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Am liebsten hätte sie sich mit Allie ins nächste Mauseloch verkrochen.
Als die Königin Jacques sandte, um sie zu holen, sagte Adelia, sie sei krank und könne nicht mitkommen.
In ihrem Kopf sprach der Mörder mit ihr.
Wie gehorsam bist du jetzt?
Ganz gehorsam, Mylord. Völlig gehorsam. Ich werde nichts tun, was Euch missfällt, nur tut Allie nichts.
Sie kannte ihn jetzt, wusste nicht, wer er war, aber was er war. Als er Allies Wiege unter der Hand der schlafenden Gyltha wegholte und auf die oberste Treppenstufe stellte, da hatte er sich offenbart.
Ein so simples Mittel, um seine Gegnerin hilflos zu machen. Wenn sie ihn nicht so fürchten würde, könnte sie ihn beinahe bewundern – seine Unverfrorenheit, seine Effektivität, seinen Einfallsreichtum.
Und es hatte ihr verraten, für welche Morde er verantwortlich war.
Es hatte, das war ihr nun klar, zwei Kategorien von Mord gegeben, die nichts miteinander zu tun hatten. Nur die Tatsache, dass sie die jeweiligen Opfer innerhalb kurzer Zeit gefunden hatte, erweckte den Anschein, dass sie zusammenhingen.
Der Tod des Talbot aus Kidlington war am leichtesten zu durchschauen, weil er das älteste Motiv überhaupt hatte: Gier.
Wolvercote hatte guten Grund gehabt, den Jungen zu töten, denn wäre dieser mit Emma geflohen, hätte der Lord seine kostbare Braut verloren.
Oder aber die Erbschaft, die Talbot an seinem einundzwanzigsten Geburtstag zugefallen wäre, hätte seinen Vormund einer Einnahmequelle beraubt. Durchaus möglich, dass Master Warin den Jungen betrogen hatte. Nicht selten musste jemand, der sein Erbe antreten wollte, feststellen, dass alles dahin war.
Oder aber – diese Möglichkeit hatte Emma selbst angesprochen und gleich wieder verworfen – Fitchet hatte zwei Bekannten davon erzählt, dass ein junger Mann mitten in der Nacht mit Geld in der Tasche zum Kloster kommen würde. Immerhin hatte der Torwächter für die beiden als Liebesbote agiert – vermutlich gegen ein Entgelt –, was darauf schließen ließ, dass er bestechlich war.
Oder aber – das war jedoch am unwahrscheinlichsten – die Bloats hatten von den Fluchtplänen ihrer Tochter erfahren und Mörder gedungen, um sie zu vereiteln.
Das waren die Gründe, die für den Mord an Talbot in Frage kamen.
Doch keiner der möglichen Täter auf dieser Liste besaß den Charakter des Mannes, der in das Gästehaus geschlichen war und Allies Wiege auf die Treppe gestellt hatte. Seine Witterung roch anders, er ging nicht mit der zügellosen Brutalität vor, der Talbot zum Opfer gefallen war.
Nein, dieser Mann war … was? Kultiviert? Sachlich? Ich töte nur, wenn ich muss. Ich hab dir ein Warnzeichen gegeben. Ich hoffe, du verhältst dich entsprechend.
Er war der Mörder von Rosamund und Bertha.
Es fiel noch mehr Schnee, der den Pfad hinunter zur Themse endgültig unter sich begrub.
Es blieb Gyltha überlassen, die Mahlzeiten aus der Küche zu besorgen, die Nachttöpfe zur Latrine zu tragen und Scheite vom Holzstoß des Klosters zu holen.
»Bringen wir das arme Kind denn gar nicht mehr raus an die frische Luft?«, wollte sie wissen.
»Nein.«
Ich liege draußen auf der Lauer. Wie gehorsam bist du?
Völlig gehorsam, Mylord. Tut meinem Kind nichts.
»Es kann sie doch keiner wegholen, nich, wenn der alte Araber bei uns is.«
»Nein.«
»Dann bleiben wir hier drin, hinter verriegelten Türen?«
»Ja.«
Aber natürlich war das nicht möglich …
Das erste Unglück geschah nachts. Eine Handglocke gellte, und Menschen schrien durcheinander.
Gyltha lehnte sich aus dem Fenster in die Gasse. »Die brüllen Feuer«, sagte sie. »Und es riecht nach Rauch. O barmherziger Gott, steh uns bei.«
Sie wickelten Allie in ihre Pelze, kleideten sich rasch an und rafften so viel von ihrer Habe zusammen wie möglich, ehe sie das Kind die Treppe hinuntertrugen.
Feuer, diese größte aller Gefahren, hatte die gesamte Abtei aufgeschreckt. Fitchet kam mit zwei Eimern vom Tor her gerannt, Männer drängten aus dem Gästehaus, darunter Mansur und Master Warin.
»Wo brennt es? Wo brennt es?«
Das Läuten und das Geschrei kamen aus Richtung Teich.
»Scheune?«
»Hört sich eher nach dem Gefängnis an.«
»O Gott«, sagte Adelia, »Dakers.« Sie drückte Allie in Gylthas Arme und rannte los.
Zwischen dem Teich und dem Gefängnis schwang Peg die Glocke, als prügelte sie damit auf eine aufsässige Kuh ein. Sie hatte die Flammen auf dem Weg zum Melken entdeckt. »Da oben.« Sie zeigte mit der Glocke auf den schmalen Schlitz, der Luft in das kleine bienenkorbähnliche Gebäude ließ, das der Abtei als Gefängnis diente.
Schon bildeten Helfer eine Reihe und feuerten den Schmied an, der mit einer Eisenstange ein Loch in den zugefrorenen Teich schlug, damit sie mit ihren Eimern Löschwasser schöpfen konnten.
Mansur trat neben Adelia. »Ich rieche keine Feuer.«
»Ich auch nicht.« Es lag nur ein ganz feiner Rauchgeruch in der Luft, nicht mehr, und in dem Mauerschlitz waren keine Flammen zu sehen.
»Es hat aber gebrannt, so wahr ich hier steh«, sagte Peg.
Die Tür zum Gefängnis ging auf, und ein übellauniger Wachposten kam heraus. »Macht, dass ihr nach Hause kommt«, schrie er. »Kein Grund zur Aufregung. Das Stroh hat Feuer gefangen, mehr nich. Ich hab’s ausgetreten.« Es war Cross. Er schloss die Tür hinter sich und drohte der Menge mit seinem Spieß. »Los jetzt, haut ab.«
Erleichtert und murrend, begann die Menge, sich zu zerstreuen.
Adelia rührte sich nicht vom Fleck.
»Was ist denn?«, fragte Mansur.
»Ich weiß nicht.«
Cross richtete den Spieß auf sie, als sie aus der Dunkelheit auf ihn zuging. »Verschwindet, hier gibt’s nichts zu sehen. Geht nach Hause … ach so, Ihr seid das.«
»Ist sie wohlauf?«
»Die alte Unke? Der geht’s gut. Hat ein bisschen rumkrakreelt, aber jetzt is sie putzmunter. Da drin isses besser als hier draußen. Schön warm. Kriegt regelmäßig Futter. Aber was is mit den armen Schweinen, die sie bewachen müssen, das würd ich gern wissen.«
»Wie ist das Feuer ausgebrochen?«
Cross mied ihren Blick. »Schätze, sie hat das Kohlenbecken umgetreten.«
»Ich will sie sehen.«
»Kommt nich in Frage. Befehl von Hauptmann Schwyz: Kein Schwein spricht mit ihr. Kein Schwein kommt in ihre Nähe, außer wenn sie Essen kriegt. Und immer schön die Scheißtür abgeschlossen halten.«
»Und von wem hat Schwyz seinen Befehl? Vom Abt?«
Cross zuckte die Achseln.
»Ich will sie sehen«, wiederholte Adelia.
Mansur hob den Arm und zog den Spieß so mühelos aus der Hand des Söldners, als rupfe er Unkraut. »Die Lady will hineinsehen.«
Cross pustete die Backen auf, schnallte einen riesigen Schlüssel von einem Gürtel ab und schob ihn ins Schloss. »Aber nur einen ganz kurzen Blick. Der Hauptmann muss jeden Moment hier sein, der hat den Krawall bestimmt gehört. Verdammte Bauern, verdammter Krawall.«
Es war wirklich nur ein kurzer Blick. Mansur musste Adelia hochheben, damit sie über die Schulter des Söldners spähen konnte, weil er sich vor die Tür stellte, um zu verhindern, dass sie hineingingen. Das wenige Licht im Innern kam von den brennenden Scheiten im Kohlenbecken. Bis auf eine verbrannte Stelle an einer Seite lag ein hoher Streifen Stroh entlang der gerundeten Steinmauern. Etwas bewegte sich darin.
Adelia musste an Bertha denken. Einen kurzen Moment lang spiegelte ein Augenpaar im Stroh den Lichtschein aus dem Kohlenbecken wider und war gleich wieder verschwunden.
Stiefel knirschten über Eis, als ihr Besitzer auf sie zukam. Cross riss Mansur den Spieß aus der Hand. »Der Hauptmann kommt. Verschwindet um Gottes willen.«
Sie machten, dass sie wegkamen.
»Und?«, fragte Mansur im Gehen.
»Jemand hat versucht, sie zu verbrennen«, sagte Adelia. »Der Luftschlitz ist an der hinteren Wand, gegenüber der Tür. Ich glaube, irgendwer hat einen brennenden Lappen hindurchgeworfen. Wenn Cross die Tür bewacht hat, kann er nicht gesehen haben, wer es war. Aber er weiß, dass es so gewesen sein muss.«
»Der Flame sagt, das Kohlenbecken ist umgekippt.«
»Nein. Das ist am Boden festgeschraubt. Nichts deutete darauf hin, dass ein Scheit herausgefallen ist. Irgendwer hat versucht, sie zu töten, und es war nicht Cross.«
»Sie ist eine traurige, verrückte Frau, vielleicht hat sie versucht, sich selbst zu verbrennen.«
»Nein.« Es war eine natürliche Abfolge. Rosamund. Bertha. Dakers. Alle drei hatten etwas gewusst, was sie nicht wissen sollten – das hieß, Dakers wusste es noch immer.
Wenn Cross das Feuer nicht so reaktionsschnell gelöscht hätte, wäre auch die Letzte von ihnen zum Schweigen gebracht worden.
Früh am nächsten Morgen brachen bewaffnete Söldner in die Kapelle ein, wo die Nonnen beim Gebet waren, und verschleppten Emma Bloat.
Adelia, die länger geschlafen hatte, erfuhr davon, als Gyltha aus der Küche zurückgeeilt kam, wo sie ihnen Frühstück geholt hatte. »Das arme Mädchen. Das arme Mädchen. Eine schreckliche Geschichte. Die Priorin wollte sie aufhalten, und die haben sie niedergeschlagen. In ihrer eigenen Kapelle. Haben sie niedergeschlagen.«
Adelia war schon dabei, sich anzuziehen. »Wohin haben sie Emma gebracht?«
»Ins Dorf. Es war Wolvercote mit seinen verdammten Flamen. Die haben sie in sein Herrenhaus geschleppt. Geschrien hat das arme Mädchen, haben sie gesagt, das arme, arme Mädchen.«
»Können sie Emma denn nicht zurückholen?«
»Die Nonnen sind hinterher, aber was sollen sie machen?«
Als Adelia am Tor ankam, kehrte der Rettungstrupp der Nonnen gerade mit leeren Händen über die Brücke zurück.
»Kann man denn gar nichts tun?«, fragte Adelia, als sie an ihr vorbeitrotteten.
Schwester Havis war weiß im Gesicht und hatte eine Platzwunde unter dem Auge. »Man hat uns mit vorgehaltenen Spießen verjagt. Einer seiner Männer hat uns verlacht. Er sagte, es wäre rechtsgültig, weil sie einen Priester dabei hatten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, was das für ein Priester sein soll.«
Adelia eilte zur Königin.
Eleanor war die Neuigkeit gerade erst übermittelt worden, und sie tobte vor ihren Höflingen. »Herrsche ich über Wilde? Das Mädchen stand unter meinem Schutz. Ich hatte Wolvercote gesagt, er soll ihr Zeit lassen, oder etwa nicht?«
»Das habt Ihr, Lady.«
»Sie muss zurückgeholt werden. Sagt Schwyz – wo ist Schwyz? –, sagt ihm, er soll seine Männer zusammenrufen …« Sie blickte sich um. Niemand hatte sich bewegt. »Was ist?«
»Lady, ich fürchte … äh … es ist nicht mehr zu ändern«, meldete sich der Abt von Eynsham zu Wort. »Offenbar hat Wolvercote in seinem Dorf einen Wanderpriester parat gehabt. Die Worte wurden gesprochen.«
»Aber bestimmt nicht von dem Mädchen, nicht unter diesen Umständen. Waren ihre Eltern anwesend?«
»Anscheinend nicht.«
»Dann ist es eine Entführung.« In Eleanors Stimme schrillte die Verzweiflung einer Herrscherin, die die Kontrolle über die Beherrschten verliert. »Sollen meine Befehle derart missachtet werden? Leben wir denn in den Höhlen wilder Bestien?«
Abgesehen von Adelia, war die Königin die Einzige im Raum, die zornig reagierte. Alle anderen, vor allem die Männer, waren verstört und verstimmt, aber auch ein wenig, ein ganz klein wenig amüsiert. Eine Frau, sofern es nicht die eigene war, die entführt und ins Bett geschleppt wurde, war Stoff für eine derbe Komödie.
Ein kaum wahrnehmbares Zwinkern umspielte die Augen des Abtes, als er sagte: »Ich fürchte, unser Lord Wolvercote hat sich gegenüber unserer Sabinerin die römische Haltung zu eigen gemacht.«
Es konnte nichts mehr getan werden. Ein Priester hatte die Worte gesprochen, und Emma Bloat war verheiratet, ob ihnen das nun gefiel oder nicht. Sie war entjungfert worden und hatte es – so ging es durch jeden Männerkopf – vermutlich genossen.
Hilflos verließ Adelia den Raum, weil sie die Gesellschaft darin nicht mehr ertrug.
Im Kreuzgang versperrte ihr einer von Eleanors jungen Männern den Weg, der ganz gedankenverloren auf und ab ging, auf seiner Gambe klimperte und ein neues Lied ausprobierte.
Adelia versetzte ihm einen solchen Stoß, dass er ins Stolpern geriet. Die Tür zur Nonnenkapelle am Ende des Kreuzgangs lockte sie, und sie stürmte hinein. Erleichtert fand sie den Raum menschenleer vor. Sie wusste bloß, dass sie verzweifelt Trost suchte, der ihr – und das wusste sie ebenfalls – nicht gespendet werden konnte.
Sie fiel im Mittelschiff auf die Knie.
Barmherzige Mutter Gottes, behüte und tröste sie.
Die eisige, weihrauchgeschwängerte Luft hielt nur eine Antwort bereit: Sie ist Vieh, genau wie du Vieh bist. Finde dich damit ab.
Adelia trommelte mit den Fäusten auf die Steine und ließ ihrer Anklage freien Lauf: »Rosamund tot. Bertha tot. Emma vergewaltigt. Warum erlaubst du das?«
Sie erhielt eine Antwort: »Irgendwann wird es eine Arznei für Eure Beschwerden geben, mein Kind. Gerade Ihr als Meisterin der Heilkunst solltet das wissen.«
Die Stimme war real, trocken und scheinbar ohne menschlichen Antrieb, als käme sie auf ihren eigenen Schwingen aus dem Mund gehuscht, um dann von dem kleinen Chor ins Mittelschiff zu flattern.
Mutter Edyve war so klein, dass sie kaum das Gestühl überragte, in dem sie saß, die Hände über ihrem Gehstock gefaltet, das Kinn auf die Hände gelegt.
Adelia stand auf. Sie sagte: »Ich störe Euch, Mutter. Ich werde gehen.«
Die Stimme erreichte ihr Ohr, als sie sich zur Tür wandte. »Emma war neun Jahre alt, als sie nach Godstow kam und uns allen Freude brachte.«
Adelia drehte sich um. »Jetzt ist es mit der Freude vorbei, für sie und für Euch«, sagte sie.
Unvermittelt fragte Mutter Edyve: »Wie hat Königin Eleanor die Nachricht aufgenommen?«
»Mit Wut.« Weil sie selbst ihre eigene Wut kaum bändigen konnte, sagte Adelia: »Ich vermute, sie ist erbost, weil Wolvercote ihren Befehl missachtet hat.«
»Ja.« Mutter Edyve rieb mit dem Kinn über die gefalteten Hände. »Ihr seid ungerecht, denke ich.«
»Eleanor gegenüber? Was kann sie denn tun außer zetern? Was kann irgendwer tun? Euer fröhliches Kind ist für den Rest seines Lebens zur Sklavin eines Schweins gemacht worden, und sogar der Königin von England sind die Hände gebunden.«
»Ich habe mir die Lieder angehört, die sie ihr singen, der Königin«, sagte Mutter Edyve. »Die Gambe und die Stimmen der jungen Männer – ich habe hier gesessen und darüber nachgedacht.«
Adelia hob die Augenbrauen.
»Wovon singen sie da?«, fragte Mutter Edyve. »Cortez amors?«
»Höfische Liebe. Ein provenzalischer Ausdruck. Provenzalisches Gesäusel und sentimentaler Blödsinn.«
»Höfische Liebe, ja. Eine Serenade für die unerreichbare Dame. Höchst interessant – irdische Liebe, die adelt. Man könnte fast sagen, das, wonach sich diese jungen Männer sehnen, ist die gedankliche Essenz der Jungfrau Maria, nicht wahr?«
Törichte alte Seele, dachte Adelia, bebend vor Zorn. »Wonach sich diese jungen Männer sehnen, Äbtissin, ist nicht Heiligkeit. Das Lied endet mit einer hochtrabenden Beschreibung einer verbotenen Arkade. Das ist ihr Bild für die Vagina.«
»Geschlechtliche Liebe, natürlich«, sagte die Äbtissin zu Adelias Verblüffung, »aber mit einer sanfteren Sehnsucht, als sie ihr meiner Erfahrung nach je zugeschrieben wurde. O ja, im Grunde besingen sie etwas Höheres, als ihnen selbst bewusst ist, sie besingen Gott, die Mutter.«
»Gott, die Mutter?«
»Gott ist unser Vater und unsere Mutter. Wie sollte es auch anders sein? Es wäre doch eine sehr voreingenommene Schöpfung, zwei Geschlechter zu erschaffen und doch nur eines zu begünstigen, auch wenn Kaplan Egbert mich tadelt, wenn ich das sage.«
Kein Wunder, dass Kaplan Egbert sie tadelte, es war ein Wunder, dass er sie nicht exkommunizierte. Ein zugleich männlicher und weiblicher Gott?
Adelia, die sich doch für eine moderne Denkerin hielt, war mit einer Vorstellung des Allmächtigen belastet, der in jedem Glauben, den sie kannte, eine schwache und sündige Frau ausschließlich zum Vergnügen des Mannes erschaffen hatte, als menschlichen Ofen, in dem sein Samen heranreifen konnte. Ein frommer Jude dankte Gott jeden Tag dafür, dass er nicht als Frau geboren worden war. Und diese kleine Nonne hier rupfte den Bart von Gottes Kinn und versah ihn nicht nur mit Brüsten, sondern auch mit einem weiblichen Geist.
Das war ein zutiefst rebellisches Denken. Aber Mutter Edyve war ja auch eine Rebellin, wie Adelia erkannte, als sie sie jetzt mit neuen Augen betrachtete, sonst wäre sie nicht bereit gewesen, den Wunsch der Kirche zu unterlaufen und den Leichnam einer Hure des Königs auf ihrem Friedhof zu bestatten. Und nur ein unabhängiger Geist konnte sich zugleich wohlgefällig über eine Königin äußern, die der Abtei nichts als Unruhe beschert hatte.
»Ja«, fuhr die vogelähnliche Stimme fort, »wir beklagen die Voreingenommenheit der Welt ebenso, wie das allmächtige Weibliche sie wohl beklagt. Doch Gottes Zeit ist nicht unsere Zeit, wie man uns sagt; ein Jahrhundert ist nur ein Augenblick für ein Wesen, das Alpha und Omega ist.«
»J-ja.« Stirnrunzelnd trat Adelia näher, setzte sich schräg auf die Stufen zum Altarraum, schlang die Arme um die Knie und starrte die reglose Gestalt im Chorgestühl an.
»Ich glaube, wir erleben in Eleanor einen solchen Augenblick«, sagte die Gestalt.
»Hä?«
»Ja, soweit ich weiß, haben wir zum ersten Mal eine Königin, die ihre Stimme für die Würde der Frauen erhebt.«
»Hä?«
»Hört zu«, sagte die Äbtissin.
Der Troubadour im Kreuzgang war mit der Komposition seines Liedes fertig. Nun sang er es, und der Klang seines wunderschönen Tenors strömte in die graue Kapelle wie Honig. »Las! Einssi ay de ma mort exemplaire, mais la doleur qu’il me convendra traire, douce seroit, se un tel espoir avoie …«
Wenn auch der Sänger vor Liebespein starb, so hatte er seinen Schmerz doch immerhin in eine Melodie gefasst, die so schön war wie der Frühling. Unwillkürlich musste Adelia lächeln. Mit dieser Mischung würde er die Dame seines Herzens schon noch erobern.
»… Dame, et se ja mes cuers reins entreprent, dont mes corps ait honneur n’avancement, de vous venracom lointeins que vos soie …«
Falls also sein Herz je irgendetwas tat, das ihm zur Ehre gereichte, dann ginge das nur auf die Geliebte zurück, und sei sie auch noch so fern.
Diese Musik, die Eleanor stets überallhin begleitete, war für Adelias taube Ohren bloß eine weitere Geziertheit gewesen, das unvermeidliche Hintergrundgeräusch für eine Frau mit all jenen Schwächen, die man der weiblichen Natur zuschrieb; eine eitle, eifersüchtige und oberflächliche Frau, die in anmaßender Selbstüberschätzung beschlossen hatte, Krieg gegen einen Mann zu führen, der größer war als sie.
Doch die Äbtissin lauschte dieser Musik, als wäre es eine Lesung der Heiligen Schrift.
Und während Adelia mit ihr lauschte, geriet sie ins Grübeln. Sie hatte die kunstvolle, seufzende Poesie der Höflinge ebenso abgetan wie ihr Interesse an Kleidung und ihre parfümierten Locken, weil sie sie nach den Maßstäben einer rauhen Männlichkeit beurteilt hatte, die von einer rauhen männlichen Welt aufgestellt worden waren. War es denn wirklich dekadent, Zartes und Schönes zu bewundern? Rowley, so dachte sie mit einer schmerzlich zärtlichen Aufwallung, hätte das so gesehen – er hatte alles Weibliche an Männern verachtet und die Vorliebe seines Boten für wohlriechende Essenzen in etwa so schlimm eingestuft wie die übelsten Exzesse des Kaisers Caligula. Doch Eleanors Spielart dessen konnte ja gar nicht dekadent sein, weil sie neu war. Adelia setzte sich auf. Bei Gott, sie war neu. Die Äbtissin hatte recht. Ob nun bewusst oder nicht, die Königin trug in die kulturlosen bäuerlichen Regionen ihres Reiches ein Bild von Frauen als Menschen, die Respekt verdienten, und nicht als Waren, sondern wegen ihres persönlichen Wertes geschätzt und geachtet werden sollten. Dieses Bild forderte, dass Männer sich Frauen verdienen mussten.
Eleanor hatte Wolvercote ihren Höflingen gegenüber für einen Moment nicht als mächtigen Mann hingestellt, der sich das geholt hatte, was ihm zustand, sondern als eine brutale Bestie, die ihre Beute zum Fraß in den Wald schleppte.
»Ich vermute, Ihr habt recht«, sagte Adelia fast widerwillig.
»… vous que j’aim tres loyaument. Ne sans amours, emprendre nel saroie.«
»Aber es ist Heuchelei, es ist künstlich«, gab Adelia zu bedenken. »Liebe, Ehre, Achtung, wann werden sie denn je den einfachen Frauen erwiesen werden? Ich glaube kaum, dass der Junge das, was er da singt, auch tatsächlich praktiziert. Es ist … es ist eine hübsche Heuchelei.«
»Oh, ich halte viel von Heuchelei«, sagte die kleine Nonne. »Sie legt ein Lippenbekenntnis zu einem Ideal ab, das demzufolge auch existieren muss. Sie räumt ein, dass es ein Gutes gibt. In gewisser Weise ist sie ein Merkmal der Zivilisation. Bei den Tieren auf den Feldern findet man keine Heuchelei. Und auch nicht bei Lord Wolvercote.«
»Was nützt das Gute, wenn sich niemand dran hält?«
»Genau die Frage habe ich mir auch gestellt«, sagte Mutter Edyve ruhig. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die frühen Christen sich das vielleicht auch gefragt haben und dass Eleanor auf ihre eigene Weise vielleicht einen Anfang gemacht hat, indem sie den ersten Stein für ein Fundament gelegt hat, auf dem die Töchter unserer Töchter irgendwann mit Gottes Hilfe beginnen können, ein neues und besseres Jerusalem zu erbauen.«
»Zu spät für Emma«, sagte Adelia.
»Ja.«
Vielleicht, dachte Adelia trübselig, konnte nur eine sehr alte Frau voller Hoffnung auf einen einzigen Grundstein in einer weiten Ödnis blicken.
Sie blieb noch eine Weile sitzen und lauschte. Der Sänger hatte die Melodie gewechselt und das Thema: »Ich würde Euch des Abends nackt in den Armen halten, auf dass wir im Sinnenrausch zusammenliegen, mein Kopf an Eurer Brust …«
»Dennoch, auch das ist eine Form der Liebe«, sagte Mutter Edyve, »und für unseren großen Elterngott, der unsere Körper so geschaffen hat, wie sie sind, ist vielleicht alle Liebe eins.«
Adelia lächelte ihr zu und dachte daran, wie es mit Rowley im Bett war. »Man hat mich gelehrt, dass es so ist.«
»Mich auch, was für die Männer spricht, die wir geliebt haben.« Sie stieß einen nachdenklichen Seufzer aus. »Aber erzählt das nicht Kaplan Egbert.«
Die Äbtissin erhob sich mühsam und erprobte ihre Beine.
Ermutigt stand Adelia auf und half ihr, ihren Umhang zu ordnen. »Mutter«, sagte sie impulsiv, »ich fürchte um die Sicherheit von Dakers, der Haushälterin.«
Eine dick geäderte Hand winkte sie weg. Mutter Edyve wollte jetzt gehen und war ungeduldig. »Ihr seid eine emsige kleine Seele, Kind, und ich danke Euch dafür, aber Dakers’ Sicherheit könnt Ihr getrost mir überlassen.«
Als sie nach draußen hinkte, sagte sie noch etwas, doch die Worte waren schwer zu verstehen. Es klang wie: »Schließlich habe ich den Schlüssel zum Gefängnis.«
Am Ende dieses Tages hatte Adelia sich verändert. Vielleicht war es der Zorn über die Vergewaltigung von Emma Bloat. Vielleicht war es der Zorn über den Anschlag auf Dakers’ Leben. Vielleicht war es der Mut, den Mutter Edyve in ihr geweckt hatte.
Was auch immer, sie wusste, dass sie sich nicht weiter im Gästehaus verkriechen durfte, während Mörder und Entführer schalten und walten konnten, wie es ihnen beliebte.
Im Grunde hatte der Mörder von Rosamund und Bertha einen Pakt mit ihr geschlossen: Lass mich in Ruhe, und deinem Kind wird nichts widerfahren.
Es war ein schändlicher Pakt, aber sie hätte sich trotzdem daran gehalten, weil sie vorausgesetzt hatte, dass er nicht wieder töten würde.
Aber er hatte einen brennenden Lappen durch einen Luftschlitz geworfen, als wäre die Frau in dem Raum bloß Müll.
Das kann ich nicht zulassen, sagte sie ihm.
Sie hatte Angst, sogar sehr große Angst. Ihre Kleine würde so gut beschützt werden müssen wie noch kein Kind vor ihr, aber sie und ihre Tochter konnten nicht auf Kosten des Todes anderer Menschen weiterleben.
»Wo willst du hin?«, rief Gyltha ihr nach.
»Ich gehe mich umhören.«
Sie fand Jacques im Kloster, wo ihm einer der Troubadoure das Gambespiel beibrachte. Die Höflinge hatten sich überall breitgemacht, und offenbar waren die Nonnen von den Geschehnissen zu eingeschüchtert, um ihnen Einhalt zu gebieten.
Sie zerrte den widerwilligen Boten ein Stück weg, bugsierte ihn auf einen großen Stein, der als Steighilfe beim Aufsitzen diente, und nahm neben ihm Platz.
»Ja, Mistress?«
»Ihr sollt mir helfen herauszufinden, wer den Mord an Talbot aus Kidlington angeordnet hat.«
Er war verblüfft. »Ich weiß nicht, ob ich das kann, Mistress.«
Ohne auf seinen Einwand einzugehen, zählte sie diejenigen auf, die sie verdächtigte: »Wolvercote, Master Warin, der Torwächter und die Bloats.« Dann ging sie ins Detail.
Er rieb sich das Kinn. Er war jetzt glatt rasiert wie alle jungen Männer in Eleanors Gefolge.
»Ich weiß nicht, ob es hilft, aber eins kann ich Euch sagen«, stellte er schließlich fest. »Advokat Warin hat ein großes Getue gemacht, als er Lord Wolvercote in der Kirche vorgestellt wurde. ›Ist mir eine große Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen, Mylord. Wir sind uns ja noch nie begegnet, aber ich hatte schon lange den Wunsch, Euch … und so weiter und so weiter.‹ Deutlicher ging’s nicht – ich war da und hab ihn gehört. Er hat bestimmt drei- oder viermal fallenlassen, dass sie sich vorher noch nie begegnet waren.«
»Wie hat Wolvercote Master Warin begrüßt?«
»Wie er nun mal alle Menschen behandelt – als wäre er aus irgendeinem Hintern gekrochen.« Er verzog das Gesicht, fürchtete, sie beleidigt zu haben. »Verzeihung, Mistress.«
»Aber Ihr glaubt, Warin hat nur so getan, als wären sie sich noch nie begegnet?«
Jacques überlegte kurz. »Ja, das glaube ich.«
Adelia fröstelte. Wächter war unter ihre Röcke gekrochen und drückte sich wärmesuchend an ihre Knie. Gegenüber am Haus der Äbtissin glotzte ein Wasserspeier sie an, am Kinn ein Eiszapfenbart.
Ich beobachte dich.
Sie sagte: »Emma hatte eine gute Meinung von Master Warin, was bedeutet, dass Talbot das auch hatte, was wiederum bedeutet, dass der Junge ihm vertraute …«
»So sehr, dass er ihn in seine Fluchtpläne eingeweiht hat?« Beim Boten keimte Interesse auf.
»Ich weiß, dass er das getan hat«, sagte sie. »Emma hat es mir erzählt. Der Junge hat Warin gesagt, dass er an seinem Geburtstag mit Emma fliehen wollte, also an dem Tag, an dem er sein Erbe antreten konnte …«
»Das Master Warin jedoch ohne Talbots Wissen inzwischen durchgebracht hatte …« Er fand Gefallen an der Sache.
Adelia nickte. »Das Master Warin vielleicht durchgebracht hat, was, falls dem so ist, die Beseitigung des jungen Vetters erforderlich machte …«
»… und dann dämmert es Master Warin, dass er in Lord Wolvercote ja einen Verbündeten hat. Dem alten Wolf würden eine Braut und ein Vermögen durch die Lappen gehen, wenn der Fluchtplan gelingt.«
»Richtig. Also geht er zu Lord Wolvercote und schlägt ihm vor, dass Talbot sterben soll.«
Sie dachten eine Weile darüber nach.
»Wieso war es so dringend, dass Talbots Leiche gleich identifiziert wird?«, grübelte Adelia.
»Das liegt doch auf der Hand, Mistress. Advokat Warin könnte in Geldnöten stecken – er sieht aus wie ein Mann, der es sich gern gut gehen lässt. Es hätte zu lange gedauert, einem Untersuchungsrichter zu beweisen, dass das Vermögen der anonymen Leiche ihm gehört, falls er Talbots Erbe ist. So etwas dauert seine Zeit. Gerichte arbeiten langsam. Seine Gläubiger hätten ihn drangekriegt, ehe er über das Erbe hätte verfügen können.«
»Und Wolvercote war daran gelegen, dass Emma vom Tod ihres Geliebten erfährt. Ja, das passt alles zusammen.« Sie sagte: »Wolvercote hat die Mörder gedungen. Warin kannte sie wahrscheinlich nicht.«
»Und dann hat Wolvercote sie nach vollbrachter Tat beseitigt. So könnte es gewesen sein, Mistress.«
Durch das Gespräch war der Fall für Adelia sonnenklar geworden, von bloßer Theorie zu Wirklichkeit gereift. Zwei Männer hatten sich verschworen, um ein junges Leben auszulöschen. In Advokatenhäusern wurde das Böse als geschäftliche Transaktion erörtert, in Herrenhäusern bei einer Flasche Wein gründlich durchdacht; Männer wurden darin unterwiesen. Normalität, Güte waren Annehmlichkeiten, die gegen Geldgier aufgegeben wurden. Unschuld stand dagegen auf verlorenem Posten. Sie selbst stand dagegen auf verlorenem Posten. Das Böse lachte von den Dächern auf sie herab.
»Aber wie wollt Ihr das beweisen?«, fragte Jacques.
»Verschwörer misstrauen einander«, sagte sie. »Ich denke, es ist machbar, aber dafür brauche ich Eure Hilfe.«
Sie ließ ihn gehen und eilte zurück zum Gästehaus, weil sie ihre Angst um Allie einfach nicht abschütteln konnte.
»Munter wie ein Fisch im Wasser«, sagte Gyltha. »Schau sie dir an.«
Aber Adelia wusste, dass auch Gyltha Angst hatte, weil sie Mansur gebeten hatte, von nun an Tag und Nacht bei ihnen zu bleiben.
»Wem das nich passt, der soll mich mal … na ja, du weißt schon, was«, sagte sie. »Also geh los und tu, was du tun musst. Mansur is auf der Hut.«
Aber das war der Mörder auch …
Jetzt musste sie zu Pater Paton.
Diesmal war sie vorsichtiger, wartete, bis es dunkel geworden war, achtete darauf, ob sie verfolgt wurde, huschte von Schatten zu Schatten, bis sie im Schutz des schmalen Durchgangs vor der Treppe war, die hinauf zum Wärmeraum führte.
Schwester Lancelyne war bei der Vesper, daher traf sie den kleinen Priester allein an, wie er bei Kerzenlicht über dem Kopialbuch brütete. Er war nicht gerade erfreut über die Störung.
Adelia erzählte ihm alles haarklein, angefangen mit dem Auffinden von Talbots Leiche auf der Brücke – der kleine Priester war nicht dabei gewesen, weil er sich auf dem Fuhrwagen warm gehalten hatte –, dann die Geschehnisse in Wormhold, die Rückkehr nach Godstow und Berthas Tod, ihr Verdacht, wer was getan hatte, die drohende Gefahr für Allie, die drohende Gefahr für Dakers.
Er wollte nichts davon hören, rutschte unruhig hin und her und schielte ständig sehnsüchtig auf die Dokumente vor sich; diese ganze Geschichte roch nach Todsünden, und Pater Paton zog die Menschlichkeit in ihrer abstrakteren Form vor. »Seid Ihr sicher?«, fragte er immer wieder. »Gewiss nicht. Wie könnt Ihr es wagen, derlei Dinge zu vermuten?«
Adelia blieb hartnäckig, durchbohrte ihn mit Logik, als spieße sie eine Nadel durch einen Schmetterling. Sie mochte ihn nicht besonders, und er mochte sie überhaupt nicht, aber er war unbeteiligt an dem Kampf, den sie führte, und sein Verstand war wie eines seiner Kassenbücher. Adelia brauchte ihn als Register.
»Über das alles müsst Ihr absolutes Stillschweigen bewahren«, schärfte sie ihm ein. »Sprecht mit niemandem darüber, außer dem König.« Dieser blutarme kleine Mann musste ihr Wissen aufbewahren, damit er es im Falle ihres Todes an Henry Plantagenet weitergeben konnte. »Wenn der König kommt, wird er wissen, was zu tun ist.«
»Aber ich weiß es nicht!«
»Doch, das tut Ihr.« Und dann sagte sie ihm, wonach er suchen musste.
»Das ist unerhört.« Er war entrüstet. »Und überhaupt, ich bezweifle, dass es, selbst wenn es noch vorhanden ist, Euren Fall beweist.«
Adelia bezweifelte das auch, aber es war ihre einzige Waffe. Sie versuchte, eine Zuversicht an den Tag zu legen, die sie gar nicht empfand. »Der König wird kommen«, sagte sie, »und er wird am Ende den Sieg davontragen.« Das war ihre einzige Gewissheit. Eleanor mochte ja eine Ausnahmepersönlichkeit sein, aber sie hatte sich mit einem Mann angelegt, der sein Königreich wie ein Koloss überragte. Sie konnte nicht gewinnen.
In diesem Punkt war Pater Paton mit ihr einer Meinung. »Ja, ja«, sagte er, »eine Königin ist bloß eine Frau und unfähig, für irgendetwas erfolgreich zu kämpfen, nicht mal für sich selbst. Das Einzige, was sie zu erwarten hat, ist Gottes Strafe für ihre Rebellion gegen den rechtmäßigen Herrscher.«
Dann fuhr er Adelia an. »Und auch Ihr, Mistress, seid bloß eine Frau, sündig, unverschämt, und ob Ihr nun recht habt oder nicht, Ihr solltet diejenigen, die über Euch stehen, nicht in Frage stellen.«
Sie zügelte ihren Zorn und verlegte sich stattdessen darauf, den Priester zu ködern. »Wenn der König kommt«, sagte sie, »wird er wissen wollen, wer Rosamund ermordet hat. Dem Mann, der ihm sagen kann, wer es war, wird gewiss große Anerkennung zuteil werden.«
Sie sah, wie der Mund des Priesters sich spitzte, während er im Geiste eine Soll-und-Haben-Rechnung anstellte, bei der er eine mögliche Ernennung zum Abt oder gar Bischof gegen die Risiken und Gefahren dessen abwog, was er für Adelia tun sollte.
»Ich denke, ich würde Gott dienen, der die reine Wahrheit ist«, sagte er bedächtig.
»Das werdet Ihr«, sagte sie und ging, damit er zur Tat schreiten konnte.
Und dann war Weihnachten.
Zur Messe drängten sich so viele in die Kirche, dass sie richtig warm wurde und der menschliche Körpergeruch den frischen, bitteren Duft der Stechpalmen und Efeugirlanden fast überdeckt hätte.
Adelia geriet in ihrem Bibermantel ins Schwitzen. Sie behielt ihn an, weil sie darunter den Bliaut trug, den Eleanors Näherinnen noch gerade rechtzeitig fertiggestellt hatten, und mit all dem anderen Zierrat, den die Königin ihr geschenkt hatte, in dem Gewand so hübsch aussah, dass sie fürchtete, Aufmerksamkeit zu erregen.
»Nun zeig dich doch ruhig«, hatte Gyltha genörgelt, »du siehst gar nich mal schlecht aus.« Was aus ihrem Munde ein echtes Lob war.
Doch der Instinkt, den Blick des Mörders zu meiden, war noch immer stark. Vielleicht würde sie den Mantel beim Fest ablegen, vielleicht aber auch nicht.
Das Chorgestühl, das erneut den Nonnen vorbehalten war, bildete eine schwarz-weiße Umrahmung für den mit Stickereien bedeckten Altar, auf dem zahllose Kerzen erstrahlten, sowie die Roben des Abtes und der zwei Priester, die sich wie leuchtende Schachfiguren durch die Litanei bewegten.
Die Magie war unfehlbar.
Die Schlange, die zur heiligen Kommunion anstand, umfasste mörderische Männer, zerstrittene Söldnertruppen, jede Spielart menschlicher Schwächen und Kümmernisse, doch als sie sich still vorwärtsbewegte, wurden alle von der gleichen Ehrfurcht erfasst. Vorne angekommen, kniete der Müller neben einem der Männer, die ihn malträtiert hatten, empfing Adelia die Hostie vom Abt von Eynsham, dessen Hände sich einen kurzen Moment segnend auf den Kopf der kleinen Allie senkten. Der Kelch wurde von einem Wolvercote-Söldner zu einem von Schwyz’ Männern weitergereicht, ehe jeder wieder zu seinem Platz zurücktrottete, kauend und weihevoll.
Eine wachsende Atemlosigkeit griff um sich, als Maria wenige Schritte entfernt in ihrem Stall in den Wehen lag. Die eiligen Schritte der Hirten kamen näher und näher. Engel sangen über dem sternenbeschienenen, schneebedeckten Kirchendach.
Als der Abt die Arme hob und mit tiefer kehliger Stimme verkündete: »Ein Kind ist uns geboren«, wurde seine Aufforderung »Gehet hin in Frieden« von lautem Jubel übertönt, während einige Frauen der unsichtbaren und doch anwesenden Maria Ratschläge zuriefen, wie sie zu stillen habe, und sie beschworen, immer gut aufzupassen, »dass der Kleine es auch schön warm hat«.
Bethlehem war hier. Es war jetzt.
Als Adelia in die große Scheune trat, drängte sich Jacques durch die Menge zu ihr und berührte sie an der Schulter. »Die Königin grüßt Euch, Mistress, und sie wird enttäuscht sein, wenn Ihr nicht die Geschenke tragt, die sie Euch gemacht hat.«
Widerstrebend zog Adelia den Mantel mit der Kapuze aus, so dass der Bliaut und die Barbette zum Vorschein kamen, und fühlte sich nackt. Direkt neben ihr sah Walt sie an und bekam Stielaugen. »Hab mich schon gefragt, wer die fremde Frau is«, sagte er. Sie nahm an, dass auch das als Kompliment gemeint war. Und tatsächlich erntete sie viele verblüffte Blicke – die meisten davon freundlich. Denn das war ein weiteres Geschenk, das Eleanor ihr, ohne es selbst zu wissen, gemacht hatte: Durch den Gunstbeweis der Königin war Adelia vom Verdacht der Hexerei befreit worden.
Obwohl Eleanor und ihr Gefolge das Fest in der Scheune geplant hatten, übernahmen die Engländer die Ausrichtung.
Übernahmen? Sie rissen sie förmlich an sich.
Entzückende aquitanische Weihnachtslieder gingen in grölenden Trinkliedern unter. Der brennende Weihnachtsklotz wurde am Zuggeschirr eines Ochsen hereingeschleift und auf eine Feuerstelle mitten in das große Quadrat gelegt, das die in der Scheune aufgestellten Tische bildeten. Oben in der Galerie – eigentlich der Heuboden – versuchte ein Spielmann, die Speisenden mit seiner Sangeskunst zu erfreuen, doch da alle Bewohner von Godstow und die meisten Leute aus dem Dorf gekommen waren und einen Mordslärm veranstalteten, gab er es schließlich auf und kam herunter, um mit den anderen Gästen zu tafeln.
Es war das reinste Wikingermahl. Fleisch, Fleisch und noch mehr Fleisch. Das Eishaus hatte seine feinsten Leckerbissen hergegeben. Eleanors Koch hatte sich in der Küche selbst übertroffen, doch seine Wintersalate und Fromentées, seine hübsch bemalten Blätterteigburgen und zarten Götterspeisen aus Orangenblütenwasser waren von Schweineschmalz und Blutwurst förmlich begraben und besudelt worden, so dass er richtiggehend krank davon war und jetzt mit leerem Blick dasaß, während sein Gehilfe ihm zum Trost kleine Stücke Schweinebraten in den Mund schob.
Es wurden auch keine einzelnen Gänge serviert. Die Klosterdiener hatten sich schon zu lange mit Godstows viel zu vielen und anspruchsvollen Gästen herumgeschlagen, und das nahende Weihnachtsfest hatte ihnen noch mehr abverlangt. Die letzten paar Tage hatten sie in der sengenden Hitze der Küchenherde geschwitzt oder die Scheune geschmückt, bis sie einer Waldlichtung ähnelte. Sie würden das Fest nicht verpassen, indem sie im Schweiße ihres Angesichts zwischen Küche und Scheune hin und her rannten. Alles, was sie zubereitet hatten, pikant, süß, mit oder ohne Soße, Brote und Nachspeisen, wurde einfach zu einem prächtigen Durcheinander auf die Tische geknallt, und dann ließen sie sich auf die Bänke fallen, die dem Scheunentor am nächsten waren, und langten kräftig zu.
Gut so. Es musste so vieles unverzüglich tranchiert werden, so viele Gerichte die Reihen auf und ab gereicht werden, so viele lärmende Bitten erfüllt werden – »Noch was von der Füllung für meine Lady«, »Eine Scheibe von der Gans, wenn ich bitten darf«, »Gebt mal das Rübenmus rüber« –, dass zwischen oben und unten eine Kameraderie des Genusses entstand, von der allerdings die Hunde ausgenommen blieben, die unter den Tischen auf Abfälle warteten und sich gegenseitig bissen, wenn etwas bei ihnen landete.
Wächter blieb bei Adelias Knien, wo er die besten Happen abbekam – seine Herrin war eine schlechte Esserin, und um Mansur nicht zu kränken, der neben ihr saß und ihren Teller unermüdlich nachfüllte, steckte sie dem Hund heimlich Fleischbrocken zu.
Eleanor nahm alles gelassen hin, wie Adelia sah. Die Königin hatte sich gutmütig die riesige Krone aus Efeu und Lorbeerblättern aufgesetzt, die ihr von der Frau des Schmiedes überreicht wurde, und dabei ihren eigenen schlichten Kopfschmuck ruiniert. Plötzlich ähnelte sie einer Erdgöttin, was den Eindruck, dass der Abend immer heidnischere Züge annahm, nur noch verstärkte.
Außer dem königlichen Koch gab es nur noch eine weitere Person, die sich nicht der allgemeinen Heiterkeit anschloss: Emma saß als eisige, reglose Gestalt neben ihrem Mann, der sie ignorierte. Adelia versuchte, ihren Blick aufzufangen, und gab es dann auf. Das Mädchen starrte ins Leere.
Wie gingen Master und Mistress Bloat wohl mit der Situation um?, fragte sich Adelia. Verurteilten sie die Entführung ihrer Tochter?
Nein, sie hatten beschlossen, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die beiden hatten sich innen an einen der Tische dem Entführer gegenübergesetzt, doch Wolvercote strafte ihre Bemühungen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, meistens mit Verachtung.
Master Bloat wollte sogar einen Trinkspruch auf das glückliche Paar ausbringen, doch der Lärm schwoll schlagartig an, als er sich erhob, und Emma, die zum ersten Mal aus ihrer Trance erwachte, bedachte ihren Vater mit einem so bitterbösen Blick, dass dem Mann die Worte im Hals steckenblieben und er sich wieder setzte.
Mit Mansur zu ihrer Linken und Allie sicher in einer Trageschlinge an ihrer Hüfte – es würde keine entführten Töchter mehr geben – richtete Adelia ihre Aufmerksamkeit auf den Mann zu ihrer Rechten. Sie hatte sich größte Mühe gegeben, den Platz neben ihm zu ergattern.
Master Warin war die meiste Zeit für sich geblieben, und die Tatsache, dass er sich höflich erkundigen musste, wer sie war, und nicht abweisend reagierte, als sie ihm ihren Namen nannte, zeigte, dass ihm der übliche Klostertratsch entgangen war.
Er hatte die nervöse Angewohnheit, sich die Lippen zu lecken, und keineswegs das aalglatte herablassende Auftreten der meisten Advokaten. Ein unauffälliger Mensch, der sich seinen starken Gloucestershire-Akzent zwar ein wenig abgewöhnt hatte, aber auch nicht versuchte, ihn zu verbergen. Adelia gewann den Eindruck, dass es für ihn sowohl finanziell als auch intellektuell nicht leicht gewesen war, die Zulassung als Advokat zu erhalten, und dass er sich auf consilio et auxilio beschränkte, also auf Beratung beim Aufsetzen von Testamenten, Rodungsanträgen, Dienstverträgen, eben auf die vielen Details des Alltagsrechts, die für den Laien, der damit zu tun hatte, ungemein wichtig sein konnten.
Als sie ihm zum Tod seines jungen Vetters ihr Beileid aussprach, benetzte er sich erneut die Lippen, und echte Tränen traten in seine kurzsichtigen Augen: Der Mord hatte ihn seiner Familie beraubt, sagte er, da er bislang unverheiratet war. »Wie ich Euch um diese wonnige Kleine beneide, Mistress. Ich hätte so gern Kinder.«
Adelia hegte einen schlimmen Verdacht gegen Master Warin. Sie musste sich selbst in Erinnerung rufen, dass irgendwer die Information weitergegeben hatte, aufgrund deren zwei Mörder Talbot aus Kidlington auf der Brücke aufgelauert hatten, und niemand kam dafür eher in Frage als dieser kleine Mann, der über Talbot sagte: »Wir standen uns näher, als Vettern das normalerweise tun. Nach dem Tod seiner Eltern war er für mich wie ein kleiner Bruder. Ich hab alles für ihn erledigt.«
Doch trotz seines bescheidenen Auftretens war seine Kleidung von einer Qualität, die man bei einem einfachen Familienadvokaten nicht erwartet hätte, und der große Siegelring an seinem Finger bestand aus massivem Gold. Master Warin ließ es sich gutgehen. Außerdem schienen ihm Met und Ale nicht zu munden, dafür griff er häufiger nach dem Weinkrug.
Adelia setzte die Daumenschrauben an. »Dann hat Euer Vetter Euch nicht von seinem Plan erzählt, mit Mistress Bloat durchzubrennen?«, fragte sie.
»Selbstverständlich nicht.« Master Warins Stimme nahm einen schneidenden Tonfall an. »Eine wahnwitzige Idee. Ich hätte ihm das ausgeredet. Lord Wolvercote ist ein bedeutender Mann, ich hätte nicht zugelassen, dass jemand aus meiner Familie Schande über ihn bringt.«
Er log. Emma hatte gesagt, dass er in die Fluchtpläne eingeweiht gewesen war.
»Dann kanntet Ihr ihn also? Wolvercote, meine ich.«
»Nein.« Master Warins Zunge fuhr einmal über die Lippen. »Wir sind uns neulich Abend in der Kirche zum ersten Mal begegnet.«
Schon wieder gelogen. Er war ihr Mann.
»Ich hab mich nur gefragt, ob Ihr wusstet, was Euer Vetter vorhatte, weil die Leute gesagt haben, Ihr seid gleich nach ihm hier eingetroffen …«
»Wer sagt das?«
»… ganz kurz nach dem …«
»Das ist eine Verleumdung. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil mein Vetter bei diesem Schneesturm unterwegs war. Wer sind diese bösen Zungen? Wer seid Ihr? Ich habe es nicht nötig, hier zu sitzen …« Züngelnd wie eine Schlange, griff Master Warin nach seinem Weinbecher und suchte sich einen Platz weiter hinten am Tisch.
Mansur wandte den Kopf und sah den aufgebrachten Advokaten von dannen ziehen. »Hat er den Jungen getötet?«, fragte er auf Arabisch.
»In gewisser Weise. Er hat Wolvercote den Hinweis gegeben, der es Wolvercote ermöglichte, die Mörder auf den Jungen anzusetzen.«
»Dann ist er ebenso schuldig.«
»Als hätte er selbst den Bolzen abgeschossen, ja. Er hätte behaupten können, dass er von den Fluchtplänen wusste und in die Abtei gekommen ist, um sie zu vereiteln. Das hätte erklärt, wieso er so schnell hier war. Aber er hat es nicht gesagt – ich hab ihm die Gelegenheit dazu geboten –, weil die Leute dann denken würden, dass er Wolvercotes Werkzeug ist, und er beteuert, sie seien einander vorher nie begegnet. Im Grunde hätte es ihn nicht belastet, wenn er zugegeben hätte, dass sie sich kennen, aber sie haben zusammen den Mord an dem Jungen geplant, und das beeinträchtigt sein Urteilsvermögen. Das Schuldgefühl treibt ihn dazu, sich möglichst deutlich von Wolvercote zu distanzieren, auch wenn er es gar nicht müsste.«
»Er hat sein eigen Fleisch und Blut verraten, Allah spuckt auf ihn. Können wir es beweisen?«
»Wir werden es versuchen.« Adelia holte Allie aus der Hüftschlinge und rieb die Wange an dem flaumigen Kopf ihrer Tochter. Die banale Durchschnittlichkeit eines Mörders wie des kleinen Advokaten Warin war noch viel deprimierender als die Brutalität eines Wolvercote.
Plötzlich wurde sie ruppig zur Seite gedrückt, als Cross den Platz einnahm, den Warin verlassen hatte, und die Kälte von draußen mit hereinbrachte. »Rückt ein Stück.« Der Söldner begann, wie ein Verhungernder nach den Speisen zu greifen.
»Wo habt Ihr gesteckt?«, fragte sie.
»Was glaubt Ihr denn wohl, wo ich gesteckt hab? Ich bin vor diesem Scheißgefängnis auf und ab marschiert. Das nenn ich Zeitverschwendung. Sie is nämlich weg.«
»Wer ist weg?«
»Dieser alte Dämon. Der Abt hat mir selbst gesagt, sie ist ein Dämon. Wer dachtet Ihr denn?«
»Dakers? Dakers ist verschwunden?« Sie sprang auf und erschreckte Allie, die gerade das Mark aus einem Rinderknochen lutschte. »Großer Gott, sie haben sie geholt.«
Bratensoße tropfte Cross vom Kinn, als er zu ihr hochblickte. »Was redet Ihr denn da? Die hat keiner geholt. Die is verschwunden. So is das mit Dämonen, die verschwinden einfach.«
Adelia setzte sich. »Lasst hören.«
Wie es geschehen war oder auch nur wann, konnte Cross ihr nicht sagen, weil er es nicht wusste. Niemand wusste das. Es war erst vor kurzem entdeckt worden, als Cross die Gefängnistür aufgeschlossen hatte, weil ein Küchenjunge auf Anweisung der Cellerarin mit einem Tablett mit Weihnachtsessen für die Gefangene erschienen war.
»Der Schlüssel hängt an so ’nem Ring, versteht Ihr«, sagte er. »Jeder Wachposten gibt ihn an den nächsten weiter, wenn er seinen Dienst antritt. Oswald hat ihn mir gegeben, als ich übernommen hab, und als sein Dienst anfing, hat er ihn von Walt gekriegt, und die beiden schwören, sie haben diese Scheißtür kein einziges Mal aufgemacht, und ich auch nicht, bis gerade eben …«
Er verstummte kurz, um sich ein Stück Rindfleisch in den Mund zu schieben.
»Und?«, fragte Adelia ungehalten.
»Und ich steck also den Schlüssel ins Schloss, dreh ihn, mach die Tür auf, und der Junge geht mit dem Futter rein, und da war sie … weg. Weit und breit keine Spur von ihr.«
»Irgendwer muss sie rausgelassen haben.« Adelia war noch immer beunruhigt.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte Cross. »Wenn ich’s Euch doch sage, bis dahin hatte keiner diese Scheißtür aufgemacht. Das Weib is verschwunden. So is das mit Dämonen, die verschwinden. Hat sich in ein Rauchwölkchen verwandelt und is durch den Luftschlitz raus, jawohl.«
Er hatte Schwyz zum Gefängnis gerufen, sagte er, und deutete mit dem Kinn auf den leeren Platz am oberen Tischende, wo der Söldnerführer gesessen hatte. Auch Schwester Havis war geholt worden.
»Aber ich sag’s Euch, die findet keiner mehr, weil die verschwunden is, zurück in die Hölle, wo sie herstammt. Bei ’nem Dämon wundert mich das nich. Da kommt er ja, sieh sich den einer an, der scheißt sich gleich ins Hemd.«
Ein wütend dreinblickender Schwyz war in die Scheune gekommen und marschierte jetzt auf den Tisch zu, wo der Abt von Eynsham neben der Königin saß. Die Feiernden waren zu sehr mit Zechen und Tafeln beschäftigt, um auf ihn zu achten, nur diejenigen, denen er die Neuigkeit überbrachte, merkten auf.
Adelia sah, dass Eleanor lediglich die Brauen hochzog, doch der Abt erhob sich sofort. Er schien irgendwas zu brüllen, doch bei dem allgemeinen Lärm konnte Adelia ihn nicht hören.
»Der will die Abtei durchsuchen lassen«, erklärte Cross. »Aber das kann er vergessen. Kein Mensch lässt gutes Weihnachtsessen stehen und macht sich im Dunkeln auf die Suche nach ’nem Dämon. Ich jedenfalls nich, das weiß ich genau.«
Es war offensichtlich. Der Abt redete beschwörend auf Lord Wolvercote ein, der ihn mit einem gleichgültigen Achselzucken abspeiste. Dann wandte er sich flehend an die Äbtissin, deren Reaktion zwar höflicher war, aber ebenso ablehnend.
Während sie die Hände hob, um ihm zu verstehen zu geben, dass es sinnlos wäre, die Feiernden zu stören, wanderten Mutter Edyves ausdruckslose Augen für einen Moment durch den Raum zu Adelia.
Schließlich habe ich den Schlüssel zum Gefängnis.
»Worüber lacht Ihr?«, fragte Cross.
»Über einen Mann, der in eine Grube gefallen ist, die er selbst gegraben hat.«
Wie auch immer die Äbtissin diese Flucht zuwege gebracht hatte, wer auch immer von Dakers’ Wächtern dazu gebracht worden war, beide Augen zuzudrücken, der Abt von Eynsham konnte niemanden beschuldigen oder bestrafen. Dadurch, dass er darauf bestanden hatte, Rosamunds Haushälterin einzusperren, hatte er selbst sie dämonisiert. Da konnte er sich jetzt nicht beschweren, dass sie etwas getan hatte, was bei Dämonen anscheinend an der Tagesordnung war, wie Cross meinte.
Adelia beugte sich grinsend zu Gyltha vor, die zur anderen Seite des Arabers saß, und erzählte ihr, was passiert war.
»Da kann man der alten Vogelscheuche nur viel Glück wünschen«.
Gyltha nahm noch einen tiefen Zug aus ihrem Becher, den sie schon etliche Male mit Begeisterung geleert hatte.
Mansur sagte auf Arabisch: »Männer von Godstow haben durch den Schnee einen Pfad zum Fluss gegraben. Auf Anweisung der Äbtissin. Ich hab gehört, wie dieser Fitchet gesagt hat, sie würden das machen, damit die Königin auf dem Fluss eislaufen könne. Aber jetzt denke ich, sie haben für Rosamunds Frau einen Fluchtweg angelegt.«
»Sie haben sie gehen lassen? Bei diesem Wetter?« Adelias Belustigung verflog. »Ich dachte, sie würden sie hier irgendwo in der Abtei verstecken.«
Mansur schüttelte den Kopf. »Bei den vielen Menschen hier hätte sie irgendwer entdeckt. Sie wird überleben, so Allah es will. Bis Oxford ist es nicht weit.«
»Sie wird aber nicht nach Oxford gehen.«
Es gab nur einen Ort, den Dakers zu erreichen versuchen würde.
Bis zum Ende des Essens und auch, als die Tische beiseitegeschoben wurden, um in der Scheune Platz zum Tanzen zu schaffen, dachte Adelia an den Fluss und die Frau, die auf ihm unterwegs nach Norden war. Würde das Eis sie halten? Konnte sie die Kälte überleben? Hatte der Abt, der sich bestimmt denken konnte, wo sie hinwollte, Männer und Hunde hinter ihr hergeschickt?
Mansur sah sie an und sagte: »Allah schützt die Wahnsinnigen. Er wird entscheiden, ob die Frau lebt oder stirbt.«
Doch gerade weil Dakers wahnsinnig war und weil sie keine Freunde hatte und weil sie zu viel wusste, spürte Adelia die Verantwortung für die Frau schwer auf sich lasten.
Allah, Gott, wer immer du bist, behüte sie.
Doch dann wachte Allie auf, die wohlig satt eine Weile geschlafen hatte. Sie musste von oben bis unten gereinigt werden, frische Windeln bekommen und wollte unterhalten werden, so dass Adelia gezwungen war, sich wieder ihrer Umgebung zu widmen.
An Unterhaltung bestand kein Mangel. Die Troubadoure hatten sich auf dem Heuboden versammelt und musizierten mit solchem Elan und Schwung, dass sich keiner entziehen konnte. Auf einer Seite der Scheune tanzten die Königin und ihr Gefolge mit spitzfüßiger, leichthändiger Eleganz, während die Engländer am anderen Ende in wogenden, lärmenden Kreisen umherhüpften.
Ein betagter Bewohner der Abtei jonglierte Äpfel mit einer Geschicklichkeit, die sein Alter Lügen strafte, und der Schmied versuchte sich gegen den Rat seiner Frau als Schwertschlucker.
Nach einigem hektischen Getuschel unter dem Heuboden sprang schließlich eine Schar von wild verkleideten Figuren hervor, um eine recht derbe Stegreifdarbietung von Noah und der Sintflut aufzuführen, und zwar mit so viel Spielfreude, dass die Tanzenden eine Pause einlegten und gebannt zuschauten.
Adelia, die auf dem Boden saß und eine vor Vergnügen quiekende und zappelnde Allie auf den Knien hielt, amüsierte sich köstlich. Sie bezweifelte, dass Noah die Tierarten, die da über eine unsichtbare Planke in seine unsichtbare Arche tollten, erkannt hätte. Das einzige echte Tier, der Klosteresel, spielte den Rest des Ensembles an die Wand, indem er einen abfälligen Kommentar zu den Darstellungskünsten auf den Fuß des von Fitchet gespielten Einhorns plumpsen ließ, was bei Gyltha einen solchen Lachanfall auslöste, dass Mansur sie wegzerren musste, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Bei all ihrer Feinsinnigkeit konnten Eleanors Höflinge doch dem verlockenden Applaus nicht widerstehen, mit dem derlei Zoten quittiert wurden. Sie gesellten sich zu den Schauspielern, gaben jede Vornehmheit auf und entpuppten sich als verhinderte Hofnarren, indem sie in knallbunten Perücken und Röcken und mit mehlbestäubten oder krapprot bemalten Gesichtern auftraten.
Warum nur ahmten manche Männer so gern Frauen nach?, dachte Adelia, während sie eine von Montignard hingebungsvoll gespielte Mistress Noah ausbuhte, die dem armen Master Noah wütende Vorhaltungen machte, weil er betrunken war.
War das da Jacques als Jafets Weib, mit Warzen und Strohhaar und wogendem Busen? Und das konnte doch wohl nicht der Abt von Eynsham sein, der mit geschwärztem Gesicht so schnell auf den Zehenspitzen kreiste, dass sein Unterrock hochwirbelte?
Allie, den Markknochen noch immer fest in der Hand, war wieder eingeschlafen. Es war Zeit, ins Bett zu gehen, ehe die manische Ausgelassenheit des Abends in Schlägereien ausartete, was wohl unweigerlich passieren würde. Schon jetzt hatten sich Schwyz’ betrunkene Männer zusammengerottet und stierten zu Wolvercotes ebenfalls betrunkenen Männern hinüber, was vermuten ließ, dass der weihnachtlichen Stimmung allmählich die Puste ausging.
Wolvercote selbst war schon gegangen und hatte Emma mitgenommen.
Die Königin dankte der Äbtissin zum Abschied, und Mutter Edyve winkte ihre Nonnen zu sich. Master Warin war verschwunden. Der Schmied, der sich den Hals hielt, wurde von seiner Frau weggeführt.
Adelia schaute sich nach Gyltha und Mansur um. Oje, ihr geliebter Araber – abgesehen von ihr selbst vielleicht der einzige nüchterne Mensch in der Scheune – hatte sich zur Begeisterung einiger Klosterdiener überreden lassen, seinen Schwerttanz aufzuführen, und Gyltha kreiselte um ihn herum wie ein berauschtes Frettchen. Normalerweise trank Gyltha nicht, aber wenn es Alkohol gratis gab, konnte sie einfach nicht widerstehen.
Adelia ging gähnend mit Allie in die Ecke, wo sie die Wiege abgestellt hatten, legte ihre Tochter hinein, nahm ihr den Markknochen weg, gab ihn Wächter, deckte ihre Tochter zu und zog die kleine Lederabdeckung der Wiege hoch. Dann setzte sie sich daneben, um zu warten.
Und hatte einen fiebrigen, wüsten Traum, der richtig beängstigend wurde, als ein Bär sie hochhob, an sein Fell drückte und sie in den Wald schleppen wollte. Sie hörte Knurren, als Wächter den Bär angriff, und dann ein Aufjaulen, als er einen Tritt abbekam.
Adelia bekam kaum Luft, ihre Beine schleiften über den Boden, und als sie anfing, sich zu wehren, erwachte sie. Sie wurde in den Armen des Abtes von Eynsham in die dunkelste Ecke unter dem Heuboden getragen, wo er sie so heftig gegen die Außenwand stieß, dass Splitter und Mörtelstücke auf sie beide herabregneten, während er seinen massigen Körper gegen ihren presste.
Er war ziemlich betrunken und flüsterte: »Du bist seine Spionin, du Miststück. Der Bischof. Ich durchschaue dich … bei mir tust du zimperlich, du Hure, ich weiß … was du vorhast. Wie macht er’s dir? In den Arsch? In den Mund?«
Branntweindünste umhüllten sie, als sein geschwärztes Gesicht sich auf ihres senkte.
Sie drehte den Kopf weg und riss ihr Knie so fest hoch, wie sie konnte, aber der lächerliche Rock, den er trug, schützte ihn, und obwohl er aufstöhnte, blieb sein Gewicht auf ihr.
Das Flüstern hörte nicht auf: »… hältst dich für so schlau … seh es in deinen Augen, aber du bist eine stinkende Dirne. Eine Spionin. Ich bin besser als St. Albans … Ich bin besser …« Seine Hand hatte ihre Brust gefunden und knetete sie. »Sieh mich an, ich kann es auch … Liebe mich, du Nutte, liebe mich …« Er leckte ihr das Gesicht.
Außerhalb des stickigen Kabuffs, in dem sie gefangen war, versuchte jemand, ihm Einhalt zu gebieten und diese keuchende zischende Grässlichkeit von ihr wegzuziehen. »Lass sie, Rob, sie ist es nicht wert.« Es war Schwyz’ Stimme.
»Doch, ist sie. Sie sieht mich an, als wär ich der letzte Dreck … Als wüsste sie es.«
Es gab einen lauten Schlag, dann Luft und Raum. Von dem Gewicht befreit, rutschte Adelia um Atem ringend die Wand herunter.
Der Abt lag – von Mansur niedergestreckt – auf dem Boden. Er weinte. Neben ihm kniete Schwyz und tröstete ihn wie eine Mutter. »Bloß eine Hure, Robert, so eine willst du doch gar nicht.«
Mansur ragte über ihnen beiden auf, lutschte an seinen Fingerknöcheln, wirkte aber ansonsten gleichmütig wie immer. Er drehte sich um und hielt Adelia eine Hand hin. Sie ergriff sie und kam auf die Beine.
Gemeinsam gingen sie zur Wiege zurück. Ehe sie sie erreichten, blieb Adelia stehen, wischte sich übers Gesicht und ordnete ihre Kleidung. Dennoch konnte sie ihr Kind nicht ansehen. Sie fühlte sich beschmutzt.
Hinter ihr sprach Schwyz immer noch beruhigend auf den Abt ein, doch dessen Klageschrei übertönte ihn: »Warum St. Albans? Warum nicht ich?«
Mansur nahm die Wiege, sie sammelten eine taumelnde, singende Gyltha ein und gingen durch die wohltuende Kälte der Nacht zurück zum Gästehaus.
Adelia war zu tief verstört, um wütend zu sein, doch sie wusste, das würde sich ändern. Schließlich hatte sie eine höhere Selbstachtung als die Frauen, die solche Übergriffe ergeben als den Preis dafür betrachteten, Frauen zu sein. Aber noch während sie am ganzen Körper zitterte, versuchte ihr Verstand den Grund für das Geschehene herauszufinden. »Ich verstehe das nicht«, jammerte sie. »Ich dachte, er wäre eine andere Sorte Feind.«
»Allah möge ihn bestrafen, aber er hätte dir nichts getan, glaube ich«, sagte Mansur.
»Was redest du da? Er hat mir was getan, er hat versucht, mich zu vergewaltigen.«
»Er ist nicht dazu fähig, glaube ich«, sagte Mansur. Seine eigene Befindlichkeit hatte ihn in dieser Hinsicht hellsichtig werden lassen. Die Sexualität sogenannter »normaler« Männer interessierte ihn. Obschon kastriert und unfähig, Kinder zu zeugen, konnte er dennoch Geschlechtsverkehr haben, und in seiner Stimme schwang herablassendes Mitleid für einen, der das nicht konnte.
»Mir kam er fähig genug vor.« Adelia blieb aufschluchzend stehen, nahm eine Handvoll Schnee und rieb sich damit durchs Gesicht. »Wieso bist du so duldsam?«
»Er will, kann aber nicht, glaube ich. Er redet davon, aber er tut es nicht.«
War es das? Unzulänglichkeit? Unter all dem Dreck war auch ein verzweifeltes Flehen um Liebe, Sex, irgendwas gewesen.
Rowley hatte über ihn gesagt: »Hundsfott. Gerissen. Hat Einfluss beim Papst.«
Und trotz aller Gerissenheit musste dieser Papstfreund, wenn er getrunken hatte, um die Anerkennung einer verachteten Frau betteln wie ein Kind um ein Spielzeug, das einem anderen gehört.
Weil sie ihn verachtete?
Und das tue ich, dachte sie. Falls der Abt diese Schwäche hatte, dann machte ihn das für sie nur noch widerwärtiger. Adelia war es fraglos und aus ganzem Herzen lieber, wenn ihre Feinde keine menschlichen Schwächen zeigten.
»Ich hasse ihn«, sagte sie – und jetzt war sie wütend. »Mansur, ich bring diesen Mann zur Strecke.«
Der Araber neigte den Kopf. »Beten wir, dass es Allahs Wille ist.«
»Wehe, wenn nicht.«
Die Wut verschaffte Adelia wieder einen klaren Kopf. Während Mansur Gyltha überredete, ihn nicht weiter zu küssen und stattdessen schlafen zu gehen, goss Adelia aus dem Krug eisiges Wasser in eine Schüssel und wusch sich von Kopf bis Fuß. Danach fühlte sie sich besser.
»Ich bring ihn zur Strecke«, wiederholte sie, »irgendwie bring ich ihn zur Strecke.«
Sie öffnete für einen kurzen Augenblick ein Fenster, länger hielt man die Kälte nicht aus, und betrachtete die geometrischen Schatten, die von den spitzen Abteidächern auf die Schneefläche jenseits der Mauer geworfen wurden.
Der neue Pfad, der zum Fluss gegraben worden war, zog sich als schwarze Rinne wie eine Narbe durch das mondbeschienene Weiß. Sie waren jetzt miteinander verbunden, die Abtei und die Themse. Zum ersten Mal gab es eine Möglichkeit, diesem brodelnden, überfüllten Kessel voller Menschen zu entfliehen, wo Gut und Böse in erstickender Enge die letzte und doch nie endende Schlacht schlugen.
Zumindest eine Seele hatte die Möglichkeit genutzt. Irgendwo in dieser unerbittlichen Wildnis riskierte Dakers ihr Leben, nicht etwa, wie Adelia wusste, um ihren Feinden zu entgehen, sondern um das zu erreichen, was sie liebte, obwohl es tot war.