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Athelstan verschloß die Kirchentüren; Cranston stapfte breitbeinig hinter ihm her, und auch Bonaventura folgte ihnen ein kleines Stück, als sie durch die Gassen von Southwark zum Haus des Tischlers Raymond D'Arques marschierten. Seine Frau öffnete mit verschlafenem Gesicht, als Athelstan ungeduldig an die Tür klopfte, und führte sie in die Küche. Dann ging sie zum Fuße der Treppe und rief nach ihrem Mann. D'Arques kam in einen Hausmantel gehüllt herunter; sein unrasiertes Gesicht war in Sorgenfalten gelegt. »Sir John, Bruder Athelstan, guten Morgen.«
»Guten Morgen, Master D'Arques«, antwortete Cranston. »Geht es um die Angelegenheit in Eurer Kirche?« fragte der Mann müde. »Aber bitte« - er wies auf die Schemel rund um den Tisch -, »setzt Euch doch.« Er wandte sich an seine Frau. »Margaret - Ale für unsere Gäste.«
Schweigend saßen sie da, bis die Humpen und ein Korb mit Brot auf dem Tisch standen. Allem Anschein zum Trotz spürte Athelstan, daß das Ehepaar zutiefst aufgeregt war. »Genug ist genug«, begann er leise. »Ich bin nicht hergekommen, um mit Euch zu spielen, Master D'Arques. Ihr wißt, daß das Skelett, das unter dem Altar in meiner Kirche gefunden wurde, keinem Märtyrer gehört. Warum? Weil Ihr es dort hingelegt habt. Vor etwa fünfzehn Jahren wollte Pater Theobald den Chor mit Platten auslegen lassen. Nun war er ein armer Priester, und die Einkünfte von St. Erconwald sind karg. Statt also jemanden von der Zunft zu beauftragen, sicherte er sich die Dienste eines jungen Tischlers, der bereit war, auch ein wenig Steinmetzarbeit zu übernehmen. Dieser Tischler wart Ihr.«
Athelstan schwieg, und Raymond legte die Hände vors Gesicht; seine Frau war blaß geworden und preßte die geballte Faust vor den Mund.
»Ich weiß das«, fuhr Athelstan fort, »weil ich das Kirchenbuch gesehen habe: Zahlungen an einen Zimmermann namens Raymond D'Arques - und für die Steinarbeiten an einen Steinmetz, der die Initialen A.Q.D. verwandte, ein Kunstgriff, mit dem er sich vor den aufmerksamen Augen der Zunft verbarg.« Athelstan nahm einen Schluck aus seinem Humpen. »Während der Arbeit im Chor tötetet Ihr — aus noch unbekannten Gründen - eine junge Frau durch Ersticken oder Erwürgen, und dann verscharrtet Ihr sie in einer Grube unter dem Altar. Danach habt Ihr nie mehr als Steinmetz gearbeitet und wart sicher, daß man Euch dieses Verbrechen nicht zur Last legen würde. Ihr wart fortan nur noch Tischler und achtetet sorgfältig darauf, nie wieder Euer altes Zeichen zu benutzen, A.Q.D., die umgestellten Anfangsbuchstaben Eures Nachnamens. Habe ich recht, Master D'Arques?«
Der Mann schaute auf, und Athelstan empfand großes Mitleid beim Anblick seiner starren Augen. »Ihr dachtet, das Verbrechen würde unentdeckt bleiben oder - sollte man das Skelett doch einmal finden - nicht Euch zur Last gelegt werden. Aber dann hörtet Ihr, daß ein neuer Pfarrer in St. Erconwald war, ein Dominikaner, der auch als Schreiber des Coroners arbeitete und entschlossen war, die Kirche zu renovieren. Ihr behieltet St. Erconwald im Auge, und als ich begann, den Chor erneuern zu lassen, da habt Ihr Euren Plan geschmiedet: Ihr habt ein Wunder eingefädelt.«
»Wie denn?« rief die Frau.
Athelstan sah das schlechte Gewissen in ihren Augen. »Ach, kommt!« schnaubte Cranston. »Die Neuigkeit, daß man ein Skelett gefunden hatte, und die Gerüchte, die es zu Überresten eines Heiligen erklärten, die spielten Euch doch nur in die Hände. Ja, gerade auf eine solche Möglichkeit hattet Ihr Euch vorbereitet. Schließlich hattet Ihr jahrelang Zeit, Eure Pläne zu schmieden. Jeder berufsmäßige Bettler kann seinen Körper mit den furchtbarsten Wunden und Geschwüren schmücken und damit noch den geschicktesten Arzt oder Apotheker zum Narren halten, vom alten Master Culpepper mal gar nicht zu reden: Da kommt ein guter, aufrechter Bürger mit einem entzündeten Arm zu ihm; also verbindet er ihn. Ihr wartet ein Weilchen, wascht Euch den Arm, geht hinunter nach St. Erconwald, und simsalabim!, ein Wunder ist geschehen.«
»Andere wurden auch geheilt!« fauchte die Frau. »Ja, darüber habe ich nachgedacht«, sagte Athelstan. »Aber das war alles nichts Ernstes. Der menschliche Geist ist geheimnisvoll in seinem Wirken. Gewisse Beschwerden sind in der Tat verflogen - Koliken, leichte Entzündungen -, was natürlich gefördert wurde durch die unerhörten Behauptungen professioneller Wundersucher, die aus der Hysterie des Volkes nur zu gern ihren Profit schlagen. Ich sage Euch, Mistress D'Arques, wenn ich den Schemel nähme, auf dem ich hier sitze, und behauptete, er sei vom heiligen Joseph gebaut worden, dann würdet Ihr bald die unglaublichsten Geschichten über die Wunder hören, die er bewirken kann.« Er schüttelte den Kopf. »Meine Pfarrkinder haben sich sehnlich gewünscht, daß dieses Skelett einem Märtyrer oder einem großen Heiligen gehören möge. Die Fälscher sahen darin eine Geldquelle. Die Kranken sind stets auf der Suche nach Heilung, und die menschliche Seele ist unersättlich in ihrer Gier nach Wundern und Mirakeln.« Athelstan nahm noch einen Schluck Ale und schob es dann von sich. »Als ich bedachte, was geschehen war, die Akten durchforschte, den Zustand des Skeletts gesehen und das Gutachten Lord Cranstons über die Todesursache gehört hatte, da wußte ich, daß ich es mit einem Mordopfer zu tun hatte. Euer Gatte hat die Platten im Chor verlegt, und es ist kein Zufall, daß die Wundergeschichte bei ihm ihren Anfang nahm.« D'Arques hob den Kopf und umklammerte die Hand seiner Frau. »Ihr habt recht, Pater. Vor ungefähr fünfzehn Jahren war ich ein junger Tischler in der Pfarrei St. Erconwald. Ich liebte den alten Pater Theobald, und als er im Chor gestürzt war, erbot ich mich, dort ein wenig zu arbeiten. Ich kaufte die Steinplatten, schnitt in einem Anfall von Stolz das Zeichen ›A.Q.D.‹ hinein und sagte Pater Theobald, ich könnte sie ihm verlegen, ohne daß er viel Geld an die Zunft bezahlen müßte.« D'Arques fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich hatte ganz vergessen, wißt Ihr, daß ich ›A.Q.D.‹ in die Steine gemeißelt hatte.« Er starrte auf den Tisch. »Zur selben Zeit«, fuhr er dann fort, »begegnete ich Margo Twyford und verliebte mich in sie; sie war die Tochter einer der mächtigen Kaufmannsfamilien auf der anderen Seite des Flusses. Aber ich war jung, und das Blut in meinen Adern war heiß. Es gab eine Prostituierte; sie hieß Aemelia. Sie muß achtzehn, neunzehn Sommer alt gewesen sein. Ich bezahlte sie oft für ihre Dienste. Sie erfuhr von meinem Liebeswerben und fing an, mich aufzuziehen. Dann verlangte sie Geld für ihr Schweigen, und ich zahlte. Sie verlangte mehr. Ich weigerte mich, und da überquerte sie den Fluß, ging zu Margo und erzählte ihr alles.«
»Ich habe sie hinausgeworfen!« zischte D'Arques' Frau mit wutblitzenden Augen. »Ich sagte ihr, lieber sähe ich sie lebendig in der Hölle schmoren, als daß ich Raymond aufgäbe.« Ihre Finger schlössen sich um die Hand ihres Mannes. »Ich dachte, damit sei die Sache erledigt«, fuhr er fort. »Aber eines Abends, am Ende eines schönen Sommertages, kam sie in den Chor, wo ich arbeitete, und verlangte noch mehr Silber. Ich schlug es ihr ab. Sie erzählte, daß sie bei Margo war, und morgen werde sie wieder über den Fluß gehen und den Vater meiner Verlobten aufsuchen. Sie werde es allen erzählen. Ich flehte sie an, das nicht zu tun, aber sie lachte nur und verspottete mich.« D'Arques schloß die Augen. »Ich kann diesen Anblick nicht vergessen: Aemelia, wie sie auf und ab geht, die Hüften schwenkt, die Arme verschränkt, das geschminkte Gesicht haßverzerrt. Pater, ich fiel auf die Knie, ich bettelte, aber sie lachte mich aus. Dann tat sie einen Schritt rückwärts, stolperte und fiel. Im nächsten Augenblick hatte ich mich auf sie gestürzt. Ich hatte meinen Mantel in der Hand und drückte ihn auf ihr Gesicht. Sie wehrte sich, aber ich war jung und stark. Ich hielt sie fest. Sie bäumte sich noch einmal schrecklich auf und lag dann still.« D'Arques trank in tiefen Zügen aus seinem Humpen. »Erst dachte ich, sie sei ohnmächtig, aber sie lag da mit weißem Gesicht und starrem Blick. Pater, was konnte ich machen? Ich konnte nicht mit einer Toten auf dem Arm durch Southwark spazieren. Und warum sollte ich für einen Mord hängen, den ich nicht hatte begehen wollen? Bei meiner Arbeit im Chor der Kirche hatte ich eine Grube unter dem Altar entdeckt, wo die Fundamente eines älteren Gebäudes lagen. Ich zog Aemelia aus und bettete sie mit einem Holzkreuz in den Händen zur Ruhe.« D'Arques rieb sich das Gesicht. »Das übrige könnt Ihr Euch denken. Die Steinplatten im Chor verlegte ich eigenhändig.« Er lächelte Athelstan matt an. »Die Platten lagen nicht gut; es fehlte mir an Geschick, und ich war zu sehr darauf erpicht, die Sache schnell zu Ende zu bringen.« Er drückte die Hand seiner Frau. »Margo habe ich alles gestanden. Aemelia wurde von niemandem vermißt. Die Zeit verging. Pater Theobald starb, und dieser Dreckskerl Fitzwolfe wurde Gemeindepfarrer. Ich konnte den ruchlosen Kerl nicht ausstehen, und so ging ich fortan in eine andere Kirche, nach St. Swithin.«
»Mein Mann wollte sie nicht umbringen«, fügte seine Frau hinzu. »Er hat versucht, dafür mit Schnitzwerk in St. Swithin zu bezahlen; er zahlt den Kirchenzins großzügig, hilft den Armen und ist nach Glastonbury und nach Walsingham gewallfahrt.« Mit Tränen in den Augen schaute sie Athelstan an. »Was kann er noch tun? Warum soll er sich wegen Mordes an dieser hinterhältigen, schrecklichen Dirne vor Gericht stellen lassen?« Sie lachte. »Eine Märtyrerin! Eine Heilige! Bruder Athelstan, mein Mann hat Unrecht getan, als er die Hure erstickte, und auch, als er mit den Hoffnungen Eurer leichtgläubigen Pfarrgemeinde spielte. Aber als er von Eurer Arbeit im Altarraum erfuhr, geriet er in Panik.« Athelstan wandte sich um und sah Cranston an. »Sir John, ich glaube, daß Master D'Arques und seine Frau die Wahrheit sagen. Was sollen wir tun?« Der Coroner, der das Geständnis aufmerksam angehört hatte, lächelte. »Ich bin Coroner der Stadt London«, verkündete er. »Mein Urteil ist immer richtig und gut. Ihr, Raymond D'Arques, seid schuldig des ungesetzlichen Mordes an der Frau namens Aemelia. Dies ist Eure Strafe: Erstens werdet Ihr vor die Richter des Königlichen Oberhofgerichts treten und den Mord beschwören.« Die scharfen Augen des Coroners richteten sich jetzt auf das bange weiße Gesicht der Mistress D'Arques. »Ihr wart nach der Tat seine Komplizin. Auch Ihr müßt Euch läutern. Wenn die Läuterung geschehen ist, gelobe ich, daß ein Pardon mit königlichem Siegel ergehen wird.«
Der Tischler und seine Frau entspannten sich und lächelten. »Zweitens«, fuhr Cranston fort, »seid Ihr schuldig der Schändung einer Kirche und der ungesetzlichen Bestattung der verstorbenen Aemelia. Ihr werdet für ein ordnungsgemäßes christliches Begräbnis ihrer sterblichen Überreste aufkommen, einschließlich Sarg, Grabgebühr und Gottesdienst.
Und Ihr werdet einem Priester Geld geben, daß er Messen für ihre arme Seele liest. Außerdem habt Ihr sowohl Pater Athelstan als auch der Pfarrgemeinde von St. Erconwald Ungelegenheiten und Unannehmlichkeiten bereitet. Ihr, Raymond D'Arques, seid Tischler. Mein letzter Urteilsspruch ist folgender: Ihr werdet eine Statue schnitzen, einen Yard hoch, aus feinstem Holz. Sie soll St. Erconwald darstellen. Ihr werdet für ihre Aufstellung auf einem Sockel im neuen Chor bezahlen. Bruder Athelstan, bist du einverstanden?« Der Ordensbruder erhob sich. »Gerechtigkeit ist geübt worden«, sagte er leise. Er schaute D'Arques und seine Frau an und sah die Dankbarkeit in ihren Augen. »Fahrt fort in Euren guten Werken«, sagte er. »Liebet einander. Ein letztes noch: Sucht Euch einen guten Priester, jemanden außerhalb von Southwark. Beichtet ihm, was Ihr getan habt und wie Ihr dafür büßt, und er wird Euch die Absolution erteilen.« Er klopfte Sir John auf die Schulter. »Mylord Coroner, unsere Arbeit hier ist getan.«
Sie verließen das Haus und gingen durch die jetzt lärmerfüllten Gassen von Southwark zurück. »Ein gutes Urteil, Sir John.«
»Sie haben genug bezahlt«, antwortete der Coroner und sah sich um. »Bruder, wohin jetzt?«
»Zu Benedicta. Sie wird die Botschaft inzwischen erhalten haben, die ich ihr von Crim habe bringen lassen.« Er zuckte die Achseln. »Das ist das mindeste, was ich tun kann.« Sie fanden Benedicta blaß und mit roten Augen zusammengesunken an ihrem Tisch. Der Brief, den Athelstan gesandt hatte, lag ausgebreitet vor ihr. Tapfer lächelnd begrüßte sie die beiden und zog ihren Morgenmantel fester um die Schultern. Trotz der Tränen war sie schön; ihr dichtes, schwarzes Haar fiel zerzaust und ungekämmt über ihre Schultern herab, denn Crim, gestand sie, hatte sie mit der Nachricht geweckt.
»Es tut mir leid«, entschuldigte Athelstan sich. »Ich wollte dich mit solchen unwillkommenen Nachrichten nicht wecken, aber ich dachte mir, je eher, desto besser.«
»Nein, nein«, sagte Benedicta, »ich bin ja ganz zufrieden.« Sie setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht. »Das Warten war das Schlimmste.« Sie deutete auf die Schemel neben sich. »Um Gottes willen, Sir John, Pater, setzt Euch doch. Ihr steht ja da wie zwei Büttel, die mich verhaften wollen. Möchtet Ihr Wein?«
»Nein«, antwortete Athelstan hastig und sah sie aus schmalen Augen an. »Sir John und ich haben heute noch viel zu tun.« Er beugte sich vor und berührte ihre Hand. »Benedicta, es tut mir wirklich leid.«
Die Frau blinzelte und wandte den Blick ab. »Es macht nichts, es macht nichts«, murmelte sie und lächelte Sir John unter Tränen an. »Mylord Coroner, ich danke Euch für Eure Hilfe. Was immer dieser strenge Priester sagt, ich denke, Ihr habt einen Becher vom feinsten Roten verdient.« Cranston ließ sich nicht zweimal bitten, und sein Grinsen wurde breiter, als Benedicta aus der Speisekammer zurückkam; sie brachte einen großen Becher mit zwei Henkeln und einen Zinnteller voll Rindfleischstreifen, bedeckt von einer dicken braunen Tunke und mit kleinen Erbsen zierlich bestreut. Beides stellte sie vor Sir John auf den Tisch und küßte ihn dann leicht auf die Schläfe, wobei sie boshaft zu Athelstan hinüberlächelte. »Bitte sehr, Mylord Coroner.«
Athelstan funkelte sie wütend an. Wenn es so weiterginge, würde Sir John am Ende des Tages nicht mehr zu gebrauchen sein. Benedicta machte tapfere Miene zum traurigen Spiel; sie warf den Kopf zurück und entschwebte nach oben. Athelstan mußte sitzen bleiben und zuschauen, wie Sir John mampfend wie Philomel sein Essen verschlang; Rindfleisch, Tunke und Wein verschwanden zwischen gemurmelten Entzückensrufen wie »köstlich!«, »fabelhafte Frau!« und »großartiges Mädel!«
Als Cranston fertig war und sich rülpsend den Mund mit einem Leintuch betupfte, war Benedicta angekleidet und war mit einem kleinen Holzkasten heruntergekommen, der ihre Toiletten-Utensilien enthielt. Sie wusch und cremte sich das Gesicht, während Athelstan ihr vom Besuch im Hause D'Arques erzählte. Sie hörte aufmerksam zu und nickte beifällig. Athelstan schaute fasziniert zu, wie sie ihre Lippen behutsam rot schminkte, die Wimpern dunkel tuschte und dann nach einem Puderquast aus Schwanendaunen griff und sich das Gesicht leicht damit betupfte. Dann warf sie Athelstan einen schelmischen Blick zu.
»Wenn ihr Männer nur wüßtet, wie eine Frau sich mühen und plagen muß, wenn sie sich für den Tag zurechtmacht.«
»In Eurem Fall, Mylady«, erwiderte Cranston galant, »ist es aber, als wollte man eine Rose bemalen oder eine Lilie vergolden.«
Benedicta beugte sich vor und machte in gespielter Unschuld große Augen. »Sir John«, flüsterte sie, »Ihr seid ein wahrer Höfling und ein Gentleman.«
Cranston plusterte sich auf wie ein Pfau. Er war in seinem Element. Er hatte gut gegessen, schweren Rotwein getrunken und bekam jetzt Komplimente von einer schönen Frau. Er trommelte mit den Fingern auf seinem breiten Wanst. »Wäre ich unverheiratet und zehn Jahre jünger …«
»Dann gäbe es noch viel mehr zu essen und zu trinken«, fiel Athelstan ihm schnippisch ins Wort. Aber zur Antwort erhielt er nur wieder ein boshaftes Lächeln von Benedicta und dem immer überschwenglicher werdenden Sir John. Benedicta betupfte sich die Wangen ein letztes Mal mit dem Puderquast; Athelstan sah, wie der feine Staub aufstieg.
»Ach du lieber Gott!« flüsterte er plötzlich. »Was ist los?«
»Nichts, Sir John. Benedicta, darf ich diesen Puderquast einmal ausborgen?«
Sie reichte ihn herüber, und während sie ihn neckte, untersuchte Athelstan den Quast sorgfältig und drückte ihn zwischen den Fingern, bis seine Kutte von feinem Puder bedeckt war. Cranston beugte sich vor und rümpfte die Nase. »Du mußt dich vorsehen, wenn du jetzt hinausgehst, Bruder. Du duftest wie ein weibisches Knäblein!« Der Bruder entschuldigte sich und reichte Benedicta den Quast zurück; dann stand er auf und klopfte sich sorgfältig die Kutte ab.
»Sir John«, verkündete er dann, »wir müssen gehen. Benedicta, sprich mit niemandem über das, was ich dir erzählt habe, aber teile der Gemeinde mit, daß ich morgen die Messe lesen werde und alle dort sehen möchte. Ich habe etwas Wichtiges bekanntzugeben.«
»Wo willst du denn hin, Bruder?«
»Zurück zu meiner Kirche, Sir John.«
Cranston schüttelte den Kopf. »O nein, Mönch, wir haben noch Arbeit.«
»Sir John, ich muß zurück.«
Cranston stand auf und warf sich in Positur. »Glaubst du, die Stadt schläft, während wir zwischen deiner Kirche und Blackfriars hin und her rennen? Gestern nacht gab es einen Toten in der Nähe des Gasthauses ›Brokenseld‹ an der Ecke Milk Street. Der Leichnam liegt jetzt in St. Peter Chepe, und ein Urteil muß darüber gesprochen werden.« Athelstan stöhnte.
»Na, komm, Bruder.« Cranston hakte sich bei ihm unter. »Wir holen die Pferde und reiten los.«
Er brüllte Benedicta liebevolle Abschiedsworte zu und schob seinen schmallippigen Schreiber zur Tür hinaus auf die Straßen von Southwark. Sie holten ihre Pferde bei St. Erconwald ab; Philomel wurde immer störrischer und bockiger, denn es war lange her, daß er weit laufen und soviel hatte arbeiten müssen. Sie ritten hinunter zur Brücke; Athelstan versuchte, sein Mißvergnügen zu verbergen, während Cranston seiner guten Laune mit großzügigen Schlucken aus seinem wunderbaren Weinschlauch grunzend und rülpsend Nahrung gab. Strahlend schaute er umher und beschimpfte die Straßenhändler, die ihre Stände inzwischen mit Firlefanz, Gürteln, Bechern, billigen Ringen, falschen Edelsteinen, Schnallen, Rosenkränzen und kleinen Halsabschneidermessern vollgepackt hatten. Auf anderen Ständen wurden Speisen angeboten, dicke, glänzende Scheiben Fleisch und Fisch - manche davon frisch aus dem Fluß, andere mindestens zwei Tage alt, so daß sie zum Himmel stanken.
Eine Schar Gassenjungen spielte mit einem Ball zwischen den Ständen. Ein Beutelschneider auf der Suche nach leichter Beute bemerkte Sir Johns Blick und floh wie eine Ratte in einen Hauseingang. Am Pranger kurz vor der Brücke standen zwei Wasserverkäufer und mußten sich leckende Eimer über die Köpfe halten, die jeder Vorübergehende fallen durfte - zumeist mit den schmutzigen Flüssigkeiten aus der Gosse oder den großen Pfützen von Pferdepisse. Athelstan sah ein paar von seinen Gemeindemitgliedern: Pike, den Grabenbauer, mit Queraxt und Hacke auf der Schulter, und Watkin auf seinem Mistwagen, unterwegs zum Flußufer, den Karren vollgeladen mit fauligem Abfall. Cecily, die Kurtisane, stand im Eingang einer Taverne und verschwand sofort, als sie Athelstan erblickte. Alle wirkten bedrückt und ziemlich ängstlich, und der Ordensbruder war froh, daß er die Sache mit dem geheimnisvollen Skelett morgen ein für allemal erledigen konnte.
Sie überquerten die Brücke in lärmendem Gedränge. Cranston bahnte ihnen mit seiner Autorität den Weg. Es ging die Bridge Street hinauf, durch Gracechurch, vorbei an den prächtig bemalten Häusern der Bankiers in der Lombard Street und weiter in die Poultry. Hier war die Luft dick von Federn und dem Geruch von Geflügel, das ausgenommen wurde; das Fleisch wurde in Wasser getaucht, die Innereien verbrannt oder auf großen, offenen Feuern gebraten. Sogar Cranston hörte auf zu trinken und hielt sich die Nase zu. Sie kamen in die Mercery, wo Buden und Stände reicher ausgestattet und prächtiger waren; ihre Eigentümer trugen kostspielige Mäntel und Hemden, Strümpfe und Stiefel. Endlich erreichten sie Westchepe. Cranston warf sehnsüchtige Blicke auf die Schenke »Zum Heiligen Lamm Gottes«, aber Athelstan war entschlossen, seine Pflichten zu erfüllen und nach Southwark zurückzukehren; er wollte sich gründlich mit einer Idee beschäftigen, die ihm in Benedictas Haus gekommen war.
Sie banden ihre Pferde an die Stange vor St. Peter und betraten die muffig riechende, dunkle Kirche. Eine Gruppe von nervös aussehenden Männern, angeführt von einem Büttel, umstand einen Tisch am Eingang zum Mittelschiff; darauf lag ein Toter, bedeckt mit einem braunen, fleckigen Leintuch. Die Männer scharrten mit den Füßen und tuschelten unruhig miteinander, als Sir John großspurig hereinkam.
»Ihr kommt spät!« quäkte der rotgesichtige, fette Büttel. »Halt die Klappe!« dröhnte Cranston. »Ich bin Richter des Königs, und meine Zeit gehört dem König. Also, was haben wir hier?«
Der eingeschüchterte Büttel schlug das Tuch zurück. Cranston verzog das Gesicht, und Athelstan rümpfte die Nase. Ein säuerlicher Geruch stieg von der Leiche des alten Mannes auf.
In seinem Schädel klaffte eine schreckliche Wunde, und das grauweiße Haar war vom Blut dick und schwarz verkrustet. »Er heißt John Bridport«, erklärte der Büttel. »Er kam an einem Haus zwischen der Honey Lane und der Milk Street vorbei.« Der Büttel deutete auf einen ängstlich blickenden Mann. »Der da ist William de Chabham. Er hat eine Werkstatt im Obergeschoß seines Hauses, aus der ein Holzbalken herausragte. Er ist Sattler von Beruf und benutzt besagten Balken, um sein Leder daran zu trocknen.« Der Büttel schaute Cranston nervös an. »Um es kurz zu machen, Sir John: Der Balken war zu schwer beladen, geriet ins Rutschen, fiel herab und zerschmetterte Bridport den Schädel.«
»Ein Unfall!« rief der bleiche Sattler flehentlich. »Wo ist der Balken?« fragte Sir John.
Der Büttel deutete auf einen dicken, schweren Holzbalken unter dem Totentisch. Athelstan, der den Deckel des Taufbrunnens als Schreibtisch benutzte, notierte sorgfältig alle Einzelheiten auf einem Stück Pergament, das er Sir John später aushändigen würde.
»Bruder Athelstan!« Cranston schnippte mit den Fingern. »Würdest du bitte das Opfer und den Balken untersuchen?« Athelstan fluchte leise, befahl jedoch, den Balken hervorzuziehen. Er untersuchte ihn und dann auch den Kopf des Toten gründlich. »Und?« fragte Cranston.
»Nun, Mylord Coroner, wie es scheint, ist John Bridport tatsächlich auf die geschilderte Weise zu Tode gekommen.« Sir John griff mit beiden Händen in seinen Mantel und richtete sich zu voller Größe auf.
»Sattler! Hattest du Befugnis oder Erlaubnis, diesen Balken aus dem Fenster ragen zu lassen?«
»Nein, Mylord Coroner.«
»Kanntest du das Opfer?«
»Nein, Mylord Coroner.«
»Büttel, ist William de Chabham ein Mann von gutem Ruf?«
»Ja, Sir John, und diese anderen hier sind erschienen, um für sein tadelloses Verhalten zu bürgen.«
Cranston kratzte sich am Kinn. »Dann spreche ich das folgende Urteil. Dies ist kein Mord und auch kein widerrechtlicher Totschlag, sondern ein unglückseliger Unfall. Du, Meister Sattler, wirst eine Buße von zehn Shilling an das Zivilgericht zahlen. Du wirst schwören, nie wieder einen solchen Balken zu benutzen, und jeden weiteren notwendigen Schadenersatz bezahlen.«
Der Sattler zog den Kopf ein, sah aber erleichtert aus. »Und der Balken, Sir John?«
»Der muß fünf Shilling zahlen und wird dann vom öffentlichen Henker verbrannt.« Cranston warf einen Blick auf den Toten. »Hat Bridport Verwandte?«
»Nein, Sir John. Er lebte allein in einer Wohnung an der Ecke der Ivy Lane.«
»Dann ist seine Habe einzuziehen«, befand Cranston mit falschem Lächeln. »Bridport bekommt ein ehrenhaftes Begräbnis auf Kosten der Pfarrgemeinde. Hast du das, Bruder Athelstan?«
»Ja, Mylord Coroner.«
»Gut!« trompetete Cranston. »Dann ist diese Sache erledigt.« In der Milk Street reichte Athelstan ihm das Protokoll der Untersuchung. Cranstons Einladung zu einem Bier im »Heiligen Lamm Gottes« lehnte er höflich ab und machte sich auf den Rückweg nach Southwark. An einem Verkaufsstand in der Three Needle Street erstand er eine Rolle eines schwammähnlichen Stoffes und in Cornhill einen Tiegel Gesichtspuder; die alte Frau hinter dem Verkaufsstand grinste und zwinkerte ihm wissend zu. »Jedem das Seine, was, Pater?«
Der Ordensbruder schluckte eine bissige Antwort herunter und führte den inzwischen schläfrigen Philomel durch Gracechurch zur Brücke. Daheim angekommen, verbrachte er den Rest des Tages damit, über das Rätsel der scharlachroten Kammer nachzusinnen, und benutzte die Sachen, die er gekauft hatte, um die Geschichte in allen Einzelheiten nachzustellen. Endlich, als das Tageslicht zu schwinden begann, ging er hinaus auf den Friedhof und schaute nach Westen, wo die Sonne wie ein roter Feuerball versank. Er verspürte die sanfte Glut der Zufriedenheit und pries die Schönheit der Dame Logik. Wieder und wieder war er das Rätsel durchgegangen. Es konnte nur eine Lösung geben; aber was würde geschehen, wenn er sich irrte? »Pater! Pater!«
Athelstan schaute zur Friedhofspforte; Cecily, die Kurtisane, stand dort.
»Was gibt's, Cecily?«
»Pater, ich habe doch nur einen Becher Wein in der Schenke getrunken.«
»Das ist keine Sünde, Cecily.«
Sie kam auf ihn zu und versuchte, zerknirscht auszusehen, aber Athelstan mußte doch ein Lächeln verbergen, als er sah, wie sie ihren fransengezierten Rock schwenkte und sich vorbeugte, um den stattlichen Busen in ihrem engen Mieder besser zur Schau zu stellen.
»Pater, die anderen haben mich hergeschickt. Es tut uns ehrlich leid, was passiert ist, und wir kommen alle morgen früh zur Messe. Benedicta hat gesagt, Ihr hättet uns etwas Wichtiges mitzuteilen.«
Athelstan lächelte und berührte sanft ihren Arm.
»Du bist ein braves Mädchen, Cecily. Wir sehen uns morgen in der Messe.«
Cecily trippelte davon. Athelstan schaute zum Himmel. Sollte er die Sterne betrachten? Die Nacht würde wolkenlos sein. Vielleicht könnte er sehen, wie einer durch den Himmel schoß wie Luzifer bei seinem Sturz in die Hölle. »Andererseits«, dachte er, »werde ich vielleicht selbst stürzen.« Er war müde und schläfrig, und als ihm der Überfall der vergangenen Nacht einfiel, schaute er sich auf dem verlassenen Friedhof um. Er würde froh sein, wenn die Morgenmesse vorüber war und alles wieder seinen gewohnten Lauf nahm; aber bis dahin blieb er am besten in seinem Haus. Er ging hinein und verschloß die Türen und Fenster fest. »Die Nacht ist schön«, dachte er bei sich, »und Bonaventura ist entweder auf Freiersfüßen oder auf der Jagd.« Er sah, daß es in der Küche nichts zu essen gab, und so setzte er sich hin und überlegte, ob er wohl etwas Neues entdecken würde, wenn er nach Blackfriars zurückkehrte. Die Lider wurden ihm schwer. Er löschte die Kerze und ging hinauf in sein Bett.
*
Am nächsten Morgen erschienen alle zur Messe. Mugwort läutete die Glocke wie ein wahnsinniger Dämon. Ursula kam mit ihrer Sau im Schlepptau, gefolgt von Watkin, Pike und Huddle, und der letztere schaute sich beifällig im neuen Chor um. Benedicta war gefaßter als am Tag zuvor. Sie flüsterte Athelstan zu, er solle nicht allzu streng sein, und Pike erinnerte ihn daran, daß er heute die Beichte abnehmen wollte. Athelstan verbarg sein Unbehagen hinter einem strahlenden Lächeln. Natürlich, das hatte er ganz vergessen! Das große Fest Fronleichnam stand kurz bevor, und alle seine Pfarrkinder wollten von ihren Sünden losgesprochen werden; also verkündete er nach der Messe, er werde heute den ganzen Tag im westlichen Kirchenschiff sein, um dort hinter dem Vorhang ihre Beichte zu hören.
Als alle Gemeindemitglieder versammelt waren, erklärte er ihnen in aller Ruhe, was es mit dem Skelett auf sich hatte.
»Dieses sind nicht die Gebeine eines Heiligen«, begann er. »Liebe Kinder, ihr müßt mir vertrauen. Sir John und ich haben die Wahrheit herausgefunden. Es sind die Überreste einer Frau, die vor vielen Jahren ermordet wurde.« Er zuckte die Achseln. »Das ist alles. Watkin, akzeptierst du, was ich sage?«
Der Mistsammler hockte inmitten seiner vielköpfigen Brut und nickte feierlich.
»Also gut«, fuhr Athelstan fort. »Dann wirst du ein wenig von dem Gewinn nehmen, den du zweifellos gemacht hast, und ein richtiges Leichentuch aus dickem Linnen kaufen. Pike, du wirst ein Grab ausheben, und heute abend werde ich die sterblichen Überreste dieser armen Frau segnen und sie der Erde übergeben. Damit ist die Angelegenheit beendet.«
»Was ist mit den Kosten für all das?« rief Pike. »Keine Sorge«, sagte Athelstan. »Das Geld wird erstattet werden.«
»Und das Wunder?« rief Ursula. »Was war mit dem Wunder?«
»Das weiß Gott allein, Ursula, aber wenn es Wunder gegeben hat, ist dafür vielleicht der heilige Erconwald verantwortlich.« Beifälliges Gemurmel begrüßte diese Worte. »Pater.« Watkin stand auf und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Was hier geschehen ist, tut uns ehrlich leid, aber wir haben es nur gut gemeint.« Er zog eine große Lederbörse unter seinem schmierigen Wams hervor. »Dies ist der Ertrag.« Nervös wog er die Börse in der Hand. »Wir haben eine Idee gehabt, Pater. Na ja, der Chor ist jetzt fertig, und da dachten wir, man sollte Farbe kaufen, und Huddle sollte ein Bild malen, ein ganz großes Bild vom Besuch der Jungfrau Maria bei ihrer Base Elisabeth nach der Geburt Jesu.«
»Seid ihr alle damit einverstanden?« fragte Athelstan.
Ein Beifallschor erhob sich.
»Dann kann Huddle sofort anfangen. Crim, du mußt Sir John Cranston eine Nachricht überbringen.«
»Dem alten Fettarsch, meint Ihr?«
Watkins Frau gab dem Jungen einen Schlag an den Hinterkopf.
»Sir John Cranston«, wiederholte Athelstan. »Du wirst ihm sagen, daß er wieder nach Blackfriars gehen soll. Wir treffen uns morgen früh bei Tagesanbruch. So.« Er begann, vor ihnen die Gewänder abzulegen. »Watkin, du kaufst das Leichentuch. Pike, du fängst lieber sofort an, denn der Boden ist hart. Was die übrigen angeht — ich werde jetzt, wie Sir John immer sagt, eine Erfrischung zu mir nehmen, und dann höre ich die Beichte. Ach!« Er wandte sich noch einmal um. »Wundert euch nicht: Ein geheimnisvoller Spender möchte uns eine große Statue des heiligen Erconwald für den neuen Chor schenken.«