172647.fb2 Die Teufelshaube - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

Die Teufelshaube - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

Kapitel eins

Die Frau auf dem Bett war nicht mehr imstande, zu schreien. Bis auf das Trommeln ihrer Füße und das Schlagen ihrer Fäuste waren ihre Krämpfe so lautlos, als vollführe sie eine Pantomime der Qual.

Die Fürbitte der drei Nonnen, die bei ihr knieten, hätte gespielt sein können; jede bewegte nur lautlos den Mund, denn jedes Geräusch, sogar das Zischeln eines geflüsterten Gebetes, löste bei der Patientin eine neue Konvulsion aus. Sie hatten die Augen geschlossen, um ihr Leiden nicht mit ansehen zu müssen. Nur die Frau, die am Fußende des Bettes stand, schaute mit ausdrucksloser Miene zu.

Auf dem Bildteppich an den Wänden vergnügten sich Adam und Eva in kerngesunder Unschuld in Flora und Fauna des Garten Eden, während die Schlange im Baum und Gott auf einer Wolke die beiden wohlwollend betrachteten. Es war ein kreisrunder Raum, dessen Schönheit jetzt das grässliche Aussehen seiner Besitzerin verhöhnte: das einst helle Haar, das nun schwarz und schweißverklebt war, die dicken Venenstränge, die sich auf dem ehemals weißen Hals abzeichneten, die Lippen zu einem schauerlichen Grinsen verzerrt.

Was getan werden konnte, war getan worden; Kerzen und brennende Weihrauchgefäße erwärmten ein Zimmer, dessen Rautenfenster und Holzläden fest verschlossen worden waren, damit sie nicht klapperten.

Mutter Edyve hatte sämtliche Reliquiare ihres Klosters Godstow zu Verfügung gestellt, um der leidenden Frau die Hilfe der Heiligen zukommen zu lassen. Da sie zu alt war, um selbst hinzufahren, hatte sie Schwester Havis, der Priorin von Godstow, erklärt, was zu tun war. Getreu ihren Anweisungen hatte man der Frau das Schienbein der heiligen Scholastika an den wild schlagenden Arm gebunden und ihr aus der Phiole mit der Milch der heiligen Maria einige Tröpfchen auf den armen Kopf geträufelt. Zudem wurde ihr ein Splitter des heiligen Kreuzes in die Hand gelegt, der allerdings während eines Krampfes durchs Zimmer geflogen war.

Bemüht, kein Geräusch zu machen, stand Priorin Havis auf und ging hinaus. Die Frau, die am Fußende des Bettes gestanden hatte, folgte ihr. »Wo geht Ihr hin?«

»Pater Pol holen. Ich habe nach ihm gesandt, er wartet in der Küche.«

»Nein.«

Als strenge, aber hochgeborene Christin begegnete Havis den Elenden mit Langmut, doch bei dieser Frau lief ihr stets ein kalter Schauer über den Rücken. Sie sagte: »Es ist an der Zeit, Dakers. Sie muss die Sterbesakramente empfangen.«

»Ich werde Euch töten. Sie wird nicht sterben. Und ich töte den Priester, wenn er heraufkommt.«

Die Frau sprach monoton und leidenschaftslos, dennoch glaubte ihr die Priorin. Alle Diener waren schon geflohen, aus lauter Angst davor, was Dakers tun würde, falls ihre Herrin starb.

»Dakers, Dakers«, sagte sie – Verrückte sollte man stets mit Namen ansprechen, damit sie sich ihrer selbst entsannen –, »wir dürfen einer Seele, die ihre Reise antritt, nicht den Trost der Letzten Ölung versagen. Schau …« Sie fasste die Haushälterin am Arm und drehte sie zu dem Zimmer um, wo die Kranke sich erneut aufbäumte. Nur Fersen und Hinterkopf ruhten noch auf dem Bett und bildeten eine Brücke des Leidens.

»Keine sterbliche Hülle kann eine solche Pein ertragen«, sagte Schwester Havis. »Sie stirbt.« Und damit wandte sie sich zur Treppe.

Als sie Schritte hinter sich hörte, umklammerte sie fest das Geländer, um gewappnet zu sein, falls sie einen Tritt in den Rücken bekam. Sie ging weiter, doch sie war erleichtert, als sie unten ankam und hinaus in die weißkalte frische Luft trat, um dann hinüber zur Küche zu gehen, die mit ihren Abzügen für die Feuerstellen der Küche in Fontrevrault nachempfunden war und sich wie ein übergroßer Pfefferstreuer einige Meter vom Turm entfernt erhob.

Die Flammen in einer der Feuerstellen waren die einzige Lichtquelle und warfen einen unruhigen Schimmer auf die Laken, die zum Trocknen an Haken befestigt waren, an denen sonst Kräuter und Speckseiten hingen.

Pater Pol, ein verhuschter kleiner Mann und heute Abend verhuschter denn je, hockte auf einem Stuhl, eine dicke schwarze Katze auf dem Schoß, als bräuchte er ihren Trost an diesem Ort.

Sein Blick traf den der Nonne und wanderte dann fragend zur Gestalt der Haushälterin hinüber.

»Wir sind jetzt bereit für Euch, Pater«, erklärte die Priorin.

Der Priester nickte erleichtert. Er stand auf, setzte die Katze behutsam auf den Stuhl, tätschelte sie ein letztes Mal, hob dann das Chrismatorium hoch, das zu seinen Füßen stand, und eilte hinaus. Schwester Havis wartete einen Moment ab, ob die Haushälterin mitkam, sah, dass dem nicht so war, und folgte schließlich Pater Pol.

Allein gelassen starrte Dakers ins Feuer.

Der Segen des Bischofs, der vor zwei Tagen zu ihrer Herrin gerufen worden war, hatte nichts bewirkt, ebenso wenig wie der ganze Plunder aus dem Kloster. Der christliche Gott hatte versagt.

Nun denn.

Jetzt war Eile geboten. Sie holte verschiedene Gegenstände aus dem Schrank in ihrem winzigen Zimmer neben der Küche. Als sie zurückkam, murmelte sie vor sich hin. Sie legte ein ledergebundenes Buch mit einem Schloss daran auf den Hackklotz. Darauf kam ein Kristall, dessen Facetten im Feuerschein kleine grüne Lichter durch den Raum flirren ließen.

Sie entzündete sieben Kerzen und träufelte von jeder einzelnen etwas Wachs auf den Klotz, um sie sicher hinstellen zu können. Die Kerzen bildeten einen Ring um das Buch und den Kristall und spendeten ein ebenso ruhiges Licht wie die aus Bienenwachs oben im Turm, nur dass sie nicht so wohlriechend waren.

Der Kessel, der an einer Winde über dem Feuer hing, war mit kochendem Wasser gefüllt, so wie immer in letzter Zeit, weil die Laken aus dem Krankenzimmer ständig gewaschen werden mussten. So viele Laken.

Die Frau vergewisserte sich, dass die Wasseroberfläche brodelte. Sie sah sich nach dem Deckel für den Kessel um, einer großen, sauber gelochten Holzscheibe mit einem geschwungenen Eisengriff in der Mitte, fand ihn und stellte ihn vorsichtig auf den Boden zu ihren Füßen. Aus den verschiedenen Feuereisen an der Herdstelle, Holzzangen, Spieße und so weiter, suchte sie sich einen langen Schürhaken aus und legte ihn ebenfalls neben den Deckel auf den Boden.

»Iggsi-biddsi«, murmelte sie, »sischnu schischnu, adonei-manuei, iilam, piilam …« Für den Ahnungslosen mochte es sich wie der Hüpfreim eines Kindes anhören, andere jedoch hätten die bewusst verfälschten Versionen der heiligen Namen Gottes in den verschiedensten Glaubensrichtungen herausgehört.

Dakers bückte sich unter den Laken hindurch, ging zu dem Stuhl, auf dem Pater Pol gesessen hatte, und hob die Katze auf, wiegte und streichelte sie, wie er zuvor. Es war eine gute Katze, eine verdienstvolle Mäusefängerin, die einzige, die sie hier zuließ.

Sie trug das Tier zur Feuerstelle, strich ihm mit einer Hand ein letztes Mal übers Fell und griff mit der anderen nach dem Deckel für den Kessel.

Noch immer leise vor sich hin murmelnd, warf sie die Katze ins kochende Wasser, legte rasch den Deckel auf und hielt ihn so lange fest, bis sie den Schürhaken durch den Griff geschoben hatte.

Einen kurzen Moment lang klapperte der Deckel gegen den Schürhaken, und ein greller Schrei pfiff durch die Deckellöcher. Dakers kniete sich auf den Rand der Feuerstelle und übergab ihr Opfer dem göttlichen Herrn.

Wenn Gott versagt hatte, war es Zeit, den Teufel um Hilfe zu bitten.

Gut achtzig Meilen Luftlinie gen Osten half Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar zum ersten Mal einem Kind auf die Welt – oder versuchte es zumindest.

»Pressen, Ma«, sagte die älteste Schwester des Ungeborenen hilfsbereit an der Seite stehend.

»Sag ihr doch so was nicht«, entgegnete Adelia. »Sie darf erst pressen, wenn es so weit ist.« In dieser Phase der Geburt hatte die arme Frau wenig Einfluss auf die Dinge.

Und ich auch nicht, dachte Adelia niedergeschlagen, ich hab doch keine Ahnung.

Es ließ sich schlecht an. Die Wehen zogen sich nun schon eine Ewigkeit hin, und der Mutter, einer tapferen Frau aus dem Sumpfland, gingen allmählich die Kräfte aus.

Draußen auf der Wiese sang Mansur unter den aufmerksamen Blicken von Adelias Hund den anderen Kindern – die allesamt ohne Schwierigkeiten und nur mit Hilfe einer Nachbarin und eines Brotmessers geboren worden waren – Wiegenlieder aus seiner Heimat vor, und es verriet einiges über das Ausmaß von Adelias Verzweiflung, dass sie sich in diesem Augenblick weder an seiner Stimme erfreute noch an dem befremdlichen Umstand, die Molltöne einer engelsgleichen arabischen Kastratenstimme im englischen Sumpfland zu hören. Sie konnte nur das Durchhaltevermögen der leidenden Frau auf dem Bett bewundern, die ein gekeuchtes »Das iss schön« herausbrachte.

Der Ehemann ließ sich nicht verzaubern. Er verbarg sich und die Sorge um seine Frau im unteren Teil der Hütte bei der Kuh. Seine Stimme drang die Holztreppe herauf ins Obergeschoss – teils als Heuboden, teils als Wohnraum genutzt –, wo die Frauen kämpften. »Das hat nie so lang gedauert, wenn Goody Baines sie auf die Welt geholt hat.«

Schön für Goody Baines, dachte Adelia. Aber bei der Geburt dieser Kinder hatte es eben auch keine Komplikationen gegeben, und es waren einfach zu viele gewesen. Später würde sie darauf hinweisen müssen, dass Mistress Reed in zwölf Jahren neunmal entbunden hatte; ein weiteres Kind würde sie wahrscheinlich umbringen, falls das bei diesem nicht schon geschah.

Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, und vor allem für die Mutter in den Wehen musste sie Zuversicht verströmen, deshalb rief sie munter: »Dann seid froh, dass ich jetzt hier bin, Mann, und sorgt dafür, dass immer reichlich Wasser kocht.«

Ich, dachte sie, eine Anatomin und noch dazu eine Ausländerin. Mein Fachgebiet sind Leichen. Ihr habt allen Grund, Euch Sorgen zu machen. Wenn Ihr wüsstet, dass ich nur einmal bei einer Geburt dabei war, und da war ich die Gebärende, Ihr würdet schlottern vor Angst.

Die unbekannte Goody Baines hätte vielleicht gewusst, was zu tun war. Ebenso Gyltha, Adelias Gefährtin und Betreuerin ihres Kindes, doch beide Frauen hielten sich unabhängig voneinander auf dem Jahrmarkt in Cambridge auf und würden erst in ein oder zwei Tagen zurückkommen. Kaum waren sie aufgebrochen, hatten bei Mistress Reed die Wehen eingesetzt. In diesem entlegenen Teil des Sumpflandes verfügte bekanntermaßen nur Adelia über medizinische Kenntnisse, und daher hatte man sie geholt.

Und wenn die Frau im Bett sich die Knochen gebrochen oder irgendeine Krankheit zugezogen hätte, dann wäre Adelia tatsächlich in der Lage gewesen, ihr zu helfen, denn Adelia war Ärztin. Sie war nicht nur erfahren im Umgang mit Kräutern, beherrschte nicht nur die praktischen Kenntnisse, die Frauen von Generation zu Generation weitergaben, und sie war auch kein Scharlatan, wie so viele Männer, die sich als Doktoren ausgaben und ihre Patienten mit widerwärtigen und viel zu teuren Arzneien übers Ohr hauten. Nein, Adelia war Absolventin der großartigen, liberalen, fortschrittlichen und vielbewunderten Medizinschule in Salerno, die der Kirche zum Trotz auch Frauen zum Studium zuließ, wenn sie nur intelligent genug waren.

Adelia hatte ihre Lehrer überzeugen können, dass sie es, was den Verstand betraf, mit den schlausten Männern nicht nur aufnehmen, sondern sie sogar übertreffen konnte, und war daher in den Genuss einer männlichen Ausbildung gekommen, die sie später vervollständigt hatte, indem sie in der anatomischen Abteilung ihres jüdischen Ziehvaters beim Sezieren von Leichen half.

Es war also eine einzigartige Ausbildung, die ihr jedoch im Augenblick nichts nützte, denn Salernos Medizinschule hatte in ihrer Weisheit – und es war wahrhaftig Weisheit – die Geburtshilfe den Hebammen überlassen. Adelia hätte Mistress Reeds Neugeborenes heilen können; wäre es tot gewesen, hätte sie eine Obduktion durchführen können, um festzustellen, woran es gestorben war – aber sie konnte ihm nicht auf die Welt helfen.

Sie reichte der Tochter der Frau eine Schüssel Wasser und ein Tuch, ging durchs Zimmer, nahm ihren eigenen Säugling aus dem Weidenkörbchen, setzte sich auf einen Heuballen, öffnete ihr Mieder und begann zu stillen.

Sie hatte eine Theorie über das Stillen wie über praktisch alles: Es sollte von ruhigen, heiteren Gedanken begleitet werden. Wenn sie das Kind sonst stillte, setzte sie sich meistens in die Tür ihres kleinen, reetgedeckten Hauses in Waterbeach und ließ den Blick und die Gedanken über das Sumpfland entlang der Cam wandern. Zunächst hatte das flache Grün schlecht abgeschnitten gegen die Erinnerung an das mediterrane Panorama ihrer Heimat mit der dramatisch zerklüfteten Landschaft vor einem türkisblauen Meer. Doch auch das Flache besaß eine gewisse Schönheit, und allmählich hatte sie den endlosen Himmel über weiten Flächen mit Weiden und Erlen ebenso zu schätzen gelernt wie die reichen Fisch- und Jagdgründe des Sumpflandes. »Berge?«, hatte Gyltha einmal gesagt. »Halt ich nix von. Die sind bloß im Weg.«

Außerdem war das hier jetzt die Heimat des Kindes in ihren Armen, ein weiterer Grund, sich für die Gegend zu erwärmen.

Aber heute wagte Adelia es nicht, Augen und Gedanken für ihr Kind auf angenehme Dinge zu richten. Ein anderes Kind musste gerettet werden, und sie würde es nicht wegen ihrer eigenen Unwissenheit sterben lassen. Und auch die Mutter nicht.

Adelia entschuldigte sich stumm bei dem kleinen Wesen, das sie hielt, und rief sich die Leichen von Schwangeren mit ungeborenem Fötus ins Gedächtnis, die sie seziert hatte.

Es waren erbarmungswürdige Kadaver gewesen, doch wenn sie auf dem Marmortisch im großen Seziersaal in Salerno lagen, hatte Adelia sich gezwungen, kein Mitleid zu empfinden, so, wie man es sie im Umgang mit allen Toten gelehrt hatte, um ihnen besser dienen zu können. Für Gefühle war beim Sezieren kein Platz, nur für klare, ausgebildete, forschende Vernunft.

Jetzt tat sie hier das Gleiche, in einer wackeligen kleinen Hütte am Rande der zivilisierten Welt. Sie verdrängte das Leiden der Gebärenden aus dem Kopf und ersetzte es durch ein Bild, das die inneren Organe zeigte, Position, Druck, Verlagerungen. »Hmm.«

Geistesabwesend nahm Adelia das Kind von ihrer linken, nun leeren Brust und legte es an die andere, während sie die Belastungen auf Gehirn und Nabelschnur erwog, warum und wann es zum Erstickungstod kam, zu Blutverlust, Faulbrand … »Hmm.«

»Hier, Missis. Da kommt was.« Die Tochter führte die Hände ihrer Mutter an das Zaumzeug, das ans Kopfende des Bettes gebunden worden war.

Adelia legte ihr Kind zurück in den Korb, deckte es zu und trat ans Bett.

Da tauchte tatsächlich etwas aus dem Körper der Mutter auf, aber es war kein Kopf, sondern das Gesäß des Kindes.

Verdammt. Eine Steißgeburt. Sie hatte es befürchtet, aber als man sie geholt hatte, war das Kind schon zu weit abgesenkt gewesen; es war also zu spät, hineinzugreifen und den Fötus zu drehen, selbst wenn sie die Kenntnisse und den Mut dafür besessen hätte.

»Wollt Ihr’s nich rausziehen?«, fragte die Tochter.

»Noch nicht.« Sie wusste, es konnte verheerende Folgen haben, wenn in dieser Phase gezogen wurde. Stattdessen sagte sie zu der Mutter: »Jetzt müsst Ihr pressen. Ob Ihr wollt oder nicht, presst.«

Mistress Reed nickte, nahm ein Stück von dem Zaumzeug in den Mund, biss fest hinein und begann zu pressen. Adelia bedeutete dem Mädchen, mit anzufassen und den Körper der Mutter so tief herunterzuziehen, dass die Gesäßbacken über den Rand hingen und die Schwerkraft ihren Teil beitragen konnte.

»Halt die Beine fest. Fass sie an den Knöcheln, hinter mir. Hinter mir, richtig so. Gut gemacht, Mistress. Immer weiter pressen.« Sie selbst kniete, eine gute Stellung, um ein Kind zu holen – und zu beten.

Hilf uns, Herr.

Trotzdem wartete sie, bis der Nabel mit der Schnur daran erschien. Sie berührte die Schnur leicht – ein kräftiger Pulsschlag. Gut, gut.

Jetzt.

Mit raschen, aber behutsamen Bewegungen schob sie die Hand in den Geburtskanal und löste ein Bein, dann das andere, beugte die zarten Knie.

»Presst. So presst doch.«

O Wunder, da kamen von ganz allein, ohne gezogen zu werden, zwei Arme und der Körper bis zum Nacken herausgeglitten. Adelia hielt den Körper mit einer Hand, legte die andere auf den kleinen Rücken und fühlte das Beben von arbeitenden Lungen. Es atmete.

Jetzt kam’s drauf an. In wenigen Augenblicken drohte das Kind zu ersticken. Gott, welcher auch immer du bist, steh uns bei.

Er tat es nicht. Mistress Reed hatte keine Kraft mehr, und der Kopf des Kindes steckte noch immer fest.

»Gib mir die Tasche, die Tasche.« Im Handumdrehen hatte Adelia ihr Seziermesser herausgeholt, das sie stets sauber hielt.

»Jetzt.« Sie legte die Hand der Tochter auf die Scham von Mistress Reed. »Drück.« Sie stützte den kleinen Torso weiter ab und machte einen Schnitt ins Perineum der Mutter. Etwas gab nach, und weil sie das Messer noch in der Hand hielt, musste sie das Neugeborene in der Ellbogenbeuge auffangen.

Die Tochter schrie. »Es iss raus, Dadda.«

Master Reed erschien oben an der Treppe und verströmte Kuhmistgeruch. »Donnerwetter, was isses?«

Ganz benommen vor Erleichterung sagte Adelia: »Es ist ein Kind.« Hässlich, blutig, schmierig, froschartig, die Füße Richtung Kopf angewinkelt wie noch im Mutterleib, aber unversehrt und atmend, und als man ihm auf den Rücken klopfte, protestierte es gegen das Leben im Allgemeinen und gegen seinen Eintritt in selbiges im Besonderen – für Adelia der schönste Anblick und die schönsten Laute, die die Welt zu bieten hatte.

»Das ist klar, aber was iss es?«

»Ach so.« Adelia legte das Messer weg und drehte das Wunder um. Es war männlich, ganz eindeutig männlich. Sie sammelte sich. »Ich glaube, die Schwellung des Skrotums wird durch einen Bluterguss verursacht und ist nicht von Dauer.«

»Wenn doch, kann er sich später was drauf einbilden, was?«, sagte Master Reed.

Die Nabelschnur wurde durchtrennt, Mistress Reed genäht und zurechtgemacht, damit sie Besucher empfangen konnte, das Neugeborene in eine Wolldecke gehüllt und in die Arme seiner Mutter gelegt.

»He, Missis, wie ist Euer voller Name? Wir würden ihn gern nach Euch benennen«, sagte der Ehemann.

»Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar«, antwortete Adelia entschuldigend.

Schweigen.

»Und seiner?« Master Reed zeigte auf die hohe Gestalt Mansurs, der mit den Geschwistern heraufgekommen war, um das Wunder zu bestaunen.

»Mansur bin Fayîî bin Nasab Al-Masaari Khayoun aus Al Amarah.«

Wieder Schweigen.

Mansur, der durch seine Verbindung mit Gyltha die Sprache des Sumpfvolkes gelernt hatte, auch wenn er kaum Gelegenheit bekam, sie zu sprechen, sagte auf Arabisch: »Der Prior kommt, ich habe sein Boot gesehen. Die sollen den Jungen Geoffrey nennen.«

»Prior Geoffrey ist hier?« Im Nu war Adelia die Leiter hinunter und rannte auf die kleine Holzplattform hinaus, die als Steg diente. Alle Häuser und Hütten im Sumpfland hatten Zugang zu den zahllosen Flüssen, und sobald die Kinder hier laufen konnten, lernten sie, ein kleines Boot zu steuern.

Einer der liebsten Menschen, die Adelia auf der Welt hatte, stieg mit Hilfe eines livrierten Ruderers aus seinem Kahn. »Was macht Ihr hier?«, fragte sie und umarmte ihn zur Begrüßung. »Warum seid Ihr gekommen? Wie geht es Ulf?«

»Er ist ein Früchtchen, aber ein schlaues Früchtchen. Er gedeiht prächtig.« Gylthas Enkelsohn und, so wurde gemunkelt, auch der des Priors besuchte die Stiftsschule und würde sie erst zur Aussaat im Frühling verlassen.

»Ich bin so froh, Euch zu sehen.«

»Und ich bin froh, Euch zu sehen. In Waterbeach sagte man mir, wo ich Euch finden kann. Anscheinend muss der Berg zum Propheten kommen.«

»Und der Berg ist noch immer zu gewaltig«, sagte Adelia und trat zurück, um ihn genau zu betrachten. Der Prior des großen Stifts St. Augustine in Cambridge war ihr erster Patient und in der Folge ihr erster Freund in England gewesen. Sie sorgte sich um ihn. »Ihr habt meine Speisevorschriften nicht eingehalten.«

»Dum vivimus, vivamus«, sagte er. »Lasst uns leben, solange wir leben. Ich halte mich da an die Epikureer.«

»Wisst Ihr, wie hoch die Sterblichkeitsrate unter Epikureern ist?«

Sie sprachen fließend in klassischem Latein miteinander, weil es ihnen praktisch in die Wiege gelegt worden war, aber die Männer im Kahn des Priors fragten sich, was ihr Herr vor ihnen verbergen wollte, was er zu dieser Frau sagte und, das größte Rätsel überhaupt, wieso diese Frau es verstehen konnte.

»Aber Ihr kommt gerade recht«, sagte Adelia, »um das erste von mir auf die Welt geholte Neugeborene zu taufen. Das wird die Eltern beruhigen, dabei ist der Kleine gesund und kräftig.«

Adelia hielt genauso wenig von der christlichen Kindstaufe wie von den, wie sie meinte, barbarischen Dogmen der drei großen Religionen. Ein Gott, der das kleine Geschöpf, falls es starb, nicht in sein himmlisches Reich lassen würde, wenn es nicht zuvor, von bestimmten Worten begleitet, mit Wasser besprengt worden war, war kein Gott, mit dem sie irgendwas zu tun haben wollte.

Aber für die Eltern war die Zeremonie überaus wichtig, und wenn auch nur, damit eine christliche Beerdigung stattfinden konnte, sollte das Schlimmste geschehen. Master Reed hatte schon nach dem schmierigen Wanderpriester schicken wollen, der das Gebiet betreute.

Die Familie Reed sah schweigend zu, wie mit Edelsteinen geschmückte Finger die Stirn ihres Sohnes benetzten und eine Stimme, die ebenso samtweich war wie das Ornat ihres Besitzers, ihn im Glauben willkommen hieß, ihm das ewige Leben verhieß und ihn auf den Namen Geoffrey taufte, »im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen«.

»Die Menschen aus dem Sumpfland bedanken sich nie«, sagte Adelia entschuldigend, als sie mit ihrem Kind in den Kahn des Priors stieg und der Hund namens Wächter hinterdreinsprang, so dass Mansur allein in ihrem Ruderboot folgen musste, »aber sie vergessen auch nie. Sie waren dankbar, aber verwundert. Ihr wart einfach zu viel für sie, als wäre der Erzengel Gabriel in einem goldenen Lichtstrahl herabgestiegen.«

»Non angeli, sed angli, fürchte ich«, entgegnete Prior Geoffrey, und aufgrund seiner großen Zuneigung zu Adelia störte es ihn nicht im Geringsten, dass er, der er doch seit dreißig Jahren in Cambridgeshire lebte, von dieser Frau aus Süditalien über den Charakter des Sumpfvolkes belehrt wurde.

Schau sie sich einer an, dachte er, gekleidet wie eine Vogelscheuche, in Begleitung eines Hundes, der es erforderlich macht, die Bank zu desinfizieren, auf der er sitzt, drückt die klügste Frau ihrer Generation ihren Bastard ans Herz, glückselig, weil sie einer Mutter beigestanden hat, einen Balg in ihre ärmliche Welt zu setzen.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, von wem sie wohl abstammte, was sie ebenso wenig wusste wie er. Sie war von einem Ehepaar in Salerno aufgezogen worden, einem Juden und seiner christlichen Frau, nachdem sie sie an den Steinhängen des Vesuvs gefunden hatten. Ihr Haar war dunkelblond, wie man es mitunter bei Griechen oder Florentinern sah. Aber im Augenblick konnte es ohnehin niemand sehen, weil es unter dieser unsäglichen Kappe steckte.

Sie ist noch immer genauso merkwürdig wie bei unserer ersten Begegnung auf der Straße nach Cambridge, dachte Prior Geoffrey. Ich auf dem Rückweg von einer Pilgerreise nach Canterbury, sie auf einem Karren, begleitet von einem Araber und einem Juden. Ich hatte die Gelehrte in ihr nicht erkannt und sie für eine Metze gehalten. Doch als ich es vor Schmerzen nicht mehr aushielt und nur noch heulte – Gott, wie ich geheult habe und was für Schmerzen ich litt –, da war nur sie allein meine Samariterin, obwohl ich von lauter Christen umgeben war. Als sie mir an jenem Tag das Leben rettete, da degradierte sie mich, mich, zu einem stammelnden Jüngling, indem sie mit meinen intimsten Teilen hantierte, als wären sie nichts als Kutteln, die in den Kochtopf gehören. Und trotzdem finde ich sie schön.

Sie hatte, einem Befehl gehorchend, ihre Arbeit mit den Toten von Salerno verlassen und sich einer geheimen Mission angeschlossen, die unter Leitung des klugen Juden Simon aus Neapel herausfinden sollte, wer die Kinder in Cambridge tötete – eine Angelegenheit, die dem König von England großen Verdruss bereitete, weil er Aufruhr und somit schwindende Steuereinnahmen befürchtete.

Da England nun mal nicht das freigeistige Salerno war, musste Mansur, Adelias Diener, sich während der Ermittlungen als Arzt ausgeben und Adelia selbst seine Assistentin spielen. Der arme, brave Simon – obwohl er ein Jude war, schloss der Prior ihn in sein Gebet ein – war bei der Suche nach dem Mörder getötet worden, und auch Adelia wäre beinahe ums Leben gekommen. Doch der Fall war aufgeklärt und die Gerechtigkeit wiederhergestellt worden, und die Steuern flossen wieder in des Königs Staatskasse.

Adelias forensische Fähigkeiten hatten sich sogar als derart nützlich erwiesen, dass König Henry ihr für den Fall, ihrer Dienste wieder einmal zu bedürfen, die Rückkehr nach Italien verweigert hatte. Eine kleingeistige und gierige Undankbarkeit, wie sie typisch für Könige war, dachte Prior Geoffrey, wenngleich sie die Frau zu seiner Nachbarin machte, was für ihn Anlass zu großer Freude war.

Wie sehr ist ihr das Exil verhasst? Immerhin hatte sie keinerlei Lohn erhalten. Der König hatte nichts unternommen – nun ja, er war im Ausland gewesen –, als Cambridges Ärzte sie und Mansur aus Neid auf ihren Erfolg aus der Stadt hinaus in das öde Sumpfland gejagt hatten.

Kranke und leidende Männer und Frauen waren ihnen gefolgt und kamen noch immer, denn es war ihnen gleichgültig, ob sie von fremdländischen Ungläubigen behandelt wurden, Hauptsache, ihnen wurde geholfen.

Herr, ich fürchte um sie. Ihre Feinde werden sie verdammen. Werden in ihrem unehelichen Kind den Beweis dafür sehen, dass sie unmoralisch ist, werden sie vor das Gericht des Archidiakonats schleppen, um sie als Sünderin aburteilen zu lassen. Und was kann ich dagegen tun?

Prior Geoffrey stöhnte angesichts seiner eigenen Schuld auf. Was für ein Freund bin ich ihr denn bislang gewesen? Oder dem Araber? Oder Gyltha?

Bis zu dem Augenblick, als er selbst schon mit einem Bein im Grab stand und von Adelia in letzter Sekunde zurückgezerrt wurde, hatte er bezüglich der Wissenschaft die Haltung der Kirche vertreten, die lehrte, dass nur die Seele zählte, nicht der Körper. Physischer Schmerz? Er ist Gottes Wille, also nimm ihn hin. Forschung? Leichen sezieren? Experimente? Sic vos ardebitis in Gehenna, so werdet ihr in der Hölle schmoren.

Doch Adelia war erfüllt vom Ethos Salernos, wo arabische, jüdische und sogar christliche Denker sich weigerten, ihrer Suche nach Wissen Schranken aufzuerlegen. Sie hatte ihn belehrt: »Wie könnte es denn Gottes Wille sein, zuzuschauen, wie ein Mensch ertrinkt, wenn ihn ein ausgestreckter Arm retten könnte? Ihr wärt fast in Eurem eigenen Urin ertrunken. Hätte ich da die Hände in den Schoß legen sollen, anstatt Eure Blase zu erleichtern? Nein, ich wusste, wie es ging, und hab’s getan. Und ich wusste es, weil ich die vergrößerte Drüse bei Männern studiert habe, die daran gestorben sind.«

Ein seltsam sprödes kleines Ding war sie damals gewesen, unelegant, beinahe nonnenhaft, wären da nicht ihre fast wilde Ehrlichkeit, ihre Intelligenz und ihr Hass auf jeden Aberglauben gewesen. Zumindest hatte ihr die Zeit in England etwas gebracht, dachte er – eine größere Fraulichkeit, eine gewisse Weichheit und natürlich das Kind, Frucht einer Liaison, die ebenso leidenschaftlich und unangemessen gewesen war wie die zwischen Héloïse und Abaelard.

Prior Geoffrey seufzte und wartete darauf, dass sie ihn fragte, warum er, ein vielbeschäftigter und bedeutender Mann, aufgebrochen war, um sie zu suchen.

Mit Beginn des Winters hatten die Bäume im Sumpfland ihr Laub verloren, so dass die Sonne jetzt fast ungehindert auf den Fluss fiel und das Wasser die wilden Formen von kahlen Weiden und Erlen an beiden Ufern genau widerspiegelte. Adelia, die vor Erleichterung und Triumph gesprächiger war als sonst, nannte dem gleichmütigen Säugling auf ihrem Schoß die Namen der Vögel, die vor dem Bug des Kahns aufflatterten, wiederholte sie auf Englisch, Latein und Französisch und erkundigte sich übers Wasser hinweg bei Mansur, wenn ihr die arabische Bezeichnung nicht mehr einfallen wollte.

Wie alt ist mein Patenkind jetzt?, fragte sich der Prior amüsiert. Acht Monate? Neun? »Ein bisschen jung für den Fremdsprachenunterricht«, sagte er.

»Man kann gar nicht früh genug anfangen.«

Endlich blickte sie auf. »Wo fahren wir hin? Ich vermute, Ihr seid nicht so weit herausgekommen, weil vielleicht zufällig gerade irgendwo ein Kind getauft werden musste.«

»Es war mir eine Ehre, Medica«, sagte Prior Geoffrey. »Ich fühlte mich in den gesegneten Stall von Bethlehem versetzt. Aber nein, deshalb bin ich nicht gekommen. Dieser Bote …« Er gab jemandem, der in einem langen Umhang wie gebannt im Bug des Kahns gestanden hatte, ein Zeichen. »… ist mit einem Brief für Euch in der Priorei aufgetaucht, und da er gewisse Schwierigkeiten gehabt hätte, Euch in diesen Gewässern zu finden, habe ich mich bereit erklärt, ihn herzubegleiten.«

Außerdem wusste er, dass er zur Stelle sein musste, wenn die Einladung überbracht wurde, denn sie würde ihr nicht folgen wollen.

»Na los«, sagte Adelia, die sich ebenso wie Mansur durch Gyltha eine gewisse Respektlosigkeit angeeignet hatte. »Raus mit der Sprache.«

Der Bote war ein magerer junger Bursche, und Adelias finsterer Blick ließ ihn fast rückwärts taumeln. Außerdem starrte er mit offenem Mund den Prior an und fragte: »Ist das Lady Adelia, Mylord?« Immerhin ließ der Name eine Adelige vermuten. Er hatte würdevolles Auftreten erwartet, sogar Schönheit, das Schleifen eines Rocks über Marmor, nicht dieses unscheinbare Frauenzimmer mit Hund und Kind.

Prior Geoffrey schmunzelte. »Das ist Lady Adelia, fürwahr.«

Nun denn. Der junge Mann verbeugte sich und warf den Umhang nach hinten, damit das gestickte Wappen auf seinem Rock zum Vorschein kam: zwei aufsteigende Hirsche und ein Schrägkreuz. »Von meinem ehrwürdigen Herrn, dem Bischof von St. Albans.«

Eine Schriftrolle wurde vorgestreckt.

Adelia nahm sie nicht entgegen. Ihre Lebhaftigkeit war verflogen. »Was will der denn?« Die Frage wurde mit einer Eiseskälte ausgesprochen, die dem Boten fremd war. Er sah hilflos zum Prior hinüber.

Prior Geoffrey schaltete sich ein. Er hatte eine ähnliche Schriftrolle erhalten. Noch immer auf Latein sagte er: »Offenbar benötigt unser Bischof Eure Kenntnisse, Adelia. Er hat Euch nach Cambridge bestellt – es geht um einen Mordversuch in Oxfordshire. Mir scheint, die Sache ist von großer politischer Tragweite.«

Der Bote hielt ihr weiterhin die Schriftrolle hin, Adelia nahm sie weiterhin nicht entgegen. Sie wandte sich an ihren Freund.

»Ich fahre da nicht hin, Geoffrey. Ich will nicht.«

»Ich weiß, meine Liebe, aber deshalb bin ich ja mitgekommen. Ich fürchte, Ihr müsst.«

»Ich will ihn nicht sehen. Ich bin hier glücklich. Gyltha, Mansur, Ulf und das Kleine hier …« Sie hielt den Säugling hoch. »Ich mag das Sumpfland, ich mag die Menschen. Zwingt mich nicht.«

Ihr Flehen zerriss ihm fast das Herz, aber er blieb hart. »Meine Liebe, ich habe keine andere Wahl. Wie unser Bischof schreibt, handelt es sich um eine Angelegenheit des Königs. Des Königs! Daher habt auch Ihr keine andere Wahl. Denn Ihr seid die geheime Waffe des Königs.«