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FIDELMA SAß IN DEM OFFICIUM IM LA-
teranpalast, das man ihr und Bruder Eadulf zugewiesen hatte, und rieb sich den schmerzenden Kopf. Schwindel und Übelkeit hatten nachgelassen, aber das Kopfweh war geblieben. Bei ihrer Ankunft im Palast hatte Eadulf auf seine Kenntnisse der Medizin verwiesen und darauf bestanden, sie weiterzubehandeln. Cornelius hatte keine Bedenken gehabt, seine Patientin in die Obhut des sächsischen Mönchs zu geben. Ja, er schien sogar erleichtert, die Verantwortung los zu sein und seinen eigenen Geschäften nachgehen zu können. Seit seinem Aufenthalt in Tuaim Brecain trug Bruder Eadulf stets eine pera oder les bei sich, wie die irischen Ärzte ihre Arzneitaschen nannten, in denen sie die verschiedensten Heilkräuter aufbewahrten. Er verband Fidelmas Wunde und bereitete einen Aufguß aus getrockneten roten Kleeblüten zu, der, wie er ihr versicherte, den Kopfschmerz rasch lindern würde.
Fidelma hatte vollkommenes Vertrauen in Ea-dulf und schlürfte den übelschmeckenden Trunk ohne Widerspruch. In Hildas Kloster in Witebia hatte er ihr schon zweimal auf ähnliche Weise geholfen und sie nach einem gefährlichen Sturz von einem starken Kopfschmerz befreit.
Während er sie verarztete, berichtete sie ihm und Furius Licinius von ihren Abenteuern. Der junge tesserarius rief sofort eine decuria der custodes zusammen und brach zum christlichen Friedhof jenseits des Metronia-Tors auf. Fidelma mußte unterdessen Bruder Eadulfs Vorwürfe über sich ergehen lassen. Obwohl sie sich alle Mühe gab, ihre Erlebnisse zu ordnen, mußte sie sich nach einer Weile eingestehen, daß ihr bisheriges Wissen dazu nicht ausreichte. Es ergab einfach keinen Sinn.
«Wir müssen nach Bruder Osimo Lando schik-ken», unterbrach sie Eadulf plötzlich mitten im Satz. Er hatte sie sanft, aber unmißverständlich dafür getadelt, allein in die Katakomben gegangen zu sein, ohne ihm oder jemand anderem vorher Bescheid zu geben. Er blinzelte. «Osimo Lando?» fragte er erstaunt.
«Er hat zugegeben, Ronan sehr gut gekannt zu haben, und ich habe das Gefühl, daß er mehr weiß, als er uns bisher sagen wollte. Vielleicht erweist er sich jetzt, da Ronan tot ist, als mitteilsamer.»
Die Tür öffnete sich, und superista Marinus betrat das Zimmer. Er wandte sich direkt an Fidelma. «Ist es wahr? Stimmt es, was ich gehört habe ... Bruder Ronan Ragallach ist tot?»
Fidelma nickte zur Bestätigung.
Das Gesicht des superista verzog sich zu einem breiten Lächeln. Er gab sich keine Mühe, seine Genugtuung zu verbergen. «Dann ist der Fall ja endlich abgeschlossen.»
«Ich fürchte, da kann ich Euch nicht ganz folgen», sagte Fidelma kühl.
Marinus breitete die Hände aus, als wollte er durch diese Geste unterstreichen, wie einleuchtend seine Schlußfolgerung war. «Der Täter ist gefunden und nicht mehr am Leben. Damit besteht kein Grund mehr, der Sache noch weiter nachzugehen.» Fidelma schüttelte bedächtig den Kopf. «Ich kann nur annehmen, daß Ihr nicht alle Tatsachen kennt, Marinus. Bruder Ronan Ragallach ist auf dem Weg zu einem Treffen mit mir von einem Unbekannten erdrosselt worden. Er hatte mir einen Brief geschickt, in dem er seine Unschuld beteuerte und um die Möglichkeit bat, seine Sicht der Dinge darzulegen. Er ist auf genau die gleiche Weise ermordet worden wie Wighard von Canterbury. Wer auch immer Wighard getötet hat, hat auch Ronan Ragallachs Leben auf dem Gewissen. Wie Ihr seht, ist der Fall in Wirklichkeit alles andere als gelöst.»
Der superista blinzelte heftig. «Mir hat man gesagt, daß er tot sei», erwiderte er in fast kläglichem Ton. «Ich habe vermutet, daß er auf der Flucht getötet wurde oder sich selbst das Leben genommen hat, weil ihm klar wurde, daß er uns auf Dauer nicht entkommen konnte.»
«Schwester Fidelma hatte recht, und wir waren im Irrtum», mischte sich Eadulf ein. Fidelma sah ihn überrascht an. Sie freute sich über den unerwarteten Respekt in seiner Stimme. Fast klang es so, als bereite es ihm Vergnügen, daß sie ihn widerlegt hatte. «Sie hat die ganze Zeit über daran ge-zweifelt, daß Ronan Ragallach Wighards Mörder war.»
Superista Marinus reckte das Kinn. «Dann müssen wir alles tun, um die Wahrheit so rasch wie möglich aufzudecken. Erst heute morgen ist der scriba aedilicius des Heiligen Vaters zu mir gekommen. Seine Heiligkeit ist über die langwierigen Ermittlungen alles andere als erfreut.»
«Wir sind ebenso an einer raschen Lösung interessiert wie er», erwiderte Fidelma, verärgert über den unterschwelligen Vorwurf. «Aber es läßt sich nun einmal nicht erzwingen.» Sie erhob sich von ihrem Platz. «Und jetzt haben wir einiges zu tun. Könntet Ihr einen Eurer Männer zu Bruder Osimo Lando schicken? Wir brauchen seinen Rat.»
Superista Marinus war es nicht gewohnt, von anderen Anweisungen zu bekommen. Er wollte Widerspruch anmelden, besann sich aber eines Besseren, nickte grimmig und ging hinaus.
Eadulf sah Fidelma grinsend an. «Am Ende werdet Ihr den Heiligen Vater noch genauso herablassend behandeln.»
«Herablassend?» Fidelma schüttelte den Kopf. «Was ich für Marinus empfinde, hat nichts mit Herablassung zu tun. Aber von uns allen wird erwartet, daß wir uns in unserer Kunst und in unserem Amt als fachkundig erweisen, und wir sollten uns Mühe geben, unsere Aufgabe mit der Sorgfalt auszuführen, die wir auch bei anderen voraussetzen. Es genügt nicht, auf das eigene Amt stolz zu sein. Man braucht auch die entsprechenden Fähigkeiten und das nötige Selbstvertrauen.»
Eadulfs Miene wurde ernst.
«Jetzt, nach Ronan Ragallachs Tod, weiß ich nicht, wie wir den Fall weiter angehen sollen.»
Fidelma neigte den Kopf zur Seite. «Ronan Ra-gallach hat in seinem Brief abgestritten, Wighard getötet zu haben, und ich glaube ihm. Trotzdem hatte er bei seiner Ermordung einen Teil von Wighards Schatz bei sich.» Sie erzählte ihm von dem Stück Sackleinen in seiner Hand und von dem Silberkelch auf dem Boden der Grabkammer. «Auch wenn ich das jetzt nicht mehr beweisen kann.»
«Habt Ihr denn irgendeinen Verdacht, wer Euch niedergeschlagen und Kelch und Papyrus gestohlen haben könnte?»
«Nein.» Fidelma seufzte tief. «Ich habe in der Dunkelheit nur ganz kurz seinen Umriß gesehen und gedacht, daß er mir bekannt vorkam.»
«Es war also auf jeden Fall ein Mann?» fragte Eadulf.
Fidelma runzelte die Stirn. Ganz unwillkürlich hatte sie die männliche Form benutzt. Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, gab es eigentlich keinen Grund dafür.
«Nicht einmal das kann ich mit Gewißheit sagen.»
Eadulf kratzte sich nachdenklich an der Nase.
«Ich habe wirklich keine Ahnung, welchen Schritt wir als nächstes unternehmen sollten. Unser Hauptverdächtiger ist tot und wurde auf die gleiche Weise ermordet wie unser erstes Opfer .»
«Wer waren die beiden Fremden, die ich in der Grabkammer gesehen habe?» warf Fidelma ein. «Das herauszufinden wäre sicherlich der nächste Schritt. Ronan Ragallach trug die andere Hälfte des mit arabischen Schriftzeichen beschriebenen Papyrus bei sich. Außerdem habe ich mir ein paar Worte der beiden Fremden eingeprägt. Vielleicht kann Osimo Lando sie uns übersetzen. Ich glaube nämlich, daß sie aus Arabien stammten.»
«Aber warum sollte Bruder Ronan Ragallach sich mit Arabern treffen?»
«Wenn ich das wüßte, wäre ich der Lösung sehr viel näher», seufzte Fidelma.
Es klopfte an die Tür, und ein Soldat der custodes trat ein. In steifer Haltung, die Augen starr geradeaus gerichtet, blieb er salutierend vor ihnen stehen. «Ich habe Befehl, Euch zu berichten, daß Bruder Osimo Lando nicht an seiner Arbeitsstätte weilt. Er scheint sich zur Zeit überhaupt nicht im Palast aufzuhalten.»
«Könnt Ihr jemanden zu seiner Unterkunft schicken, um festzustellen, warum er nicht zur Arbeit erschienen ist?»
Der junge Mann antwortete so zackig, daß Fidelma erschrak. «Zu Befehl!» rief er laut, knallte die Hacken zusammen, drehte sich um und marschierte hinaus.
Besorgt sah Eadulf ihm nach. «Irgendwie scheint alles schiefzugehen.»
«Aber es muß doch in diesem Palast irgend jemanden geben, der die Sprache der Araber beherrscht.»
Eadulf stand auf und schritt zur Tür. «Das werde ich bald herausgefunden haben. Und Ihr ...», er drehte sich noch einmal um und sah sie eindringlich an, «. solltet Euch in der Zwischenzeit ein wenig ausruhen und von den Strapazen erholen.»
Fidelma winkte ab. Ihre Kopfschmerzen waren fast vergangen, nur die Schläfe selbst pochte noch. Allerdings gingen ihr zahllose Fragen und Gedanken im Kopf herum. Nachdem Bruder Eadulf fort war, machte sie es sich auf ihrem Stuhl bequem, faltete die Hände im Schoß und senkte den Blick, atmete tief und regelmäßig und entspannte nacheinander jeden Muskel.
Als junges Mädchen hatte sie im Noviziat die Kunst der dercad oder Meditation erlernt, durch die endlose Generationen irischer Mystiker den Zustand des sitchdin oder inneren Friedens erreicht hatten. Seither hatte sie diese Kunst in Zeiten der Belastung immer wieder angewandt und als sehr nützlich empfunden. Sie stammte noch aus der Zeit, ehe der christliche Glauben die Küsten Irlands erreicht hatte, und hatte bei den heidnischen Druiden eine große Rolle gespielt. Bis heute waren die druidischen Mystiker aus ihrem Heimatland nicht völlig verschwunden. Man fand sie noch als einsiedlerische Asketen in abgelegenen Bergfesten und Einöden. Aber sie gehörten zu einer aussterbenden Art.
Ab einem gewissen Alter war Fidelma regelmäßig ins tigh n’alluis, das Schwitzhaus, gegangen, ein fester Bestandteil der dercad-Zeremonie. In einem kleinen Steinhaus wurde ein großes Feuer entfacht, bis das Gebäude glühte wie ein Ofen. Dann gingen alle, die den Zustand des sitchain anstrebten, nackt hinein, und die Tür wurde verschlossen. Sie hockten auf Bänken und schwitzten, bis zu einer vorher verabredeten Zeit die Tür wieder geöffnet wurde, sie sich an der frischen Luft abkühlten und ins eisige Wasser sprangen, um durch diese innere und äußere Reinigung auf der Stufenleiter der dercad einen wichtigen Schritt voranzukommen. Viele asketisch lebende Gläubige folgten noch immer diesen alten Gebräuchen der Druiden, obgleich viele jüngere Geistliche sie ablehnten, und zwar meist nur deshalb, weil sie von den heidnischen Druiden stammten.
Auch der heilige Patrick, ein Brite, der bei der Einführung des Glaubens in Irland eine herausragende Rolle gespielt hatte, hatte die aus heidnischer Zeit überlieferten, teinm laegda und imbas forosnai genannten meditativen Wege zur Erleuchtung ausdrücklich mißbilligt. Fidelma war traurig darüber, daß die uralten Rituale auf dem Weg zu Selbsterkenntnis oft nur deshalb verworfen wurden, weil sie so alt waren und schon angewendet wurden, ehe der christliche Glaube nach Irland kam.
Doch die Kunst der dercad war bisher noch nicht verboten, was sich die irischen Geistlichen, wie Fidelma glaubte, auch nicht widerspruchslos gefallen lassen würden. Sie war ein hervorragendes Mittel zur Entspannung und Beruhigung des aufgewühlten Geistes.
«Schwester!»
Fidelma blinzelte. Sie hatte das Gefühl, aus einem tiefen, erholsamen Schlaf aufzuwachen.
Vor ihr stand tesserarius Furius Licinius und betrachtete sie besorgt.
«Schwester Fidelma? Geht es Euch gut?»
Fidelma lächelte ihn an. «Ja, Licinius, sehr gut sogar.»
«Ihr habt mich offenbar nicht kommen hören. Erst dachte ich, Ihr würdet schlafen, aber Ihr hattet die Augen auf.»
«Ich habe meditiert, Licinius.» Fidelma stand auf und streckte sich. Sie hatte keine große Lust, es ihm näher zu erklären. «Was bringt Ihr für Neuigkeiten?»
Furius Licinius machte ein betretenes Gesicht. «Wir haben Bruder Ronan Ragallachs Leiche aus den Katakomben geborgen und in Cornelius’ mor-tuarium gebracht. Sonst haben wir allerdings nicht viel gefunden, schon gar kein Stück Papyrus und auch keinen Silberkelch.»
Fidelma seufzte. «Genau, wie ich es mir gedacht hatte. Wer auch immer hinter der ganzen Sache steckt, ist äußerst gerissen.»
«Wir haben die Katakomben noch weiter durchsucht und sind auf einen zweiten Ausgang bei der aurelianischen Mauer gestoßen. Wahrscheinlich sind die Täter dort hinein- und auch wieder herausgekommen. Sie haben Euch nicht auf den Friedhof folgen müssen.»
Fidelma nickte bedächtig. «Und Ihr habt keine Hinweise auf den Täter entdeckt?»
«Nur daß Bruder Ronan Ragallach, wie Ihr selbst schon sagtet, mit einer Gebetsschnur erdrosselt wurde, und zwar auf genau die gleiche Weise wie Wighard von Canterbury.»
«Nun», Fidelma lächelte matt, «eine Kleinigkeit, die ich bei Ronan gefunden habe, wurde mir nicht gestohlen ...»
Aus ihrem marsupium zog sie das Stück Sackleinen hervor, das der tote Ronan Ragallach noch im Tod umklammert hatte.
Furius Licinius betrachtete er erstaunt. «Was soll das beweisen? Soweit ich sehen kann, ist das ein ganz gewöhnliches Stück Sackleinen.»
«In der Tat», stimmte Fidelma zu. «Genau wie dieses hier.»
Sie legte das andere Stück, das sie am Eingang zu Bruder Eanreds Kammer sichergestellt hatte, auf den Tisch.
«Glaubt Ihr, es stammt von dem gleichen Sack?»
«Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß.»
«Aber das ist eine bloße Annahme und kein Beweis.»
«Ihr seid auf dem besten Wege zum Rechtsgelehrten, Furius Licinius», lachte Fidelma. «Ihr habt recht, es ist kein Beweis. Aber es reicht aus, um Eanred noch einmal ins Verhör zu nehmen.»
«Bruder Eanred? Diesen Einfaltspinsel?»
In dem Moment kam Bruder Eadulf zurück. Sein enttäuschtes Gesicht ließ auf den ersten Blick erkennen, daß seine Suche erfolglos geblieben war. «Es war tatsächlich niemand aufzutreiben, der die Sprache der Araber beherrscht.»
Furius Licinius merkte auf. «Was ist mit Bruder Osimo Lando?»
Fidelma erklärte ihm, daß Osimo Lando nirgends aufzufinden war.
«Aber Marcus Narses hat heute an den Portalen der großen Halle Dienst. Er kann Euch bestimmt weiterhelfen. Er ist vor drei Jahren in Alexandria im Kampf gegen die Mohammedaner in deren Gefangenschaft geraten und mußte ein Jahr lang bei ihnen ausharren, bis seine Familie ihn gegen ein Lösegeld freikaufen konnte. Jedenfalls hat er damals ihre Sprache erlernt.»
«Dann schickt ihn zu uns, Licinius», sagte Eadulf und ließ sich auf einen Stuhl fallen. «Ich bin zu erschöpft, um ihn zu suchen.»
Es dauerte nicht lange, bis Furius Licinius seinen Kameraden aufgespürt und ins officium gebracht hatte.
Fidelma kam ohne Umschweife zur Sache. «Ich habe mir einige Worte eingeprägt, von denen ich glaube, daß sie der Sprache der Araber entstammen. Furius Licinius meinte, daß Ihr diese Sprache versteht. Könnt Ihr versuchen, sie für uns zu übersetzen?»
Der decurion neigte den Kopf. «Selbstverständlich, Schwester.»
«Das erste Wort ist kafir.»
Der Soldat grinste. «Das ist einfach. Es heißt <Ungläubiger>. Damit ist ein Mensch gemeint, der nicht an den Propheten glaubt. So wie wir einen Menschen, der die Botschaft Christi nicht anerkennt, als <infidelis> bezeichnen würden.»
«An den Propheten?»
«Ja, Mohammed von Mekka, der vor dreißig Jahren gestorben ist. Seine Lehren haben sich unter den Völkern des Morgenlandes wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Sie nennen die neue Religion <Islam>, was soviel bedeutet wie Hingabe an Gott oder Allah.»
Fidelma merkte auf. «Allah ist also ihr Wort für Gott? Was könnte dann <bismillah> bedeuten?»
«Auch das ist einfach», erwiderte Marcus Narses. «Es heißt <im Namen Allahs> - bei den Arabern nichts weiter als ein Ausruf des Erstaunens.»
Fidelma sah ihn nachdenklich an. «Meine Vermutung hat sich also bestätigt. Die beiden waren Araber. Und es sieht ganz so aus, als hätte Bruder Ronan mit ihnen in Verbindung gestanden. Aber zu welchem Zweck? Und welche Bedeutung hatte dies alles im Zusammenhang mit Wighards und Ronans Tod?»
Eadulf wandte sich an Marcus Narses. «Danke, decurion. Ihr könnt gehen», sagte er.
Der junge decurion schien zu zögern, aber nach einem kurzen Seitenblick auf Furius kehrte er wieder auf seinen Posten im atrium zurück.
«Wir müssen Bruder Osimo ausfindig machen», schlug Furius Licinius vor. «Ganz sicher weiß er mehr über diese Sache. Als Ronans Vorgesetzter kann er uns bestimmt sagen, ob dieser mit arabischen Angelegenheiten befaßt war.»
«Ich habe bereits jemanden in seine Unterkunft geschickt», erklärte Fidelma. «Mit Bruder Eanred würde ich allerdings auch gern noch einmal sprechen.»
«Bisher müssen wir uns auf Sebbis Wort verlassen, daß Eanred bereits einen Menschen erwürgt hat», wandte Eadulf ein, der ihre Gedanken erraten hatte.
«Wir müssen in dieser Sache sehr genau sein, Eadulf. Sebbi sagte nur, daß Eanred als Sklave seinen Herrn erdrosselte und daß dieses Verbrechen nach Eurem sächsischen Gesetz durch die Zahlung des wergild gesühnt ist.»
«Dennoch .», wollte Eadulf widersprechen.
Fidelma ließ sich nicht beirren. «Laßt uns gehen und nach Eanred suchen. In diesem Zimmer ist es furchtbar stickig. Mein Kopf könnte ein wenig frische Luft gebrauchen.»
Eadulf und Licinius folgten ihr durch den langen Korridor in die große Halle des Palasts, wo wie immer zahllose Menschen in Gruppen zusammenstanden und darauf warteten, ins Innere des Palasts vorgelassen zu werden. Über den prächtigen Mosaikfußboden gingen sie zügig weiter in Richtung domus hospitale. Sie hatten die entsprechende Tür fast erreicht, als ihnen Bruder Sebbi mit großen Schritten und grimmiger Miene entgegenkam.
Bei Eadulfs Anblick blieb er stehen. «Seid Ihr noch immer Berater und Sekretär der sächsischen Gesandtschaft?» zischte er ohne jede Einleitung.
«Wighard von Canterbury hat mich dazu berufen, doch seit seinem Tod ...», antwortete Eadulf, erstaunt über Sebbis schroffen Ton. Er zuckte die Achseln. «Ist etwas vorgefallen?»
«Vorgefallen? Vorgefallen? Habt Ihr Abt Puttoc gesehen?»
«Nein. Warum?»
Sebbi sah Furius Licinius an. Der des Sächsischen nicht mächtige Römer konnte dem Gespräch offenbar nicht folgen. Dann warf er Schwester Fidelma einen Blick zu, doch diese senkte scheinbar unbeteiligt die Augen. Schließlich wandte sich Sebbi von Stanggrund wieder an Eadulf. «Wie ich höre, versuchen die Römer wieder einmal, Canter-bury einen fremden Bischof aufzuzwingen.»
Eadulf lächelte verkniffen. «Das habe ich auch gehört. Aber ehe Deusdedit vor zehn Jahren als erster Sachse den Thron des Erzbischofs von Canter-bury bestieg, waren alle, die in dieses Amt berufen wurden, Römer oder Griechen. Der Herkunft unseres Erzbischofs sollten wir nicht allzu große Bedeutung beimessen. Sind wir vor Gott nicht alle gleich?»
Sebbi schnaubte empört. «Die sächsischen Völker wollen ihre eigenen Bischöfe, keine Fremden. Haben sie das nicht allein schon dadurch bewiesen, daß sie die Iren aus Northumbrien vertrieben haben? Und haben wir Sachsen uns nicht auf Wig-hard von Kent als unseren nächsten Erzbischof geeinigt?»
«Aber Wighard ist tot», erwiderte Eadulf trocken.
«Allerdings. Und der Heilige Vater sollte unsere Wünsche ernst nehmen, indem er Puttoc an Wig-hards Stelle zum Erzbischof beruft, nicht irgendeinen Afrikaner.»
«Einen Afrikaner?» Eadulf war verblüfft.
«Ja. Ich habe gerade gehört, Vitalian soll das Amt in Canterbury Abt Hadrian von Hiridanum angeboten haben - einem Afrikaner!»
Eadulf riß erstaunt die Augen auf. «Hadrian gilt als äußerst frommer und gelehrter Mann.»
«Wir müssen etwas tun! Wir Sachsen müssen zusammenhalten, unseren Widerstand anmelden und den Heiligen Vater auffordern, Puttoc seinen Segen zu geben.»
Eadulf verzog keine Miene. «Habt Ihr nicht erst vor kurzem zugegeben, daß Ihr Puttoc weder besonders achtet noch mögt? Anscheinend befürchtet Ihr, nicht zum Abt von Stanggrund ernannt zu werden, wenn Puttoc den Posten nicht bekommt. Wie auch immer, wir Sachsen können erst zusammenkommen, wenn der Mord an Wig-hard aufgeklärt ist.»
Sebbi wollte schon antworten, besann sich aber eines Besseren, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in der Menge.
Eadulf wandte sich an Fidelma. «Habt Ihr alles verstanden?»
Fidelma nickte nachdenklich. «Sieht ganz so aus, als wären Puttocs und Sebbis ehrgeizige Pläne durchkreuzt worden.»
«Bruder Sebbi traue ich durchaus zu, daß er einen Mord begeht, bloß um .» Eadulf, der erst jetzt bemerkte, was er da sagte, hielt erschrocken inne.
«Im Augenblick dürfen wir keine mögliche Erklärung außer acht lassen», beruhigte ihn Fidelma. «Ich habe ja von Anfang an gesagt: Ehrgeiz kann ein mächtiger Antrieb sein.»
«Das stimmt. Aber ist Ehrgeiz denn etwas so Verwerfliches?»
«Ehrgeiz nährt sich aus Eitelkeit, und Eitelkeit macht viele Menschen blind für Moral. Sagte nicht Publilius Syrus, vor einem Mann, der seinem Ehrgeiz folgte, müsse man am meisten auf der Hut sein?»
«Nicht, wenn er über die Begabung verfügt, um seine Pläne auch in die Tat umzusetzen», erwiderte Eadulf. «Von viel größerem Übel ist ein Mann, der zwar sehr ehrgeizig, aber im Grunde unfähig ist.»
Fidelma kicherte vergnügt. «Eines schönen Tages müssen wir einmal ganz ausführlich über Philosophie debattieren, Eadulf von Seaxmund’s Ham.»
«Vielleicht», antwortete Eadulf mit einem verlegenen Grinsen. «Allerdings hätte Puttoc im Augenblick eine solche Debatte am meisten nötig. Zum Thema Ehrgeiz könnte er durchaus ein paar Ratschläge gebrauchen.»
Gemeinsam gingen sie weiter zum domus hospitale.
Sie trafen Bruder Eanred, tief über einen Zuber gebeugt, im lavantur oder Waschhaus an. Als er sie kommen sah, zuckte er erschrocken zusammen, schrubbte aber gleich wieder auf dem dicken Woll-gewand herum, das er mit Wasser und Seife bearbeitete.
«Nun, Bruder Eanred», begrüßte ihn Fidelma. «Wie ich sehe, seid Ihr sehr fleißig.»
In einer seltsamen Geste der Mutlosigkeit hob der Mönch beide Schultern. «Ich wasche die Kleider meines Herrn.»
«Die von Abt Puttoc?» warf Eadulf für den Fall ein, daß Eanreds Antwort Fidelma zu einem Vortrag darüber reizen könnte, daß Gläubige nur einen Herrn kennen sollten, nämlich ihren Herrn im Himmel.
Eanred nickte.
«Wie lange seid Ihr schon mit der Wäsche beschäftigt?» fragte Fidelma.
«Seit ...» Eanred kniff die Augen zusammen, «seit dem Mittagsangelus, Schwester.»
«Und was habt Ihr davor getan?»
Eanred sah beunruhigt aus. Fidelma beschloß, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. «Wart Ihr auf dem christlichen Friedhof am Metronia-Tor?»
«Ja, Schwester.» Eanreds schlichte Antwort klang aufrichtig.
«Und was habt Ihr dort gemacht?»
«Ich habe Abt Puttoc zum Friedhof begleitet.»
«Und warum seid Ihr beide dort hingegangen?» fragte Fidelma geduldig weiter.
«Um Wighards Grab zu besuchen und Vorkehrungen für die Errichtung eines Grabsteins zu treffen, Schwester.»
Fidelma preßte nachdenklich die Lippen zusammen. Seine Erklärung klang einleuchtend. Zwischen Puttoc, Eanred und den Arabern, die am Friedhof mit Ronan Ragallach verabredet gewesen waren, bestand anscheinend keinerlei Verbindung.
Sie bemerkte, daß Eanred sie mit seinen blaßbraunen Augen neugierig musterte. In seinem Blick lag eine seltsame Leere, der starre Ausdruck eines Einfaltspinsels, der zu gewitzter Täuschung gar nicht fähig war. Und doch ... Fidelma biß sich auf die Lippe. Es lag noch etwas anderes in diesem Blick. Besorgnis? Oder Beunruhigung?
Nicht ohne Mühe riß Fidelma sich von diesen Gedanken los. «Danke, Eanred. Beantwortet mir doch bitte noch eine andere Frage. Besitzt Ihr eine Tasche aus Sackleinen?»
«Nein, Schwester.» Der Mönch schüttelte den Kopf.
«Und habt Ihr, seitdem Ihr hier seid, eine Tasche aus Sackleinen benutzt?»
Eanred zuckte die Achseln und sah sie verständnislos an. Fidelma wurde klar, daß es sinnlos war, weiter nachzuhaken. Falls Eanred log, war er ein sehr guter Lügner.
Sie dankte ihm und verließ die lavantur, gefolgt von Eadulf und Licinius.
«Mit dieser Befragung habt Ihr wenig erreicht, Schwester», bemerkte der sächsische Mönch nicht ohne Mißbilligung. «Warum habt Ihr ihm die Tat nicht auf den Kopf zugesagt?»
Fidelma breitete die Arme aus. «Wenn man ein Bild malen will, Bruder Eadulf, muß man hier und dort ein wenig Farbe auftupfen. Der einzelne Pinselstrich bedeutet wenig. Erst wenn alle Striche getan sind, man einen Schritt zurücktritt und das Ganze betrachtet, zeichnen sich erste Umrisse ab, und man hat das Gefühl, tatsächlich etwas erreicht zu haben.»
Eadulf biß sich auf die Lippe. Er hatte das Gefühl, getadelt worden zu sein, ohne zu wissen, wofür. Fidelma besaß manchmal die ärgerliche Angewohnheit, in Rätseln zu sprechen. Eadulf seufzte. Wie alle ihre Landsleute liebte sie es, zu Symbolen, Anspielungen und Übertreibungen zu greifen.
In dem kleinen Innenhof angekommen, setzte sich Fidelma auf die kleine Steinbrüstung vor dem plätschernden Brunnen und hielt ihre schmale Hand in das kühle Wasser. Furius Licinius und Ea-dulf standen etwas verlegen daneben und warteten darauf, daß sie ihr Schweigen brach.
«Ah, Bruder Eadulf!»
Es war der herrische Tonfall Äbtissin Wulfruns, der plötzlich im Innenhof widerhallte. Im gleichen Moment erschien die hochgewachsene Äbtissin auch schon in der offenen Tür. Die Augen starr geradeaus gerichtet, rauschte sie auf sie zu wie ein Schiff unter vollen Segeln.
«Mylady», begrüßte sie Eadulf.
Ohne Fidelma und Furius Licinius überhaupt wahrzunehmen, wandte die Äbtissin sich an den sächsischen Mönch. Ihre Hand spielte mit dem Schal um ihren Hals. Fidelma beobachtete die unwillkürliche Geste und versuchte zu ergründen, warum sie das Gefühl hatte, daß mehr als eine bloße Marotte dahintersteckte.
«Ich wollte Euch nur mitteilen, daß ich und Schwester Eafa morgen nach Porto aufbrechen, um von dort aus mit dem Schiff die Rückreise nach Kent anzutreten. Wir haben wenig Grund, noch länger hierzubleiben. Ich habe einen Schiffer angeheuert, der uns den Tiber hinunterfahren wird. Als Sekretär unserer Gesandtschaft solltet Ihr das wissen.»
Sie wollte sich schon umdrehen, als Fidelma leise mahnte: «Das wird wohl kaum möglich sein, Äbtissin Wulfrun.»
Die Frau starrte sie haßerfüllt an. «Was habt Ihr gesagt?» keuchte sie.
Fidelma wiederholte ihre Worte.
«Ein irisches Mädchen will meine Bewegungsfreiheit einschränken? Daß ich nicht lache!»
«Darum geht es leider nicht», antwortete Fidelma ruhig. «Allerdings nehme ich an, daß Ihr weder Bischof Gelasius noch superista Marinus über Eure Absicht aufgeklärt habt?»
«Ich bin gerade auf dem Weg zu ihnen, um sie von meiner Abreise in Kenntnis zu setzen.»
«Dann könnt Ihr Euch die Mühe sparen. Bis unsere Ermittlungen über den Mord an Wighard nicht abgeschlossen sind, darf niemand, der zu Wighards Gefolge gehört, Rom verlassen.»
Mit zornigem Blick starrte Äbtissin Wulfrun auf Fidelma herab, die gelassen dasaß und noch immer eine Hand in das kühlende Wasser des Brunnens hielt. Die Empörung der Äbtissin von Sheppey schien sie nicht im geringsten zu beirren.
Eadulf nahm seinen Mut zusammen und schüttelte den Kopf. «Äbtissin Wulfrun, Fidelma von Kildare hat vollkommen recht. So ist es nun einmal geregelt.»
Die streitlustige Äbtissin bedachte ihn mit einem angewiderten Blick, als hätte sie ein ekelhaftes Getier vor sich. «Ich werde mit Bischof Gelasius darüber sprechen», fauchte sie ihn an.
«Das ist Euer gutes Recht», meinte Eadulf mit einem Nicken. «Aber ... aus reiner Neugier ... Hattet Ihr tatsächlich vor, die Rückreise nach Kent ganz allein anzutreten?»
«Warum sollten Schwester Eafa und ich nicht alleine reisen?»
«Aber Ihr müßt doch von den Gefahren gehört haben, die mit einer solchen Reise verbunden sind? In Massilia gibt es Banden, die alleinreisende Pilger, vor allem Frauen, überfallen und sie in die Sklaverei verschleppen. Viele von ihnen werden an die Bordelle der Germanen verkauft.»
Äbtissin Wulfrun sah ihn hochmütig an. «Sie würden es nicht wagen. Ich bin von königlichem Blut und .»
«Danach wird Euch niemand fragen», sagte Fidelma und erhob sich von der Brüstung. «Aber Ihr und Schwester Eafa werdet ohnehin so lange hierbleiben müssen, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Danach könnt Ihr reisen, wann und wohin Ihr wollt. In jedem Fall tätet Ihr aber gut daran, Bruder Eadulfs Ratschlag zu befolgen.»
Wenn Blicke töten könnten, hätten Wulfruns vernichtende Blicke Fidelma auf der Stelle niedergestreckt.
«Ihr solltet unsere Besorgnis nicht auf die leichte Schulter nehmen, Mylady», sagte Eadulf in dem Versuch, sie zu besänftigen. «Es ist besser zu warten, bis eine ganze Gruppe von Pilgern nach Kent oder in die anderen sächsischen Königreiche aufbricht, und sich ihnen anzuschließen.»
Äbtissin Wulfrun schnaubte verächtlich, wandte sich ohne ein weiteres Wort wütend um und schritt erhobenen Hauptes davon.
Fidelma kratzte sich am Kinn. «Schwester Eafa tut mir aufrichtig leid, weil sie einer so hochfahrenden Herrin dienen muß», sagte sie nicht zum ersten Mal. «Aber es ist verwunderlich, daß Äbtissin Wulfrun so darauf brennt, Rom zu verlassen, obwohl sie doch erst vor einer Woche angekommen ist.»
«Vielleicht aus dem gleichen Grund wie Ihr. Sagtet Ihr mir nicht neulich, Ihr wolltet so schnell wie möglich in Eure Heimat zurück?»
Ein ungeduldiger Seufzer ließ sie erschrocken herumfahren. Sie hatten Furius Licinius fast vergessen. Der junge tesserarius der custodes schien sich zu langweilen. «Wollten wir nicht versuchen, die beiden Araber zu finden?» erinnerte er sie an ihr eigentliches Vorhaben.
«Schon. Aber wo sollten wir mit unserer Suche beginnen?»
Fidelma sah ihn ratlos an.
«In unseren Häfen liegen zahlreiche Handelsschiffe. Viele arabische Kaufleute leben in Rom. Ja, sie bevölkern ein ganzes Viertel bei den emporia, den Lagerhäusern und Märkten, am Ufer des Tiber. Es handelt sich um einen sehr ärmlichen Teil der Stadt, den wir Marmorata nennen.»
«Ort aus Marmor?» fragte Fidelma.
Furius Licinius nickte. «In früheren Zeiten hatten die Steinmetze dort ihre Werkstätten und bearbeiteten den Marmor für die großen Häuser der Stadt.»
«Das habe ich nicht gewußt», brummte Eadulf, der sich seit seinen Studienjahren in Rom einer genauen Kenntnis der Stadt am Tiber rühmte.
«An Eurer Stelle würde ich mich auch nicht ohne Eskorte dort hinbegeben», erklärte Licinius. «Die Gegend ist voll von Seeleuten aus aller Herren Ländern, vor allem aber aus Spanien, Nordafrika und Judäa. Ein Teil des Gebiets wird von einer großen Müllhalde eingenommen, auf der sich zerbrochene amphora und testae stapeln. Wenn die Schiffe ihre Waren abladen, werfen viele Kaufleute die Behälter einfach weg. Sie haben nur ihre Gewinne im Kopf und kümmern sich nicht um die Verschmutzung, die sie damit anrichten.»
«Wäre dieser Stadtteil nicht einen Besuch wert, Fidelma?» fragte Eadulf eifrig. «Vielleicht könntet Ihr dort Eure Araber finden?»
Fidelma schüttelte den Kopf. «Es ist nützlich zu wissen, daß es diesen Stadtteil gibt und daß die Araber von dort gekommen sein können. Aber ohne weitere Anhaltspunkte kann uns dieses Wissen nicht viel nützen. Ich würde die beiden Männer mit Sicherheit nicht wiedererkennen. Ja, ich weiß nicht einmal, warum ich eigentlich nach ihnen suche. Ich glaube, der Schlüssel liegt bei Bruder Osimo Lando. Er müßte uns sagen können, warum Ronan Ragallach mit den Arabern in Verbindung stand. Dabei fällt mir ein ... Der junge custos, den ich zu seiner Unterkunft geschickt habe, müßte längst zurückgekehrt sein.»
Auf dem Rückweg zu ihrem officium kamen sie wieder durch die große Halle. Wie immer war sie von zahllosen Würdenträgern sowie Nonnen und Mönchen aller Nationen und Altersstufen bevölkert. Furius Licinius zog los, um sich bei seinen Kameraden zu erkundigen, ob es Neuigkeiten über Bruder Osimo Lando gab.
Als Fidelma und Eadulf gemeinsam die Halle durchquerten, kam ihnen ein traurig dreinblickender Bruder Ine entgegen. Mit einem strahlenden Lächeln ging Fidelma auf ihn zu und streckte ihm eine Hand entgegen. «Ihr seid genau der Mann, den ich suche», rief sie überschwenglich.
Ine sah sie forschend an. «Was wollt Ihr von mir?» fragte er argwöhnisch.
«Lebt Ihr nicht schon seit vielen Jahren unter den Geistlichen Kents?»
Ine nickte zur Bestätigung und blickte erstaunt zwischen Fidelma und Eadulf hin und her. «Ich habe Euch doch erzählt, daß mein Vater mich ins Kloster brachte, als ich zehn Jahre alt war.»
«Ja, genau das sagtet Ihr. Deshalb habe ich ja auch an Euch gedacht. Ihr müßt Euch in der dortigen Kirche sehr gut auskennen.»
Ine warf sich in die Brust. «Es gibt wenig, was ich nicht weiß, Schwester.»
Fidelma lächelte ihn noch freundlicher an.
«Es heißt, Königin Seaxburgh habe das Kloster in Sheppey gegründet. Ist das richtig?»
«Ja, das stimmt. Sie hat das Haus erbauen lassen, als sie vor fast zwanzig Jahren aus Ostanglien kam, um Eorcenbreht, unseren König, zu ehelichen.»
«Außerdem heißt es, daß sie die Tochter Annas ist.»
Ine nickte wieder. «Anna hat mehrere Töchter. Seaxburgh setzt sich sehr für den Glauben ein. Sie ist eine gottesfürchtige Frau und beim kentischen Volk sehr beliebt.»
Fidelma beugte sich vertraulich vor. «Und ist Äbtissin Wulfrun ebenso beliebt wie ihre Schwester?»
«Schwester!» Aus Ines Mund klang das Wort eher wie ein Fluch. Er lächelte wissend. «Als Seax-burgh Wulfrun nach Kent holte, war ihre Beziehung nicht so eng, wie Ihr denkt. Viele meinen, Seaxburgh habe einen großen Fehler begangen, als sie Wulfrun zur Äbtissin von Seaxburgh berief.»
«Was meint Ihr damit, wenn Ihr sagt, ihre Beziehung sei nicht so eng gewesen?» fragte Fidelma.
Ine lächelte hintergründig. «Habt Ihr schon einmal von dem heidnischen Fest der Römer gehört, das sich Saturnalia nennt? Erkundigt Euch danach, was bei diesem Fest Sitte ist, und beantwortet Eure Frage selbst.»
Ines Gesicht verzog sich wieder zu der üblichen Trauermiene. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ließ Fidelma verwirrt zurück.
«Und?» wandte sie sich an Eadulf. «Wie wird dieses Fest gefeiert?»
Eadulf wies die Unterstellung, er würde sich mit alten heidnischen Festen in Rom auskennen, entrüstet zurück.
«Soweit ich es beurteilen kann», sagte er, als sie schließlich weitergingen, «liegt unsere einzige Hoffnung darin, diese Araber zu finden. Nur durch sie können wir der Sache auf den Grund kommen. Ganz bestimmt war es einer von ihnen oder aber ihr Komplize, der Euch niedergeschlagen und den Papyrus und den Kelch gestohlen hat.»
«Was bringt Euch darauf?» fragte Fidelma, als sie ihr officium betraten.
«Immerhin war der Papyrus in ihrer Sprache beschrieben.»
«Und warum den Kelch?»
«Vielleicht wollte Ronan Ragallach ihnen Wighards Schatz verkaufen.»
Fidelma blieb stehen und sah ihn mit großen Augen an.
«Manchmal, Eadulf», flüsterte sie feierlich, «manchmal neigt Ihr zu Gedankensprüngen, wo andere nur mühsame Trippelschritte machen.»
Eadulf war sich nicht sicher, ob dies ein Lob oder ein Tadel war. Er wollte gerade eine genauere Erklärung verlangen, als die Tür aufging und Furi-us Licinius hereingestürmt kam.
Ehe sie ihn noch nach dem Grund für seine Aufregung fragen konnten, platzte Licinius heraus: «Ich war gerade am Haupttor, als Abt Puttoc eilig herausgelaufen kam. Er hat mich nicht erkannt.»
Licinius verzog das Gesicht. «Für einen Fremden sieht ein custos wahrscheinlich aus wie der andere.»
«Und was hat er dann getan?» drängte Fidelma ungeduldig.
Der junge Mann schluckte hastig. «Er hat sich eine lecticula gemietet. Ich dachte, Ihr würdet vielleicht gern erfahren, welches Ziel er den Trägern nannte.»
«Es ist jetzt nicht die Zeit für Ratespiele, Licinius», schimpfte Fidelma. «So redet doch endlich.»
«Abt Puttoc wollte in den Stadtteil gebracht werden, von dem ich Euch berichtet habe. Nach Marmorata. Dorthin, wo die arabischen Kaufleute sind.»