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Bruder Norbert weckte die beiden am späten Nachmittag und fragte, ob alles in Ordnung sei. Athelstan bedankte sich schlaftrunken murmelnd und sagte, die Bücher könnten in die Bibliothek zurück. »Habt Ihr gefunden, was Ihr suchtet?«
Athelstan rieb sich die Augen und gähnte. »Ja und nein, Bruder.« Er lächelte, als er Norberts verständnisloses Gesicht sah. »Ich kann nur sagen, wir müssen ein Weilchen warten, Sir John und ich.« Er schaute den Coroner an, der auf der Bettkante hockte und gähnte wie ein Kater. »Mylord Coroner und ich haben uns jetzt um andere Dinge zu kümmern.«
Cranston und er wuschen sich und halfen Norbert und einigen anderen Laienbrüdern, die Bücher in die Bibliothek zurückzutragen. Danach gingen die beiden im Obstgarten spazieren. Sie verbannten aus ihren Gedanken, was sie bei ihrem letzten Besuch hier gesehen hatten, und freuten sich am süßen, aromatischen Duft der reifenden Früchte. »Wir kommen hier nicht weiter«, stellte Cranston fest, »bis der Bote aus Oxford zurückkommt. Ich habe Lady Maude die Anweisung hinterlassen, ihn zu uns weiterzuschicken, egal, wo wir gerade sind.« Er blieb stehen und sah Athelstan an, und sein Blick zeigte nichts von dem gewohnten Bombast und seiner Arroganz. »Bruder, morgen abend um sieben soll ich in die Halle des Lord Gaunt zurückkehren und die Lösung zum Rätsel des Italieners vortragen.« Er faßte Athelstan bei der Schulter. »Ich vertraue auf dich, Bruder. Ich glaube, du hast die Lösung. Ich weiß, du hast sie. Bitte, verrate sie mir.« Cranston hob seine große, fette Hand. »Ich schwöre beim Leben meiner Kerlchen, daß ich den Mund halten und niemandem erzählen werde, was du mir anvertraust.«
»Seid Ihr sicher, Sir John?«
»So sicher, wie mein Bauch dick und leer ist.«
»Dann, Mylord Coroner, sollte ich meine Hypothese vielleicht zunächst auf die Probe stellen.«
Nach dem Abendessen ging Athelstan mit Cranston zurück in ihre Schlafkammer.
»Gut, Sir John, dann beginnen wir noch einmal von vorn. Wir haben eine Kammer ohne geheime Zugänge oder Falltüren, und doch geschehen hier vier Morde: Ein junger Mann, ein Kaplan und zwei Soldaten verlieren das Leben. Keines der Opfer hat etwas gegessen oder getrunken, und es gehört zu dem Geheimnis, daß niemand den Raum betreten hat, so daß auch kein Unbekannter die Hand im Spiel gehabt haben kann.« Athelstan zuckte die Achseln. »Nun lehrt uns die Logik, immer nach dem gemeinsamen Nenner zu suchen, nach einem Faktor, der allen Dingen gemeinsam ist. Dies also ist meine Lösung.« Er band seine Satteltaschen auf und legte etliche Gegenstände auf das Bett. Cranston sah aufmerksam zu, wie Athelstan ihre Schlafkammer in das Mordzimmer verwandelte und vorführte, wie jeder der Männer gestorben war, während er dem verblüfften Coroner eine einleuchtende Erklärung gab, warum es geschehen war.
»Das kann nicht sein!« hauchte Cranston. »Das ist unmöglich!«
»Sir John, das ist die einzige Erklärung. Und jetzt will ich es Euch beweisen, indem ich Euch als mögliches Opfer nehme.« Eine Stunde später mußte Cranston widerwillig zugeben, daß Athelstans Schlußfolgerung die einzig annehmbare sei.
»Das will ich hoffen«, erwiderte dieser fröhlich. »Denn bei Gott, Sir John, eine andere Antwort wüßte ich nicht.«
»Und wenn du dich irrst?« brummte Sir John. »Wenn wir etwas vergessen haben? Was dann, he? Woher kriege ich das Geld, um den Fürsten von Cremona zu bezahlen?« Athelstan ließ das Gesicht in die Hände sinken. Er liebte Cranston wie einen Bruder, aber manchmal war der Coroner wie ein quengelndes Kind. Dennoch, er hatte nicht unrecht. Dies war kein simples Gedankenspiel, eines jener Rätsel, wie sie bei den Philosophen von Oxford und Cambridge so beliebt waren. Cranstons Ruf, sein Ansehen als hoher Beamter der Justiz, stand auf dem Spiel. Der Ordensbruder stand auf.
»Darauf weiß ich keine Antwort, Sir John. Ich muß jetzt zum Pater Prior. Ich muß ihm sagen, daß wir morgen fortgehen und erst am Sonntag zurückkommen.« Er klopfte Sir John auf die Schulter. »Schlaft ein wenig. Ihr werdet morgen einen wachen Verstand brauchen.«
Aber als Athelstan zwei Stunden später wiederkam, saß Cranston natürlich da und hielt seinen wunderbaren Weinschlauch im Arm, als wäre es eines seiner Kerlchen. »Ich hatte noch eine andere Sache mit dem Pater Prior zu besprechen.«
»Was hast du da in der Hand?« Cranston deutete auf die kleine Pergamentrolle, die Athelstan in seine Satteltasche stopfen wollte. »Nichts, Sir John.«
Cranston tat einen Seufzer. »Du bist ein alter Geheimniskrämer, Athelstan. Aber ich bin zu müde.« Cranston warf seine Kleider ab und ließ sich mit lautem Krach auf das Bett plumpsen; Athelstan hielt es für ein Wunder, daß er nicht mitsamt seinem Bett geradewegs durch den Fußboden sauste. Nach wenigen Augenblicken schnarchte der gute Coroner. Athelstan sprach seine Gebete, aber diesmal war es weniger das kirchliche Stundengebet als vielmehr die Bitte, seine Lösung für Cranstons Rätsel möge die richtige sein. Den nächsten Tag verbrachten sie damit, ihre Schlußfolgerung zu erproben. Cranston schickte Bruder Norbert zu seinem Haus in der Cheapside, um zu sehen, ob der Bote aus Oxford zurückgekommen war, und der Lady Maude und seinen beiden Kerlchen die besten Wünsche zu übermitteln. Als Norbert zurückkam, war er voll des Lobes für die gnädige Lady Maude und der Bewunderung für Cranstons springlebendige Jungen. Aber ein Bote, erklärte er, nein, ein Bote sei nicht gekommen.
Cranston und Athelstan verließen das Kloster Blackfriars am frühen Abend. Der Coroner wollte sich in einer der Schenken am Flußufer erfrischen; danach mieteten sie ein Fährboot, das sie flußabwärts zum Palast des John von Gaunt bringen sollte. Schon als die Barke von der Flußmitte zum Ufer steuerte, sahen sie, daß Gaunts Haushalt sie erwartete. Die Kunde von Cranstons Wette hatte sich anscheinend bei Hofe herumgesprochen. Seidengeschmückte Barken glitten bereits auf den privaten Kai zu, wo Bedienstete in Gaunts Livree mit brennenden Fackeln warteten. Über ihnen knatterten Banner mit den königlichen Wappen von England, Frankreich, Kastilien und Leon im Wind, der vom Fluß her wehte.
Als Cranston und Athelstan an Land kamen, wurden sie von einem in strahlenden Goldbrokat gekleideten Kammerherrn mit weißem Amtsstab mit goldener Spitze begrüßt und durch die Menschenmenge auf hellerleuchteten Gängen in die Große Halle geführt, die zu diesem Anlaß prächtig hergerichtet war. Auf dem schwarzweißen Marmorboden standen weich gepolsterte Bänke für die Zuschauer, und die Wände waren mit farbenprächtigen Teppichen bedeckt. Diskret standen
Bewaffnete in silbernen Brustpanzern und mit gezückten Schwertern davor. Der mächtige Eichenholztisch auf der Estrade leuchtete im Glanz von Hunderten von Bienenwachskerzen, so daß das hintere Ende des Raumes fast so hell strahlte wie an einem herrlichen Sommertag. Der Kammerherr geleitete sie auf die Estrade und zu den Stühlen, die dort in weitem Halbkreis hinter dem Tisch standen.
»Ihr sollt hier warten«, erklärte er. »Seine Gnaden, der Herzog von Lancaster, und andere Mitglieder des Hofes speisen allein.«
Cranston spürte die Geringschätzung, die in den Worten des Mannes lag.
»Wie heißt Ihr, Kerl?«
»Simon, Sir John. Simon de Bellamonte.«
»Nun, Simon«, sagte Cranston zuckersüß, »wir sind nicht hier, um uns anstarren zu lassen. Ihr werdet die Tür der Halle geschlossen halten und meinem Schreiber und mir zwei große Becher vom berühmten Rheinwein des Lords von Gaunt servieren, den er in den Kellern dort unten kühl hält.«
Der Kammerherr verzog die Lippen zu einem essigsauren Lächeln. »Die Tür muß aber offenbleiben«, protestierte er quäkend.
»Ach, verpißt Euch«, zischte Cranston. »Bringt uns wenigstens Wein, oder ich sage dem Lord von Gaunt, daß seine Gäste schlecht behandelt wurden.«
»Master Bellamonte«, sagte Athelstan leise, »Sir John hat schrecklichen Durst; Eure Freundlichkeit in dieser Angelegenheit würde deshalb hochgeschätzt werden.« Der Kammerherr richtete sich zu voller Größe auf und stolzierte mit der Anmut einer watschelnden Ente hinaus. Die Höflinge blieben in der Halle, aber wenigstens bekam Sir John seinen Wein, und zwar einen großen, randvollen Zinnbecher davon. Er stürzte ihn in einem Zug herunter, schmatzte und streckte den Becher aus.
»Mehr!« befahl er. »Oh, mein bevorzugter Ordensbruder, ich könnte mich leicht an diesen Luxus und Reichtum gewöhnen.«
Er sah dem Diener nach, der davoneilte, und warf dann einen wütenden Blick auf die Höflinge, die verstohlen zu ihm heraufgafften.
»Die alten Tage sind dahin«, murmelte er. »Sieh sie dir an, Athelstan, sie kleiden sich wie Weiber, gehen wie Weiber, riechen wie Weiber und reden wie Weiber.«
»Ich dachte, Ihr liebt die Weiber, Sir John.« Cranston leckte sich die Lippen. »O ja, aber Lady Maude ist soviel wert wie tausend von denen hier.« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Lady Maude ist England!«
Athelstan musterte den Coroner wachsam. Nichts war gefährlicher als Sir John, wenn er in weinerliche, nostalgische Stimmung fiel.
»Ich weiß noch«, fuhr der Coroner flüsternd fort, »wie ich mit den Vätern dieser Männer Schulter an Schulter bei Poitiers stand und die Franzosen gegen uns anrannten wie eine Woge aus Stahl.« Er klopfte sich auf den Bauch. »Ich war schlanker damals, schärfer - wie ein Greyhound. Schnell im Angriff, wild im Kampf. Wir waren Falken, Athelstan, und wir stießen wie ein Blitz auf unsere Feinde herab.« Er schnaufte geräuschvoll durch die Nase, und sein weißer Schnurrbart sträubte sich. »Oh, diese Zeiten«, flüsterte er. »Diese Wollust, diese Trunkenheit.« Er schüttelte den Kopf und warf dann einen kurzen Blick auf Athelstan, der mit gesenktem Kopf dasaß, damit Cranston nicht sah, daß er lächelte.
»Was habt Ihr, Sir John?« fragte er unvermittelt.
»Weiß der Himmel! Daß ich mich herzitieren lasse, daß ich einem wie Gaunt auf den Leim gehe. Ich kannte seinen Vater, den goldblonden Edward, und seinen älteren Bruder, den Schwarzen Prinzen, Gott schenke ihm die ewige Ruhe.« Cranston wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Ein wilder Kämpfer, der Schwarze Prinz! In der Schlacht wagte sich keiner in seine Nähe! Er tötete alles, was sich bewegte, alles, was er durch die Sehschlitze seines furchtbaren Helms sah. Wenigstens drei Pferde schlug er unter sich tot, weil er ihre Köpfe und Ohren für nahende Feinde hielt.«
»Sir John«, mahnte Athelstan, »vergeßt die Vergangenheit. Wißt Ihr noch, was wir vereinbart hatten? Ihr müßt die Geschichte selbst erzählen.«
Cranston schnippte mit den Fingern. »Feentitten! Denen werde ich eine Geschichte erzählen!« Er funkelte Athelstan wütend an. »Ich hoffe bloß, es ist die richtige Geschichte.« Der Diener brachte noch einmal einen Becher Wein. Athelstan schloß die Augen und betete, der Coroner möge sich keinen allzugroßen Rausch antrinken und die Lösung des Rätsels vergessen. Sir John aber trank hin und wieder mit halbgeschlossenen Augen aus seinem Becher und schaute verachtungsvoll in die Halle. Athelstan merkte, daß er im stillen immer noch die Dekadenz der jüngeren Generation beklagte. Plötzlich erklang schrilles Trompetengeschmetter. Eine Schar junger Knappen mit bunten Bannern kam in die Halle. Sie stellten sich zu beiden Seiten eines in den rot-blaugoldenen Farben des englischen Königshauses gekleideten Herolds auf. Dieser blies drei durchdringende Fanfaren auf einer langen, silbernen Trompete und verlangte mit lauter Stimme Stillschweigen für »Seine Gnaden, den König, Seinen allervornehmsten Onkel John, Herzog von Lancaster, und seinen teuren Cousin, den Fürsten von Cremona«. König Richard kam herein; er trug ein blaues Gewand mit goldenen Löwen und den silbernen Lilien Frankreichs. An seiner Seite ging Lancaster in braun-goldenem Mantel und mit einem silbernen Diadem im lohfarbenen Haar; auf der anderen Seite kam Cremona in Schwarz und Silber, auf dem Gesicht ein selbstzufriedenes Lächeln. Hinter ihnen kämpfte das höfische Gefolge in pfauenbunten Kleidern um die besten Plätze. Der junge König klatschte in die Hände, als er Cranston sah, und wäre wie ein normales Kind auf ihn zugelaufen, hätte Gaunt ihn nicht mit seiner beringten Hand zurückgehalten.
»Mylord Coroner!« rief der Knabenkönig. »Ihr seid mir höchst willkommen.«
Cranston und Athelstan, die sich erhoben hatten, als der Herold hereingekommen war, beugten das Knie. »Euer Gnaden«, murmelte Cranston, »Ihr erweist mir eine große Ehre.«
Er wartete, bis Richard sich genähert hatte, nahm dann die kleine, alabasterweiße Hand und küßte sie geräuschvoll, was bei den zuschauenden Höflingen leises Gekicher auslöste. Der Coroner hob halb den Kopf. »Euer Gnaden, kennt Ihr meinen Schreiber?«
Der König drehte sich um, ohne Cranstons dicke Hand loszulassen; er lächelte und nickte dem Dominikaner zu. »Natürlich. Bruder Athelstan, Ihr seid wohlauf?«
»Ja, Gott sei's gedankt, Euer Gnaden.«
»Gut!« Der König klatschte in die Hände. »Liebster Onkel«, rief er über die Schulter, und Athelstan entging nicht das stählerne Glitzern in Auge und Stimme des Jungen. Der Ordensbruder blickte rasch zu Boden. Richard haßte seinen mächtigen Onkel, und eines Tages würde diese Sache blutig geregelt werden.
»Liebster Onkel«, wiederholte der junge König, »alle sollen Platz nehmen. Sir John und Bruder Athelstan, Ihr sollt zu meiner Rechten sitzen, gleich neben meinem Onkel.«
Cranston und Athelstan richteten sich auf, Gaunt begrüßte sie in seidigem Ton, und der italienische Fürst ebenfalls. Ihr spöttisches Lächeln entging Athelstan nicht. Sie hatten Cranston genau beobachtet; der Coroner hatte einen Rausch, und sie sahen die Wette für ihn schon verloren. Wieder gab es den üblichen Aufruhr, als die Höflinge sich um Plätze auf der Estrade balgten. Der Herold blies weitere Fanfarenklänge auf seiner Silbertrompete, und Gepolter und Geschrei erfüllten die Halle, als die Leute ihre Plätze einnahmen. Der König lächelte mit leuchtenden Augen und aufgeregter Miene über den Tisch hinweg Athelstan und Cranston zu, und dieser war plötzlich nüchtern. Hier stand mehr auf dem Spiel als tausend Kronen. Gaunt wartete darauf, daß er scheiterte, und der junge König wollte, daß sein Onkel besiegt und daß dem arroganten italienischen Fürsten gezeigt wurde, von welcher Kraft der englische Geist in Wahrheit sei. Endlich befahl der Herold Schweigen, und der König stand, auf, ohne auf seinen Onkel zu warten.
»Mein geliebter Onkel, Fürst von Cremona, Gentlemen - die Wette ist inzwischen allgemein bekannt. Vor zwei Wochen hat unser Gast« - die königliche Hand legte sich auf das Handgelenk des italienischen Lords zu seiner Linken — »uns ein Geheimnis vorgetragen. Ein Geheimnis, das den Verstand und das Wissen der Gebildeten an seinem Hofe und auch anderswo auf eine harte Probe gestellt hat. Sir John hat eine Wette um eintausend Kronen akzeptiert.« Der junge König schnippte mit den Fingern, und aus dem Schatten trat ein Page mit einem scharlachroten Kissen, auf dem eine versiegelte Schriftrolle lag. Richard nahm sie zur Hand. »Hier liegt die Antwort. Nun, Ihr Herren, ist einer hier in der Halle, der das Geheimnis lösen kann?«
Verneinendes Gemurmel erhob sich. Der italienische Fürst beugte sich vor, und sein selbstgefälliges Lächeln war für jedermann sichtbar. Der König wandte sich an Cranston. »Mylord Coroner, könnt Ihr es?«
Cranston erhob sich, ging um den Tisch herum und trat vorn an die Estrade. Er verbeugte sich tief. »Euer Gnaden, ich glaube, ich kann es.« Ein tiefer Seufzer ging durch die Halle. Der König setzte sich und warf Athelstan einen mutwilligen Blick zu. Gaunt lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und formte die Hände zu einem Spitzdach, während der italienische Fürst nervös an seiner Unterlippe zu nagen begann. Sir John, ein vollendeter Schauspieler, schlüpfte derweil von einer Rolle in die andere - er war nicht mehr der bombastische Ritter, der vertrottelte Trunkenbold oder der wütende Justizbeamte. Athelstan verschränkte die Arme. Cranston würde jetzt demonstrieren, daß sich hinter dem fetten roten Gesicht und dem ungekämmten Grauschädel ein Verstand verbarg, der ebenso scharf war wie nur irgendeiner in Universität, Kanzlei oder Gerichtssaal.
Sir John spielte sich warm; er ging auf der Estrade auf und ab und wartete, daß das Gemurmel verstummte. Er fing erst an, als er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. Dann drehte er sich um, und seine blauen Augen schauten den jungen König an.
»Euer Gnaden, ich glaube, mit dem Geheimnis verhält es sich folgendermaßen.« Cranston fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und hob die Stimme, damit ihn alle hören konnten. »Ein junger Mann schlief in der scharlachroten Kammer und wurde tot am Fenster aufgefunden. Ein Priester aus dem Dorf, der durch den Schnee heraufgekommen war, starb desgleichen. Am rätselhaftesten aber war der Tod zweier Soldaten, die in der Kammer Wache hielten.« Cranston wandte sich halb um. »Ihr erinnert Euch vielleicht, daß der eine den anderen mit seiner Armbrust erschoß, bevor er selbst zusammenbrach und starb.« Er ließ eine wirkungsvolle Pause eintreten. »Niemand sonst hat das Zimmer betreten. Es gab keine geheimen Türen oder Gänge. Kein vergiftetes Essen oder Trinken wurden gebracht. Vier Menschen starben, einer davon durch eine Armbrust. Drei aber« - Cranston hob die Hand - »wurden vergiftet.«
»Wie denn?« fragte Cremona. »Mylord, der Mörder war das Bett.«
Athelstan sah den überraschten Blick des Italieners. Cranston war auf der richtigen Fährte. »Erklären! Erklären!« rief König Richard. Gaunt hielt die Hand vor den Mund und drehte den Kopf leicht zur Seite. In der Halle herrschte Totenstille; die Herablassung auf den Gesichtern verschwand zusehends. Athelstan schaute sich um. Sogar die Bannerträger und die Gardesoldaten in ihrer königlichen Livree starrten Cranston an, und der Dominikaner erkannte, daß er so sehr in die Angelegenheiten in Blackfriars und in St. Erconwald vertieft gewesen war und nicht erfaßt hatte, wie weit das Interesse an Cranstons Wette ging. Jetzt erst begriff er endlich, weshalb Lady Maude so besorgt war: nicht nur, weil Cranston tausend Kronen aufs Spiel gesetzt hatte, sondern auch, weil er hier seinen Ruf riskiert hatte, und der war sehr viel wert. Er hatte riskiert, als eine Art Hofnarr abgetan zu werden, statt weiterhin als Coroner des Königs in der Stadt London Anerkennung und Achtung zu genießen.
Cranston stand da mit gespreizten Beinen, hatte die Daumen hinter seinen Gürtel geschoben und genoß das erwartungsvolle Schweigen.
»Sir John«, blaffte Gaunt, »wie kann ein Bett ein Mörder sein?«
»Schon manch einer ist im Bett gestorben, Mylord.«
»Wir warten auf Eure Erklärung«, war die knappe Antwort. Cranston trottete schwerfällig zum Tisch, hob seinen Weinbecher und schlürfte geräuschvoll.
»Das Bett«, begann er dann und wandte sich in die Halle, »war anders als jedes andere. Ein Kissen oder eine Matratze stopft man mit Stroh aus - bei den Armen jedenfalls. Bei den Reichen nimmt man Schwanenfedern.« Cranston ging plötzlich zurück zu seinem Platz und hob seinen Mantel auf, den er dort hatte zu Boden fallen lassen. Er rollte ihn zu einem Bündel zusammen. »Wenn ich auf meinen Mantel klopfe, steigt Staub auf. Seht Ihr - ein gewöhnliches Ereignis. Im Frühling hängen die braven Bürgerinnen von London ihre Teppiche und Wandbehänge hinaus, um sie kräftig auszuklopfen. Ihr, Sir« - Cranston deutete auf einen Soldaten -, »nehmt Euer Schwert.« Cranston grinste Gaunt an. »Mit Mylords Erlaubnis - schlagt so heftig, wie Ihr könnte, mit der flachen Seite Eures Schwertes auf den Wandteppich hinter Euch.«
Der Soldat legte eine Hand auf den Schwertgriff und schaute Gaunt an.
»Sagt es ihm, Onkel«, befahl der König. Gaunt bewegte herablassend die Finger. Athelstan schaute zu; Cranston hatte einen Wandteppich und einen Soldaten ausgesucht, den jedermann sehen konnte, hell beleuchtet von den Fackeln in den Wandhaltern und den hohen Kerzen auf den Tischen. Der Soldat schlug auf den Wandteppich. »Fester, Mann!« rief Cranston.
Der Soldat gehorchte mit Vergnügen, und noch von seinem Platz aus konnte Athelstan die Staubwolken sehen, die durch die Halle wehten.
»So«, fuhr Cranston fort. »Mit dem Bett in der scharlachroten Kammer verhielt es sich ähnlich. Es war durchsetzt von einem giftigen Staub. Jeder, der im Zimmer stand, war ungefährdet.« Cranston grinste und breitete die Arme aus. »Aber wir alle wissen, was im Bett geschieht, selbst wenn man allein ist.«
Leises Gelächter erhob sich.
»Das erste Opfer lag also im Bett und drehte und wälzte sich hin und her, ohne zunächst zu spüren, wie sich der Staub in Nase und Mund setzte. Endlich aber bemerkte der Mann, daß etwas nicht stimmte und daß er dem Tode nahe war. Er lief zum Fenster und wollte es öffnen. Aber die Kammer war ja seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Fensterriegel und Griffe ließen sich nicht bewegen, und der junge Mann starb, wo er stand.«
Cranston drehte sich um und sah den Italiener an. Der Edelmann starrte mit offenem Mund zurück, und in seinen dunklen Augen lag Resignation. »Und der Priester?« fragte Gaunt.
»Nun, Mylord, überlegt doch einmal. Er kommt in die Kammer. Er tut, was er tun muß, aber er ist müde, und er friert. Er ist ja eben durch tiefe Schneeverwehungen hergekommen. Was macht er also?«
»Er legt sich aufs Bett! Er legt sich aufs Bett!« schrie der junge König.
Cranston deutete eine Verbeugung an. »Euer Gnaden, Ihr seid überaus aufmerksam. Auch er legt sich dort nieder und treibt das Gift hervor. Er wacht auf und macht alles noch schlimmer, indem er um sich schlägt. Er kämpft sich aus dem Bett, bricht zusammen und stirbt auf dem Boden.«
»Und die beiden Soldaten?« fragte Cremona verzweifelt. »Erinnert Euch, Sir John, nur einer lag auf dem Bett.« Cranston spreizte die Hände. »Mylord, Ihr sagtet doch, der Schütze lag auf dem Bett und hatte einen Bolzen in der Armbrust, ja?« Der Italiener nickte.
»Er war ein geschickter Bogenschütze?«
Wieder nickte Cremona. Cranston wandte sich den übrigen Gästen zu.
»Stellt Euch also die Szene vor. Mitten in der Nacht erwacht der erfahrene Bogenschütze, der alte Soldat, weil er erstickt. Er macht ein Geräusch, weckt seinen Gefährten, aber er liegt schon im Sterben. Er versteht nicht, warum er nicht atmen kann. Er sieht eine dunkle Gestalt, die sich bewegt, und in den letzten Augenblicken des Todeskampfes, als geborener Schütze« — Cranston wandte sich um und schwelgte in dem leisen Applaus, den seine Schlußfolgerung hervorrief-, »schießt der Mann. Sein Kamerad ist tot, und der Bogenschütze taumelt vom Bett und stirbt neben ihm.«
Cranston drehte sich um und verneigte sich vor dem König; lauter Beifall brandete los, die Höflinge klatschten jetzt heftig und trampelten mit den Füßen. Cremona legte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte zur Decke. Gaunt stützte das Kinn in die Hand und blickte in die Halle, aber der junge König war so aufgeregt, daß er kaum stillsitzen konnte. Seine Hand schwebte über dem weißen Dokument auf dem scharlachroten Kissen. Cremona erhob sich. »Sir John, wie könnte ein Bett denn ein derartiges Gift enthalten?«
Der Coroner zuckte die Achseln. »Mylord, danach war nicht gefragt. Aber es gibt Gifte, Tränke, Pulver, die stark genug sind, einen Menschen zu töten, wenn er sie nur einatmet.« Cranston richtete sich auf. »Was ich sage, ist wahr. Jegliches Gift, sei es Digitalis, Belladonna oder Arsen, ist gleich tödlich, wenn man es zu feinem Staub zermahlt. Das Problem besteht nur darin, genug davon zusammenzubekommen. Ich vermute, die Matratze dieses Bettes war mit Gift im Werte eines Vermögens vollgestopft.«
Cranstons Worte lösten allgemeine Zustimmung aus. Der italienische Edelmann nahm die Schriftrolle und reichte sie dem König.
»Euer Gnaden, Ihr mögt sie öffnen, aber das ist kaum noch notwendig. Sir John hat seine Wette gewonnen.« Cremona beugte sich plötzlich vor. »Mylord, Eure Hand.« Athelstan sah zu, wie Cremona, gefolgt von Gaunt, dem König und den Höflingen, Sir John die Hand schüttelte. Als der Trubel sich gelegt hatte, wurde die versiegelte Schrift geöffnet. Gaunt verlas eine Lösung, deren Worte den von Cranston vorgetragenen beinahe gespenstisch ähnlich waren.
»Sir John!« rief Cremona durch das Getöse. »Die eintausend Kronen! Sie werden Euch Montag zugestellt! Ich wünsche Euch alles Gute.«
Der italienische Fürst verbarg tapfer seine Enttäuschung, als er nun hinausrauschte. Nach ein paar beglückwünschenden Worten folgte ihm Gaunt, und auch die anderen Höflinge verschwanden jetzt. Der junge König blieb noch und winkte Cranston, er möge sich zu ihm herabbeugen, damit er ihm etwas ins Ohr flüstern könnte. Die Freude in Cranstons Miene verschwand. Er nickte nur und machte ein trauriges Gesicht, als der junge Richard die Halle verließ. Athelstan, der absichtlich im Hintergrund geblieben war, stand jetzt auf und hakte sich bei Cranston unter. »Meinen Glückwunsch, Sir John!«
Cranston schaute ihn durchtrieben an. »Sei nicht sarkastisch, Bruder. Wir wissen beide, wer das Geheimnis gelöst hat.«
»Nein, nein.« Athelstan drückte seinen Arm. »Sir John, Ihr wart großartig.«
»Die tausend Kronen gehören dir.«
Athelstan wich zurück. »Sir John, wozu brauche ich tausend Kronen?«
Der Coroner verzog das Gesicht. »Da wären die Armen …«
»Arme wird es immer geben, Sir John. Ihr seid schließlich auch kein reicher Mann.« Athelstan lächelte. »Eure Honorare sind klein. Bestechen laßt Ihr Euch nie. Euer Reichtum ist Lady Maudes Mitgift, nicht wahr?«
Cranston schüttelte nur stumm den Kopf und blickte zur Seite.
»Hört zu, Mylord Coroner.« Athelstan führte ihn hinaus. »Gebt hundert Kronen den Armen, kauft Lady Maude, was sie sich wünscht, und Euch selbst ein neues Gewand, und investiert den Rest bei den Bankiers in der Lombard Street. Vergeßt nicht, Ihr habt die beiden Kerlchen. Wenn sie größer werden, brauchen sie eine Ausbildung. Die Hallen von Oxford und Cambridge erwarten sie.«
»Quatsch, Athelstan!« dröhnte der Coroner. »Meine beiden Söhne werden Dominikaner!«
Athelstan lachte auf, und sie wanderten durch die Gärten hinunter zum Fluß.
Das gutmütige Geplänkel ging weiter, während die Bootsleute sie über das rauhe Wasser der Themse zur Eastgate Wharf ruderten, wo die Fleet ihren ganzen Dreck in die Themse entließ. Ais sie aus dem Boot kletterten und den Ruderer bezahlten, mußten sie sich Mund und Nase zuhalten, so übel war der Gestank. Obwohl es schon dunkel wurde, sah Athelstan die aufgedunsenen Kadaver von Hunden und Katzen und die menschlichen Exkremente und Abfälle, die wie ein dicker, schmieriger Brei auf dem Wasser schwammen. »Bei den Zähnen der Hölle!« flüsterte Cranston. »In meiner Abhandlung über die Verwaltung dieser Stadt werde ich dem ein Ende machen.«
»Wie das, Sir John?«
Cranston deutete die Thames Street hinunter. »Ich habe die alten Karten studiert, Bruder. Wußtest du, daß die Römer in der Stadt Kloaken angelegt haben, die von unterirdischen Wasserläufen gesäubert wurden? Ich sehe nicht ein, wieso wir es nicht genauso machen können.«
Über Einzelheiten von Sir Johns Abhandlung diskutierend, gingen sie in die Knightrider Street, bogen nach links in die Friday Street und die inzwischen stille Cheapside. Die Sonne war untergegangen, und das Leuchtfeuer auf St. Mary Le Bow flackerte vor dem dunkler werdenden Himmel; die Verkaufsstände waren abgebaut, und Hunde und Katzen stöberten im Müll. Laternenhörner hingen an Haken über jeder Haustür; die Stadt war zur Ruhe gegangen und hatte sich dem dunklen Wirken der Londoner Nächte überlassen. Schon sammelten sich die Bettler an den Durchgängen zwischen den Häusern und hielten wachsam Ausschau nach den Bütteln. Ein paar junge Stutzer, schon jetzt halb betrunken, schwankten Arm in Arm zu den Bordellen und Wohnungen der Dirnen in der Cock Lane.
»Werdet Ihr Lady Maude alles erzählen?« fragte Athelstan, als sie vor den Stufen von St. Mary Le Bow standen. Cranston schüttelte den Kopf. »Eins nach dem anderen, Bruder. Ich habe rasenden Durst. Dem Sieger gebührt die Beute, und ich werde mir den größten Becher Rotwein genehmigen, den das ›Heilige Lammt auftreiben kann.« Athelstan schluckte seinen Protest hinunter. Er mußte zugeben, daß Sir John sowohl eine Belohnung als auch eine Erfrischung verdient hatte, und fragte sich beiläufig, ob der Coroner in seiner Aufregung vergessen hatte, den wunderbaren Weinschlauch zu füllen.
Sir John rauschte in das »Heilige Lamm Gottes« wie der Nordwind und warf den Bettlern, die sich vor der Tür herumtrieben, ein paar Pennys zu. Er spendierte allen Gästen ein Glas und drückte jedem Schankburschen eine Münze in die Hand. Der Wirt und seine rundliche Frau, die sich anscheinend immer aneinander festhielten, wurden einzeln umarmt und bekamen je einen dicken Kuß auf die Wange. Am besten Tisch wurde Platz gemacht, und man servierte eine Schüssel Lammfleisch, behutsam über dem Holzkohlenfeuer geschmort und stark gewürzt, mit Lauch und Zwiebeln in einer Sauce aus Bratensaft. Athelstan merkte, wie hungrig er war, und bestellte sich das gleiche, aber er hielt sich an Wein mit Wasser, während Sir John den besten Rotwein und den größten Becher kommen ließ, den das »Heilige Lamm« besaß.
Sir John schlang sein Essen gierig hinunter und wischte seinen Zinnteller mit Brocken vom allerfeinsten Weißbrot sauber; dann trank er Athelstans halbleeren Becher aus und lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen zurück. »Ich war großartig«, murmelte er. »Dabei war Cremona für einen Italiener gar nicht übel - aber hast du Gaunts Gesicht gesehen? Eiskalt ist der. Nur einmal habe ich gesehen, wie die Maske verrutschte.« Cranston klopfte sich auf den Bauch. »Wenn Blicke töten könnten, dann wäre mir der Kopf von den Schultern geflogen.«
»Was hat eigentlich König Richard gesagt?« fragte Athelstan. »Ihr wißt schon, am Ende, als er Euch etwas ins Ohr flüsterte.«
Cranston setzte sich auf und schaute ernst. Er schaute sich wachsam um, denn Gaunts Spitzel waren überall. »Hast du je die Augen des jungen Königs betrachtet?« flüsterte er. »Sie sind wie Eissplitter. Von so hellem Blau, daß sie beinahe farblos sind. Ich kannte einmal einen Arzt, der sagte, ein solcher Blick sei der eines Mannes, dessen Geist gestört sei.« Athelstan rückte näher heran. »Ihr glaubt, der junge König ist wahnsinnig, Sir John?«
Cranston schüttelte den Kopf. »Nein, nein, aber es ist Wahnsinn in ihm. Wenn er älter wird, könnte Richard einer der größten Könige werden, die das Reich je gekannt hat. Aber gerät er in falsche Hände, heiratet er die falsche Frau oder hört er auf böse Ratgeber, dann könnte er ein Tyrann werden, der keine Opposition duldet.« Cranston wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Aber das liegt in der Zukunft, Bruder. Was er mir heute abend sagte, war, daß auch er vermutet habe, es sei das Bett gewesen, denn er habe selbst schon vorgehabt, seinen Onkel auf diese Weise zu ermorden!« Cranston griff nach seinem Becher. »Bei Gott, Bruder«, flüsterte er, »ich konnte es nicht glauben. Der König sagte das so eiskalt, wie ein anderer eine Bemerkung über das Wetter macht oder über ein Paar Handschuhe, die er sich kaufen will. Ich sage dir eins, Athelstan: Gaunt wird die Macht nicht gern aus der Hand geben, und der junge König haßt ihn deswegen. Ich muß aufpassen, daß ich nicht in das Blutbad hineingezogen werde, zu dem es sicher kommen wird.«
Athelstan füllte Cranstons Becher. »Kommt, Sir John, vergeßt jetzt die Politik des Hofes. Ihr seid um tausend Kronen reicher. Ihr habt Eurem Namen große Ehre gemacht. Lady Maude erwartet Euch, und Euer Becher ist randvoll.«
»Bevor ich in Ausschweifung und Sünde versinke«, antwortete Cranston, »berichte mir doch von der Sache in Blackfriars.«
Athelstan fuhr mit der Fingerspitze über den Rand seines Bechers. »Sir John, dieser Fall ist einzigartig. Ist Euch klar, daß wir keinerlei Beweis haben? Nicht einen Fetzen Material, mit dem wir jemanden anklagen, geschweige denn verhaften könnten. Noch nie haben wir es mit einer derartigen Angelegenheit zu tun gehabt. Ich glaube, alles steht und fällt mit dem Namen Hildegarde. Jetzt kommt, Sir John.« Cranston brauchte keine zweite Aufforderung, und als sie zwei Stunden später zur Tür hinauswankten, grölte er ein hübsches Liedchen über das Strumpfband einer jungen Lady, bei dem Athelstan lieber nicht zuhörte. Auch er war höchst unsicher auf den Beinen. So taumelten sie die Cheapside entlang; Cranston kümmerte sich nicht um Athelstans Mahnungen, still zu sein, und fuhr fort, die Beine der jungen Dame zu schildern. Zwei Büttel kamen herbei, aber als sie Sir John erkannten, machten sie kehrt und ergriffen die Flucht.
Lady Maude erwartete sie. »Oh, Sir John!« klagte sie. »Was ist denn das?«
Sie half ihrem Mann durch die Tür. Sir John glotzte lüstern die Amme an, die mit den schlafenden Kerlchen im Arm am Fuße der Treppe stand, und warf ihr Kußhände zu. Cranston, gestützt von Lady Maude auf der einen und Athelstan auf der anderen Seite, taumelte in die Küche und kletterte auf den Tisch.
»Ihr seht hier«, lallte er, »Sir John Cranston, den königlichen Coroner der Stadt London, den Schrecken der Diebe, die Heimsuchung der Halunken, den Vorkämpfer für verlorene Fälle, den Entwirrer von Geheimnissen.« Lady Maude stand mit gefalteten Händen da und schaute zu ihrem Mann auf, der schwankend auf dem Tisch stand. Dann sah sie Athelstan durchdringend an. »Bruder, hat Sir John das Geheimnis aufgeklärt?«
»Jawohl, Mylady. Er war großartig. Er ist wahrlich der Coroner des Königs. Reicher, wenn auch nicht klüger geworden.« Athelstan hatte plötzlich das Gefühl, daß der Raum ins Schwanken geriet, und er bereute bitterlich, daß er Cranston beim letzten Becher Wein geholfen hatte. Müde setzte er sich hin, der Coroner strahlte wie ein jovialer Bacchus auf seine Frau herab und breitete die Arme aus. »Du hast nicht an mich geglaubt, Weib!« donnerte er. »Ach, Sir John«, wisperte Lady Maude und berührte sanft sein Knie, »ich glaube stets an Euch.« Sie machte ein demütiges Gesicht. »Wie ich Euch nachher beweisen will«, fügte sie leise hinzu.
Sir John kam polternd vom Tisch und deutete auf Athelstan. »Natürlich hat mein Schreiber mir geholfen.« Sir John schwankte gefährlich und schaute die Amme an. »Oh, meine Kerlchen«, murmelte er. »Ihr wärt so stolz auf euren Vater. Reizende Bengel«, fuhr er fort. »Ganz, ganz reizende Bengel. Sie werden Dominikaner, wußtest du das schon?« Dann sank er auf den Tisch und schlief gleich fest ein. Lady Maude machte es ihm bequem; Athelstan segnete die Kerlchen, und die Amme und die schlaftrunkenen übrigen Bediensteten wurden aus der Küche gescheucht. Lady Maude servierte Athelstan einen großen Humpen vom kühlsten Wasser und ein wenig Zwiebelsuppe, und dabei löcherte sie ihn mit Fragen und gab sich erst zufrieden, als er ihr in allen Einzelheiten von Sir Johns großartigem Triumph im Palast berichtet hatte. Mit großen Augen hörte sie zu und ging dann zu dem Tisch, auf dem Sir John, alle viere von sich gestreckt, lag und schnarchte wie ein Donnerwetter. Sie beugte sich über ihn und küßte ihn sanft auf die Stirn. »Bruder Athelstan, er trinkt zuviel«, sagte sie leise. »Aber das liegt an der Bürde des hohen Amtes, an seiner Verantwortung für die Kerlchen und an den schrecklichen Dingen, die er zu sehen bekommt.«
Athelstan war inzwischen nüchterner geworden; er lächelte, stand auf und ging hinüber. »Er ist ein guter Mann, Lady Maude. Er ist einzigartig. Es gibt nur einen Cranston. Gott sei Dank.«
»Sollten wir ihn nicht wegbringen?« fragte sie. Athelstan rieb sich die Augen. »Lady Maude, ihm ist doch ganz behaglich. Vielleicht noch ein Kissen unter den Kopf und eine dicke Decke, denn die Nacht könnte kalt werden.« Er zeigte auf den Stuhl. »Ich schlafe hier, zur Buße für meine Sünden.« Er tätschelte Lady Maudes Schulter. »Geht nur zu Bett«, sagte er. »Sir John wird nichts passieren.«
»Seid Ihr sicher, Bruder?«
»Er schläft den Schlaf des Gerechten, Lady Maude.«
»Ach, Bruder!« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Es tut mir leid - der Kurier ist aus Oxford zurückgekommen und hat ein Paket für Sir John gebracht.«
Sie huschte hinaus und kam mit einem kleinen Lederbeutel zurück, der oben zugebunden und versiegelt war. Athelstan erbrach das Siegel, während Lady Maude es ihrem Mann plaudernd, als wäre er hellwach, für die Nacht bequem machte. »So, so, mein Liebster«, gurrte sie. »Ja, ja, noch den pelzgefütterten Mantel. Und herunter mit den Stiefeln.« Athelstan blickte auf. Lady Maude führte zärtliche Reden, wie sie sie niemals benutzen würde, wenn Sir John wach wäre. So gern er das Buch durchgeblättert hätte, das er jetzt in den Händen hielt, war er doch plötzlich traurig und ziemlich einsam, als er zusah, wie sie ihren schlummernden Gatten wie ein Schmetterling umflatterte. Er mußte an Bruder Pauls Worte denken: »Die Liebe ist seltsam, Athelstan, und sie nimmt viele Formen an. Manchmal läßt sie uns erfrieren, und manchmal verbrennt sie uns. Aber sei niemals ohne sie, denn es gibt einen Schmerz, der schlimmer ist als der, den die Liebe uns zufügt, und das ist die furchtbare Einsamkeit, wenn die Liebe gegangen ist.« Athelstan dachte an Benedicta und wußte im Grunde seines Herzens, daß es die tiefe Freundschaft zwischen Lady Maude und Cranston war, wonach er lechzte: berührt zu werden, umschwärmt und umsorgt.
»Fehlt Euch etwas, Bruder?«
»Nein, nein.«
Er wandte sich ab, schlenderte zum Feuer und betrachtete aufmerksam den verblichenen Einband des Buches. Er warf einen Blick auf den Streifen Pergament, der zwischen den Blättern steckte und Grüße von einem Mit-Dominikaner aus der theologischen Fakultät zu Oxford übermittelte. Dann setzte er sich und blätterte gründlich in dem Buch; es war das gleiche wie das, das er und Cranston in Blackfriars gefunden hatten. Behutsam blätterte er die gelben, knisternden Seiten um, bis er bei denen ankam, die in dem ersten Exemplar gefehlt hatten. Sein Kollege in Oxford hatte Hildegarde gefunden. Ein kalter Schauer durchrieselte Athelstan.
»Bruder?«
»Ja, Lady Maude?«
»Ihr seht aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen.«
»Nein, Lady Maude. Ich habe gerade das Gesicht eines Mörders erblickt.«