172806.fb2 Ein Totenhemd f?r einen Erzbischof - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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II

ERLEICHTERT TRAT SCHWESTER FIDEL-

ma durch die mit reichen Schnitzereien verzierten Eichentüren in die große Haupthalle des Lateran-palasts, wo in den letzten dreihundertfünfzig Jahren alle römischen Bischöfe gekrönt worden waren. Die Halle war zweifellos prachtvoll und in höchstem Maße beeindruckend. Hohe Marmorsäulen reckten sich himmelwärts einer gewölbten Decke entgegen, der Boden wirkte wie ein endloser Teppich aus winzigen Mosaiksteinen, die Wände waren mit bunten Wandteppichen geschmückt, und die gewölbten Baldachine bestanden aus polierter, gedunkelter Eiche. Dieser Palast hätte jedem weltlichen Prinzen zur Ehre gereicht.

An allen Eingängen standen custodes in schneidigen Uniformen mit polierten Rüstungen und federgeschmückten Helmen, die kurzen Schwerter vor der Brust - eine eindrucksvolle Zurschaustellung weltlicher Macht. Gleichzeitig herrschte in der Halle ein unübersichtliches Gewimmel. Zahllose Geistliche liefen in geheimnisvoller Mission hin und her. In ihren schlichten Gewändern bildeten sie einen seltsamen Gegensatz zu den vielen Potentaten und Würdenträgern aus aller Herren Länder.

Schwester Fidelma hielt kurz inne, um dieses Treiben noch einmal auf sich wirken zu lassen. Sie hatte etliche Stunden in der lärmenden Menge warten müssen, ehe Bruder Donus sie zu Bischof Gelasius gerufen hatte. Hier kamen die Völker der Welt zusammen. Verglichen mit diesem Glanz wirkte der Königshof in Tara, Sitz des Hochkönigs über die fünf irischen Königreiche, armselig und rückständig. Aber, so dachte Fidelma, während sie sich ihren Weg durch die vielen Gruppen plaudernder Menschen bahnte, die ruhige Würde Taras inmitten der lieblichen Landschaft der königlichen Provinz Midhe war ihr trotz alledem lieber als diese kalte Pracht.

In diesem Augenblick wurde sie in dem Gedränge von einer jungen Nonne angerempelt.

«Oh, Verzeihung ...»

Die Nonne hob den Kopf und lächelte Fidelma strahlend an. «Schwester Fidelma! Seit unserer Ankunft in Rom habe ich Euch nicht mehr gesehen.»

Die junge sächsische Nonne war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und auffallend hager. Sie hatte leicht melancholische Züge, dünnes Haar von unscheinbarer Farbe und dunkelbraune Augen, in denen wenig Ausdruck lag. Im Gegensatz zu ihrem schmächtigen Körperbau wirkten ihre Hände stark und sehnig und schwielig wie die einer Magd. Es hatte Fidelma nicht überrascht zu hören, daß Schwester Eafa auf einem Bauernhof gearbeitet hatte, ehe sie sich für das Klosterleben entschied. Fidelma sah sie lächelnd an. Auf der Überfahrt von Massilia nach Ostia hatte sie viel Zeit mit Schwester Eafa verbracht. Sie gehörte zu einer kleinen Gruppe von Pilgern aus dem Königreich Kent, die Wighard von Canterbury zur Bischofsweihe nach Rom begleiteten. Fidelma hatte Mitleid mit der jungen Nonne. Eafa war ein einfaches, ein wenig langweiliges, aber sehr umgängliches Mädchen, das sich manchmal selbst vor dem eigenen Schatten fürchtete. Ihre ganze Körperhaltung, die leicht gebeugten Schultern und die ins Gesicht gezogene Haube wiesen darauf hin, daß sie am liebsten gar nicht wahrgenommen werden wollte.

«Seid mir gegrüßt, Schwester Eafa. Wie geht es Euch?»

Die junge Nonne verzog das Gesicht. «Oh, ich freue mich schon darauf, wieder nach Kent zurückzukehren. In Rom zu sein, wo Petrus, ein Weggefährte Christi, den Märtyrertod starb, ist ein wahrhaft bewegendes Erlebnis. Und doch ...» Sie sah verlegen zu Boden. «Die Stadt ist nicht nach meinem Geschmack. Offen gesagt, Schwester, finde ich sie ziemlich furchterregend. Es gibt einfach zu viele Menschen hier, zu viele Fremde. Am liebsten wäre ich wieder zu Hause.»

«Ich teile Euren Wunsch, Schwester.» Fidelma hatte Verständnis für diesen Wunsch. Wie Eafa war auch sie eher an ein ruhiges, ländliches Leben gewöhnt.

Ein ängstlicher Ausdruck huschte über Schwester Eafas unscheinbare Züge, als sie über Fidelmas Schulter hinweg in die große Halle blickte.

«Da kommt Äbtissin Wulfrun. Ich muß sofort zu ihr. Nachdem wir heute morgen am Grab der Heiligen Helena, der Mutter Constantins, waren, soll ich sie jetzt zum Oratorium der vierzig Märtyrer begleiten. Überall, wo wir hingehen, erkennen uns die Leute sofort als Pilger und versuchen, uns heilige Reliquien und Andenken zu verkaufen. Sie sind so hartnäckig wie Bettler, die sich einfach nicht abweisen lassen. Seht Euch das einmal an, Schwester.»

Sie zeigte auf eine kleine, billige Kupferbrosche, mit der sie ihre Kopfbedeckung befestigt hatte. In das Kupfer war ein Stück farbiges Glas eingelassen.

«Man hat mir gesagt, das Glas enthalte einige Haare der Heiligen Helena, und mir zwei sestertiae dafür abgenommen . Ich kenne mich mit diesen römischen Münzen nicht aus. Meint Ihr, daß ich zuviel bezahlt habe?»

Fidelma sah sich die Brosche etwas genauer an. Mit etwas Mühe konnte sie in dem Glas einige Haare erkennen.

«Wenn das Haar wirklich von der Heiligen Helena stammt, ist diese Brosche ihr Geld sicherlich wert, aber ...» Sie zuckte mit den Achseln.

Die junge sächsische Nonne ließ zerknirscht den Kopf hängen.

«Bezweifelt Ihr, daß das Haar echt ist?»

«Es gibt unzählige Pilger in Rom, und wie Ihr bereits gesagt habt, genug Leute, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, ihnen allen möglichen Tand als heilige Reliquien zu verkaufen.»

Fidelma hatte das Gefühl, daß Eafa gern noch länger mit ihr gesprochen hätte. Doch die junge Nonne aus Kent blickte erneut in die Menschenmenge und verzog entschuldigend das Gesicht. «Ich muß gehen. Äbtissin Wulfrun hat mich gesehen.»

Mit diesen Worten wandte sie sich um und eilte durch die Menge auf eine hakennasige Frau in geistlichen Gewändern zu, die sie bereits mit strenger, mißbilligender Miene erwartete. Wieder verspürte Fidelma Mitleid mit ihrer jüngeren Glaubensschwester. Eafa hatte sich in Begleitung von Äbtissin Wulfrun auf diese Pilgerreise begeben. Sie kamen beide aus der Abtei von Sheppey. Allerdings war Wulfrun, wie die junge sächsische Nonne Fidelma anvertraut hatte, eine Prinzessin und die Schwester Seaxburghs, der Königin von Kent, woran sie ihre Mitmenschen bei jeder Gelegenheit erinnerte.

Wahrscheinlich war dies auch der Grund dafür, warum Fidelma sich während der Überfahrt von Massilia nach Ostia mit dem jungen Mädchen angefreundet hatte, denn Wulfrun behandelte Eafa kaum besser als eine Sklavin. Und doch schien Fidelmas Freundlichkeit die junge Nonne anfangs mehr zu ängstigen als die Einsamkeit. Sie benahm sich anderen gegenüber zurückhaltend und beschwerte sich nie über die herrische Art ihrer Äbtissin. Ein seltsames Mädchen, dachte Fidelma, schüchtern, nicht unliebenswürdig, aber stumm wie ein Fisch. Über den Lärm der Menge hinweg hörte Fidelma deutlich Äbtissin Wulfruns durchdringende Stimme, mit der sie Eafa befahl, ihr Gepäck zu tragen. In gebieterischer Haltung drängte sich die Äbtissin durch die Masse auf die Tore des Palasts zu - sie erinnerte Fidelma an ein Kriegsschiff, das sich seinen Weg durch stürmische Gewässer bahnt, die schmächtige, ängstliche Eafa wie ein Rettungsboot im Schlepptau.

Schwester Fidelma sah ihnen nach, bis sie in der Menge verschwunden waren, dann trat sie mit einem leisen Seufzer durch die Tore nach draußen auf die sonnenbeschienenen Marmorstufen. Die plötzliche Wärme, mit der die römische Sonne sie umfing, ließ sie innehalten und nach Atem ringen. Vom kühlen Inneren des großen Palasts nach draußen zu kommen ähnelte einem kalt-heißen Wechselbad. Sie blinzelte und holte tief Luft.

«Schwester Fidelma!»

Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich nach dem Mann um, dem die vertraute, tiefe Stimme gehörte. Ein junger Mönch im schlichten, braunen Wollgewand mit der corona spinea, der römischen Tonsur auf dem Scheitel, löste sich aus einer Gruppe und winkte ihr freudig zu. Er war kräftig gebaut und sehr muskulös, so daß er eher an einen Krieger als einen Mönch erinnerte - ein gutaussehender Mann in ihrem Alter. Fidelma ertappte sich dabei, daß sie ihn mit einem breiten Lächeln begrüßte, und fragte sich im stillen, weshalb sie sich so freute, ihn wiederzusehen.

«Bruder Eadulf!»

Eadulf hatte sie auf der langen, anstrengenden Reise vom Königreich Northumbrien begleitet. Er war als Sekretär und Dolmetscher für Wighard, den zukünftigen Erzbischof von Canterbury, nach Rom gekommen. Während der Synode in Hildas Kloster Streoneshalh nahe der Küstenstadt Witebia hatten sie gemeinsam den geheimnisvollen Mord an Äbtissin Etain von Kildare aufklären können und waren dabei gute Freunde geworden. In ihren Kenntnissen und Fähigkeiten hatten sie einander wunderbar ergänzt, denn Eadulf war ein erblicher gerefa oder Friedensrichter am Hof des Thans von Seaxmund’s Ham gewesen, ehe er von einem irischen Mönch namens Fursa zum Glauben bekehrt und zur religiösen Erziehung nach Durrow in Irland gebracht worden war. Außerdem war Eadulf in der Heilkunde bewandert, denn er hatte vier Jahre lang das berühmte Kollegium der Medizin in Tuaim Brecain besucht. Anschließend hatte er zwei Jahre in Rom verbracht und sich entschieden, den Lehren Roms zu folgen; dann war er in sein Heimatland zurückgekehrt. An der Synode in Witebia hatte er teilgenommen, um Canterbury und Rom zu unterstützen, während Fidelma den Vertretern der keltischen Kirche beratend zur Seite gestanden hatte.

Einen Augenblick lang standen die beiden sich gegenüber und lächelten glücklich über ihr zufälliges Zusammentreffen auf den sonnenbeschienenen, weißen Marmorstufen des Lateranpalasts.

«Macht Eure Mission in Rom Fortschritte, Schwester Fidelma?» fragte Eadulf. «Habt Ihr den Heiligen Vater schon gesehen?»

Fidelma schüttelte den Kopf.

«Nein, bisher habe ich nur mit einem Bischof sprechen können, der sich nomenclator nennt, mein Anliegen prüft und anschließend darüber entscheidet, ob ich den Heiligen Vater damit behelligen darf. Offenbar schert es die vielen Federfuchser, mit denen sich der Bischof von Rom umgibt, nicht, daß ich vertrauliche Briefe Ultans von Armagh an den Heiligen Vater bringe.»

«Ihr klingt ziemlich erbost.»

Fidelma schnaubte ärgerlich. «Ich bin ein einfacher Mensch, Eadulf. Mir mißfallen der weltliche Pomp und die ganze Förmlichkeit.» Sie deutete auf die eindrucksvollen Gebäude ringsum. «Erinnert Ihr Euch an die Worte des Matthäus? Christus hat uns selbst ausdrücklich darauf hingewiesen: <Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen.> Diese weltlichen Schätze sind das reinste Gift für die Schlichtheit unseres Glaubens.»

In gespieltem Tadel schüttelte Bruder Eadulf den Kopf. Auch wenn sein Gesicht ernst blieb, konnte doch nichts das verschmitzte Funkeln in seinen Augen verbergen. Er wußte, daß Fidelma sehr belesen war und aus dem Stegreif die verschiedensten Stellen aus der Heiligen Schrift zitieren konnte, wenn es darum ging, ihren Standpunkt zu untermauern.

«Daß die Römer all diese Schätze bewahren, hat seinen Grund in ihrer ruhmreichen Geschichte und ihrer großen Vergangenheit. Es geht ihnen dabei nicht um Geld oder um Glaubensfragen», sprang er für die Römer in die Bresche. «Wenn die Kirche in dieser Welt bestehen will, um die Menschen auf die nächste vorzubereiten, darf sie sich dem Irdischen nicht verschließen, und dazu gehören nun einmal auch Pomp und Förmlichkeit.»

Fidelma widersprach ihm heftig. «Es verhält sich genau so, wie Matthäus sagte: <Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.> Wer in diesem feinen Palast wohnt und sich mit weltlichen Schätzen großtut, kann doch gar nicht anders, als den Mammon über Gott zu stellen.»

Bruder Eadulf sah sie erschrocken an.

«Ihr sprecht vom Palast des Heiligen Vaters. Nein, Fidelma, es gehört zum römischen ebenso wie zum christlichen Erbe, daß er in diesem herrlichen Palast residiert. Wo auch immer Ihr in Rom Euren Fuß hinsetzt, Ihr steht auf historischem Boden.»

Fidelma grinste spöttisch über seine Begeisterung. «Aber das gilt doch für die ganze Welt: Jedes Fleckchen Erde ist für irgend jemanden mit bedeutenden Erinnerungen verbunden. Ich habe auf dem armseligen, kahlen Berg namens Ben Edair gestanden, wo man den in der Schlacht zer-schundenen, blutigen Leichnam Oscars, des Sohnes Oisins, nach der schrecklichen Niederlage von Gabhra zu Grabe getragen hat. Ich habe den Steinhügel gesehen, den man über dem Grab Ai-dins, Oscars Witwe, errichtete, nachdem sie beim Anblick ihres toten Mannes vor Kummer gestorben war. Ein kleiner Hügel aus grauen Steinen kann von einer ebenso herzzerreißenden Geschichte künden wie der größte Marmorbau.»

«Aber schaut doch nur .» Mit einer ausholenden Handbewegung deutete Eadulf auf den riesigen Lateranpalast und die angrenzende St.-Johannes-Basilika. «Das ist das Herz des Christentums, seit mehr als dreihundert Jahren Heimstatt seiner weltlichen Führer. Jeder Mauerstein, jedes Mosaikstückchen birgt ein historisches Erbe.»

«Es sind prächtige, eindrucksvolle Bauten, das will ich nicht bestreiten.»

Angesichts ihres Mangels an Ehrfurcht schüttelte Eadulf den Kopf. «Schon als Kaiser Konstantin vor hundertfünfzig Jahren den Palast und seine Ländereien an Melchiades verschenkte, damit der Bischof von Rom darauf eine Kathedrale errichten konnte, war es ein geschichtsträchtiger Ort.»

Stumm ließ Fidelma den lebhaften Redeschwall des jungen Mönches über sich ergehen.

«Im alten Rom gehörte der Palast einer großen Patrizierfamilie, den Laterani. Zur Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Nero wurden Pläne geschmiedet, den Tyrannen zu ermorden. Caius Calpurnius Piso, ein reicher Römer, der damals Konsul und als großer Redner bei den Römern sehr beliebt war, führte die Verschwörer an. Aber sie wurden entdeckt, festgenommen und zum Tode verurteilt. Manche wurden hingerichtet, andere aus Achtung vor ihrem hohen Rang zum Selbstmord gezwungen. Zu ihnen gehörten Petronius Arbiter, der Verfasser des Satyricon, der Dichter Lucan und der Philosoph Seneca ebenso wie Caius Calpurnius Piso und Plautius Lateranus, der Besitzer des Palasts. Man nahm ihm sein Eigentum und sein Leben.»

Fidelma sah zu der reichverzierten Fassade des Lateranpalasts auf. «Ich sagte ja schon, es ist ein wunderschönes Gebäude», erwiderte sie mit sanfter Stimme, «aber trotzdem längst nicht so schön wie ein grünes Tal, ein majestätischer Berg oder eine sturmumtoste Klippe. Darin offenbart sich die wahre Schönheit, die Schönheit der Natur, unbeeinflußt von den vergänglichen Bauwerken des Menschen.»

Eadulf blickte sie traurig an. «Ich hätte Euch nicht für eine solche Philisterin gehalten, Schwester.»

Fidelma zog verärgert die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. «Ihr habt Eure zwei Jahre hier in Rom gut genutzt und Euch neues Wissen erschlossen. Aber in Eurer Lobpreisung der historischen Gemäuer vergaßt Ihr zu erwähnen, daß der ursprüngliche Lateranpalast zerstört wurde und Melchiades sein Schloß auf dessen Ruinen errichten ließ. Und Ihr vergaßt auch anzumerken, daß diese Anlage seitdem zweimal wieder aufgebaut werden mußte, vor allem, nachdem sie vor zweihundert Jahren von den Vandalen völlig verwüstet worden war. So steht es in Wirklichkeit mit der Tradition, von der Ihr so gerne sprecht. Alle noch so großen Monumente der Menschheit sind zur Vergänglichkeit verdammt.»

Eadulf sah sie mißmutig und erstaunt an. «Also habt Ihr die Geschichte des Palasts längst gekannt?» fragte er vorwurfsvoll, ohne auf ihre Einwände einzugehen.

Fidelma zuckte die Achseln.

«Ich habe einen der Wärter in der Basilika gefragt. Aber da Ihr so darauf branntet, Euer Wissen anzubringen ...» Sie verzog das Gesicht, lächelte ihn entschuldigend an, da er gar so verdrießlich drein blickte, und legte ihm die Hand auf den Arm. Ein schalkhaftes Grinsen spielte um ihre Lippen.

«Kommt schon, Bruder Eadulf. Ich habe ja bloß gesagt, daß menschliche Kunstwerke vergänglich sind, vor allem im Vergleich mit dem sehr viel größeren Kunstwerk der Natur, das der Mensch mit seinen armseligen Bauten so oft seiner Schönheit beraubt. Erst vor kurzem habe ich mich gefragt, wie die sieben Hügel dieser bemerkenswerten Stadt wohl ausgesehen haben, ehe sie unter all den Gebäuden verschwunden sind.»

Doch der sächsische Mönch wirkte auch weiterhin verdrossen.

«Seid nicht böse, Eadulf», redete Fidelma reumütig auf ihn ein. Sie bedauerte zutiefst, ihn gekränkt zu haben. «Ich kann meine innerste Überzeugung nicht leugnen, aber ich bin für alles aufgeschlossen, was Ihr mir über Rom zu erzählen habt. Sicher gibt es in dieser Stadt noch sehr viel mehr zu entdecken, über das Ihr mich aufklären könnt. Kommt, gehen wir ein Stückchen. Zeigt mir, was immer Euch sehenswert erscheint.»

Damit ging sie die breiten Stufen hinunter und bahnte sich einen Weg durch die riesige Bettlerschar, die sich am unteren Ende der Treppe versammelt hatte und von den grimmig dreinblickenden custodes nur mühsam in Schach gehalten werden konnte. Blicke aus dunklen, eingesunkenen Augen in ausgemergelten Gesichtern folgten ihnen, magere, knochige Hände reckten sich ihnen flehend entgegen. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis Fidelma sich an diese Szene gewöhnt hatte, die sich tagtäglich auf dem Weg von ihrer Herberge zum prunkvollen Papstpalast abspielte.

«So etwas würdet Ihr in Irland niemals sehen», sagte sie mit einem Seitenblick auf die Bettler. «Unsere Gesetze schreiben uns vor, den Armen zu helfen, damit sie nicht betteln müssen und sich und ihre Familien mit dem Nötigsten versorgen können.»

Aus seiner Zeit in Irland wußte Eadulf, daß sie recht hatte. Die uralten, von der Brehon-Gerichts-barkeit überwachten Gesetze Irlands sorgten dafür, daß niemand wegen Krankheit ins Elend geriet und keiner Hungers sterben mußte. Für sie alle war gesorgt.

«Es ist traurig, daß Menschen trotz all dieses Wohlstands betteln müssen, vor allem, wenn die ganze Pracht einem Gott der Armen gilt», fuhr Fidelma fort. «Die Bischöfe und Kleriker in ihren Palästen sollten den Brief des Apostel Johannes lesen, in dem er sagt: <Wenn aber jemand in dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?> Kennt Ihr diese Stelle, Eadulf?»

Eadulf biß sich auf die Lippe und sah sich besorgt um. «Vorsicht, Fidelma», flüsterte er. «Am Ende bezichtigt man Euch noch des ketzerischen Pelagianis-mus.»

Fidelma schnaubte verächtlich. «Rom hält Pela-gius doch nicht deshalb für einen Ketzer, weil er sich von der Lehre Christi abgewandt hätte, sondern einzig und allein deshalb, weil er Rom kritisierte, das sich nicht an diese Lehre hielt. Ich habe lediglich aus dem ersten Brief des Johannes, Kapitel drei, Vers siebzehn zitiert. Wenn das Ketzerei ist, bin ich wahrhaftig eine Ketzerin, Eadulf.»

Sie griff in ihre Tasche, kramte eine Münze heraus und legte sie in die ausgestreckte Hand eines kleinen Jungen, der abseits von den anderen Bettlern stand und mit blinden Augen ins Leere starrte.

Die Hand schloß sich über der Münze, und ein kleines Lächeln huschte über das pockennarbige Kindergesicht.

«Do ut des», murmelte Fidelma die uralte Formel. «Ich gebe, damit du geben kannst.» Schweigend gingen sie und Eadulf weiter durch ein ärmliches Viertel am Fuße des Esquilin, des höchsten und ausladensten der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut war. Sie überquerten die Via Labicana und bogen in die breite Via Merulana ein. «<Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der von dir borgen will ...»> zitierte sie feierlich mit einem Seitenblick auf Eadulf, der mißbilligend zugeschaut hatte, wie sie dem bettelnden Jungen Geld gab.

«Pelagius?» fragte Eadulf.

«Das Evangelium des Matthäus», erwiderte Fidelma ernst. «Kapitel fünf, Vers zweiundvierzig.»

Eadulf stieß einen tiefen, besorgten Seufzer aus.

«Hier, mein guter sächsischer Freund», Fidelma blieb unvermittelt stehen und legte eine Hand auf Eadulfs Arm, «könnt Ihr erkennen, wie tief der Streit zwischen Rom und der Lehre Irlands und Britanniens geht!»

«Die sächsischen Königreiche haben sich zu der römischen Kirche bekannt, Fidelma. Ihr werdet mich nicht bekehren. Ich bin nur ein einfacher Mönch und kein Religionsgelehrter. Und wenn Oswiu von Northumbrien sich in Witebia entschieden hat, der Lehre Roms zu folgen, ist der Streit damit für mich beendet. Vergeßt nicht, daß ich der Sekretär und Dolmetscher des Erzbischofs von Canterbury bin.»

Fidelma sah ihn belustigt an. «Habt keine Angst, Eadulf. Ich bin bloß noch immer nicht davon überzeugt, daß Rom in allen Fragen recht hat. Aber um unserer Freundschaft willen wollen wir das Thema lieber ruhen lassen.»

Seite an Seite gingen sie schweigend die breite Straße hinunter. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten mußte Fidelma sich eingestehen, daß sie das Zusammensein mit Eadulf als äußerst angenehm empfand. Zwar machte es ihr Spaß, ihn ab und zu herauszufordern, und er ließ sich stets gutmütig auf einen Disput mit ihr ein, doch es herrschte zwischen ihnen keinerlei Feindseligkeit.

«Wie ich erfahren habe, ist Wighard vom Heiligen Vater wohlwollend empfangen worden», bemerkte Fidelma nach einer Weile.

Seit ihrer Ankunft vor einer Woche hatte sie Eadulf kaum zu Gesicht bekommen. Sie hatte gehört, daß man Wighard und sein Gefolge eingeladen hatte, als persönliche Gäste des Heiligen Vaters Vitalian im Lateranpalast zu wohnen. Fidelma nahm an, daß der Bischof von Rom über die Nachricht von Canterburys Sieg bei der Synode von Wi-tebia sehr erfreut gewesen war.

Fidelma hingegen war in einer kleinen Herberge in einer Seitenstraße der Via Merulana gleich neben dem von Papst Pius I. für die Heilige Pras-sede errichteten Oratorium untergekommen, deren rasch wechselnde Gästeschar hauptsächlich aus Pilgern bestand. Dem Haushalt standen ein gallischer Priester, ein Diakonus namens Arsenius, und seine Frau, die Diakonin Epiphania, vor. Die kinderlos gebliebenen älteren Eheleute waren wie Mutter und Vater für die fremden Besucher, viele von ihnen peregrinato pro Christo, die aus Irland kamen.

In ihrer ersten Woche hatte Fidelma von der berühmten Stadt kaum mehr gesehen als das bescheidene Haus von Arsenius und Epiphania, die Herrlichkeit des Lateranpalasts und die erschrek-kende Armut in den Straßen dazwischen.

«Der Heilige Vater hat uns äußerst wohlwollend aufgenommen», bestätigte Eadulf. «Man hat uns im Lateranpalast sehr ansprechende Quartiere zugeteilt, und wir wurden bereits zu einer Audienz empfangen. Morgen wird es einen förmlichen Austausch von Geschenken und ein großes Festbankett geben, und in vierzehn Tagen wird der Heilige Vater Wighard öffentlich zum Erzbischof von Can-terbury weihen.»

«Und anschließend reist Ihr zurück ins Königreich Kent?»

Eadulf nickte. «Und Ihr kehrt nach Irland zurück?» fragte er mit einem raschen Seitenblick.

Fidelma verzog das Gesicht. «Sobald ich Ultans Briefe überbracht und die Segnung für die Regularien meines Klosters bekommen habe. Ich bin schon viel zu lange von Irland fort.»

Eine Weile lang schritten sie stumm nebeneinander her. Trotz der harzig duftenden Zypressen, in deren Schatten zahllose Händler ihre Waren feilboten, war die Straße staubig und heiß. Da es sich um einen der wichtigsten Durchfahrtswege Roms handelte, riß der Verkehr niemals ab. Und doch konnte Fidelma bei all dem Lärm noch ganz deutlich das Zirpen der Grillen hören, die sich in der erdrückenden Hitze zu kühlen versuchten. Als plötzlich eine Wolke die Sonne verdunkelte, hörte das seltsame Geräusch schlagartig auf. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Fidelma seine Bedeutung ergründet hatte.

Der Hang des Esquilin war dünn besiedelt, es war eine wohlhabende Gegend mit großen Häusern, Weinbergen und Gärten. Hier hatte Servius Tullius seinen Eichenhain anlegen lassen, Fagutalis Birken gepflanzt, der Dichter Vergil ein Anwesen besessen, Nero sein «Goldenes Haus» erbaut und Pompeius seine Feldzüge gegen Julius Cäsar ersonnen. Während seines zweijährigen Aufenthalts in Rom hatte Eadulf diese Gegend gründlich kennengelernt.

«Habt Ihr schon viel von Rom gesehen?» brach Eadulf ihr freundschaftliches Schweigen.

«Seitdem ich hier bin, versuche ich zu verstehen, warum eine Kirche der Armen sich mit soviel Reichtum schmückt ... Nein», sie lachte, als sie sah, wie seine Augenbrauen sich zusammenzogen, «nein, ich werde nicht mehr davon sprechen. Was sollte ich mir Eurer Meinung nach anschauen?»

«Nun, an allererster Stelle sicherlich die Basilika des Heiligen Petrus auf dem Monte Vaticano, wo der große Fischer, der den Schlüssel zum himmlischen Königreich in Händen hält, begraben liegt. Ganz in der Nähe befindet sich auch das Grab des Heiligen Paulus. Aber man muß sich den heiligen Grabstätten mit großer Demut nähern, andernfalls können einem schreckliche Dinge widerfahren.»

«Was für schreckliche Dinge?» fragte Fidelma argwöhnisch.

«Es heißt, daß Bischof Pelagius - nicht der Ketzer, der niemals römischer Bischof war, sondern der zweite Heilige Vater dieses Namens -während seiner Amtszeit die silberne Abdeckung über den Leichnamen erneuern wollte. Als er sich den Gräbern näherte, hatte er eine schreckliche Erscheinung. Der Anführer der für die Arbeiten zuständigen Männer starb auf der Stelle, und alle Mönche und Diener der Kirche, die der Leichen ansichtig wurden, waren innerhalb von zehn Tagen tot. Man sagt, all das sei deshalb geschehen, weil der Heilige Vater den Namen eines Ketzers trug. Deshalb hat man auch sogleich die Anordnung erlassen, daß nie wieder ein Papst den Namen Pelagius wählen darf.»

Argwöhnisch musterte Fidelma die selbstzufriedenen Züge des jungen Mönchs an ihrer Seite. War diese Geschichte die Retourkutsche für ihre Angriffe?

«Pelagius ...», begann sie streng, doch Eadulf konnte nicht länger ernst bleiben und lachte laut.

«Laßt uns damit aufhören, Fidelma, auch wenn ich schwöre, daß es eine wahre Geschichte ist. Aber ich möchte, daß zwischen uns Frieden herrscht.»

Fidelma lächelte gezwungen. «Wir werden uns die Pilgerreise zum Grabmal des heiligen Petrus für ein andermal aufbewahren», erwiderte sie. «Diakonin Epiphania hat mich und einige andere Pilger zu der Stelle geführt, wo Petrus der Überlieferung nach verhaftet wurde. Es war erstaunlich. In der Zelle lag eine dicke Eisenkette, und ein Priester stand mit einer Feile bereit, um den Besuchern für einen unerhörten Preis ein paar Späne abzufeilen. Natürlich handelte es sich, wie er uns eifrig versicherte, um die Kette, die der heilige Petrus während seiner Gefangenschaft getragen hat. Die Pilgerreisen nach Rom scheinen ein Geschäft geworden zu sein, bei dem sich viele eine goldene Nase verdienen.»

Sie hatte bemerkt, daß der sächsische Mönch schon seit einer Weile gelegentlich über die Schulter blickte.

«Schwester, da ist ein mondgesichtiger Mönch mit keltischer Tonsur, der uns anscheinend folgt. Wenn Ihr Euch rasch nach rechts umschaut, könnt Ihr ihn auf der anderen Straßenseite im Schatten einer Zypresse stehen sehen. Kennt Ihr ihn?»

Verwundert wandte sich Fidelma in die angegebene Richtung.

Kurz traf sich ihr Blick mit dem eines dunkeläugigen Mannes im mittleren Alter. Er sah aus, wie Eadulf ihn beschrieben hatte. Seine Tonsur ließ auf eine irische oder britische Herkunft schließen, denn der vordere Teil seines Kopfes war vollständig glattrasiert. Er trug ein schäbiges Gewand und hatte ein Mondgesicht. Als er bemerkte, daß Fidelma ihn entdeckt hatte, erstarrte er und lief tiefrot an. Dann drehte er sich um und verschwand in der Menschenmenge.

Verwirrt wandte Fidelma sich wieder Bruder Ea-dulf zu. «Ich kenne ihn nicht. Und doch schien er uns zu beobachten. Ihr meint, er sei uns nachgegangen?»

Eadulf nickte. «Ich habe ihn schon auf den Stufen des Lateranpalasts bemerkt. Als wir die Via Me-rulana hinunterspazierten, folgte er uns in einigem Abstand. Anfangs dachte ich, es sei reiner Zufall, doch dann fiel mir auf, daß er, als wir vorhin stehenblieben, ebenfalls innehielt. Seid Ihr sicher, daß Ihr ihn noch nicht gesehen habt?»

«Nein. Vielleicht stammt er aus Irland und hat mich irisch sprechen hören. Möglicherweise wollte er mit mir über unsere Heimat reden, hatte aber nicht den Mut dazu.»

«Kann sein.» Eadulf klang nicht überzeugt.

«Wie auch immer, jetzt ist er verschwunden», sagte Fidelma. «Laßt uns weitergehen. Wovon hatten wir gesprochen?»

Zögernd gehorchte Eadulf. «Ich glaube, Ihr habt Euch wieder einmal mißbilligend über Rom geäußert, Schwester.»

Fidelmas Augen funkelten. «Ja», räumte sie ein. «Selbst in der Herberge, in der ich wohne, gibt es Bücher, die fremden Pilgern den Weg zu den unzähligen Sehenswürdigkeiten, Heiligtümern und Grabmalen weisen. Und dort bringt man sie dazu, sich von ihrer spärlichen Barschaft zu trennen, um Reliquien und Andenken zu kaufen. Eines dieser Bücher trägt den Titel Noticia Ecclesiarum Urbis Romae ...»

«Aber es ist doch notwendig weiterzugeben, wo die heiligen Stätten sich befinden und wer wo beerdigt worden ist», unterbrach Eadulf sie empört.

«Ist es auch notwendig, den Pilgern hohe Summen für kleine ampullae oder Fläschchen voller Öl abzuverlangen, das angeblich aus den Lampen der Katakomben und Heiligtümer stammt?» entgegne-te Fidelma. «Ich glaube kaum, daß man dem Lampenöl aus Katakomben, in denen tote Heilige begraben liegen, irgendwelche Zauberkräfte zuschreiben kann?»

Eadulf seufzte tief und schüttelte entmutigt den Kopf. «Vielleicht sollten wir den Besuch solcher Sehenswürdigkeiten ganz streichen.»

Sofort bedauerte Fidelma ihre harten Worte.

«Jetzt habe ich mir wohl schon wieder den Mund verbrannt. Verzeiht mir, Eadulf! Bitte!»

Der Sachse versuchte, eine mißbilligende Miene aufzusetzen, doch als er Fidelmas spitzbübisches Grinsen sah, streckte er die Waffen. «Also gut. Vielleicht finden wir ja doch etwas, worauf wir uns beide einigen können. Zum Beispiel steht nicht weit von hier die Kirche der Heiligen Maria vom Schnee.»

«Vom Schnee?»

«Ja. Es heißt, in einer Augustnacht sei Liberius, dem Bischof von Rom, und einem Patrizier namens Johannes die Heilige Jungfrau erschienen. Sie sagte, sie sollten auf den Esquilin genau an der Stelle, wo sie am nächsten Morgen ein Fleckchen Schnee finden würden, eine Kirche errichten. Die beiden Männer fanden den Schnee, und genau an dieser Stelle wurde die Kirche erbaut.»

«Solche Geschichten erzählt man sich von zahlreichen Kirchen, Eadulf. Was ist gerade an dieser so besonders?»

«Daß dort zum Gedenken an den Heiligen Ai-dan von Lindisfarne, der heute vor dreizehn Jahren gestorben ist, eine Messe gelesen wird. Viele irische und sächsische Pilger werden kommen.»

«Dann werde ich nicht fehlen», willigte Fidelma ein. «Aber vorher, Eadulf, würde ich gern das Colosseum besuchen. Ich möchte mit eigenen Augen den Ort sehen, wo so viele Märtyrer des Glaubens den Tod gefunden haben.»

«Gut. Und wir werden nicht mehr über die Unterschiede zwischen Rom, Canterbury und Armagh sprechen.»

«Einverstanden», stimmte Fidelma zu.

In freundschaftlicher Eintracht gingen sie weiter die Via Merulana hinunter. In gebührendem Abstand folgte ihnen, im Schutz der Zypressen, der fremde Mönch mit dem Mondgesicht.