter beachten.« Athelstan verstummte und schaute wieder über den Altar hinweg. »Jetzt war der Mörder in der Kirche eingeschlossen. Ich vermute, wenn wir den Leichnam des armen Alcuin noch einmal untersuchen, werden wir feststellen, daß seine Schlüssel fort sind. Der Mörder dürfte sie genommen und später weggeworfen haben. Aber Rogers Auftauchen störte ihn, und er kehrte in seine Nische zurück. Roger kam durch die Sakristei in den Chor. Gott segne ihn - er war einfältig, aber ich habe bemerkt, daß solche Leute ihre Umgebung aufmerksam beobachten. Sie neigen dazu, Dinge anzustarren, als sähen sie sie zum ersten Mal. Roger erwartete, seinen Vorgesetzten zu finden; er fand ihn nicht, und seine Ratlosigkeit nahm zu. Er schaute sich um. Etwas setzte sein Gedächtnis in Gang. Vielleicht war er immer stolz darauf gewesen, daß er die Statuen zählen konnte.«
»Natürlich!« rief Bruder Peter. »Statt zwölf Aposteln zählte er dreizehn!«
»Ich würde vermuten, daß ihm das erst später klar wurde. In jenem Augenblick dürfte er nur eilig durch die Kirche gelaufen sein, durch den Chor und ins Kirchenschiff, um Bruder Alcuin zu suchen. Als er schließlich zurückkam, war der Mörder durch die Sakristei entkommen.« Alle starrten Athelstan an.
»Mein Schreiber«, verkündete Cranston großartig und schenkte sich noch einen Becher Wein ein, »hat meine Schlußfolgerungen auf bewundernswerte Weise vorgetragen.« Athelstan senkte den Kopf. Als er wieder aufblickte, nickten Bruder Peter und Bruder Niall zustimmend. Henry von Winchester lächelte bewundernd. Eugenius machte ein zweifelndes Gesicht, aber Athelstan entdeckte einen Schimmer der Bewunderung in den Augen des William de Conches. »Und was jetzt?« fragte Bruder Henry.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Athelstan. »Cranston und ich stehen am Ende einer Gasse vor einer Ziegelmauer.« Er warf dem Prior einen raschen Blick zu. »Pater, mehr können wir nicht tun. Morgen ist Sonntag. Wir können noch ein Weilchen bleiben, aber Montag muß ich nach St. Erconwald zurück.« Er schaute Cranston durchdringend an. »Nicht wahr, Sir John?«
Der Coroner zog die Stirn kraus und blinzelte. Er wollte protestieren, als Athelstan sich unvermittelt vom Prior verabschiedete, eine Kniebeuge zum Hochaltar machte und schnellen Schritts die Kirche verließ. Ächzend und keuchend lief ihm Cranston nach. Der Ordensbruder sprach kein Wort, bis sie wohlbehalten im Gästehaus angelangt waren. »Du willst einfach verschwinden?« rief der Coroner.
»Selbstverständlich nicht, Sir John. Aber der Mörder war mit uns in der Kirche. Wir müssen so tun, als wüßten wir nicht weiter. Wenn wir uns anmerken lassen, daß wir auch nur das Geringste von Hildegarde oder von dem, was Bruder Paul uns erzählt hat, wissen, dann wird noch jemand sterben, und ich könnte mir denken, daß ich dieser Jemand sein werde. Kommt, Sir John - noch einen Becher Wein?« Cranston brauchte keine zweite Einladung; wie ein Pfeil schoß er in die Speisekammer. An seinen entzückten Ausrufen erkannte Athelstan, daß Norbert neue Metvorräte herübergeschafft hatte. Er überließ Cranston seinen Freuden, ging eilig die Treppe hinauf und lächelte, als er sah, daß die dicken Lederbände sich bereits auf seinem und Cranstons Bett türmten. »Sir John!« rief er. »Wir werden den Rest des heutigen und den ganzen morgigen Tag mit dem Studium der Theologie verbringen.«
Cranston kam mit einem randvollen Humpen die Treppe heraufgepoltert und starrte mit großen Augen auf das, was Norbert da gebracht hatte.
»Das sollen wir alles lesen?«
»Aye, Sir John, das und noch mehr.«
Cranston fluchte leise. »Athelstan«, flüsterte er dann, »herzallerliebster Bruder, heute in einer Woche muß ich wieder in den Savoy-Palast.«
Athelstan wandte dem Coroner den Rücken zu, damit dieser seine Bestürzung nicht sehen konnte. Bis jetzt hatte er keine Lösung für dieses Problem gefunden; aber wenn Cranston das ahnte, würde ihn nichts mehr daran hindern, sich in einem Meer der Verzweiflung zu ertränken, von einem Meer von Rotwein ganz zu schweigen.
»Mut, Sir John!« rief er über die Schulter. »Ich habe schon eine Idee«, log er dann. »Aber vorläufig wollen wir uns auf das andere Problem konzentrieren.«
»Warum?« fauchte Cranston.
Athelstan drehte sich um, ging zu ihm und hockte sich vor ihm nieder. »Sir John, wir haben es hier mit einem Mörder zu tun. Wir wissen, wie er gemordet hat, aber wir wissen immer noch nicht, warum. Ist Euch klar, daß wir keine einzige Spur haben, nicht den Fetzen eines Beweises gegen irgend jemanden? Auf diese oder jene Weise enthalten die Bücher hier die Antwort, und ich gedenke, sie zu finden!« Athelstan packte Cranstons Handgelenk. »Und ich danke Euch, Sir John, für das, was Ihr in der Kirche getan habt: daß Ihr für den Leichnam des armen Alcuin gesorgt habt. Und Eure Entscheidung, die Art und Weise des Mordes nicht bekanntzugeben, könnte den Mörder später einmal in die Falle tappen lassen. Glaubt mir, Sir John, wir müssen ihm eine Falle stellen.« Cranston nickte betrübt. Norbert brachte noch mehr Bücher und auch Erfrischungen, um Cranstons wunderbaren Appetit zu stillen. Die meiste Zeit über blieben er und Athelstan im Gästehaus; nur hin und wieder machten sie einen kurzen Spaziergang oder besuchten die Kirche. Der Prior kam vorbei, um sich zu vergewissern, daß Athelstan zurückkommen würde. Dann ging er, die geziemende Beerdigung seiner beiden Ordensbrüder in die Wege zu leiten. Athelstan und Cranston blätterten eines der ledergebundenen Bücher nach dem anderen durch.
»Sucht nach dem Namen Hildegarde«, ermahnte Athelstan den Coroner. »Wenn Ihr irgend etwas findet, was mit diesem Namen zu tun hat, sagt mir gleich Bescheid.« Sie verbrachten fast den ganzen Samstag und den größeren Teil des Sonntagvormittags damit, Seite für Seite gründlich zu durchforschen. Athelstan machte es sogar Spaß. Es war, als sei er wieder ein Student, der mit alten Freunden zusammentraf: mit dem heiligen Thomas von Aquin, mit den Sentenzen des Peter Lombard, mit den brillanten, wenn auch sarkastischen Analysen des Peter Abelard. Die Bücher enthielten Abschriften ihrer Werke, sorgsam verfaßt von Generationen von Dominikanern in Blackfriars. Manchmal hatten die Kopisten eigene Kommentare an den Rand geschrieben, hin und wieder auch persönliche Bemerkungen hinzugefügt - etwa: »Mich friert«, »Die Augen tun mir weh«, »Das finde ich langweilig« und »Oh, wann kommt endlich der Sommer?« Manche Schreiber hatten sogar die Gesichter von Fabelwesen hineingemalt, um ihre Brüder zu veralbern. Der Prior, der hier vor etwas über hundert Jahren regiert hatte, mußte ein rechter Tyrann gewesen sein, denn ein Kopist hatte einen plumpen Galgen gezeichnet, an dem sein Oberer baumelte.
*
Cranston wurde die Sache bald langweilig; immer wieder ging er nach unten, um sich in der Küche zu erfrischen, oder er schlief ein und störte Athelstan mit seinem Geschnarche. Schließlich, kurz vor Sonntag mittag, verkündete er, nun habe er genug.
»Ich gehe lieber nach Hause, Athelstan«, verkündete er traurig. »Ich vermisse Lady Maude und die beiden Kerlchen. Hier bin ich mehr Hindernis als Hilfe. Du gehst morgen nach Southwark zurück?«
»Sobald es hell wird, Sir John.«
»Dann treffen wir uns an der London Bridge, wenn die Glocken von St. Mary Le Bow zum Tagesanbruch läuten.« Bewaffnet mit seinem wunderbaren Weinschlauch, stapfte Sir John davon, und Athelstan kehrte zu seinen Forschungen zurück. Unterbrochen vom Läuten der Glocken und dem leisen Gesumm des Klosteralltags, verging der Tag. Der Prior kam herüber und erklärte, daß Roger und Alcuin am Morgen nach dem Hochamt bestattet werden würden, nachdem nun der Chor gereinigt und neu eingesegnet worden war. Er stand in der Küche, rang die Hände und trat von einem Bein aufs andere, und seine Blicke flehten Athelstan an, diesen gräßlichen Ereignissen ein Ende zu machen. Athelstan beruhigte ihn, und der Prior ging. Norbert brachte etwas zu essen. Athelstan bat um neue Kerzen und arbeitete bis lange nach Sonnenuntergang. Gegen Mitternacht hämmerte Bruder Norbert an die Tür und rief seinen Namen. »Athelstan! Athelstan! Rasch!«
Der Ordensbruder öffnete die Fensterläden und schaute hinunter. »Was gibt's?« rief er.
Norbert hielt eine Laterne hoch. »Eine dringende Nachricht von Sir John. Sie wurde an der Pforte abgegeben. Bruder, Ihr müßt sofort herunterkommen!«
Athelstan griff nach seinem Mantel, schlüpfte in die Sandalen und lief hinunter. »Wo ist der Bote?«
»Oh, das war ein Junge. Er sagte nur, in St. Erconwald sei etwas Furchtbares passiert, und Ihr solltet sofort kommen!«
»Sattle mir Philomel. Ist der Junge noch da?«
»Er sagte, er wolle vor der Schenke ›Zum blauen Mantel‹ an der Ecke der Carter Lane auf Euch warten.« Athelstan ging zum Tor. Er war müde, und die Augen taten ihm weh. Was mochte passiert sein? Stand die Kirche in Flammen? Oder lag eines seiner Pfarrkinder im Sterben? Philomel wurde gebracht; schnaubend protestierte er gegen diese unerwünschte Störung seiner Nachtruhe. Ein schlaftrunkener Pförtner öffnete das Tor. Athelstan führte sein Pferd hinaus, stieg auf und ritt die dunkle Straße hinauf zur Schenke.
Neben ihm erhob sich das dunkle Massiv von Blackfriars. In den Häusern auf der anderen Seite brannte kein Licht außer den Laternenhörnern, die an Haken über jeder Tür hingen. Zwei Nachtwächter gingen vorbei mit Stangen auf den Schultern. Sie sahen Athelstans schwarzweiße Gewänder, gingen weiter und kicherten über die seltsamen Gewohnheiten gewisser Priester.
Athelstan hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Bis zur Schenke war es nicht mehr weit. Dann blieb er stehen. Trotz der warmen Nachtluft war ihm kalt, und er verfluchte sich für seine Dummheit. Wieso hatte der Bote nicht im Pförtnerhaus gewartet? Wieso ließ man ihn lange nach dem Abendläuten zu einer Schenke kommen? Der Bruder spähte in die Dunkelheit und war plötzlich hellwach. Er spürte, daß etwas nicht stimmte. Was konnte so dringend sein, daß man ihn mitten in der Nacht herausrief? Er beugte sich vor und spitzte die Ohren. In der Ferne hörte er Hufgetrappel, das schrille Schreien einiger Katzen und das Quieken und Rascheln von Ratten, die in den großen Kotbergen in der Gosse stöberten. »Hallo?« rief er. »Wer ist da?«
Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er versuchte, auszumachen, ob da an der Ecke der Carter Lane jemand in den Schatten stand. Er spähte zum Himmel hinauf und dachte beiläufig, daß es eine schöne Nacht wäre, um die Sterne zu studieren. Leiser Wind kam auf und wehte den Gestank der Fleischerläden in den Shambles rings um Newgate heran. Sollte er weiterreiten? Doch dann hörte er es: das Scharren von Leder auf dem schmutzigen Kopfsteinpflaster, und ein leises, kratzendes Zischen. »Wer ist …?« Er brach ab, als er das Geräusch erkannte. Er hatte es schon öfter gehört: immer, wenn Cranston den Dolch aus der Lederscheide zog. Eine zweite Aufforderung brauchte Athelstan nicht. Er riß Philomel herum und trat ihm mit aller Kraft die Fersen in die Flanken. In der Regel pflegte das alte Streitroß dann widerstrebend in Trab zu verfallen. Athelstan, nicht eben ein erstklassiger Reiter, trieb ihn an und peitschte ihm mit den Zügel den Widerrist. Hinter sich hörte er Schritte. War es einer, oder waren es zwei?
»Au secours! Aidez-moi!« schrie Athelstan - der übliche Hilferuf für einen, der auf der Straße überfallen wurde. So galoppierte er, auf Philomel einschlagend und um Hilfe brüllend, zurück zum Haupttor von Blackfriars. Die Schritte stoppten. Er hörte einen gedämpften Ruf, ein Klicken, und er duckte sich - aber der Armbrustbolzen schwirrte hoch über seinen Kopf. Lichter flammten auf in den Fenstern, und gottlob hatte der Pförtner das Tor bereits geöffnet. Athelstan sprang aus dem Sattel und zerrte das alte Schlachtroß hinein. »Das Tor verriegeln!« schrie er.
Der Pförtner schlug es zu. Athelstan ließ Philomels Zügel fahren, und während das alte Roß pfeilschnell in den nahen Garten galoppierte, um dort die Blumen zu fressen, stand Athelstan vornübergebeugt da und verschränkte die Arme vor dem Leib, um seine Panik zu bändigen. »Ist etwas nicht in Ordnung, Bruder?«
Athelstan schaute in das schmale Gesicht des Pförtners und richtete sich müde auf. »Doch, doch, laß nur.« Er führte widerwillig Philomel zurück in den Stall, nahm ihm den Sattel ab und machte es ihm für die Nacht bequem. Dann kehrte er zum Gästehaus zurück. Er war wachsam wie in einem Alptraum, denn ihm war klar, daß der Überfall von jemandem hier in Blackfriars geplant worden sein mußte. Sorgfältig sah er sich im Gästehaus um und untersuchte selbst den Weinkrug in der Küche; er verriegelte die Tür, schloß die Fensterläden und ging nach oben, um dort eine unbehagliche Nacht zu verbringen.
Früh am nächsten Morgen stand er auf und verließ Blackfriars. Der Überfall vom vergangenen Abend hatte eine beständige, alles durchdringende Angst in ihm geweckt. Mit ihren Ermittlungen waren sie jemandem nahe gekommen, der mächtig und bösartig genug war, Gauner oder Wegelagerer anzuheuern, die ihnen ans Leben gehen würden, ohne mit der Wimper zu zucken, und das für sehr viel weniger Geld als dreißig Silberlinge.
Als er in die Thames Street einbog und durch Vintry und Ropery zur Bridge Street ritt, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Er hielt mit dem immer noch widerspenstigen Philomel Abstand von den Häusern und hatte ein wachsames Auge auf dunkle Türen und Hauseingänge, vor allem in den verkommenen Quartieren am Ufer der Themse. Weinhändler und Schuhmacher schliefen noch fest, und auf den Straßen waren nur vollbeladene Karren unterwegs, die mit ihren Feldfrüchten auf dem Weg zu den Märkten waren. Ein gähnender Büttel, der sich halb schlafend auf seinen Amtsstab stützte, wünschte ihm einen guten Morgen. Ein paar Huren, die ihre roten Haare unter Kapuzenmänteln verborgen hatten, huschten zurück zu ihren Behausungen in der Cock Lane in Smithfield. Ein Schwein war von einem Karren überfahren worden; es quiekte in Todesqualen, bis jemand mit einem Messer aus einer Tür gelaufen kam, dem Tier die Kehle durchschnitt und den blutsprudelnden Kadaver in sein Haus schleifte, nicht ohne Athelstan pfiffig zuzuzwinkern. »Die werden gut essen«, brummte Athelstan. Philomel schnaubte und warf den Kopf zurück, als er das Blut witterte.
Am Aufgang zur Brücke stand noch die Stadtwache. Cranston war nirgends zu entdecken; also kehrte Athelstan um und ritt zu einem Gasthaus namens »Pountney Inn« auf halbem Wege zwischen Ropery und Candlewick Street, einer der wenigen Schenken, die geöffnet sein durften, bevor die Glocken von St. Mary Le Bow den Tagesbeginn einläuteten. Er bestellte sich verdünntes Bier und eine Fleischpastete und bekam heftigen Streit mit dem Wirt, als er die Pastete aufschnitt und zwei tote Wespen darin fand. Athelstan war immer noch müde und aufgebracht von dem Überfall am Abend zuvor und gab schließlich angewidert auf. Er verließ die Schenke, holte Philomel und kehrte zurück zur Bridge Street, wo er stehenblieb und den Verkehr beobachtete, der inzwischen über die Brücke zog. Es war ein klarer Morgen ohne Nebel. Möwen und andere Vögel, die über den Schlickbänken jagten, stiegen empor, kreisten und stießen herab, und die Luft war erfüllt von ihrem Gekreisch. »Bist du ein Landstreicher?«
Athelstan schrak zusammen, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um und sah Cranstons schnurrbärtiges Gesicht wenige Handbreit vor sich. Athelstan drückte die Hand auf sein Herz.
»Sir John, warum könnt Ihr Euch nicht aufführen wie andere Leute und einfach guten Morgen sagen?« Der Coroner grinste, aber dann wurden seine Augen schmal. »Du siehst ängstlich aus, bleich. Was ist passiert?« Athelstan erzählte es ihm, während sie ihre Pferde über die Brücke führten; er vermied wie immer jeden Blick in den tiefen Abgrund zur Rechten und zur Linken. Als Cranston gutmütig die Stadtwache beschimpfte, mußte er warten, aber sonst hörte der Coroner ihm geduldig zu. Schließlich blieb Sir John stehen, rieb sich das Kinn und starrte mit leerem Blick auf den Eingang zur Kapelle von St. Thomas von Canterbury, die mitten auf der Brücke stand. Hinter ihnen knallte ein Fuhrmann mit der Peitsche. »Na los doch, Fettkloß! Weiter, weiter!«
»Verpiß dich!« schrie Cranston.
Dennoch trieb er sein Pferd an und ließ sich den Überfall noch einmal schildern.
»Und in den verdammten Büchern hast du nichts gefunden?«
»Kein Fitzelchen.«
Cranston rückte den Dolch zurecht. »Aber irgend jemand in diesem verfluchten Kloster weiß, was du suchst.«
»Ja, Sir John, zu diesem Schluß bin ich auch gekommen. Ich bin der Überzeugung, daß alle Mörder arrogant sind. Wie ihr Urvater Kain glauben sie, sich vor Gott und aller Welt verbergen zu können. Aber unsere Demonstration dessen, was dem armen Alcuin widerfahren ist, hat den Meuchelmörder zum Handeln getrieben; denn wenn wir ein Problem lösen können, ist es vielleicht nur eine Frage der Zeit, wann wir auch das andere lösen.«
»Womit wir wieder bei der scharlachroten Kammer wären«, stellte Cranston fest.
»Geduld, Sir John, Geduld. Wie geht es Lady Maude und den beiden Kerlchen?«
Cranston wandte sich um und spuckte aus, als sie die Brücke verließen.
»Diese Burschen haben einen wunderbaren Appetit und eine mächtige Lunge. Das müssen sie von ihrer Mutter geerbt haben.«
Athelstan verzog das Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen. »Die werden so groß«, seufzte Cranston. »Und Lady Maude?«
Cranston zog die Brauen hoch. »Wie eine Löwin, Bruder. Wie eine Löwin. Sie sitzt da wie eine dieser großen Katzen in des Königs Tower, ein Lächeln auf dem Gesicht, der Blick stets wachsam.« Er blies die Wangen auf. »Wenn ich mich aus diesem Schlamassel nicht herauswinden kann, wird sie sich auf mich stürzen.« Er warf seinem Begleiter, der an der Unterlippe nagte, einen wütenden Blick zu. Lady Maude war so klein, daß Athelstan außerstande war, sie sich als große Katze vorzustellen, die dem mächtigen Coroner nachpirschte.
Sie erreichten die schmutzigen Gassen von Southwark; Cranston bejammerte noch immer sein drohendes Schicksal. Athelstan schlang sich Philomels Zügel um das Handgelenk und hörte nur mit halbem Ohr zu, während er sich umsah. Anfangs hatte er Southwark gehaßt, aber inzwischen spürte er, daß dieses Viertel trotz seiner offenen Abwasserkanäle und schäbigen, einstöckigen Hütten von Lebendigkeit strotzte. Die kleinen Verkaufsstände waren bereits offen, und in einer nahen Bierschenke sang jemand eine Hymne an die Jungfrau Maria. Ein Gemeindebüttel versuchte, eine junge Hure zu packen, die ihr Gewerbe auf den Stufen der Priorei von St. Mary Overy ausgeübt hatte, aber das Mädchen hob die Röcke, wackelte mit dem schmutzigen Hintern und huschte dann, kreischend vor Lachen, davon.
Die beiden bogen in die Gasse ein, die nach St. Erconwald führte. Mit einem Seufzer der Erleichterung sah Athelstan, daß die Kirche und der Platz davor leer waren. Keine Neugierigen waren zu sehen. Selbst der Wachtmeister, den Sir John hergeschickt hatte, hatte offenbar etwas Interessanteres gefunden und das Weite gesucht. Sie brachten ihre Pferde in den Stall und gingen ins Haus. Athelstan lächelte. »Meine Pfarrkinder haben offensichtlich von meinem Jähzorn gehört«, meinte er.
Bewundernd schaute er sich in Küche und Speisekammer um, wo alles geputzt, gefegt und blankgewienert war - sogar der Herd, neben dem jetzt ein Stapel Holz darauf wartete, verfeuert zu werden. Auf dem Küchentisch stand ein verschlossener Weinkrug, und der Wasserbottich war geleert, ausgeschrubbt und wieder gefüllt worden. Cranston leckte sich die Lippen, als er den Wein sah. Athelstan winkte ihn herüber. »Seid mein Gast, Sir John. Aber für mich bitte mehr Wasser als Wein.«
Geschäftig verschwand Sir John in der Speisekammer. »Die Halunken haben auch hier gute Arbeit geleistet. Alles hübsch aufgeräumt.« Er schenkte Athelstan und dann sich selbst ein. »Wirst du das Geheimnis deines Gerippes aufklären?«
»Natürlich, Sir John. Ihr wißt, daß ich deswegen nach Southwark zurückgekommen bin.«
Cranston zog eine Grimasse. »Was hast du denn vor?«
»Das weiß ich noch nicht. Wir werden abwarten.«
»Es war Mord«, stellte Cranston fest.
»Nein, Sir John; das glauben wir nur.«
Der Coroner legte die Hand auf seine Mappe und erhob sich.
»Was ist?« fragte Athelstan scharf.
Cranston zog eine kleine Pergamentrolle hervor. »Der Kurier ist gestern abend aus Boulogne zurückgekommen.« Er tippte auf das Pergament. »Der Bursche ist schnell gereist, denn ich habe ihn gut bezahlt.« Cranston tat einen tiefen Seufzer; er war außerstande, Athelstan ins aufmerksame Gesicht zu sehen. »Schlechte Nachrichten«, murmelte er. »Die Franzosen haben Benedictas Mann nicht.«
Athelstan wandte sich ab und starrte die Wand an. Gütiger Gott, dachte er, und was fühle ich dabei? Was will ich eigentlich wirklich? »Oh, verflucht!« schrie Cranston.
Athelstan drehte sich um und sah Bonaventura, der wie ein Schatten zur Tür hereinkam, vor Freude schnurrte und bettelnd zu Cranston aufschaute. Sir John wich zurück. »Hau ab, du verfluchter Kater!«
Erfreut über die Ablenkung, hob Athelstan den kampferprobten Kater auf und streichelte ihn vorsichtig, während Bonaventura, dessen Fell glatt und sauber war, weiter beschwörend den Coroner anschaute.
»Du bist gut gefüttert worden«, sagte Athelstan leise. »Ich kenne deine Sorte - Simulanten und berufsmäßige Bettler. Ab mit dir!« Er setzte den Kater vor die Tür und schloß sie fest.
»Na, was hast du vor?« bellte Cranston.
»Ich werde mich in der Kirche umsehen und die Messe lesen.
Sir John, Ihr könnt mir als Meßdiener zur Hand gehen. Ihr habt zwar schon gefrühstückt, aber ich erteile Euch Absolution.«
Sie gingen zur Kirche hinüber, und Athelstan stieß Freudenrufe aus, als er ins kühle Dunkel trat, denn auch hier war alles gefegt und geputzt worden, nachdem die Arbeiter abgezogen waren.
Frische Binsen lagen auf dem Boden des Mittelschiffs, der Lettner war wieder aufgerichtet, und was Athelstan vor allem erfreute, war der renovierte Chor. Die neuen Steinplatten leuchteten weiß, und Athelstan sah mit Anerkennung, wie präzise und sorgfältig die Steinhauer gearbeitet hatten. Auch der Altar war gereinigt worden, und irgend jemand, vermutlich Huddle, hatte den Lettner gründlich aufpoliert. Sogar im dämmrigen Morgenlicht glänzte das schwere, dunkle Holz. »Sehr gut«, murmelte Athelstan.
»Es ist noch da!« rief Cranston aus dem Seitenschiff, und Athelstan hörte, wie der Deckel des Gemeindesarges geöffnet wurde.
»Aber die diebischen Halunken haben ihre Spuren hinterlassen. Vier Fingerknochen fehlen, und drei von den Zehen! Irgendein Drecksack verdient Geld mit dem Verkauf von Reliquien.«
Athelstan zog es vor, den Sarg zu ignorieren. Wer auch immer dieses Skelett zu Lebzeiten gewesen sein mochte, er wußte, daß sie einem Mord zum Opfer gefallen und in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren umgebracht worden war. Während Cranston in der Kirche umhertrampelte, ging Athelstan in die Sakristei und legte Meßgewand und Stola in Gold an, denn nach der kirchlichen Liturgie feierte man immer noch Ostern und das Wunder des Pfingstfestes. Er füllte die Kännchen mit Wein und Wasser und mußte unwillkürlich lächeln, als er sah, daß seine Gemeindemitglieder, vermutlich angeführt von Watkin und Benedicta, alles vom Staub befreit hatten. Er deckte ein Tuch auf den Altar, holte das dicke, zerlesene Meßbuch heraus, und nachdem Cranston fromm neben ihm niedergekniet war, machte er das Kreuzzeichen und begann mit der Messe. Selbstverständlich tauchte Bonaventura wieder auf, aber er benahm sich anständig und saß neben dem mißtrauischen Coroner wie der heiligste Kater der ganzen Christenheit.
Ein guter Katerlik eben, dachte Athelstan, aber er verzog keine Miene, sondern fuhr mit der Messe fort und reichte Sir John die Heilige Kommunion in beiderlei Gestalt. Der Coroner leerte den Kelch in einem Zug.
Nachher legte Athelstan in der Sakristei die Gewänder ab. Cranston lehnte in der Tür und sah ihm zu. »Keiner aus deiner Pfarrgemeinde ist erschienen«, bemerkte er. »Weil sie nicht wissen, daß ich zurück bin, Sir John.« Athelstan hatte die Worte kaum gesprochen, als Crim hereingestürmt kam.
»Pater, ich habe gesehen, daß die Kirchtür offen war.« Enttäuscht verzog er das schmutzige Gesicht. »Ich hätte doch Meßdiener sein können!«
Cranston funkelte ihn stirnrunzelnd an, aber Crim glotzte frech zurück und streckte ihm die Zunge heraus. »Hör mal, Crim, möchtest du einen Botengang für mich übernehmen?« fragte Athelstan schnell. »Sir John, den Brief… Ihr wißt doch, den aus Boulogne.« Cranston reichte ihn herüber, und Athelstan las ihn rasch. Die Dominikaner in Boulogne sandten ihm brüderliche Grüße. Sie arbeiteten als Seelsorger in dem Gefangenenlager außerhalb der Stadt und hatten dort gründliche Nachforschungen angestellt, allerdings keine Spur von einem Gefangenen gefunden, der mit Namen oder dem Äußeren nach dem entsprach, den Athelstan suchte. Er rollte den Brief zusammen, nahm einen Penny aus der Tasche und hockte sich vor Crim nieder.
»Bring das der Lady Benedicta«, sagte er. »Auf keinen Fall darfst du es verlieren.« Er umfaßte die knochige Schulter des Jungen. »Hast du verstanden?«
»Ja, Pater.«
»Ab mit dir!«
Crim verschwand so schnell, wie er gekommen war. »Hättest du das tun sollen?« fragte Cranston. »Warum sagst du's ihr nicht selbst? Hast du Angst, Mönchlein?«
»Nein, Sir John. Aber es gibt Dinge, an die man besser nicht rührt. Ich denke, Benedicta wird allein trauern wollen. Aber kommt, wir haben anderes zu tun.«
»Wo denn?«
Athelstan bedeutete ihm, er solle sich neben ihm auf die Altarstufe setzen.
»Ich habe Euch zu danken, Mylord Coroner.«
»Wofür?«
»Dafür, daß Ihr mir den Unterschied zwischen einem echten Bettler und einem Simulanten erklärt habt.«
Cranston ließ seinen Wanst auf die Stufe sinken. »Wovon um alles in der Welt redest du, Mönch?«
»Hört zu, Sir John. Ich werde Euch erzählen, was geschehen wird.«