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1.
Die Wucht des Aufpralls war so heftig, dass die kleine Effie Afton, eigentlich Post-und Paketboot auf dem unteren Mississippi, beinahe in zwei Teile zerrissen wurde. Ihre Schornsteine knickten ab wie Streichhölzer, und – was schlimmer war – ihre Kessel barsten. In unheimlicher Geschwindigkeit breitete sich Feuer über das ganze Schiff aus. Der Besatzung, die sich ausnahmslos in die Boote rettete, blieb nur die Genugtuung, dass die Flammen binnen Minuten auch den Gegner der Kollision erfassten und zumindest die hölzernen Teile jener gigantischen Brücke der Chicago & Rock Island Railroad schneller verschlangen, als diese Gesellschaft ihren Namen in Chicago, Rock Island & Pacific Railroad ändern konnte.
Die Bewohner von Davenport/Missouri und Rock Island/Illinois standen am Morgen dieses 6. Mai 1856 also schon wieder mit offenem Mund an den Ufern des Mississippi; denn das Feuer, das diese über fünfhundert Meter lange erste Eisenbahnbrücke über den Vater der Flüsse verschlang, war ein mindestens so grandioses Schauspiel, wie es ihre feierliche Einweihung am 22. April gewesen war. Damals, vor gerade zwei Wochen, hatten die Zeitungen des Ostens, etwa das Philadelphia Bulletin, triumphierend geschrieben, dass der Weg der Zivilisation von Ost nach West unwiderruflich beschritten sei und bald der glückliche Tag kommen werde, »an dem einer von uns ein Billett erster Klasse für einen Blitzzug Richtung Pazifikküste lösen wird«.
Diesmal verbreitete sich das Triumphgefühl eher von Nord nach Süd, und die ganzen tausendfünfhundert Meilen den Mississippi hinunter ließen die Kapitäne freudig ihre Dampfpfeifen ertönen. Selbst auf dem Ohio entrollte – eigenartigerweise noch am gleichen Tag – die Mannschaft eines Raddampfers ein riesiges Transparent mit der Aufschrift: »Mississippibrücke zerstört – Lasst alle frohlocken!«
Der Eigner der Effie Afton beeilte sich, die Eisenbahngesellschaft auf Schadensersatz zu verklagen, und eine Expertenkommission aus Kapitänen, Lotsen und Schiffseignern aus St. Louis und New Orleans kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass die Brücke ein ernsthaftes Hindernis für die Schifffahrt sei und nicht wieder aufgebaut werden dürfe. Politiker des Südens legten dem amerikanischen Kongress sogar flugs einen Gesetzentwurf vor, der den Bau von Brücken über schiffbare Flüsse grundsätzlich verbieten wollte.
Spätestens jetzt wurde jedem nüchternen Beobachter klar, dass es nicht um Erwägungen zur Verkehrssicherheit, sondern um das Frachtmonopol ging; um Mais, Weizen, Schweinefleisch, Holz, den Reichtum des Mittleren Westens. Würde er weiterhin über die Flüsse nach Süden, nach New Orleans gelangen oder mit der Eisenbahn nach Osten, um in Chicago und New York umgeschlagen zu werden? Auch eine noch zukunftsweisendere Frage stand schon seit einigen Jahren im Raum: Sollte die früher oder später unvermeidliche transkontinentale Eisenbahn von den Nord-oder den Südstaaten ausgehen?
Kaum hatte jedenfalls die Chicago & Rock Island Railroad Company vor zwei Jahren ihre Pläne zum Brückenbau bei Rock Island, also im Norden, publik gemacht, scharten sich die Männer des Südens um den einflussreichsten Fürsprecher ihrer Interessen, um den amerikanischen Kriegsminister Jefferson Davis1. Davis untersagte daraufhin kurzerhand die Errichtung des Bauwerks, da Rock Island früher einmal militärisches Territorium gewesen war, und erst ein umständlicher Gerichtsprozess führte zu dem Ergebnis, dass Eisenbahnen, ähnlich wie Flüsse und Kanäle, Verkehrsstraßen geworden seien und dass keiner der beiden Transportwege ein dauerndes Hindernis für den anderen werden dürfe.
Unter Berufung auf genau dieses fortschrittliche Urteil und den eindrucksvollen Unfall der Effie Afton forderten deshalb die Schiffseigner des Südens den sofortigen Abriss der Brücke, respektive ihrer Ruine. Für den Schadensersatzprozess, mehr als zehn Monate später, verpflichtete die beklagte Eisenbahngesellschaft einen Rechtsanwalt aus Springfield/Illinois; einen Mann, der sich mit der Flussschifffahrt gut auskannte, weil er in seiner Jugend selbst Flöße nach New Orleans gesteuert hatte. Sein Name war Abraham Lincoln2.
In den ersten Prozesstagen hatte dieser Anwalt, dem ein düsterer Backenbart und einige tiefe Gesichtsfalten eine gewisse Ähnlichkeit mit einem melancholischen Gorilla verliehen – jedenfalls in den Augen seiner Gegner –, hauptsächlich mit seinem Taschenmesser an einem Stück Holz herumgeschnitzt. Aber danach stellte Mr. Lincoln in schneller Folge so viele unangenehme Fragen, dass die euphorische Stimmung der Kläger rasch umschlug.
Was die Effie Afton, die doch gewöhnlich zwischen New Orleans und Louisville verkehre, eigentlich auf dem oberen Mississippi gesucht habe? Warum das Steuerbordrad des Dampfers zum Zeitpunkt des Unfalls nicht in Betrieb gewesen sei? Welche Fracht in so kurzer Zeit einen so verheerenden Brand habe auslösen können?
Als diese klugen Fragen beziehungsweise die unzureichenden und schließlich ganz ausbleibenden Antworten die öffentliche Meinung immer stärker zugunsten der beklagten Eisenbahngesellschaft beeinflussten, beschlossen die Schiffseigner, die allgemeine Aufmerksamkeit auf ein anderes Ereignis zu lenken, und entschieden sich für eine Sensation, die seit dreißig Jahren das Interesse der Menschen auf beiden Seiten des Mississippi zuverlässig von allen anderen Dingen abzog: für ein Rennen! Ein Wettrennen der beiden schnellsten Dampfer auf dem Fluss, von New Orleans nach St. Louis.
2.
Die Ankündigung, dass zwei wegen ihrer Geschwindigkeit berühmte Schiffe es auf einer Strecke von zwölfhundertachtzehn Meilen ausfechten würden, versetzte regelmäßig nicht weniger als zehn der Vereinigten Staaten von Amerika – die, die an den großen Flüssen lagen – in helle Auf regung. Waren die Namen der Kontrahenten einmal bekannt gegeben, wurde der Klatsch über sie wochenlang zu einem festen Bestandteil der Zeitungen. Die Politik, das Wetter, die Sklaven-oder die Indianerfrage, die Erweiterung der Union, die Lage in den Territorien, selbst sporadische Gold-oder Silberfunde waren von da an nur mehr zweitrangige Themen in den Saloons und Läden, auf den Straßen, Feldern und Veranden aller Ansiedlungen entlang des Mississippi, Ohio, Missouri und Arkansas.
Es bildeten sich Parteien, es wurden Wetten abgeschlossen, jedermann hielt sich für einen Experten auf dem Gebiet der Dampfschifffahrt, und die Kapitäne der Sultana, der J. M. White, Belle of the West, Old Natchez oder Edward Shippen wurden kurzzeitig zu Helden, die den Vergleich mit Hektor und Achill, dem starken Ajax oder dem listenreichen Odysseus nicht scheuen mussten. War der angekündigte Zeitpunkt da und das mindestens viertägige Rennen einmal gestartet, zog der Mississippi Zuschauer aus allen Teilen des Landes magisch an. In den Städten und Dörfern am Fluss vermieteten findige Hausbesitzer ihre Fenster, ja sogar Sitzplätze auf ihren Dächern und verkauften Erfrischungsgetränke oder Kaffee und selbst gebackenen Kuchen. Auf dem Land, den Plantagen wurde das Ufer des großen Stroms Ziel von Ausflügen, Picknicks, und selbst den Sklaven erlaubte man, ihre Arbeit niederzulegen, um den Wettkampf der riesigen, aber ebenso filigranen schwimmenden Maschinen zumindest einige Stunden lang zu verfolgen.
Weiter im Norden entstanden mitunter kleine Zeltstädte, in denen Zuschauer aus den entfernteren Gegenden die Vorüberfahrt der Dampfer beobachten konnten. Barfüßige Burschen auf Ackergäulen versuchten, den Schiffen zu folgen, so weit es ging. Andere hatten eher Augen für die von überall her angereisten jungen Damen, Farmerstöchter in ihren besten Kleidern. Mancher Mann lernte bei dieser Gelegenheit eine Frau kennen, der er sonst vielleicht nie im Leben begegnet wäre, und wenn die Kinder solcher Verbindungen Zweitnamen wie Magnolia, Princess, Belle Key oder – armer Bursche! – General Quitman trugen, verdankten sie ihre Existenz gemeinhin einem Rennen der gleichnamigen Schiffe.
Ein Rennen führte stets flussaufwärts, sodass die Schnelligkeit eines Dampfers wesentlich von der Stärke und Qualität seiner Maschine abhing. Immer wieder waren Heizkessel explodiert und ganze Schiffe in die Luft geflogen, weil die Maschinisten beides überschätzten. Seit ein Bundesgesetz den zulässigen Dampfdruck pro Quadratzoll begrenzte, waren es allerdings andere Faktoren, die über die Geschwindigkeit eines Schiffes entschieden. Das war natürlich das Wetter – aber die Rennen fanden stets im zuverlässigsten Sommer statt, wenn auf Wochen hin keine Wolke am Himmel stand und kein plötzlicher Sturm das Wasser zu Flutwellen aufstaute.
Das war natürlich das Gewicht, also die Fracht – aber für ein Rennen wurde die Fracht sorgfältig so tariert, dass problemlos die beste Wasserlage gehalten werden konnte. Wusste man also etwa, dass ein Schiff bei einem Tiefgang von fünfeinhalb Fuß vorn und fünf Fuß achtern am schnellsten lief, würde es nach Erreichen dieses Optimums nicht einmal mehr eine Schachtel mit homöopathischen Pillen an Bord nehmen. Auch die Trimmung spielte eine wichtige Rolle, weshalb man irgendwann aufgehört hatte, bei einem Rennen Passagiere mitzunehmen. Denn Passagiere, gleich welchen Alters, liefen ständig von backbord nach steuerbord, je nachdem, auf welcher Seite es gerade etwas zu sehen gab, während ein echter Dampfschiffer sich an Bord bewegte wie die Luftblase in einer Wasserwaage.
Die Feuerung war entscheidend; Holz oder Kohle – eine Glaubensfrage – denn Kohle war schwerer, hielt aber länger vor, während Holz sich schneller verbrauchte, aber unterwegs leichter zu laden war. Für ein Rennen wurde die Feuerung vorbestellt und entlang der Strecke bereitgehalten. Flachboote mit irrwitzigen Holzstapeln oder tief im Wasser liegende Kohlenprahme wurden in den Strom gerudert, in voller Fahrt an die Schiffe angehängt und längsseits gehievt. Während allerdings unglaubliche Mengen an Holz schneller an Bord verstaut wurden, als man »Mississippi« buchstabieren konnte, wirkten die schwerfälligen Kohlenprahme wie Schleppanker, und das entsprechende Schiff verlor erheblich an Fahrt.
Bei einem Rennen war also von entscheidender Bedeutung, wie viel Feuerung man verbrauchte, und das wiederum hing davon ab, welchen Kurs der jeweilige Dampfer steuerte. Je weiter er in der Flussmitte – also der Gegenströmung – fuhr, desto mehr fraßen die Kessel. Je geschickter er sich im flachen Kehrwasser der Ufer hielt, desto geringer war der Widerstand der Strömung, und desto länger hielt die Feuerung vor. Das ahnungslose Publikum, jubelnd und Fähnchen schwenkend, wenn das riesige Schiff mit einer Geschwindigkeit von fast fünfzehn Meilen in der Stunde eine Uferböschung so elegant passierte, dass der Barbier an Bord die gereckten Hälse der Zuschauer hätte rasieren können, hielt dieses Wunder der Steuerung und Navigation immer für eine Leistung der Kapitäne. Aber jeder, der sich mit dem Fluss und seinen Schiffen näher beschäftigt hatte, wusste natürlich, dass dies die hohe Kunst der Lotsen war.
3.
Von einem Mississippilotsen wurde erwartet, dass er den Fluss auswendig kannte – und das hieß nicht nur, dass er jederzeit anhand der Points, also der Orientierungspunkte und Landmarken der Ufer, wissen musste, wo genau sich sein Schiff befand, wo die jeweilige Fahrrinne verlief, wie hoch das Wasser stand und wie die dortigen Untiefen sich verschoben hatten, falls dies geschehen war, sondern dass er auf einer Strecke von rund anderthalbtausend Meilen tatsächlich jeden einzelnen Baumstamm kannte, der im Wasser lag, und sogar im Voraus sagen konnte, ob es ein Snag oder ein Sawyer war.
Ein Sawyer war ein unruhiger Kunde; ein »junger« Baumstamm, der sich zwar irgendwo in einer Untiefe verkeilt, aber seinen Platz noch nicht gefunden hatte und je nach Strömungsverhältnissen und Wasserstand auf-und abwippte oder nach rechts und links ausschlug wie der Schwanz eines ungezähmten Pferdes. Bei Hochwasser oder Sturm konnte sich ein Sawyer sogar wieder losreißen, und man tat gut daran, diese unberechenbaren Gesellen weiträumig zu umfahren. Ein Snag hingegen war zur Ruhe gekommen, steckte metertief in seinem Grund und häufte nun Treibgut, Pflanzen und Sediment um sich an, die ihn eines Tages zu einer neuen Uferböschung, einer Insel oder einem Riff machen würden.
Der alte Mississippi arbeitete in diesen Dingen so unablässig, als wäre er der Ansicht, dass das Land noch nicht fertig sei. Zu den Besonderheiten dieses Flusses gehörte es, dass er Sand, Schlamm und Geröll nur zu einem verhältnismäßig geringen Teil in den Golf von Mexiko spülte. Das meiste verlor er unterwegs wieder, riss also an einer Stelle eine Uferböschung mit sich, um an einer anderen eine Untiefe daraus zu bauen, und änderte so noch in den Zeiten der Dampfschifffahrt fortwährend seinen Lauf. Auf den Landkarten sah es so aus, als würde der Fluss ständig über den sinnvollsten Weg zum Meer nachdenken.
Tatsächlich verkürzte er sich mit der Zeit; gab eine dreißig Meilen lange Flussbiegung, die er mit genügend Sediment gefüllt zu haben glaubte, kurzerhand auf und durchschnitt stattdessen bei Hochwasser die dazugehörige Landenge. War ein Mann also in einem Jahr noch stolzer Besitzer einer Plantage mit zwei eigenen Anlegestellen, saß er vielleicht schon im nächsten auf dem Trockenen und musste darüber nachdenken, wie er seine Ernte zu dem inzwischen meilenweit entfernten Fluss bekam. Ein Märchen, das die Schwarzen im tiefen Süden gerne erzählten, handelte von einem Feldsklaven namens Tip. Der legte sich eines Abends auf einer Landzunge in Missouri und am Westufer des Mississippi schlafen und erwachte als freier Mann in Illinois, auf dem Ostufer. Ob das wirklich geschehen war, wusste niemand, aber es war möglich; denn der Fluss bildete an dieser Stelle die Grenze zwischen dem Sklaven haltenden und dem freien Staat.
Für die Lotsen hieß all das, dass sie sich den gesamten Flusslauf, die Fahrrinnen, Inseln, Sandbänke und das übrige Groß und Klein nicht einmal, sondern einmal im Monat einprägen mussten. Das war nur möglich, indem sie ihn wieder und wieder befuhren, flussaufwärts, flussabwärts, bei Hoch-und Niedrigwasser, bei Tag und bei Nacht. Eines der ältesten Gesetze auf dem Mississippi sah deshalb vor, dass jeder Lotse kostenlos auf jedem Schiff mitreisen konnte, um sich den Fluss anzusehen. So kam es, dass auf beinahe jedem Dampfer – vor allem auf denen, die für ihre gute Küche bekannt waren – neben den angeheuerten und bezahlten Lotsen noch zwei oder drei ihrer Zunftbrüder mitfuhren, die dabei scheinbar nichts anderes taten, als über den Fluss und ihre früheren Fahrten auf ihm zu plaudern.
Tatsächlich aber, und ohne dass sie diesen Prozess bewusst steuerten, registrierten diese Männer jede einzelne der sechs-bis achttausend Lotungen an Bug und Heck, Backbord und Steuerbord. Und wenn man ihnen auf der Reise statt ihrer Schiffergeschichten das Alte Testament vorgelesen hätte, hätten sie am Ende der Fahrt genau gewusst, dass man im Buch Josua, Kapitel sieben bis zweiundzwanzig, die Trockenbarre Nr. 10 oberhalb von New Madrid passiert hatte und dass die Lotungen an Backbord im Kapitel neunzehn, Vers dreiundzwanzig folgende, zweimal hintereinander nur twaineinviertel statt twaineinhalb betragen hatten – was nur bedeuten konnte, dass die alte Sandbank sich nach Südwesten zu verlängern begann.
Hatte er aus den Augenwinkeln gesehen, dass die Wurzeln einer großen Pappel an einer bestimmten Uferböschung bei Millikens Bend nicht, halb oder völlig zu sehen waren, wusste ein erfahrener Lotse, dass die Sandbänke vor Bayou Sarah, sechshundert Meilen weiter südlich, leicht, schwer oder gar nicht passierbar waren. Mit einem Wort: Die Mississippilotsen waren die vielleicht bemerkenswertesten Gedächtniskünstler des 19. Jahrhunderts – ohne es allerdings zu wissen, denn ihr Gedächtnis arbeitete nicht nach irgendwelchen ausgeklügelten Systemen, sondern irgendwo unter ihrer Bauchdecke, zwischen Milz und Zwerchfell. Mit einer Ausnahme.
4.
Neuseeland war nicht nur die letzte der pazifischen Landmassen, die, irgendwann im Hochmittelalter, von Menschen besiedelt wurde, es war auch, wie in einer zweiten Reflexion auf seine abgeschiedene geografische Lage, der letzte Winkel der Welt, den die Europäer gut fünfhundert Jahre später kolonisierten. Was die dabei geführten »neuseeländischen Kriege« von allen anderen kolonialen Auseinandersetzungen des Britischen Empires unterschied, war vor allem der Gegner, mit dem die Engländer es zu tun hatten.
Die Maori waren ein junges Volk, unruhig, kriegerisch, aggressiv, letzter Spross im weit verzweigten Stammbaum der Tangata Whenua, kühner pazifischer Seevölker. Ihre Vorfahren kamen von den Marquesas, den Society-oder Cookinseln, und schon der Name, den sie dem neuen großen Land im Süden gaben, zeigt, dass seine Entdeckung und Besiedlung kein reiner Zufall war: Aotearoa – die lange weiße Wolke.
Die aktiven Vulkane der Nordinsel schleuderten Asche und Staub bis in die Stratosphäre, der stetige Westwind trug sie Tausende von Meilen über den Pazifischen Ozean, und die Bewohner weit entfernter Inseln, über denen diese Asche irgendwann niederregnete, mussten sich nur noch sagen, dass, wo Staub herkommt, auch Land sein muss. Nicht auszuschließen ist auch, dass irgendwelche von Stürmen verschlagenen Fischer die gigantischen Rauchsäulen selbst am unbekannten südlichen Himmel entdeckten und dem Ursprung der »langen weißen Wolke« auf den Grund gingen.
Die Landnahme war von erheblicher Aggressivität geprägt. Pflanzen und Tiere, die sich in Jahrmillionen ungestört entwickelt hatten, wurden binnen zweier Menschenalter ausgerottet, vernichtet, abgeholzt. Die Einzigen, die dabei noch rücksichtsloser vorgingen als die Menschen, waren die Ratten, die sie in den Tahis, ihren riesigen Auslegerbooten, unfreiwillig mitgebracht hatten. Die Gesellschaft, die die Ankömmlinge bildeten, war sehr kriegerisch; die verschiedenen Stämme, die ihre Namen von den einzelnen Kanus der Auswandererflotte herleiteten, überzogen einander mit Gewalttaten und Blutrache. Die Starken trieben die Schwachen vor sich her, über die gesamte Nordinsel, auf die Südinsel und von dort weiter nach Stewart Island und auf die Chathams.
Auch die Begegnung mit den ersten Europäern war kriegerisch. Als Abel Tasman 1642 zu landen versuchte, töteten die Maori vier seiner Matrosen, die Holländer flohen und hinterließen nichts als den europäischen Namen: Neuseeland. Ein spanisches Schiff verschwand schon vorher mit Mann und Maus vollständig aus der Geschichte, nur blutige Legenden überlebten, und noch 1772 wurde der französische Entdecker Marion Du Fresne getötet und gegessen, weil er unwissentlich ein Tabu gebrochen hatte. Nur den Wal-und Robbenjägern gestatteten die Maori später den gelegentlichen, saisonalen, Anfang des 19. Jahrhunderts dann sogar ganzjährigen Aufenthalt an ihren Küsten, um von ihnen begehrtes Handelsgut, Tran, Kleidung und – Waffen einzutauschen.
Lange Zeit fragten sich die Europäer, wie die Maori ohne Seekarten, Sextanten und europäische Hochseeschiffe Neuseeland überhaupt gefunden hatten, und favorisierten wieder einmal die schwachsinnige Idee, dass es sich bei ihnen um einen der verlorenen Stämme Israels handeln müsse, dem Jehova persönlich dieses unzugängliche Exil zugewiesen habe. Es ist jedoch bezeichnend für das Selbstbewusstsein der Ureinwohner, dass sie sich diesen ursprünglich ja diskriminierenden Gedanken sofort zu eigen machten. Einige nannten sich selbst tatsächlich Tiu, Juden, reklamierten eine besonders enge Verbindung zu Gott dem Herrn für sich und brachten eigene Propheten hervor, die im Glauben des einfachen Volkes gleichberechtigt neben Moses, Jeremia, Ezechiel und so weiter standen.
So hielten es die Maori mit allem, was die Pakeha, die Europäer, brachten; eigneten sich Kenntnisse und Fertigkeiten in Landbau, Handel und Handwerk an, die ihnen nützlich waren, fügten sie ein in ihre Weltvorstellung, sahen sie aber nicht als großzügiges Geschenk der weißen Herren an, sondern als ein Recht, das ihnen zustand. All das hieß: Diese Menschen ordneten sich ganz einfach nicht unter, betrachteten sich nicht als Schüler und Untertanen einer überlegenen Rasse, sondern bezeichneten die weißen Siedler, die sie in ihr Land ließen, im Gegenteil als »unsere Weißen«. Einzelne Stämme schrieben sogar an den englischen König und baten um mehr Weiße – ziemlich ungewöhnliche Dokumente der britischen Kolonialgeschichte.
Die folgenreichste Übernahme europäischer Technologie bestand jedoch in der Einführung der doppelläufigen Muskete. Jahrhundertelang hatten die Stämme einander bekriegt, ohne dass das pro Jahr mehr als zwei oder drei Dutzend Menschenleben gekostet hätte. Die Muskete, die die Krieger der Nordinsel sehr bald meisterlich zu handhaben wussten, änderte das und brachte die Maori in einem fast vierzigjährigen Bürgerkrieg an den Rand des Untergangs. Ganze Landstriche entvölkerten sich und wurden von lachenden Dritten, den Pakeha, also den weißen Siedlern, besetzt.
Die »Musketenkriege« endeten 1840 und führten dazu, dass nur wenige Stämme sich den immer größeren Einwanderungswellen der Pakeha wirksam entgegenstellen konnten oder wollten. Paradoxerweise machten sie deren Widerstand aber auch hocheffektiv: Zum ersten Mal standen die Briten Eingeborenen gegenüber, die genauso gut bewaffnet waren und schießen konnten wie sie selbst. Und selbst als die Zahl der Pakeha Anfang der 1860er-Jahre die der Maori erstmals überstieg, half das den Weißen nur wenig, denn in einem entscheidenden militärischen Punkt waren die Eingeborenen ihnen weit überlegen: in ihren Verteidigungsanlagen.
Das Pa, das befestigte Dorf oder Lager der Maori, war mit seinen Grabensystemen, gestaffelten Holzpalisaden, Unterständen, Schießscharten so geschickt angelegt, dass es an Widerstandskraft vielleicht erst von den Schützengräben an der Westfront des Ersten Weltkriegs erreicht oder übertroffen wurde. Mit den Angriffswaffen, sogar der Artillerie des 19. Jahrhunderts, war gegen ein solches Bollwerk wenig auszurichten. Zwanzig bewaffnete Männer in einem Pa von strategischer Bedeutung, etwa über einem Flusslauf oder einem Pass, konnten eine ganze Armee aufhalten.
Insbesondere Riwha Titokowaru, geboren und aufgewachsen zur Zeit der Musketenkriege, war eines der Genies auf dem Gebiet des Fortifikationswesens. Nächtliche Überfälle, kurze Raubzüge gegen einzelne Farmen und kleine Siedlungen mit anschließendem raschem Rückzug in die unzugänglichen Berg-, Fluss-und Urwaldbefestigungen waren seine Spezialität, der die Pakeha wenig entgegenzusetzen hatten.
Nur in offener Schlacht, in halbwegs gangbarem Gelände konnten die Briten in den Kriegen von 1860 bis 1866 die Maori besiegen, und Titokowaru, klug geworden in diesen Kämpfen, gedachte nicht mehr, ihnen solche Schlachten zu liefern. Noch aber schmiedete er an einer schwierigen Allianz der verschiedenen Stämme rund um den großen Vulkan Taranaki, die die Ngati Tama, Te Ati Awa, Ngati Ruanui und Ngarauru unter seinem militärischen Kommando vereinigen sollte.
5.
Der berühmteste Lotse auf dem Mississippi war der legendäre Isaiah Sellers, der den Fluss schon mit allem befahren hatte, was irgendwie schwamm. Er war definitiv vor dem ersten Dampfboot da gewesen und somit gut zwanzig Jahre älter als die erfahrensten Lotsen, die ihrem Handwerk in den 1850er-Jahren nachgingen. Es hieß, er habe die Fahrt St. Louis – New Orleans über siebenhundert Mal in beide Richtungen gemacht, was einer Lebensreise von eins Komma sieben Millionen Meilen und einem Tagesdurchschnitt von etwa neunzig Meilen entsprach.
Seine Erinnerungen reichten so weit zurück, dass er im Grunde über einen anderen Fluss sprach, wenn er über den Mississippi redete, und um seine Kollegen ja recht fühlen zu lassen, was für grüne Jungen sie im Vergleich mit ihm waren, pflegte er solchen Erzählungen mit Einleitungen wie: »Als Louisiana noch am Missouri lag« die letzte Würze zu geben.
Obwohl jeder wusste, dass seine Verpflichtung auf der A. L. Shotwell mehr oder minder symbolischer Natur war und die eigentliche Arbeit von den Lotsen George Ealer und Jeb Smith getan werden würde, erhöhte – zumindest den Zeitungsberichten zufolge – der Name Sellers die Chancen der Shotwell im bevorstehenden Rennen ganz erheblich. Ihr Gegner, die etwas kleinere, etwas leichtere Eclipse konnte jedenfalls nicht mit derartigen Berühmtheiten aufwarten, sodass die Wetten bald drei zu eins gegen sie standen, obwohl sie ihre zumindest gleichwertige Geschwindigkeit schon mehrfach unter Beweis gestellt hatte.
Kaum war das Rennen jedoch am 30. Juni 1857 gegen siebzehn Uhr in New Orleans gestartet, schienen sich die Berichte zu bestätigen und die geballte Erfahrung der Sellers-Ealer-Smith auszuzahlen. Die Shotwell schwenkte als Erste in die schmale Fahrrinne bei Carrolton Bend ein und lag fünf Stunden später bei Einbruch der Nacht und vor Donaldsonville bereits gut fünfhundert Yards in Führung.
In dieser ersten Nacht stand ein leuchtender weißer Vollmond am wolkenlosen Himmel des tiefen Südens, und deshalb waren die Ufer des Mississippi bei Baton Rouge auch weit nach Mitternacht noch von zahllosen Zuschauern bevölkert. Mütter weckten ihre schlafenden Kinder auf, Betrunkene steckten ihre Köpfe in Wassertonnen, damit sie den Anblick der großen Schiffe nicht versäumten, die tiefschwarze Linien in die ungeheure Fläche aus flüssigem Silber schnitten, in die der Mond den großen Strom zu verwandeln schien. Die Distanz war nicht wesentlich größer geworden; wie ein Schatten folgte die kleinere Eclipse dem Kielwasser der majestätischen A. L. Shotwell, wie ein Echo klang das Aussingen ihrer Lotgasten zum dunklen Ufer hinüber.
Bei Red River Landing erfolgte bei Sonnenaufgang der erste ernsthafte Angriff des kleineren Schiffes. Während die Shotwell zum Ostufer herüberkreuzte, um den gefürchteten Sandbänken auszuweichen, die der Red River hier weit in den Mississippi schob, verließ sich die Eclipse offenbar auf ihren geringeren Tiefgang, blieb auf der Westseite des Stroms und jagte mit viel Glück über die unberechenbaren Untiefen hinweg. Da die Strömung hier entsprechend stärker war, erreichte sie dadurch allerdings nicht allzu viel.
Den ganzen folgenden Tag über belauerten die Schiffe einander; wartete die Eclipse auf irgendeinen Fehler der Shotwell, um an Engstellen an ihr vorbeizuziehen, legte die Shotwell Volldampf vor, wenn sie nach dem Kreuzen in eine breitere Fahrrinne kam, und gewann so der Eclipse, die das Gleiche natürlich erst Minuten später tun konnte, Meter um Meter ab.
Als sie nach vierundzwanzig Stunden Vicksburg erreichten, lag die Shotwell fast eine Meile in Führung. Hier geriet der Eclipse plötzlich ein Floß mit begeisterten – böse Zungen behaupteten später: extra dafür bezahlten – Zuschauern ins Gehege, und die Folge war ein Ruderschaden, der sie vier Stunden aufhielt. Vier Stunden – das waren fast fünfzig Meilen. Ein nahezu uneinholbarer Vorsprung, wenn kein Wunder geschah oder die Shotwell gleichfalls Pech hatte.
In der zweiten Nacht, deutlich dunkler als die erste, holte die Eclipse zwar wieder einiges von ihrem Rückstand auf, passierte Helena, also die Hälfte der Strecke, aber dennoch erst knapp drei Stunden nach der Shotwell. Das Rennen schien gelaufen.
6.
Titokowaru, Häuptling der Ngaruahine vom Stamm der Ngati Ruanui in der Provinz Taranaki, erwachte in völliger Dunkelheit, schweißgebadet. Er hatte wieder mit der Frau geschlafen in seinem Traum; einer Frau, die er nicht kannte und nie gesehen hatte. Seit er Keuschheit gelobt hatte für die große Aufgabe, die vor ihm lag, träumte er in fast jeder Nacht von der Frau.
Keuschheit gehörte eigentlich nicht zu den üblichen Traditionen der Maori. Titokowaru hatte dieses Mittel der Selbstdisziplinierung in seiner Zeit als Schüler methodistischer Missionare kennengelernt. Sie hatten ihn auf den Namen Hohepa Otene oder Joseph Orton getauft und sich viel von dem hochintelligenten und vielseitig begabten jungen Mann versprochen. Er hatte das Wissen beider Welten studiert, sprach die Sprachen beider Völker, konnte lesen und schreiben und war als Methodistenlehrer ebenso ausgebildet wie als Tohunga, als Maoripriester. Aber seine eigentliche Berufung war der Krieg.
Sein Vater, ein Unterhäuptling der Ngaruahine, hatte ihn schon als Elfjährigen mit in die zahllosen Kämpfe gegen die anderen Stämme genommen: gegen die Wanganui im Süden, die Tuwharetoa im Osten und die furchtbaren Waikato-Stämme des Nordens. Titokowaru hatte sich darin als ebenso kühner wie kühler, nämlich vollkommen furchtloser Krieger erwiesen. In den Taranaki-Kriegen gegen die Engländer hatte er unter anderem den Angriff auf New Plymouth angeführt und den britischen Kommandeur William King persönlich getötet, war aber auch selbst schwer verwundet worden.
Eine Kugel kostete ihn das Sehvermögen des rechten Auges, und eine scheußliche Narbe entstellte seither sein ohnehin nicht ansehnliches Gesicht. Ein englischer Soldat beschrieb ihn jedenfalls als »den hässlichsten und dunkelhäutigsten Eingeborenen, den ich je sah«. Mittelgroß, für einen Maori eher mager, hatte Titokowaru außerdem die exzentrische Angewohnheit, in einem europäischen Anzug und mit dem typischen Hut eines britischen Gentlemans in die Schlacht zu ziehen. Er galt als exzellenter Damespieler und war weder dem Alkohol noch den Frauen abgeneigt. Das wurde auch zu seinem größten Problem, denn in einem Fall gehörte Keuschheit eben doch zu den Traditionen der Maori: wenn ein Kampf bevorstand.
Titokowaru warf die Decke ab und stützte sich auf den rechten Ellenbogen. Seine Kleider klebten am Leib. Er strampelte sich wütend frei und versuchte aufzustehen, aber ein scharfer Schmerz im Bereich der Lendenwirbel zwang ihn zuerst auf die Knie. Mit gekrümmtem Rücken bewegte er vorsichtig Schultern und Hüften, fast wie eben in seinem Traum. Verlagerte dann sein Gewicht von einem Knie auf das andere, bis die Schmerzen erträglich waren. Dabei hatte er das Gefühl, dass die durchgeschwitzten Kleider tonnenschwer waren und ihn zu Boden drückten. Umständlich zog er sie aus, bis er so nackt war, wie ein Krieger, der das Whakapapa in Form von Tätowierungen auf nahezu allen Teilen seines Körpers trug, nur werden konnte.
Das Whakapapa war nicht nur eine Genealogie, die Reihe der Ahnen. Es bezeichnete auch die Herkunft des Kriegers aus dem Land selbst; die Geschichte der Landschaft, in der er geboren wurde, seinen ersten Schrei ausstieß, das erste Mal tötete, liebte, seine Kinder der Sonne entgegenhielt. Das Whakapapa war das Leben selbst, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in dem der einzelne Mann nur eine vorübergehende Rolle spielte.
Schließlich erhob sich Titokowaru aus seiner kauernden Stellung und spürte, wie gut das Spannen und Strecken beim Gehen seinen kräftigen Muskeln gefiel. Er trat in die Nacht hinaus, und der Wind trocknete seinen Schweiß, ließ ihn frösteln. Er fühlte, wie sein Glied in der Kälte zusammenschrumpfte, seine Hoden sich an den Körper zogen, aber er blieb nicht stehen, bis er die Palisade und ihre Wächter erreicht hatte. Die Männer starrten auf ihren nackten Häuptling, wagten aber nicht, ihn anzusprechen, denn ein seltsamer, tiefer Zorn lag auf seinem Gesicht. Er verließ das Pa, sein befestigtes Dorf Te Ngutu o te Manu, den »Schnabel des Raubvogels«, und erstieg eine Anhöhe, bis er die vertraute Silhouette des Taranaki zweieinhalbtausend Meter hoch in den Himmel ragen sah, eine Spur dunkler als die Nacht.
Hier blieb er stehen, hob beide Arme zu den unsichtbaren Wolken empor und murmelte in den schneidenden Wind die Worte: »Ich bin ihr, und ihr seid ich.« Titokowaru beschwor seine Ahnen um Hilfe bei dem, was vor ihm lag, nannte langsam ihre Namen, einen nach dem anderen; Männer, die er nie gesehen hatte, aber die in seinem Blut lebten. Immer weiter zurück reichte die Kette der Namen, der Häuptlinge und Krieger, bis zu Turi, dem legendären Kapitän des ersten Kanus, das auf Aotearoa landete, und noch weiter hinaus, zu den Tangata Whenua, den großen Seefahrern.
Tausend Jahre reichte Titokowarus Erinnerung zurück: »Ich bin ihr, und ihr seid ich.« Und als er den letzten Namen nannte, sah er, dass der Himmel über dem Taranaki allmählich grau wurde.
7.
Wie so oft, wenn er Goethe las, blieb Manu-Rau, der Vogel, der überall fliegt, bereits nach wenigen Sätzen hängen; nicht weil sie ihn zum Nachdenken reizten, sondern weil sie ihn auf eigene Gedanken brachten, die mit Goethe nichts mehr zu tun hatten. Auf diese Weise war er in seinen fast vierzig Jahren im Faust nie auch nur bis zum dritten Akt gekommen, es sei denn, er huschte darüber hin. Aber dann huschte er eben darüber hin, und Goethe brachte ihm überhaupt nichts. An die großen Dramen und Menschheitsentwürfe wagte er sich schon gar nicht mehr heran. Die Gedichte gefielen ihm, denn Gedichte blieben, trotz aller Gedanken, die sie womöglich auslösten, auch in sich selbst überschaubar. Als er die Gedichte überhatte, suchte Manu-Rau deshalb gezielt die kürzeren Dramen aus Goethes Gesammelten Werken heraus. Proserpina hatte er vorher durchgeblättert und kurz genug gefunden, um ein Tänzchen mit der Dame zu wagen.
Zum Schlafen war er zu unruhig gewesen, hatte eine Weile auf den Atem von Emilia und seinen drei Kindern gelauscht und sich dann, lange vor der Morgendämmerung, schon wieder erhoben. In der gemütlichen Wohnküche, dem größeren ihrer beiden Räume, entzündete er eine Paraffinlampe, stellte sie ins Fenster und setzte sich gemeinsam mit Goethe an den Tisch davor. Manu-Rau gefiel die Vorstellung, dass der neue Tag, der irgendwo in der achttausend Kilometer weiten Wasserwüste des Südpazifiks geboren wurde, zuallererst ihn sehen würde: in seinem Blockhaus auf der Coromandel Range, über dem Meer, Goethe lesend. Und nun hatte ihn dieser Kerl schon wieder erwischt, schon im vierten Vers:
»Und was du suchst, liegt immer hinter dir.«
War das so? Was lag hinter ihm? Und hatte er irgendetwas davon gesucht, abgesehen von dem verfluchten Gold, das sich immer vor ihm zu verstecken schien?
Manu-Rau war der Ehrenname, den seine Feinde, die Maori, ihm gegeben hatten, und er trug ihn mit Stolz. Aber geboren wurde er unter dem Namen Gustav Ferdinand von Tempsky in Braunsberg an der Mährischen Pforte, und das Whakapapa der Mährischen Pforte war mächtig in ihm. Auf diesem Weg waren sie alle gezogen, die Goten, Vandalen, die Hunnen und Langobarden, Bogumilen und Katharer. Hier, zwischen Riesengebirge und Hoher Tatra, war das Einfallstor aus den endlosen Ebenen des Ostens in die reichen alten Kulturgebiete des Südens und Westens: Süddeutschland und Frankreich, Italien und Griechenland. Durch die Mährische Pforte mussten sie alle: Attila und Alarich, Subotai und seine Mongolen – und es war ihre Unruhe, die Gustav Ferdinand von Tempsky um die ganze Erde getrieben hatte.
Früh fiel auf, dass der Junge vor nichts Angst hatte. Schon der Zehnjährige bestieg völlig allein den großen Schneeberg, hoch über die Baumgrenze, wo nur noch Krummholz wuchs, auf der Suche nach Rhiozagel, dem Dämon des Riesengebirges, ihn zu bekriegen. Als eben Achtzehnjähriger und nach seiner Ausbildung zum Offizier der preußischen Armee verließ er Deutschland, Europa und kolonisierte die Mosquito Coast in Zentralamerika. Den Einundzwanzigjährigen lockte das Gold nach Kalifornien; Reisen durch Mexiko, Guatemala, San Salvador folgten. Mit dreißig schürfte er auf den Goldfeldern von Bendigo in Australien; vier Jahre später der kurze Goldrausch auf der Coromandel Range und ein neues, das letzte Land.
Da er nie nennenswerte Mengen an Edelmetall fand, tat Gustav Ferdinand von Tempsky das, was er als preußischer Offizier am besten konnte: Er bildete Soldaten aus und kämpfte in zahllosen kleinen Kolonialkriegen für Kultivierung und Urbarmachung, für Fortschritt und Zivilisation. Hufschläge rissen ihn jetzt aus seiner Vergangenheit und Goethes Proserpina; draußen war die Sonne aufgegangen, und ein Reiter kam den langen, gewundenen Passweg hinauf, der nach Thames und Auckland führte. Von Tempsky trat ohne Angst, barfuß und in Hosenträgern vor sein kleines Haus.
»Morgen, Sir«, sagte der blutjunge Bursche mit der herzhaften Zwanglosigkeit, die kein Drill der Welt den britischen Kolonisten je austreiben würde. »Colonel McDonnell lässt Sie grüßen: Es wäre mal wieder so weit!«
Die meisten preußischen Offiziere hätten auf eine in dieser indiskutablen Form vorgetragenen »Kriegserklärung« mit Wutausbrüchen bis hin zum Schlagfluss reagiert, aber Manu-Rau ließ den Mann einfach stehen, ging bis zur Felskante und schaute über die See hinaus. »Colonel McDonnell« – sein Freund Tom hatte es weit gebracht seit den Waikato-Kriegen, in denen er, von Tempsky, noch McDonnells Vorgesetzter gewesen war. Diesmal würde es also umgekehrt sein, und er überlegte kurz, ob er das aushalten könnte.
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren, und er sah, wie Emilia, Louis, Randall und sogar die kleine Lina, von der Ankunft des Reiters geweckt, verschlafen aus der Tür schauten. Seine Familie hatte weiß Gott Besseres verdient als die Armut, in die er sie geführt hatte. Emilia, nur im Nachthemd, barfuß und mit gelösten Haaren, kam ihm entgegen. Er liebte sie, das hatte er immer getan, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte; aber er liebte auch die schöne Wilde, Takiora, die in den Jahren des Buschkrieges sein bester Scout und seine Geliebte gewesen war und schon auf ihn warten würde.
Doch es war nicht der Gedanke an Takiora, nicht das herrliche Leben im Feld und auch nicht die Aussicht auf eine gute Bezahlung, die ihn seine Entscheidung treffen ließen: Es war der Kampf selbst, auf den Manu-Rau sich freute.
»Sagen Sie Colonel McDonnell, ich werde kommen!«
8.
Te Kooti lag an dem fremden Strand und sah die Eidechse auf dem sandigen Boden umherhuschen, auf dem er schlief. Schlief er? Seine Augen waren offen, das Tier Wirklichkeit. Eine gezackte schwarze Linie lief wie ein breiter Blitz über den glänzenden, gelbgrünen Leib, endete in der zuckenden Schwanzspitze. Langsam kroch die Eidechse auf seinen Kopf zu, auf seinen Mund, seine Augen. Te Kooti presste die Lippen zusammen, denn Whiro, der Geist alles Bösen, nahm, wie es hieß, gern die Gestalt einer Eidechse an, drang in den Körper der Menschen ein, die die alten Götter strafen wollten, und fraß von innen heraus ihre Lebensfunktionen auf.
Er glaubte nicht mehr an den alten Unsinn, er war getauft; aber die Angst blieb, und die Augen konnte er nicht abwenden. Die Eidechse stand jetzt dicht vor Te Kootis Gesicht, deutlich sah er den Glanz in den bösen kleinen Augen, und da war etwas Seltsames, Furchterregendes: Immer wenn sie den Kopf bewegte, bewegte sich auch Te Kootis Kopf, und nach einer Weile begriff er, dass er in einen Spiegel sah. Er selbst war die Eidechse.
Der Spiegel begann jetzt, sich zu bewegen wie Wellen auf einer Wasserfläche, und wurde zu einem wogenden Meer, in dem Te Kooti schwamm. Er schwamm nicht wie ein Mensch, denn er war kein Mensch, fühlte einen Schwanz auf das Wasser schlagen und sah seine eigene Zunge vor seinem Gesicht hin und her schnellen: rot, schmal, an der Spitze gespalten. Er hörte eine ferne Brandung, hob den Kopf und sah, dass es Aotearoa, die lange weiße Wolke, war, auf die er zuschwamm; das Land, das er zuletzt so gesehen hatte, langsam am Horizont versinkend, als die Pakeha ihn auf Befehl der Regierung in Wellington deportierten.
Erst als er näher herankam, sah Te Kooti, dass er sich getäuscht hatte. Was er für die steilen, glatten Ufer eines Fjordes gehalten hatte, waren in Wirklichkeit die Beine eines Weibes, einer weißen Frau, die mit gespreizten Schenkeln in der Brandung lag. Die Wellen spülten ihn gegen den warmen Sumpf ihres Geschlechts, seine Zunge stieß vor, seine Zähne packten ihr Fleisch, aber sie rührte sich nicht. Te Kooti wand sich, drehte sich wie eine Schlange in ihren dunklen Leib, fühlte, wie sie seinen Kopf, seinen Körper umschloss. Irgendwann stieß er auf ihre Gebärmutter und begann, gierig zu fressen.
Dann sah er die Flamme, ein wunderbares weißes Licht. Er kroch darauf zu, hob die Hand und durchstieß die Flamme. Sie brannte nicht. Flackerte, leuchtete heller als alle Feuer, die er in seinem Leben gesehen hatte, aber sie brannte nicht. Da wusste er, dass er nicht mehr in dieser Welt, sondern in der Taha wairua war, wie die Maori das Universum des Geistes nennen. Dann traf ihn etwas.
»Aufstehen, du faules schwarzes Aas!«, brüllte Hauptsergeant Michael Hartnett, und der Speichel tropfte durch seine fauligen Zähne. Noch einmal trat er mit seinem schweren Stiefel in Te Kootis Seite, und der große Maorikrieger kam zu sich, als wäre er weit fort gewesen.
Er fühlte sich sehr schwach, hatte Fieber, aber er wusste jetzt wieder, wo er war. Er lag an einem Strand der Insel Wharekauri, die die Weißen Chatham nannten. In der Bucht von Waitangi, wo man ihn gemeinsam mit fast dreihundert anderen Deportierten, angeblichen und tatsächlichen Hauhau-Rebellen, ausgeschifft hatte; Männern, Frauen und Kindern, für die die Kolonialregierung noch nicht einmal Hütten errichtet hatte. Jenseits des Strands, hinter einer niedrigen Hügelkette im Landesinneren, erklang ein unheimliches Geräusch, das sie nun für den Rest ihres Lebens hören sollten: die Schreie von einigen Millionen erwachender Seevögel, die in der riesigen Lagune von Te Whanga ihre Fischgründe hatten.
Te Kooti erhob sich schwankend und fühlte dabei, dass das Fieber tief in ihm steckte. Er war in einer fremden Welt, fünfhundert Meilen entfernt von seiner Heimat Aotearoa, das die Weißen Neuseeland nannten.
9.
Das Rennen war gelaufen. Die letzten Nachrichten, am frühen Morgen per Telegraf in New Madrid eingetroffen, besagten, dass die Shotwell Memphis gegen zweiundzwanzig Uhr verlassen hatte, während die Eclipse erst nach Mitternacht eingetroffen war.
Zwar war die Nacht stockfinster gewesen, der Mond versteckt hinter den dichten Nebeln, den die hierliegenden Wälder in der schwülen sommerlichen Finsternis zuverlässig ausatmeten. Zwar war die Strecke zwischen Memphis und New Madrid durch zahllose Inseln und die daran hängenden Untiefen, Sandbänke, Riffe die am meisten gefürchtete auf dem ganzen Fluss. Zwar hatte die Shotwell deshalb sicherlich ihre Geschwindigkeit gedrosselt, aber dennoch war Major John W. Cannon an diesem herrlichen Morgen sicher, seinen Nachbarn, Freund und ewigen Rivalen Major Thomas P. Knox wieder einmal ausgestochen zu haben.
Sie wetteten nie um viel Geld. Gelegentlich um einen Nigger, wenn es die Sache wert war; ja, sie hatten eines Tages lachend festgestellt, dass ein großer schwarzer Dummkopf namens Ramses schon zweimal zwischen ihnen hin-und hergegangen war wie ein Wanderpokal. Meist aber ging es in den Wetten zwischen Major Cannon und Major Knox – beide hatten nie einen militärischen Rang bekleidet und trugen ihre Ehrentitel nur als zahlende Mitglieder der Kentucky-Miliz – lediglich um die Ehre, den »richtigen Riecher« zu haben.
Den hatte in der Mehrzahl der Fälle Major Cannon gehabt: Seine Plantage war größer, seine Ernten besser, seine Sklaven zahlreicher. Auch in Bezug auf Söhne lag er im Rennen des Lebens klar, nämlich mit sieben zu vier, vorn – aber nur, weil Henrietta Petulia Knox, die große Liebe seiner Jugend, seinem in diesem schmerzlichen Fall siegreichen Rivalen Tom in den ersten Jahren nur Mädchen geboren hatte.
Gegen zehn Uhr dreißig bestieg der gesamte Cannon-Clan Kutschen und Wagen, um auf Sassaf ras Ridge die Ankunft der Dampfer mit einem Siegespicknick zu feiern. Dort traf etwa eine Stunde später auch die fast ebenso große Familie Knox ein, deren Patriarch über die Vorkommnisse auf dem Fluss durch den Telegrafen natürlich ebenso gut unterrichtet war wie sein Konkurrent.
»Nun, alter Knabe, wieder mal auf dem falschen Dampfer gewesen, wie? Was?«, begrüßte John Cannon mit einem jovialen Grinsen seinen Nachbarn, aber dann stockte ihm der Atem, denn Rebecca Olivia Knox, die älteste Tochter des Freundes, sprang leichtfüßig noch vor ihrem vergrämten Vater aus dem vordersten Wagen.
»Musst du Papa immer so ärgern, Onkel John?!«, sagte sie mit einem halb spöttischen, halb tadelnden Gesichtsausdruck, von dem sie durch viele Blicke in ihren Ankleidespiegel wusste, dass er ihr sehr gut stand.
Cannons alte Augen begannen zu leuchten. Rebecca war wahrhaftig das lebende Abbild des herrlichen Mädchens, dem er in jenem fernen Sommer vor zweiundzwanzig Jahren so heftig den Hof gemacht hatte und das noch immer durch seine Träume ging. Er stieß seinen Sohn James in den Rücken, und dieser lange Tölpel schaffte es tatsächlich, zwei Schritte vorwärtszustolpern und den Strauß Feldblumen, den er nervös in der Hand hielt, vor Becky Knox auf den Boden zu werfen.
Das Mädchen versteckte ihr helles Lachen hinter einem Fächer, während der junge Mann sich vor ihr bückte, um die Blumen aufzuheben, und dabei seinen Hut verlor. Jimmy bekommt wahrhaftig schon eine Glatze, dachte Rebecca und beschloss, ihn und seinen so unerträglich siegesgewissen Erzeuger noch mindestens einen Sommer lang zappeln zu lassen.
»Möchte wetten, du hast diese Flößer-Burschen in Vicksburg bezahlt, Cannon«, knurrte in diesem Moment statt einer Begrüßung der wohlbeleibte Major Knox und schälte sich aus seiner Kutsche.
»Man sollte meinen, du hättest vom Wetten erst mal wieder die Nase voll, Tom«, antwortete Cannon gut gelaunt, um steif und mit aller Würde eines Gentlemans des alten Südens hinzuzufügen: »Die Ware dabei?!«
Knox deutete auf einen etwa achtzehn Jahre alten Farbigen, der auf diesen Blick hin sofort von der Ladefläche eines der hinteren Wagen sprang. »Und selbst?«, knurrte er dann. »Noch habe ich nämlich nicht verloren!«
»Ich weiß ja, dass du ein gläubiger Mann bist, Tom Knox«, erwiderte Cannon sarkastisch, »aber manchmal übertreibst du ein bisschen mit deinem Gottvertrauen!«
»Keine Scherze mit Jesus, Cannon!«, mahnte Knox, jetzt ganz Vorbeter ihrer gemeinsamen evangelikalen Gemeinde.
Major Cannon nickte scheinbar schuldbewusst und winkte dann nachlässig seinen schwarzen Kutscher herbei. Er war schon seit Stunden so siegesgewiss, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, irgendeinen speziellen seiner Nigger auszusuchen, und nahm nun den nächstbesten als Wetteinsatz. »Du kennst meinen Cornelius«, sagte er, und der Kutscher machte eine tiefe Verbeugung: »Massa Knox, wünsch ein schön Tag, Sir!«
»Aber wer ist das?«, fragte Cannon und wandte sich direkt an den jungen Mann, der, den Strohhut in der Hand, sichtlich aufgewühlt vor ihm stand. »Wie heißt du, Junge?«
»Bo, Sir, Massa Cannon«, stotterte der Sklave.
»Guter Feldarbeiter«, warf Major Knox ein. »Stark wie ein Bulle und wächst immer noch. Nicht wie der alte Conny hier. Wie alt bist du jetzt, Conny?«
»Bin um die vierndreißig herum, Massa Knox«, antwortete der Kutscher dienstbeflissen und flocht fröhlich einen kleinen Scherz an: »Wenn stimmt, was meine Mama gesagt hat.«
»Dafür kann er gut mit Pferden, das weißt du genau, Knox. Der ist seine zwei Feldarbeiter wert«, sagte Major Cannon verärgert.
»Und hat eine Frau, nicht wahr?«, erwiderte Knox und sah den Kutscher fragend an. »Und zwei Kinder?«
»Zwei Jungs, ja, Massa, Sir. Danke, dass Sie sich erinnern«, sagte Cornelius.
»Die will ich alle haben, wenn ich gewinne, Cannon. Wär unchristlich, ’ne Familie auseinanderzureißen!«
»O danke, Massa Knox, sind ein wahrer Christ, Sir, wirklich!«
»Das will ich meinen, Conny«, sagte Knox wie selbstverständlich. »Also, Cannon, traust du dich oder kneifst du?!«
»Vier Nigger, darunter ein Kutscher vor dem Herrn«, entrüstete sich Major Cannon trotz all seiner Zuversicht. »Und all das für den da?!« Er trat zu dem jungen Feldarbeiter. »Mach mal den Mund auf, Junge!«
»Herrgott, Cannon! Nicht vor den Frauen.« Knox winkte die kleine Gruppe verärgert hinter die inzwischen abgeladenen Wagen, obwohl der Rest der Gesellschaft an dem ganzen Vorgang so wenig Interesse nahm wie an einem Pferdehandel.
»Machen wir’s richtig«, sagte Cannon, nachdem er dem Jungen hinter den Wagen ausführlich in den Mund gesehen hatte. »Zieh deine Sachen aus, Bo!«
Der junge Schwarze blickte ungläubig zu seinem Herrn und Meister, der aber nur verächtlich nickte. »Mach schon, Junge. Major Cannon hält uns sonst für Betrüger!«
Mit zitternden Händen ließ Bo seinen Hut fallen, zog sein Hemd aus und nestelte dann umständlich an seiner Hose. Fünf Sekunden später stand er nackt auf Sassafras Ridge, mitten in einer Picknickgesellschaft und nur eine Wagenbreite von dem fröhlichen Treiben entfernt.
»Heb die Arme!«, befahl Cannon. »Ja, so. Jetzt dreh dich um!« Mit einem wohlwollenden Nicken betastete er die Schultern und die eindrucksvolle Rückenmuskulatur des jungen Sklaven. Vor allem das Fehlen jeglicher Narben ließ ihn die Augenbrauen hochziehen.
»Ja, da guckst du, Johnny«, freute sich Major Knox. »Meine Schwarzen brauchen keine Peitsche! Alles brave Jungs, gute Christen!«
»Halleluja!«, sagte Bo leise, aber so prompt, wie es ihn achtzehn Jahre auf der Knox-Plantage gelehrt hatten. Cannon klatschte ihm hart auf die kräftigen Hinterbacken wie einem Ackergaul. »Bück dich, Junge!«
Unter dem Wagen, zwischen den Radspeichen hindurch, sah Bo, dass die weißen Frauen und Mädchen sich auf den mitgebrachten Decken niedergelassen hatten und die jungen Männer die Damen bedienten, ihre Gläser mit Wasser und Limonade füllten, ihnen Hähnchenschenkel und Obst reichten, während die kleineren Kinder am Hang des Hügels nach Schmetterlingen und Raupen jagten.
Major Cannon hatte inzwischen festgestellt, dass Bo weder Läuse noch Würmer bei sich trug, und ein prüfender Blick auf seine prallen, runden Hoden hatte ihm außerdem gesagt, dass er nicht nur einen guten Feldarbeiter, sondern auch einen erstklassigen Zuchtnigger bekommen würde. Nur pro forma, weil es eben zur Vollständigkeit der Prozedur gehörte, ließ er den Jungen dann noch einige Male aufund abhüpfen, wobei Bo nicht verhindern konnte, dass sich infolge der Bewegung, der Anwesenheit der weißen Frauen und seiner ganzen achtzehnjährigen Aufgeregtheit binnen weniger Sekunden sein Glied versteifte.
Die Gentlemen störte das jedoch so wenig, als wenn er ein Esel wäre, und Major Cannon sagte nur belustigt: »Mit dir werden meine schwarzen Kühe viel Spaß haben, Bo!« Dann wandte er sich mit ehrlicher Anerkennung an seinen Rivalen. »Du hast zwar keine Ahnung von Dampfschiffen, Tom Knox, aber wie man Nigger züchtet, das hast du raus.« Nach einer kleinen Kunstpause fügte er hinzu: »Und deine Wettschulden zahlst du wie ein Gentleman!«
Major Knox ließ sich durch diese Komplimente zu einem verkniffenen Lächeln hinreißen, und mit einem kurzen, festen Händedruck war der Handel oder zumindest die Wette besiegelt.
»Sie kommen, sie kommen!«, riefen in diesem Moment die Kinder, die am Hügel gespielt und zum Mississippi hinabgeblickt hatten. Mit wehenden Rockschößen folgten die beiden Gentlemen den Stimmen zum Fluss, und Bo, zu Tränen beschämt, überlegte, ob es ihm wohl erlaubt sei, zumindest seine Hose wieder anzuziehen.
Oben auf Sassafras Ridge stand seit Stunden die Sonne zwischen den hohen, duftenden Bäumen, waren die Grasbüschel so trocken wie Stroh und einzelne flache Steine so heiß, dass man Eier darauf hätte braten können. Aber gerade als hätte die Sonne alle Feuchtigkeit aus dem Land, den Feldern, den Hügeln in den weit unten liegenden Flusslauf geschoben, schwebten über dem Mississippi noch immer einzelne Nebelschwaden. Stromabwärts, aus der großen, fast vierzig Meilen langen Flussschleife von New Madrid herauskeuchend, löste sich jetzt ein einzelnes Dampfschiff aus diesem leichten Dunst.
Noch war kein Name auszumachen, auch durch die Fernrohre nicht, die die beiden zahlenden Anführer der Kentucky-Miliz natürlich keinen Moment aus der Hand gaben, sosehr ihre Kinder auch darum bettelten. Aber nach etwa zehn Minuten, als das Schiff nicht mehr in einem so spitzen Winkel auf die Beobachter zuhielt, murmelte Major Knox: »Jesus, Maria und Josef! Es ist die Eclipse!«
»Du träumst, Knox!«, sagte Major Cannon in den nächsten Minuten noch mehrmals, während er immer stärker erblasste. Schließlich konnte keinerlei Zweifel mehr bestehen, und er ließ das Fernrohr sinken. Unter ihnen lief die Eclipse unter Volldampf nach Norden.
Der eben noch so beherrschte, würdig-rundliche Major Knox hatte das jetzt nutzlose Fernrohr längst an seine Nachkommen weitergegeben und hüpfte herum wie ein Gummiball. »Die Eclipse!«, schrie er. »Ein Hurra der Eclipse! Jesus! Jesus!« Er warf seinen Hut in die Luft, riss sich den Rock vom Leib – wobei mehrere Knöpfe absprangen und später im hohen Gras nicht mehr gefunden werden konnten – und schwenkte ihn dann begeistert über seinem Kopf herum wie eine Flagge.
Als Antwort auf diesen spontanen, gut sichtbaren Freudenausbruch ließ die Eclipse ihre Signalhörner aufheulen, und der Jubel des Knox-Clans durchbrach daraufhin alle von der menschlichen Vernunft gesetzten Grenzen. Ihr wohlbeleibter Häuptling lag schließlich japsend und keuchend auf dem Rücken wie ein Maikäfer und weinte Freudentränen.
»Zieh deinen Nigger aus, Cannon!«, seufzte er schließlich, als er sich wieder ein wenig gefasst hatte.
Major John W. Cannon aber schickte der Eclipse, die jetzt die riesige Sandbank vor Big Oak Tree passierte, einen gotteslästerlichen Fluch hinterher und sagte dann: »Sie muss einen Lotsen haben, der im Dunkeln sehen kann!«
10.
Im Nordwesten von Melbourne erstreckte sich noch im Jahr 1867 über viele Quadratmeilen eine eigenartige, wüste Landschaft, zehn-, zwölfmal größer als die Stadt selbst. Es waren, schier endlos und von Horizont zu Horizont reichend, die Reste primitiver menschlicher Behausungen, eingefallene Bretterverschläge, Fetzen von Zeltleinwand, rostiger Schrott, mumifizierter Abfall. Es waren Zehntausende kleiner Gruben, manchmal nur aufgekratzte, hastig ausgehobene Löcher, manchmal aber auch kleine Stollensysteme, die erstaunlich weit in die Erde reichten. Hier und da die Ruinen eines vor fünfzehn Jahren rasch aufgemauerten Vorratshauses, dessen hölzerne Dachkonstruktion längst eingefallen war.
Der große Goldrausch von 1852 hatte binnen weniger Monate mehr Menschen nach Australien gespült als acht Jahrzehnte Deportation und Auswanderung zusammengenommen. Aber so schnell, wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden, die Heuschrecken des Goldes, weitergezogen in rastloser, unruhiger Hoffnung, nach Südafrika, nach Neuseeland, und hatten der Provinz Victoria und der Stadt Melbourne nur diese große, offene Wunde hinterlassen.
Dem unbedarften Wanderer konnte es geschehen, dass hier unversehens der Boden unter seinen Füßen nachgab, weil die alten Stützbalken in der Tiefe moderten, brachen, und dann fand er sich drei, fünf, manchmal zehn Meter tief in der losen, nachbröckelnden Erde wieder. Blieb der Mann unverletzt, mochte er sich philosophisch fragen, wie in den niedrigen, schwarzen Gängen, die sich überall vor ihm öffneten wie in einem Insektennest, überhaupt Menschen gelebt hatten; brach er sich jedoch ein paar wichtigere Knochen und war er allein unterwegs, konnte er nur noch beten.
Immer wieder, seit mehr als zehn Jahren, verschwanden gelegentlich Menschen in dem riesigen Labyrinth der ehemaligen Goldfelder von Melbourne. Neugierige kleine Jungen, Betrunkene, abenteuerlustige Trottel, die auf ein liegen gebliebenes Körnchen Gold hofften, oder Pärchen, die nach einem Ort für ungestörte Zweisamkeit suchten. Selbstverständlich bildete das wüste Gelände auch eine natürliche Zuflucht für Mörder, Räuber, Diebe, entlaufene Sträflinge, Schuldner, die Hefe der jungen Kolonialgesellschaft, und wann immer ein größeres Verbrechen geschah, schrie die Stadt, schrien Politiker, Geschäftsleute, Bürger nach der Einebnung und Nutzbarmachung des unüberschaubaren Areals. Das aber erwies sich regelmäßig als zu teuer und wurde meist nach wenigen schwachen Versuchen, etwa vonseiten der Kirchengemeinden, wieder aufgegeben.
Das Problem löste sich erst in den 1870er-Jahren, als eine gewaltige neue Einwanderungswelle auch Melbourne traf; die Stadtväter beschlossen, jedem willigen, fleißigen Immigranten den Grund und Boden zu schenken, auf dem er aus eigener Kraft ein Haus bauen und bewohnen würde. So verschlang die Stadt allmählich das große vernarbte Geschwür an ihrem Rand und dem ihrer Gesetze. 1867 aber wagten sich die Ordnungshüter der Victorian Police nur ungern in diesen menschengemachten Dschungel. Diese Arbeit überließ man privaten Ermittlern.
11.
John Gowers jagte fast nur bei Nacht, weil sein außergewöhnliches Sehvermögen ihm dann einen Vorteil gegenüber seiner Beute verschaffte. Aber noch zwei andere Dinge machten die apokalyptische Wildnis der riesigen Geisterstadt für ihn durchschaubar: zum einen sein systematisches Gedächtnis, zum anderen die Tatsache, dass er sie nie bevölkert gesehen hatte. Keine Erinnerung an Gebäude, Straßen, Wege und die Orte, zu denen sie führten, stand zwischen ihm und der Wirklichkeit. Er bewegte sich ganz im Jetzt, fast wie ein Tier.
Wie immer, wenn er in das Labyrinth eindrang, hatte er den Tag über nicht geraucht. Das machte ihn nervös und gereizt, schärfte aber andererseits seine Sinne und erleichterte die Jagd. Die meisten der armen Teufel da draußen in den Ruinen rauchten, was ihnen in die Hände fiel, und so konnte er sie riechen, lange bevor er sie hörte oder sah. Joseph Clarke würde kaum eine Ausnahme bilden, obwohl seine Akte nicht verriet, ob er Raucher war. Noch immer hatten die Strafverfolgungsbehörden nicht begriffen, wie wichtig eine solche Information war, ja, seit die Häftlinge routinemäßig fotografiert wurden, verzichtete man sogar auf eine detaillierte Personenbeschreibung. Anscheinend glaubte die Polizei, dass ein einmal fotografiertes Gesicht sich nicht mehr verändern ließ.
Gowers witterte. Rechts, vorn, vielleicht achtzig Meter. Mindestens vier, vielleicht sechs, sonst hätte er sie nicht so stark riechen können. Leise stieg er auf einen kleinen Hügel festgetrampelten Abraums und sah in einer kleinen Mulde, vielleicht einem Graben, das schwache Glimmen eines Feuers. Er schlich näher heran, wich vorsichtig einigen eingesunkenen Schächten aus und zählte schließlich drei, fünf, sechs dunkle Gestalten, die ihre Gesichter der jämmerlichen Quelle nächtlicher Wärme zugekehrt hatten. Gowers lauschte.
Unwahrscheinlich, dass Joe Clarke unter ihnen war, denn der war erst drei Tage zuvor ausgebrochen und würde sich hüten, eine so große Gesellschaft unbekannter Landstreicher zu suchen. Es gab zu viele Spitzel, zu viele Leute, die für eine warme Mahlzeit Freunde und Brüder verraten hätten. Eine Flasche kreiste, und was immer sie rauchten – Tabak war es jedenfalls nicht. Vielleicht Tee, drei-, viermal aufgekocht, in den sie zur Erhöhung des Genusses trockenen Pferdemist gemischt hatten.
Ihr Gespräch war recht einsilbig; Flüche über die Kälte, ein kurzer Gedankenaustausch über die Mülleimer einer bestimmten Wohngegend, Prahlerei über exorbitante Betteleinnahmen in einer anderen. Einer der Männer schlief bereits, zusammengerollt wie eine Schlange, die Füße in den durchlöcherten Schuhen beinahe im Feuer. Sein Schnarchen regte die anderen jetzt zu einem Disput über die Frage an, ob man besser mit dem Gesicht oder dem Rücken zum Feuer schlafen sollte.
»Ein gesundes Kreuz ist wichtig«, sagte ein erfahrener alter Tramp. »Ihr grünen Jungs wisst das noch gar nicht zu schätzen, ein gesundes Kreuz. Deshalb immer mit dem Rücken ans Feuer, Jungs, immer mit dem Rücken!« Die Männer nickten, als hätte der Alte soeben den kategorischen Imperativ neu formuliert.
»Und mit dem Arsch«, pflichtete einer von ihnen ernsthaft bei. »Gibt nichts Besseres wie’nen warmen Arsch.«
»Doch«, sagte der Jüngste in der Runde und grinste breit. »Doch!«
»Was?«, fragte der andere so gereizt, als sei seine Autorität durch den bloßen Widerspruch infrage gestellt worden. »Was? Was gibt’s Besseres wie ’nen warmen Arsch?«
Der Junge gluckste vor Vergnügen, weil sein älterer Genosse ihm auf den Leim gegangen war. »Einen warmen Frauenarsch!« Gelächter antwortete ihm und gab ihm die Kühnheit oder auch nur das jämmerliche Verlangen, diesem wärmenden Gedanken noch ein paar Glanzlichter aufzustecken. »Hinten ’n Feuer und vorn ’nen warmen Frauenarsch!« Wieder lautes Gejohle.
Gowers schlich weiter. Das entsprach in etwa seiner Überlegung darüber, was Joseph Clarke suchen würde.
12.
Poll Hunleys Arbeitsplatz waren die Gräben rings um einen ehemaligen Speicher, dessen Mauern noch schwarz und angebrannt in den Nachthimmel ragten. Sie verteidigte dieses Revier mit Zähnen und Klauen, und dass das wörtlich zu nehmen war, konnten einige der anderen Huren mit tiefen Kratzspuren in ihren aufgedunsenen Gesichtern bezeugen. Der Platz war so gut, weil er an der Kreuzung gleich dreier ehemaliger Hauptwege lag und man sich in den Trümmern des Speichers bei Bedarf schnell und leicht verstecken konnte, wenn die Schmiere, also die Polizei, oder ein rabiater Freier einen dazu nötigte. Außerdem gab es da einen kleinen Keller, den man mit ein paar losen Balken leicht verkeilen und absperren konnte. Hier schlief sie, unter einem selbst gebastelten Drahtgestell vor den Ratten geschützt.
John Gowers kannte Polls Höhle; er hatte das arme Geschöpf dort sogar schon in seinem Schlaf gesehen, ohne dass sie es ahnte. Die meisten Huren der Geisterstadt arbeiteten zu zweit oder zu dritt, um einander notfalls beistehen zu können, aber Poll war jünger, kräftiger, hübscher und hatte deshalb keine Lust, ihre entsprechend höheren Verdienste zu teilen. Obwohl es schon nach Mitternacht war, ging sie auf der halbwegs freigeräumten Straße vor ihrem Speicher auf und ab und trug einen armseligen Hut mit einer schwankenden Feder, um anzuzeigen, dass ihr Geschäft geöffnet sei.
Tatsächlich war die Nacht im Dschungel noch jung, und Gowers, der sich lautlos bis ins Innere des Gemäuers geschlichen hatte, sah durch eine der ausgebrannten Fensteröffnungen, wie Poll die kleinen Gruppen heimkehrender oder ausrückender Diebe, Einbrecher, Bettler ansprach, ohne einen Erfolg zu erzielen. Erst ein einzelner älterer Mann schien Interesse, aber kein Geld zu haben, denn es entstand ein längeres Palaver, in dessen Verlauf man sich offenbar auf Teile eines wo auch immer gestohlenen kalten Brathuhns einigte. Die Parteien betraten dann die dunkle Ruine des Speichers, wo der Mann gleich die Hosen herunterlassen wollte.
»Erst das Huhn«, sagte Poll, und Gowers, keine sechs Meter entfernt im Schatten, hörte, wie der Freier das fettige Bratwerk aus seiner Manteltasche zog und es knackend in zwei Teile zerbrach.
»Du weißt doch, dass ich dich nicht bescheiße«, murmelte der Mann scheinbar beleidigt.
»Die größere Hälfte«, verlangte Poll, ohne auf den stillen Vorwurf einzugehen, »und dein Vogel darf in den Käfig.« Beide lachten über diese geistreiche Bemerkung. Mit der größeren Hälfte des Hühnchens in den Händen beugte sich die Hure dann so über einen Balken, dass ihr Oberkörper bequem darauf liegen konnte. Der Kunde hob ihr die Röcke, und Gowers konnte trotz der Entfernung Polls Geschlecht riechen. Der Mann rückte dichter an sie heran, fand aber offenbar nicht gleich, was er suchte, bis sie beherzt hinter sich griff und ihn auf den richtigen Weg brachte.
Erstaunlich lange Zeit hörte man nur das Rascheln des Kleids und das asthmatische Keuchen des Freiers, ohne dass sie ihn zur Eile drängte oder seine Bemühungen verbal anspornte. Gowers, der das auch aus besseren Bordellen anders kannte, bemerkte jedoch lächelnd, dass Poll sich seelenruhig über das Huhn hergemacht hatte, als ginge sie die andere Hälfte ihres Körpers nichts an.
Als beide gesättigt waren, zog der Mann seine Hosen hoch und empfahl sich mit einem höflichen »Danke schön!«.
»Danke auch«, sagte Poll und geleitete ihn ebenso höflich aus der Ruine. Sobald er verschwunden war, wandte sie sich jedoch wieder zurück, raffte die Röcke und trippelte geradewegs auf Gowers’ Ecke zu, um sich zu erleichtern. Er räusperte sich und sah belustigt, wie die hartgesottene Hure vor Schreck gut eine Handbreit vom Boden abhob. Sie fing sich jedoch erstaunlich schnell wieder.
»Jesus, Yankee!«, sagte sie, als sie ihn erkannt hatte. »Zugucken kostet!«, fügte sie dann halb beleidigt und halb beleidigend hinzu. Gowers hatte ihr auf einem seiner früheren Streifzüge einmal wenn nicht das Leben, dann doch eine halbwegs gesunde Haut gerettet, und das hatte eine gewisse Vertraulichkeit zwischen ihnen begründet. Ungeniert hockte sie sich jedenfalls neben ihm auf den Boden, und um die Summe seiner unangenehmen Erlebnisse nicht unnötig zu vergrößern, ging er zu dem Balken, über dem sie eben gelegen hatte, und drehte ihr den Rücken zu.
»Du bist neuerdings billig zu haben, Poll«, sagte er mit Blick auf die sauber abgenagten Hühnerknochen.
»Wer kacken will, muss auch essen«, antwortete Poll grob, aber ihren verbissenen Bemühungen durchaus angemessen. »Was willst du, Yankee? Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.«
»Joseph Clarke«, erwiderte Gowers. »Neunundzwanzig Jahre alt, etwa fünf Fuß groß, dunkelbraune Haare. Dürfte noch einen Sträflingskittel tragen, falls er sich nichts anderes gestohlen hat.«
»Ich verkaufe meinen Körper, Yankee, nicht meine Seele«, ächzte Poll.
»Ja. Deshalb ist deine Verdauung so hart«, sagte Gowers, drehte sich zu ihr um und hielt ihr ein silbernes Geldstück vor die Nase.
»Ach, Scheiße!«, entgegnete Poll nach einer kleinen Überwindungspause. »Ich bin dem Kerl nicht verpflichtet. Er war da und hat nicht bezahlt.«
Gowers nickte. Es kam häufig vor, dass die Huren einfach nur vergewaltigt wurden. »Ich mache das glatt«, sagte er und warf das Geldstück in Polls geraffte Röcke.
»Er hat nach Megpie gefragt«, stöhnte sie, noch immer erfolglos. »Du weißt, wo …«
»Ich weiß«, sagte Gowers. Er zog eine zweite Münze hervor und legte sie geräuschvoll auf dem Balken ab. »Und Poll«, sagte er dann, schon auf dem Weg nach draußen, »nimm mal wieder ein Bad!«
»Leck mich, Yankee!«, rief Poll ihm hinterher, und Gowers lachte über diesen herzlichen Abschied.
Vier Stunden später befand Joseph Clarke sich wieder in einer Zelle in der nächstgelegenen Station der Victorian Police – der korruptesten Polizeitruppe des gesamten britischen Kolonialreichs.
13.
Als die Eclipse gegen 11 Uhr 20 im Hafen von St. Louis anlegte, waren die angrenzenden Straßen schwarz von der Menge der jubelnden Zuschauer. Handwerksbetriebe und Geschäfte hatten ihre Mittagspause um eine Stunde vorverlegt, um ihren Angestellten Gelegenheit zu geben, den historischen Moment mitzuerleben. Da man den 4. Juli schrieb, war es fraglich, ob vor dem abendlichen Feuerwerk überhaupt irgendjemand die Arbeit wieder aufnehmen würde.
Kapitän Andrew Wineland verließ das Schiff wie ein römischer Prokonsul, der Ägypten oder sonst etwas Hübsches in Besitz nimmt, und kümmerte sich anscheinend nicht um den Applaus, der ihn umbrandete. Dennoch ließ die Menge ihn und sein stolzes Schiff wieder und wieder hochleben, und sein Weg in die Stadt und ins Kontor seiner Reederei glich einem Triumphzug. Den Maschinisten und Heizern, die nach ihm von Bord gingen, konnte man dagegen ungeniert auf die Schultern klopfen, bis auch die eigenen Hände schwarz waren. Diese Männer trugen ihre rußverschmierte Arbeitskleidung so stolz wie eine preußische Gardeuniform, verteilten sich mit der Gemächlichkeit geborener Sieger auf alle Kneipen der Stadt und würden einen ganzen Tag lang weder für ihr Essen noch für ihre Getränke anders bezahlen müssen als mit launigen kleinen Anekdoten über die hinter ihnen liegende Rekordfahrt.
Es dauerte gute zwei Stunden, bis sich die erste Begeisterung gelegt und die Menge so weit zerstreut hatte, dass man an das Löschen der Ladung denken konnte. Die bestand vor allen Dingen aus etlichen Kisten Branntwein, die ein findiger Schnapsfabrikant von New Orleans heraufgebracht hatte und unter dem rasch gedruckten Etikett Eclipse, 4. Juli 1857 mit Angabe der Rekordzeit noch einige Jahre lang überteuert an den Mann brachte. Erst am späten Nachmittag verließ der Lotse das Schiff.
John Gowers hatte das Ruder im Morgengrauen, nach drei Tagen und elf Stunden Fahrt, aus der Hand ge-und seinem älteren Kollegen Archibald Yates übergeben und sich dann schlafen gelegt. Obwohl die Sonne schon tief stand, trug er eine Brille mit blau getönten Gläsern, an die er sich in den grellen Tagen des Südens so sehr gewöhnt hatte, dass er ihr Vorhandensein manchmal völlig vergaß. Hin und wieder sah er die Welt sogar schon in seinen Träumen blau.
Er war jetzt seit gut zwei Jahren auf dem Fluss. Ende 1854 aus England herübergekommen, um der Zwangsverpflichtung für den Kriegsdienst auf der Krim zu entgehen, hatte er sich im Golf von Mexiko zunächst als Schmuggler versucht, aber dann beim Verkauf seiner Waren den Mississippi und den Beruf des Lotsen kennengelernt. Dessen Aufgaben kamen seinen persönlichen Fähigkeiten – dem fast schon zermürbend guten und durch die Methoden der Ars Memorativa3immer weiter trainierten Gedächtnis und seinem außergewöhnlichen Sehvermögen – so sehr entgegen, dass er nach kurzer Zeit seinen Platz in der Welt gefunden zu haben glaubte.
Seine Lehrzeit war von geradezu erschreckender Kürze. Nach nur fünf Fahrten auf der John Roe kannte er den Fluss und seine Eigenheiten so genau, dass kein Geringerer als Horace Bixby, eine Koryphäe des Lotsenstandes, kopfschüttelnd und bartkratzend verkündete, ihm nichts mehr beibringen zu können. Das Navigieren beherrschte er bereits vorher, und nach seiner langen Fahrt durch die unberechenbaren Eismassen und tückischen Strömungen der Nordwestpassage empfand der jetzt Einundzwanzigjährige auch das Steuern zwischen langsam wandernden Untiefen, Sandbänken und bröckelnden Uferböschungen als nahezu einfach.
So viel Erfolg wurde ihm natürlich weidlich missgönnt, und da er auch sonst ein merkwürdiger Bursche war, der sich von den Lustbarkeiten und Unterhaltungen seiner Kollegen eher absetzte und seltsame altenglische Bücher las, galt er als arrogant und wurde selten bei seinem Namen, sondern nur »der Engländer« genannt – mit aller Abfälligkeit, die die geborenen Amerikaner in diese Bezeichnung nur legen konnten. Neben der Literatur waren die Huren von New Orleans sein größtes Vergnügen; ein weiterer Umstand, den seine biederen, oft gar puritanischen Standeskollegen in entrüsteter, aber stiller Schärfe missbilligten.
Unbestritten waren allein seine Fähigkeiten. Aber auch die allein reichten natürlich nicht aus, um ihn in den Gemeinnützigen Lotsenverband – zeitweise die mächtigste Berufsorganisation der Vereinigten Staaten – aufzunehmen. Der Engländer blieb ein freier Lotse, der an den Vorteilen des Verbandes – und das waren insbesondere die an allen Anlegestellen von allen Verbandslotsen in besonders verschlossenen Postkästen hinterlegten Nachrichten über Wasserstände, Fahrrinnen und Hindernisse des Flusses – nicht partizipierte. Zeitweise war seine berufliche Existenz sogar insofern bedroht, als der Verband ein Gesetzesvorhaben einbrachte, das die Reedereien verbindlich dazu verpflichten sollte, nur noch organisierte Lotsen zu beschäftigen. Aber immer wieder fanden sich kleinere Unternehmen und gewagtere Transportaufgaben, für die der Engländer verpflichtet wurde, und sein Erfolg mit der Eclipse würde ihm wohl wieder für einige Jahre ein Auskommen sichern.
14.
Tatsächlich war John Gowers noch keine zwei Tage in St. Louis, als ihm wieder eine Heuer in den Süden angetragen wurde. Er tat also, was er immer tat: lieh sich ein halbes Dutzend Bücher in der Bibliothek der Literarischen Gesellschaft von St. Louis und war eine knappe Woche später wieder in New Orleans. Er hatte in diesen zwei Jahren den Mississippi bis hinauf nach St. Paul befahren, den Ohio bis Cincinnati, den Missouri, Arkansas und Red River einige Male bis in die jungen Städte des Westens, Kansas City, Fort Smith, Alexandria. Aber seine Heimat war das französische Viertel der bunten, trägen Stadt geworden, in der der alte Meschacebé, der zuletzt stracks Richtung Osten geflossen war, sich endlich dazu entschloss, den noch siebzig Meilen weiter südlich gelegenen Golf von Mexiko aufzusuchen.
In gewissem Sinne war es New Orleans gewesen, das den gesamten riesigen Westen des Kontinents in den Besitz der Vereinigten Staaten brachte – denn nur diese eine Stadt sollte Robert Livingstone, US-amerikanischer Gesandter in Paris, im Jahr 1803 den Franzosen abkaufen. Der französische Verhandlungsführer, ein gewisser Napoleon Bonaparte, gab dem Amerikaner jedoch zu verstehen, dass diese strahlende Perle nicht ohne die hässliche, unwegsame Auster zu haben sei; und so wechselte für siebenundzwanzig Millionen Dollar, die in den dritten Koalitionskrieg und die Schlacht von Austerlitz investiert werden konnten, ganz Louisiana – das damals noch bis zu den Rocky Mountains reichte – den Besitzer.
Mitgekauft wurde ein Bevölkerungsgemisch, das es in dieser Weise weder in Amerika noch sonst in der Welt noch einmal gab. Reinblütige französische Kreolen, die einst die vermögende Oberschicht der karibischen Inseln ausgemacht hatten, ehe Revolutionen, Sklavenaufstände oder britische Kriegsschiffe sie ans amerikanische Festland spülten, wo sie Zuckerrohr-und Baumwollplantagen in der Größe europäischer Fürstentümer begründeten. Spanier und Spanisch sprechende Mulatten aus der Unter-und Mittelschicht der Großen Antillen; Mischlinge in den reizvollsten Brauntönen, die zum großen Ärger der Kreolen oft mit diesen gleichgesetzt wurden. Amerikaner selbstverständlich. Weiße, angelsächsische Protestanten, die auf der Suche nach Anbaugebieten für ihren Virginiatabak vor drei, vier, fünf Generationen die Alleghenies überschritten und das Tal des Tennessee durchzogen hatten und dann doch auf Baumwolle umgestiegen waren.
Eine Unmenge schwarzer Sklaven, die für ihre unterschiedlichen Herren all diese Produkte pflanzten, hegten, ernteten, hier und da Überlebende der indianischen Urbevölkerung, Natchez und Seminolen, dazu gestrandete Seeleute aller Nationen und Rassen. Die Quadroons, die stolz darauf waren, Anteile all dieser Völkerscharen in sich zu vereinen, und schließlich die Acadiéns oder Cajuns; französische Katholiken, im 18. Jahrhundert von den Briten aus Kanada deportiert, für die in Louisiana kein Land mehr übrig gewesen war und die in den Mangrovensümpfen ein nahezu amphibisches Dasein als Reisbauern und Reptilienjäger führten.
In New Orleans stieß all das zusammen, ohne dass es zur Explosion kam: Voodoo und Katholizismus, angelsächsisches Kalkül und das heiße Blut der Karibik – es war kein Wunder, dass die Stadt im Rest der Vereinigten Staaten als unzivilisierbarer Sündenpfuhl galt. Ein Wunder war, dass alle halbwegs miteinander harmonierten oder sich zumindest arrangierten, dass New Orleans so friedlich, so fröhlich blieb. Nur nachts durchstreiften vielköpfige, organisierte Räuberbanden die Stadt, die aber selten etwas anderes als sich gegenseitig ausplündern konnten. So war selbst die Kriminalität in New Orleans eine Art Sport, den seine Opfer gemeinhin überlebten, wenn sie sich an die Regeln hielten.
John Gowers wohnte im Vieux Carré oberhalb der großen Flussschleife nach Süden, bewohnte wahrhaftig seit zwei Jahren und damit länger als jemals zuvor seit der Vertreibung aus seiner Kindheit zwei kleine Zimmer im Obergeschoss eines Vergnügungsetablissements der gehobenen Preisklasse. Er hatte sogar Bilder an die Wand geheftet, benutzte einen Teil des rings um das Haus laufenden Balkons mit den schmiedeeisernen Geländern zum Frühstücken und war einer bürgerlichen Existenz nie näher gewesen. Die Eigentümerin und Betreiberin des Bordells, eine etwa vierzigjährige Mulattin, deren angelsächsischer Blutanteil lediglich in den ungewöhnlich »weißen« Namen Margret-Ann eingeflossen war, hatte er sich verpflichtet, weil er gelegentlich rabiate, betrunkene oder zahlungsunfähige Kunden aus dem Haus warf, und auch die Mädchen mochten ihn, denn er behandelte sie wie Damen und war im Bett ungewöhnlich zärtlich.
Die schwüle Hitze, die den meisten Menschen zu schaffen machte, genoss er in vollen Zügen; vermutlich, weil er so lange im Eis gelebt hatte. John liebte den Süden und die brennende Sonne, liebte den Schweiß, der bei der kleinsten Bewegung den Rücken hinunterlief und die Haut seiner wechselnden Bettgefährtinnen glatt und angenehm salzig machte. Maggie hatte ihm ein neues Mädchen zugeführt, eine sehr helle Negerin, und er durchwanderte ihren warmen Körper mit Händen und Lippen, knetete, satt geliebt, schließlich die Muskeln ihres Rückens, ihr großes, aber festes Gesäß, ihre Beine, bis sie schnurrte wie eine Katze.
Es war die vielleicht zärtlichste Behandlung in ihrem höchstens neunzehnjährigen Leben und machte sie weicher, jünger, als sie seit ihrer Kindheit gewesen war. Maggie hatte sie auf dem lokalen Sklavenmarkt erworben und mit ihr den gleichen Handel abgeschlossen wie mit all ihren farbigen Mädchen. In zwei, höchstens drei Jahren würde sie genug verdienen, um sich freikaufen zu können und in den Norden zu gehen. Die Zinsen des in sie investierten Kapitals waren die sexuellen Dienstleistungen, die sie erbrachte und die die Kundschaft enger an Maggies Haus binden würde. Und obwohl auch er die Früchte dieses Handels genoss, wusste John, als das Mädchen in seinem Arm schlief wie ein Kind, wieder einmal, was ihn am Süden störte.
15.
Es war eine bestürzend einfache Erkenntnis, die den Investigator veranlasst hatte, sich in Melbourne niederzulassen: Niemand auf der Welt wartete auf ihn. Diese Erfahrung war für John Gowers etwas so Selbstverständliches, dass er nicht einmal das Bedürfnis hatte, darüber nachzudenken.
In Kalkutta, als seine Wunden heilten, hatte er zuerst eine Passage nach England abwarten wollen, aber die Preise waren so unverschämt gewesen, dass er sich fragte, was er eigentlich in England wollte. Er dachte über die Kapkolonien nach, Südafrika. Zog Frankreich in Betracht, eine Reise durch das Rote Meer, Ägypten, den Mittelmeerraum. Australien war eigentlich nur die dritte Wahl gewesen, aber das Schiff, die Passage nach Perth günstig. Außerdem sprach man dort Englisch.
Sein ursprünglicher Plan war gewesen, irgendwo an der Ostküste auf einem heimkehrenden Walfänger nach New Bedford oder Nantucket anzuheuern. Aber auch die Vereinigten Staaten, New York, New Orleans, waren ihm weniger Heimat und mehr Gewohnheit gewesen. Er merkte es, als er in Melbourne ankam. Hier fand er ein England, das ihm gefiel; britischer als das immer rascher und immer vollständiger industrialisierte Mutterland, aber jünger, unverbraucht. Die Reichtümer dieses Landes waren noch nicht verteilt, und hinter den südlichen Ausläufern der Great Dividing Range lag ein ganzer Kontinent, unbekannt, unberührt.
Er war jetzt einunddreißig Jahre alt, die meisten davon unterwegs gewesen, unruhig, unstet, von Ort zu Ort, Schiff zu Schiff, Meer zu Meer. John Gowers hatte beschlossen, zur Ruhe zu kommen. Die nicht unbeträchtliche Summe, die er in Indien verdient hatte, verschaffte ihm die entsprechenden Möglichkeiten – den Wunsch redete er sich ganz bewusst ein, nachdem er an seiner Schläfe ein graues Haar entdeckt hatte.
Seine Blicke in den Spiegel waren stets flüchtig gewesen, wenn man von der Zeit absah, als er in Deborah verliebt war und sich – wie jeder junge Mensch – gefragt hatte, ob etwas an ihm einem Menschen des anderen Geschlechts gefallen könnte. Ansonsten hatte er ein Leben gelebt, in dem Spiegel nur vorkamen, um sich alle zwei, drei Wochen, vielleicht auch Monate, zu rasieren. Entsprechend funktional war sein Bild von sich selbst, seinem Gesicht, seinem Körper, seinem Leben.
Nüchtern stellte er sich die Frage: Wann, wenn nicht jetzt?, und beantwortete sie, indem er eine kleine Wohnung in der City von Melbourne nicht mietete, sondern kaufte und mit seinem anschließend nahezu halbierten Vermögen sogar ein Bankkonto eröffnete. Freude empfand er bei alldem nur ein einziges Mal: als er seine Bücher in ein Regal stellte und Ishrats Schwert mit zwei Nägeln an der Wand darüber befestigte. John Gowers hielt die Kämpfe seines Lebens für beendet.
Dass genau darin sein Problem bestand, stellte er erst im Verlauf der nächsten Monate fest. In Melbourne geschahen weniger Verbrechen, als dem finanziellen Auskommen eines privaten Ermittlers zuträglich war. Das lag nicht so sehr daran, dass die Leute hier friedlicher waren als sonst auf der Welt, sondern daran, dass sich mithilfe der korrupten Polizei, Justiz und Verwaltung der Kolonie ein System etabliert hatte, in dem man sich von Verbrechen oder ihren Folgen weitgehend freikaufen konnte. Biedere Geschäftsleute planten entsprechende Ausgaben in ihren Kalkulationen fest ein, und es war preiswerter geworden, unersetzbares Diebesgut einfach zurückzukaufen, als die Täter verfolgen und inhaftieren zu lassen.
In den Gefängnissen saßen deshalb mehr Schuldner als Kriminelle, daneben nur ein paar Schläger und Trunkenbolde. Den unverbesserlichsten dieser eher belächelten Gesellen, die auf einer angeblich streng geheimen Liste als »unfreundliche Elemente« verzeichnet waren, legten die Ordnungshüter früher oder später handgreiflich nahe, ihren Aufenthaltsort in die angrenzende Provinz Neusüdwales zu verlegen. Dort, in der ehemaligen Strafkolonie Botany Bay, war man eher an solche Existenzen gewöhnt und würden sie sich auch selbst wohler fühlen als im kleinen, aber feinen Victoria.
Das Einzige, was unbeherrschbar blieb, waren die ehemaligen Goldfelder im Norden Melbournes, und so wurden sie, neben einer Handvoll Ehebruchsfälle, die Haupteinnahmequelle des Investigators, der hier regelmäßig auf Kopfgeld jagte; eine allerdings jämmerliche Beschäftigung, die weit unter seinen Möglichkeiten lag. Gowers rieb sich deshalb – zumindest innerlich – die Hände, als der Reeder Robert Maguire bei ihm vorsprach und ihn um Hilfe bat. Seine Kinder waren entführt worden, und das verlangte nach der Trostlosigkeit eines Dreivierteljahres endlich wieder nach solider Ermittlungsarbeit.
16.
Die Tat ist alles – nichts der Ruhm! Noch ehe er Latein konnte, hatte Gustav von Tempsky sich das Motto seines Familienwappens in diese schlichten Worte übersetzen lassen und war davon überzeugt, sein Handeln und Wandeln so eingerichtet zu haben, dass es seinem Wappenspruch Ehre machte. Allerdings kollidierte dieser öffentliche Anspruch auf Bescheidenheit immer wieder mit seinen journalistischen und schriftstellerischen Ambitionen. Von Tempsky wurde berühmt.
Was sollte er tun? Er hatte Mittelamerika nun einmal bereist, die Mosquito Coast kolonisiert und konnte seinen Anteil an diesen Ereignissen ja schlecht verschweigen. Eine Weile hatte er mit dem Gedanken gespielt, sein Buch Mitla, das diese Ereignisse auf mitreißende Weise behandelte, in der dritten Person zu schreiben. Aber das hätte man ihm, nachdem Julius Cäsars Gallischer Krieg längst Schullektüre aller zivilisierten Nationen geworden war, ja auch wieder als Vermessenheit auslegen können.
In Neuseeland war er rasch zum Kommandanten der Forest Ranger aufgestiegen; einer irregulären Truppe mit dem Auftrag, den Guerillakrieg, den die aufständischen Maori gegen die britischen Ansiedlungen und Farmen führten, in Busch und Wildnis zurückzutragen und die Eingeborenen damit auf ihrem eigenen Gebiet auf ihre eigene Weise anzugreifen. Es war der enorme Erfolg dieser brutalen Taktik, der von Tempsky den Ehrennamen Manu-Rau eingebracht hatte. Er war im Waikato-Krieg wahrhaftig der Vogel, der überall fliegt, und zu einem der am meisten gefürchteten – und damit geachteten – Krieger der Pakeha geworden.
Am Waikato vollbrachte er auch seine bislang größte Heldentat, indem er zwei Dutzend Soldaten rettete, die am Fluss in das mörderische Kreuzfeuer eines Hinterhalts geraten waren. Das trug ihm zwar eine ehrenvolle Erwähnung im offiziellen Kriegsbericht ein – was nicht weniger bedeutete, als dass sein Name einige Monate später vor der englischen Königin verlesen wurde –, aber das Victoriakreuz, die höchste Auszeichnung der britischen Armee, erhielt ein anderer Offizier seiner Einheit. Nicht, dass er danach gestrebt hatte; die Tat ist alles – nichts der Ruhm! Er hatte nicht einmal darauf gehofft, aber verdient, verdient hätte er es wohl eher als Charles Heaphy!
Von Tempsky zeichnete später ein recht gekonntes Bild von dieser Aktion, in dessen dramatischem Mittelpunkt ein Offizier stand, der ihm ausgesprochen ähnlich sah, obwohl er das selbst jedes Mal abstritt. Die Tat allein zählte! Das erwähnte er bei jeder Gelegenheit, und seine Vorgesetzten zogen aus so viel demonstrativer Bescheidenheit den klugen Schluss, dass hier ein Mann war, der alles tun würde, um seinem verdrängten Ehrgeiz zu genügen.
Colonel Thomas McDonnell oder »Fighting Mac«, wie er in Neuseeland familiär genannt wurde, war der älteste Sohn eines geradezu begnadeten neuseeländischen Händlers, Aufschneiders und Verschwenders gleichen Namens, der seinen vier Söhnen wenig mehr hinterließ als den brennenden Wunsch nach öffentlicher Anerkennung und einen fast paranoiden Hang zu Eifersucht und Verschwörungstheorien, wenn diese Anerkennung ausblieb. Nach zehn Jahren Herumtreiberei im gesamten australesischen Raum und mehreren gescheiterten Versuchen, sich eine Existenz aufzubauen, fand Thomas junior in den Kolonialstreitkräften und den Waikato-Kriegen endlich die Nische, die er gesucht hatte.
Persönlicher Mut, geschickte Lobbyarbeit, aber auch eine echte Begabung für den Beruf eines kommandierenden Offiziers hatten seinen militärischen Aufstieg befördert und ihn nach Abzug der britischen Truppen zum ersten, wenn auch nicht zum populärsten Soldaten der Kolonie gemacht. Der populärste hieß nach wie vor Manu-Rau. Dass McDonnell und nicht von Tempsky die Position des Oberbefehlshabers einnahm, fand seinen einfachen Grund darin, dass »Fighting Mac« Neuseeländer war. Als es darum ging, eine eigenständige neuseeländische Armee aufzustellen – die zunächst als »Armed Constabulary«, also bewaffnete Polizeitruppe deklariert wurde, um das Mutterland nicht zu brüskieren –, war McDonnell der Mann der Stunde und der preußische Söldner derjenige, den die Kolonialregierung mit einem anerkennenden Schulterklopfen ins Privatleben entließ.
Trotz ihrer Rivalitäten war sich McDonnell aber über die Qualitäten Manu-Raus vollkommen im Klaren und freute sich darüber hinaus ehrlich, seinen Freund und Mentor »Von« wiederzusehen – vielleicht auch gerade, weil der Deutsche nun endlich sein Untergebener war.
»Wer ist es diesmal, Tom?«, fragte von Tempsky, wobei er ihren militärischen Rangunterschied demonstrativ überging. »Tawhiao?«
Matutaera Te Pukepuke Te Paue Te Karato Te A Potatau Tawhiao Te Wherowhero war mehr als ein Häuptling; er war ein König. Oberhaupt einer Bewegung, die nach europäischem Vorbild die vorher lange zerstrittenen Stämme des Waikato-Beckens unter gemeinsamer Führung vereinte und sogar verschiedene Mechanismen moderner europäischer Staatswesen übernommen hatte: Steuern, Polizei und die Dienstpflicht in einer allerdings eher zwanglosen Armee. Das Entscheidende an dieser »Königsbewegung« war aber, dass sie dem Verkauf von Land an die Weißen, den bisher die einzelnen Häuptlinge und Stämme sozusagen auf eigene Faust betrieben hatten, ein Ende setzte. Das brachte die Kingites oder Königlichen natürlich in einen immer blutigeren Konflikt mit den Engländern, denen es dabei gar nicht so sehr um das Land ging. Sie hatten bereits mehr Land, als die weißen Siedler bearbeiten konnten. Es ging ums koloniale Prinzip, es ging um die natürliche Überlegenheit der weißen Rasse, der die Vorstellung von einem funktionierenden, eigenständigen Maoristaat mit zentralisiertem Königtum unerträglich war.
»Nein«, sagte McDonnell, der sein Vorgesetztenverhältnis ebenfalls jovial vergaß. »Es ist Titokowaru, soweit wir wissen. Er hat noch nicht angefangen, und Gott allein weiß, wann er losschlägt. Aber unsere Kupapa sagen, dass er die Stämme am Taranaki aufwiegelt. Er … na, du kennst ihn ja!«
Ja, Manu-Rau kannte den Häuptling der Ngaruahine vom Stamm der Ngati Ruanui, einen der gefürchtetsten Maorigeneräle in den nun schon zwei zurückliegenden Kriegen um die Provinz Taranaki, die noch immer nicht völlig unterworfen war. Er wusste auch, dass dieser Mann gefährlicher war als Tawhiao und die ganze noch sehr umstrittene Königsbewegung, denn Titokowaru war eben kein König, kein Politiker. Er war ein Krieger.
»Was werden wir also tun?«, fragte von Tempsky, obwohl er es natürlich schon wusste.
»Nun«, antwortete McDonnell, »wir wollen jedenfalls besser vorbereitet sein als das letzte Mal. Wir brauchen Männer.« Seit die britische Regierung beschlossen hatte, keine regulären Truppen mehr nach Neuseeland zu schicken, lag die Verteidigung der Pakeha ganz in den Händen der Armed Constabulary, der örtlichen Milizen und ihrer überall angeworbenen Söldner. »Was hältst du von Werbungen im Süden? In Otago sitzen noch immer ziemlich viele erfolglose Goldsucher.«
Von Tempsky tat gekonnt so, als hätte er die feine ironische Spitze überhört, denn auch seine Ambitionen in Bezug auf Edelmetallfunde waren seinem Freund Tom selbstverständlich bekannt.
»Wenig«, erwiderte er. »Zu britisch, wenn du verstehst.« Was er meinte, war: Es ging auf der neuseeländischen Südinsel, die keine aufständischen Eingeborenen oder Ähnliches kannte, seit Jahrzehnten viel zu friedlich zu, um Kämpfernaturen hervorzubringen. Er konnte keine Soldaten gebrauchen, die womöglich beim ersten Schuss Pulver desertierten; das würden sie ohnehin früh genug tun.
»Also Australien«, stellte McDonnell fest. »Sydney oder Melbourne?«
»Melbourne«, sagte von Tempsky nach kurzem Überlegen, denn auch die Unmenge desperater entlassener Sträflinge, die sich in Sydney einschreiben lassen würde, wären ein unzuverlässiger Haufen. Außerdem würde er auf diese Weise, quasi als sentimentale Erinnerung, die Goldfelder wiedersehen, auf denen auch er einst sein Glück gesucht hatte.
»Gut«, sagte McDonnell. »Zwei Schiffe, du und ich!« Er meinte natürlich: »Ich und du«, schenkte zwei Gläser Port ein, und die beiden Männer tranken auf den Erfolg ihres Unternehmens.
17.
Die Schafe mussten geschoren, die Wolle gekämmt, der Flachs gebrochen, gehechelt und beides zu Garn versponnen werden. Das Garn wurde zu Stoffen verwoben, die Stoffe gefärbt, gebürstet und zugeschnitten, vernäht. All das war Handarbeit, all das war teuer, und so konnte, trotz wechselnder Moden, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auch ein relativ wohlhabender Mann nicht erwarten, dass er in seinem Leben mehr als acht, vielleicht zehn Hosen besitzen würde. Das änderte sich erst durch die industrielle Tuchherstellung und die massenhafte Verwendung eines neuen Rohstoffs.
Baumwolle war leichter. Leichter zu gewinnen und leichter zu verarbeiten. Durch die Ausbeutung vor allem der indischen Kolonien war sie im 18. Jahrhundert auch längst kein orientalisches Luxusgut mehr, sondern eine massenhaft verfügbare Ware. Baumwollstoffe waren auch leichter zu tragen, angenehmer, wogen ganz einfach weniger als die schwere, ölige Schafwolle, waren weicher, geschmeidiger als das steife Leinen, weitaus billiger als die kostbare Seide, und anstatt umständlich Muster hineinzuweben, konnte man sie schlicht und einfach bedrucken. Auch das Waschen der Kleidung, seit dem Mittelalter ein häufig unlösbares, zeitweise allerdings auch stark vernachlässigtes Problem, wurde durch Baumwollstoffe einfacher. Die Baumwollfaser saugte weniger Wasser auf, trocknete also schneller. Sie war robuster und vertrug auch hohe Temperaturen, ohne sich zu verändern, sodass der Schmutz sich leichter aus ihr lösen ließ, ohne dass der Stoff einlief.
Die Welt wollte die neuen Kleider, wollte sie schneller, als sie produziert werden konnten, und dieser massenhafte Bedarf beflügelte den Erfindungs-und Geschäftsgeist des eben erst aufgeklärten Zeitalters. 1776 schnurrte in Cromford, Derbyshire, England, Richard Arkwrights erste vollautomatische, wassergetriebene Spinnfabrik – und das Garn wurde billig. Adam Smith, ein exzentrischer Philosophieprofessor aus Glasgow, formulierte zeitgleich die Gesetze und Prozesse von Angebot, Nachfrage, Arbeitsteilung und Konsum, schrieb mit The Wealth of Nations so etwas wie die Genesis in der Bibel des Kapitalismus. Zehn Jahre später erfand der anglikanische Geistliche Edmund Cartwright den mechanischen Webstuhl – und nach dem Garn wurde auch das Tuch billig.
Die Epigonen, Nachahmer, Patentdiebe aus Manchester schluckten diese Pioniere schnell, und überall wurden nun aus Werkzeugen Maschinen, aus Maschinen Fabriken und aus Fabriken eine Industrie. Die Handwerker, Heimwerker, häufig ganze Familien, die bislang auf eigene Rechnung und in ihren eigenen Häusern kleine Mengen Garn oder Tuch hergestellt hatten, wurden zu Arbeitskräften in der Textilindustrie. Die Männer schleppten die Baumwollballen heran, be-und entluden Transportfahrzeuge, warteten, reparierten die oft komplizierten Transmissionssysteme zwischen Wasserrad, Dampfmaschine und den riesigen Spinnapparaturen oder Webstühlen. Die Frauen überwachten den Produktionsablauf und lernten die schwierige Kunst, gerissene Fäden bei laufenden Maschinen wieder anzudrehen. Die Kinder – je kleiner, je besser – krochen in und unter die Maschinen, um sie zu reinigen und Baumwollreste aufzusammeln.
Das war nichts Neues; jahrhundertelang hatten Familien auf ähnliche Weise zusammengearbeitet. Das war auch nichts Schlimmes, denn in den ersten zehn, zwanzig Jahren waren die Löhne gut, etwa das Dreifache des Existenzminimums für einen erwachsenen Mann, und die Familien erwirtschafteten in Zwölf-oder Sechzehnstundenschichten einen bescheidenen Wohlstand. Erst als die massenhafte Nachfrage fürs Erste befriedigt, der Markt gesättigt war, verfielen die Preise. Und mit den Preisen fielen die Löhne, denn Löhne, am Ende des Produktionsprozesses, waren von jeher das, woran ein Unternehmer am gefahrlosesten sparen zu können glaubte. Die Arbeiter wurden jetzt je nach Auftragslage angeheuert oder entlassen, aber selbst das war nichts Ungewöhnliches, sondern aus der Landwirtschaft mit ihrem saisonal bedingten Arbeitsaufkommen durchaus bekannt. Allerdings war die Entwicklung der Märkte nicht so berechenbar wie die Jahreszeiten.
Unbekannt und furchterregend waren vor allem die Ausmaße, die die Frage von Beschäftigung oder Nichtbeschäftigung dadurch annahm. Es gab keine sozialen Sicherungssysteme, nur die rasch aufgezehrten Notgroschen, und anders als etwa jahrhundertelang bei den Landarbeitern und Lohnknechten konnte ein Mann, der im Winter entlassen wurde, keineswegs damit rechnen, im Sommer wieder Beschäftigung zu finden. Anders als in Handwerk, Vieh-und Landwirtschaft spielten auch persönliche Fähigkeiten, also die Arbeitsqualität oder gar persönliche Bindungen an den Lohnherrn, keinerlei Rolle mehr; dazu war die Arbeit zu unqualifiziert, waren die Fabriken zu groß geworden.
Die existenzielle Verunsicherung, die diese Entwicklungen auslösten, kann kaum überschätzt werden. Hunderttausenden von Menschen wurde eine persönliche Lebensplanung nahezu unmöglich gemacht, denn sie waren Prozessen ausgeliefert, die nicht einmal die völlig verstanden, die von ihnen profitierten. Und zur Sorge um Lohn und Brot kam unterschwellig, aber nicht weniger bedrückend das Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit, das Menschen so leicht zu Bestien machen kann. Schon die zweite Generation des entstandenen Proletariats war so zu einem Anhängsel der Maschinen geworden, nur mehr ein mobiles Element, das Arbeiten erledigte, die die Maschinen noch nicht selbst erledigen konnten.
Und die Maschinen konnten vieles … Wunderbares! Nur keine Baumwolle anbauen – sodass auch am anderen Ende des Produktionsprozesses: seinem Anfang, ein erhebliches ökonomisches Problem entstand. Baumwolle war unter den entsprechenden klimatischen Bedingungen, etwa in den Südstaaten der USA, zwar leicht anzubauen, aber die ungeheuren Mengen, in denen sie aufgrund der Industrialisierung des Textilgewerbes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebraucht wurde, machten einen wirtschaftlichen Anbau auf der Basis von Lohnarbeit praktisch unmöglich. Denn alle Schritte im Produktionsablauf waren mechanisiert und automatisiert worden, nur um die Baumwolle preiswert anzupflanzen, zum Wachsen zu bringen, zu ernten, hatte man noch keine geeigneten Maschinen erfunden, brauchte man Hände. Brauchte man Sklaven.
Dass die jüngste, fortschrittlichste Nation der Erde, entstanden aus dem Freiheitswillen der Menschen, zu ihrem Aufstieg und Wohlstand die älteste und unmenschlichste Wirtschaftsform – die Sklaverei – benutzte, war im Grunde kein Anachronismus, keine gegenläufige Bewegung zu Fortschritt und Industrialisierung, sondern deren direkte ökonomische Folge.
Entgegen der nach dem und durch den amerikanischen Bürgerkrieg populär, ja Allgemeingut gewordenen Propaganda der siegreichen Nordstaaten ging es den Sklaven im Süden der USA allerdings mehrheitlich besser als etwa den Arbeitern im industrialisierten England. Das lag vor allem daran, dass die Sklavenhalter des Südens, ganz im Gegensatz zu vielen Sklavereigegnern im Norden, keine Rassisten waren! Die neurotische Furcht vor dem andersfarbigen Menschen, seinem Schweiß, seinem Geruch, seinem Anblick, wäre im Süden einfach lächerlich gewesen. Schwarze Ammen säugten die Kinder ihrer Herren, schwarze und weiße Kinder wuchsen gemeinsam auf, zumindest bis letztere ins Schulalter kamen.
Auf neun von zehn Plantagen standen die Sklavenhalter gemeinsam mit ihren Sklaven auf dem Feld, taten die gleiche Arbeit, aßen das gleiche Essen aus den gleichen Schüsseln, hockten hinter den gleichen Büschen. Ebenso besaßen neunzig Prozent der Pflanzer und Farmer jeweils nur etwa fünf oder sogar weniger Sklaven, was diese nicht nur mehr oder minder zu Familienmitgliedern, sondern auch zu ihrem wertvollsten Besitz machte. Ein guter Arbeiter kostete tausendzweihundert Dollar, und so wenig, wie ein Bankier Geld verbrennt, wäre es einem durchschnittlichen weißen Farmer eingefallen, seine Sklaven vorsätzlich zu schädigen.
Eine Ausnahme war das Peitschen, eine bis 1850 allerdings auch in der amerikanischen Marine gepflegte Form der Bestrafung. Für einen aufsässigen Sklaven war das Peitschen die einzige vernünftige Sanktion, was hätte man anderes mit ihm tun sollen? Ihn einsperren? Der Sklave hätte sich ins Fäustchen gelacht und im Gefängnis auf die faule Haut gelegt. Ihn verstümmeln? Auf Wasser und Brot setzen? Das hätte nur seine Arbeitskraft und damit seinen Wert gemindert. Schlimmstenfalls konnte man ihn verkaufen; etwas, was die schwarzen Familien ihr Leben lang fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. Aber auch auf der Auktion brauchte der schwarze Teufel dann nichts weiter zu tun, als sein grimmigstes Gesicht zu machen, seine Aufsässigkeit offen zu zeigen – und sein Preis fiel ins Bodenlose. Wer würde sich denn für teuer Geld einen faulen Stänkerer ins Haus holen?
Von dieser moderaten, ja familiären Sklavenbehandlung unterschieden sich allein die Großgrundbesitzer; Pflanzer, die fünfzig, hundert, zweihundert und mehr Sklaven ihr Eigen nannten. Zwar pflegten auch sie ihr Eigentum mit eher patriarchaler als brutaler Strenge, aber die auf den großen Plantagen geradezu zwangsläufige Trennung zwischen Weißen und Schwarzen führte dazu, dass Letztere stärker als Nutzvieh betrachtet und ausgebeutet wurden. Auch An-und Verkauf und die damit verbundenen Spekulationen waren hier an der Tagesordnung. Mancher züchtete sogar Sklaven, um sein Kapital billig zu vermehren, und hier und da zur Abschreckung einen aufzuhängen oder totzuschlagen, betrachtete man lediglich als eine radikale Art, seine Investitionen zu schützen.
Auf derlei Auswüchsen basierten die Vorurteile, die die weichen Gemüter im Norden gegen die Sklaverei ins Feld führten – und nicht auf der simplen Tatsache, dass Menschen Menschen besaßen. Das hatte es immer gegeben, mochte es nun Sklaverei oder Leibeigenschaft, Frondienst oder Industriearbeit heißen; das war durch die Geschichte, ja sogar durch die Bibel gerechtfertigt. Warum hätte der Herr die Neger schwarz erschaffen sollen, wenn er nicht wollte, dass sie für die Weißen arbeiteten, den Weißen gehörten? Dass dieses Eigentum auch verpflichtete, zu seiner Versorgung, zu Hege und Pflege, Güte und Strenge, stand ja außer Frage. Wenn sie von Puritanern, Katholiken und Evangelikalen auch unterschiedlich beantwortet wurde.
Ausgesprochen sensibel und einhellig missbilligend reagierte hingegen der gesamte Süden, arme wie reiche Pflanzer, lediglich darauf, wenn Sklaven flüchteten – was man vielleicht nachvollziehen kann, wenn man sich vorstellt, dass das Geld in der eigenen Brieftasche Beine bekommt und einem wegläuft.
18.
Seit er keinen Boden mehr unter den Füßen spürte, hatte Nathan mehrfach das Bewusstsein verloren. Seine Peiniger hatten dann eine brennende Kerze unter seine Fußsohlen gehalten, und das Zucken seines eigenen Körpers hatte ihn wieder zu sich gebracht. Die Schmerzen des Versengtwerdens waren jedoch nur Nadelstiche gegen die Qualen, die seine unwillkürlichen Bewegungen auslösten. Der Haken, an dem er hing, drohte ihn bei lebendigem Leib zu zerreißen, ihm die Rippen, den Brustkorb, die Wirbelsäule aus dem Körper zu brechen, wie man einen Fisch entgrätet.
Nathan hatte viele Fische entgrätet, bei Tisch, und das Bild deutlich vor Augen. Nun war er der Fisch. Vorsichtig wie ein Koch oder ein Chirurg hatte Massa Bonneterre seine Haut nur ein wenig aufgeschlitzt, seine Muskeln beiseite gedrückt und dann den eisernen Haken unter seinem Rippenbogen hochgeschoben, bis er, hoch am Brustbein, zwei seiner Rippen gepackt hatte, ohne die inneren Organe zu verletzen. Ausgetreten war der Haken oberhalb dieser Rippen, als man ihn daran aufhängte. Sein eigenes Körpergewicht hatte ihn durch Muskeln und Gewebe dringen lassen und eine scheußliche Austrittswunde verursacht, die aber auch nicht so stark blutete, dass Nathan in absehbarer Zeit daran sterben würde.
Erst dann hatten sie seine Hosen heruntergezogen, höhnische Bemerkungen gemacht, und Massa Bonneterre hatte die Geschichte vom Räuber Janosik erzählt, den man auf genau diese Weise hingerichtet habe im alten Europa. Allerdings hätte Janosik, am Brustkorb aufgehängt, noch siebzehn Pfeifen Tabak geraucht, ehe er endlich gestorben wäre; so viel Zeit hätte man also, sagte Massa Bonneterre und zündete sich umständlich die erste Pfeife an.
Als Nathan immer öfter ohnmächtig wurde und auch die zuckende Flamme der Kerze ihn nicht mehr zuverlässig zum Zappeln brachte, stellten sie einen Sägebock unter seine Füße: hoch genug, damit er einen Teil seines Körpergewichts darauf abstützen konnte, aber zu schmal, um wirklich darauf zu stehen. Dieser teuflische Einfall verhinderte die Gnade weiterer Ohnmachten, und so würde es viel länger dauern, bis Nathan tot war.
»He, Nathan«, rief der junge Richard »Dick« Willoughby. »Nat! Schläfst du?«
»Nein, Sir, o nein!«, keuchte Nathan mühsam. Schweiß und Tränen strömten über sein Gesicht, als Willoughby ihm daraufhin einen leichten Stoß versetzte, der ihn am Haken pendeln ließ. Seine eigenen Schreie klangen wie ein hohes Pfeifen in seinem Kopf.
»Heult wie ein Mädchen, der Nigger!«, sagte der schmächtige Owen Cheever, den Nathan am Tag zuvor noch mit einer Hand in die Luft geworfen hätte.
»Nat! Nathan«, mischte sich scheinbar voll Sorge und Mitgefühl der ältere Willoughby, Michael, ein. »Sei kein verdammter Narr, Nat. Lass dich nicht so quälen! Sag uns, was wir wissen wollen.«
»Ich weiß nichts, gar nichts, Sir!«, schrie Nathan, aber so leise, dass es ihm selbst eher wie ein Flüstern vorkam.
Desmond Bonneterre erhob sich und trat mit Cheever und Ben Huggins hinter den Gefolterten. »Haltet ihm mal die Hände auf, Jungs!«
Nathans Hände waren auf seinem Rücken gefesselt, und er fühlte jetzt, wie seine in die Handflächen gekrallten Finger von den beiden Männern aufgebogen wurden. Dann leerte Bonneterre die Glut seiner Pfeife in Nathans Hände und drückte sie wieder zusammen.
»Siehst du, Nat«, lachte er in die Schreie des Negers hinein, »die zweite Pfeife hast du schon hinter dir.«
Nathan war ein Haussklave. Zwar konnte er weder lesen noch schreiben, aber er kannte die Uhr, und da er selbst hin und wieder eine Maispfeife rauchte, wusste er, dass er schon mindestens zwanzig Minuten so da hing. Allmählich wurde es seinen Peinigern langweilig, und Michael Willoughby, Henry Colnett und Elijah Hunter gingen zum Barbecue der alten Herren zurück, das weit weg von der Scheune, vor dem Hauptgebäude mit seinen weißen Säulen stattfand. Cheever und Huggins aber stritten darüber, wie sie die Folter verschärfen könnten.
»Man müsste ihn hin-und herschaukeln«, sagte der eine.
»Nein«, meinte der andere. »Ein Seil an seinen Schwanz binden und daran ziehen wie bei einem Hampelmann!« Sie lachten bei dieser Vorstellung, denn beide hatten die Hampelmann-Zeit noch nicht lange hinter sich, waren noch sehr jung, achtzehn. Neunzehn. Freunde des jungen Dick Willoughby, der noch immer fasziniert zuschaute, wie sein Hausdiener gequält wurde.
»Blödsinn!«, sagte der nur sechs Jahre ältere, aber deutlich erfahrenere Desmond Bonneterre. »Dann wird er nur wieder ohnmächtig. Aber man könnte ein paar von den schwarzen Weibern herholen, damit sie zuschauen.«
»Und was soll das bringen?«, fragte Cheever.
»Dieser Nigger ist zu stolz, um zu reden«, erwiderte Bonneterre. »Und Stolz hat bei den Niggern viel mit ihrer Männlichkeit zu tun. Wenn du ihn vor seinen Stuten schlecht aussehen lässt, schmerzt das so einen Hengst mehr, als wenn du ihm wehtust!«
Cheever und Huggins lachten. Vor allem die Formulierung »schlecht aussehen lassen« schüttelte sie angesichts des unter den Rippen aufgehängten Mannes vor Komik. Nur Dick Willoughby war es peinlich, dass die Sklavinnen auf der Plantage seines Vaters dann wissen würden, was er einem Mann antat, der ihm als Junge das Angeln beigebracht hatte.
»Das verbiete ich!«, sagte er. Aber der Gedanke an die Frauen hatte Bonneterre ohnehin auf eine neue Idee gebracht.
»He, Nat«, sagte er. »Was hältst du davon, wenn wir uns deine Kinder vornehmen? Zwei kleine Mädchen, nicht wahr?« Seine Augen glitzerten.
»Hörst du schlecht?«, rief Willoughby. »Das verbiete ich!«
»Dick«, entgegnete Bonneterre entwaffnend ruhig. »Willst du, dass dieser Nigger redet, oder willst du es nicht?«
»Nicht die Kinder, Sir«, hechelte Nathan in die ratlose Pause, die entstanden war. »Nicht die Kinder, bitte. Ich rede, ich …« Er verlor erneut das Gleichgewicht, und sein Körper kreiselte am Seil, das linke Bein auf dem Sägebock.
»Und wir hören, Nat«, antwortete Bonneterre mit höflicher Ironie, aber nicht wenig von seinen eigenen Fähigkeiten als »Niggerbreaker« beeindruckt. Er hatte noch jeden Sklaven kleingekriegt, zuletzt immer bekommen, was er wollte. Er gehörte einfach einer überlegenen Rasse an. Warum nur fiel es den Niggern so schwer, das einzusehen? Wieso ließen sie sich erst quälen? Sie hatten doch so offensichtlich keine Chance: hier der gebildete weiße Mann, da der Neger, der nicht lesen und schreiben konnte und sich im Grunde verhielt wie ein trotziges, rotziges Kind! Er hätte sich all das ersparen können. Obwohl das natürlich langweiliger gewesen wäre. Denn andererseits machte es Desmond Bonneterre auch Spaß, den Willen eines solchen schwarzen Viehs zu zerbrechen wie ein Streichholz. »Also?«, fragte er.
Nathan weinte; im Vorgeschmack seines Verrats, glaubten die jungen weißen Männer. Aber er wusste es besser und hatte seinen letzten verzweifelten Plan bereits gefasst. »Runter, bitte«, keuchte er. »Lassen Sie mich runter, Sir, und ich will alles sagen!«
Dagegen war nichts einzuwenden, ein vernünftiger Vorschlag. Und bei Bedarf könnte man den Sklaven ja jederzeit wieder aufhängen.
»Warum nicht gleich so?«, knurrte Bonneterre und machte sich an dem Seil zu schaffen, mit dem sie Nathan an den Deckenbalken der Scheune gehängt hatten. Cheever und Huggins hielten jetzt die Beine des Negers, damit der Zug nachließ und der Knoten sich lösen konnte. Dann ging alles sehr schnell. Nathan schob seine Zunge, so weit er konnte, durch zwei kräftige Zahnreihen, und als ihn nur noch die beiden jungen Männer auf dem Sägebock hielten, ließ er sich plötzlich nach vorn fallen, landete auf seinem Gesicht und biss sich die Zunge bis auf ein kleines Stückchen am Rand vollständig ab.
Vor Schmerz verlor er das Bewusstsein, vielleicht hatte er sich auch den Schädel gebrochen. Es kam nicht mehr darauf an.
19.
»Zeigen Sie mir den Brief«, sagte John Gowers, und der unglückliche Reeder Robert Maguire, der schwer atmend vor ihm saß, händigte ihm das Schreiben aus. Wir haben Ihre Kinder, stand in kleinen, zitternden Buchstaben auf dem fleckigen Papier, das zwei Tage zuvor unter der Tür des Reeders durchgeschoben worden war. Verhalten Sie sich ruhig, und warten Sie unsere Forderungen ab! »Sind seither irgendwelche Forderungen gestellt worden?«, fragte Gowers.
Maguire schüttelte den Kopf. »Nein, aber heute Morgen lag das auf unserer Schwelle.« Er reichte Gowers ein etwa kohlkopfgroßes, aber erstaunlich leichtes Bündel. Der Amerikaner schaute hinein und zog dann eine Handvoll goldblonder Locken aus dem schäbigen, schmutzigen Tuch.
»Ich nehme an …«
»Das Haar meiner Tochter«, sagte Maguire mit brüchiger Stimme, und Tränen stiegen ihm in die Augen. »Mairie! Wer tut einem jungen Mädchen so etwas an?!« Angst und Wut mischten sich in seinem Gesicht, und es schien keineswegs sicher, welches dieser beiden Gefühle letztlich die Oberhand gewinnen würde.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte Gowers.
»Vierzehn. Noch ein Kind, Mr. Gowers, ein Kind!«
»Und Ihr Junge?«
»Jonathan wird im nächsten Monat elf.« Ein Hauch Verachtung schwang jetzt in der Stimme des Reeders mit. »Was sind das für Leute, die auf Kinder losgehen?!«
»Entführer sind immer Feiglinge.« John Gowers gab nun endlich die Antwort, die sein Klient offensichtlich hören wollte, fügte aber nach wenigen Sekunden hinzu: »Das macht sie so gefährlich.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Maguire, in der Bestätigung seiner Ansichten gleich wieder erschüttert.
»Nun, Räuber und Diebe«, antwortete Gowers, »manchmal sogar Mörder, sind in einem Punkt, ich will nicht sagen: ehrlich, aber gewissermaßen fair. Sie gehen ein Risiko ein, um ihr Ziel zu erreichen. Sie wagen etwas.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Maguire ein wenig ungehalten.
»Ein Mann, der Ihnen die Brieftasche wegnehmen will, muss damit rechnen, dass Sie sich wehren, Sir.«
»Zum Teufel, und damit liegt er verdammt richtig!«, entgegnete der kräftige, etwa fünfzigjährige Reeder so spontan, als wünsche er sich in diesem Moment nichts sehnlicher als ein Dutzend solcher Männer.
»Wenn er es trotzdem versucht, zeigt er damit, dass es ihm wichtiger ist, Ihre Brieftasche zu bekommen, als seine heile Haut zu behalten. Bei Entführern ist es umgekehrt. Sie tun«, Gowers machte eine Pause, die sowohl Anteilnahme als auch professionelle Besorgnis ausdrücken sollte, »alles, um mit heiler Haut davonzukommen.«
Robert Maguire verstand den Amerikaner jetzt und schluckte schwer an dieser Tatsache. »Gut, dass meine Frau nicht mitgekommen ist.«
Verschiedenes an dieser Entführung war merkwürdig. Zum einen war das die Tatsache, dass gleich zwei Kinder verschwunden waren, denn das sprach für eine größere Gruppe von Tätern. Vielleicht sollte aber ursprünglich nur eines entführt werden; vielleicht war der kleine Junge seiner Schwester, vielleicht die Schwester dem Bruder zu Hilfe geeilt – und das war schlecht, denn es konnte bedeuten, dass der Junge, das Mädchen sich zu heftig gewehrt hatten und nun tot waren. Gowers verbannte diesen Gedanken aus seinen Überlegungen und hoffte stattdessen auf die Möglichkeit, dass die Entführer einfach die Gunst der Gelegenheit wahrgenommen und gefunden hatten, für zwei Kinder mehr verlangen zu können als für eins.
Aber, das war der zweite merkwürdige Umstand, sie verlangten nichts, seit zwei Tagen nicht. Bei den Entführungen, mit denen Gowers bislang zu tun gehabt hatte, lagen zwischen der Tat und den Forderungen meist nur wenige Stunden; immerhin kann man von einem Entführer ja zumindest erwarten, dass er nicht nur sein Opfer genau aussucht, sondern sich auch vorher überlegt, was er eigentlich will. Für ein zweitägiges Schweigen gab es auf den ersten Blick keine andere Erklärung, als dass die Pläne der Entführer gestört worden waren, und auch das konnte bedeuten, dass die Kinder nicht mehr lebten.
Dann die seltsame und grausame Idee, dem Mädchen das Haar abzuschneiden. Was sollte das? Und warum war auch mit dieser zweiten »Botschaft« keine Forderung verbunden? Wollte man zeigen, dass die Kleine noch lebte? Oder nur ihre unglücklichen Eltern quälen und einschüchtern? Gowers betastete die langen blonden Locken, die der verzweifelte Vater ihm dagelassen hatte, und sah sie sich sehr genau an. Er fand keine Haarwurzeln, nicht ein Haar war ausgerissen worden, und die sauberen Schnitte sprachen gegen ein Messer und für eine Schere, die die gemeine Arbeit verrichtet hatte. Das aber erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau in den Fall verwickelt war, beinahe bis zur Gewissheit, denn Männer, zumindest Verbrecher, besaßen in dieser Zeit und Gegend gemeinhin keine Scheren und auch nicht die Geduld und das Geschick, sie zu benutzen.
Noch einmal wandte sich Gowers der Frage zu, was diese Botschaft zu bedeuten hatte. Ich habe Ihre Tochter? Das wusste Maguire schon. Ihre Tochter lebt? Man konnte auch einer Leiche das Haar abschneiden. Um ein »Lebenszeichen« zu geben, war es außerdem erheblich einfacher, ein Kleidungsstück des Entführten zu schicken. Nein, unter diesen oberflächlichen Bedeutungen sollte das abgeschnittene Haar von Mairie Maguire vor allem eins signalisieren: Ich kann mit Ihrer Tochter tun, was ich will. Und neben der Drohung, der Einschüchterung, die darin unzweifelhaft steckte, sprach das für eine erhebliche Eitelkeit – der Täterin.
20.
Gowers war herzlich ungeübt darin, sich mit Kindern zu unterhalten. Er befragte sie deshalb so, wie er auch Erwachsene befragt hätte, und versuchte lediglich, besonders langsam und deutlich zu sprechen, als ob die Kinder Schwachsinnige wären, zu denen man erst einmal durchdringen müsse. Sein Unvermögen war zweifellos darin begründet, dass es in seinem eigenen Leben eine Kindheit praktisch nicht gegeben hatte beziehungsweise dass die Erinnerung an Zärtlichkeit, Geborgenheit und Vertrauen ihm nachhaltig abhandengekommen war.
Ein Kind war in seinen Augen einfach ein Erwachsener, der noch nicht genügend gelernt, gelesen, erlebt hatte; ein unfertiger Mensch, den man am besten sich selbst überließ, um vielleicht irgendwann nachzuschauen, was aus ihm geworden war. Gowers konnte nicht verstehen, warum sich so viele Menschen, Schriftsteller zumal, in diesen erbärmlichen Zustand zurückwünschten. Die Befragung einiger Schulkameraden von Mairie und Jonathan bestätigte ihn in dieser Ansicht: Die Kinder verhielten sich wie Idioten. Ihre Angaben widersprachen einander ganz offen und machten sie unbrauchbar. Einigkeit herrschte lediglich darin, dass Jonathan in der Schule erzählt hatte, ein schwarzer Riese umschleiche seit einigen Nächten das Haus; aber ob der einen Schlapphut oder eine Kapuze trug, war schon wieder umstritten.
Gowers gab es auf, seine Ermittlungen in diese Richtung auszuweiten. Viel interessanter war, dass es auch nach vier Tagen keine Forderung gab. Nun ist eine Entführung, wie jede riskante Spekulation, mit Kosten verbunden, mit Aufwand, Personal, Logistik. Die Kinder mussten versteckt, bewacht, versorgt werden, mussten essen und ihre Notdurft verrichten. Und all das geschah nun schon seit vier Tagen, ohne dass nach einer Gegenleistung gefragt worden war, und das brachte Gowers auf den Gedanken, dass der »Mehrwert« möglicherweise kein finanzieller war.
»Haben Sie Feinde, Sir?« Gowers saß im Salon des wohlhabenden Reeders diesmal dem Ehepaar Maguire gegenüber, denn ein zweites Mal hatte sich die gut zwanzig Jahre jüngere Gattin seines Klienten nicht davon abhalten lassen, dem Gespräch beizuwohnen. Den Amerikaner verunsicherte das nicht, aber es lenkte ihn ab, denn auf den ersten Blick sah er, woher Mairie Maguire ihr schönes blondes Haar hatte.
»Feinde«, antwortete Maguire einen Augenblick zu langsam. »Natürlich habe ich Konkurrenten, Mr. Gowers. Aber das sind Ehrenmänner und keiner von ihnen …«
»Sag es ihm, Robert!«, unterbrach ihn seine Frau, und Gowers wusste, dass er auf der richtigen Fährte war.
»Nun, es ist ja schließlich keine Schande«, sagte der Reeder daraufhin, wobei er seinen Worten zum Trotz errötete. »Und auch kein Geheimnis: Ich bin als Deportierter in dieses Land gekommen, Mr. Gowers. Ich war siebzehn Jahre alt und hatte gestohlen. Aber ich bin nicht vor dem Gesetz davongelaufen, nein, Sir! Ich habe meine Strafe abgebüßt und, nachdem ich frei war, als Gehilfe eines Schiffszimmermanns angefangen. Auf dem Holzplatz!« Maguire reckte den Kopf so hoch, als müsse er ihn über Wasser halten, und machte eine stolze, ausladende Handbewegung. »Alles, was ich bin und was Sie hier sehen, habe ich ehrlich und aus eigener Kraft erworben. Mir hat niemand etwas geschenkt, aber mir musste auch niemand was schenken, Mr. Gowers!«
Elizabeth Maguire, erst wenig über die dreißig und auffallend hübsch, legte bei diesen Worten ihre Hand auf den Arm ihres Mannes. Der Amerikaner, der gewohnt war, immer das Schlechteste von einem Menschen zu denken, und angenommen hatte, dass sich auch hier, damals, vor fünfzehn Jahren, ein hübsches junges Ding einen reichen Kerl geangelt hatte, wusste in diesem Moment, dass die Liebe vor ihm saß, und senkte beschämt den Kopf.
»Gibt es jemanden in Ihrer Vergangenheit, der Ihnen übelwill? Ist vielleicht irgendwann einmal jemand aufgetaucht, der … wie soll ich sagen, Sie daran erinnert hat, woher Sie kommen?«
Der Reeder schnaubte verächtlich. »Als ich noch in Sydney war, habe ich gelegentlich solche Leute angestellt, ehemalige Deportierte. Einer von diesen Kerlen, ein gewisser Blampin, ist tatsächlich vor einem Vierteljahr hier aufgetaucht und wollte mich erpressen.«
»Wie lange sind Sie in Melbourne?«
»Seit mehr als zwanzig Jahren.«
»Und wissen die Leute hier, woher Sie kommen?«
Maguire hatte in den letzten Minuten seine Selbstsicherheit wiedergewonnen. »Ich hab’s nicht an die große Glocke gehängt, aber ich habe auch keinen Hehl daraus gemacht, wenn Sie das meinen.«
»Also haben Sie sich von Blampin auch nicht erpressen lassen?!«
Der Reeder lachte. »Natürlich nicht. Ich habe ihm …« Im letzten Moment fiel ihm ein, dass seine Frau anwesend war. »Ich habe ihn zum Teufel gejagt, Mr. Gowers.«
»Ist dieser Blampin noch in Melbourne?«, fragte der Investigator.
»Ja.« Wieder klang die solide Verachtung des Selfmademans in Maguires Antwort durch. »Er arbeitet für Harewood.« Er schüttelte den Kopf. »Ausgerechnet!«
»Sir?« Gowers verstand nicht.
»Jacob Edward Harewood«, sagte der Reeder ironisch. »Oder General Harewood, wie er sich neuerdings gern nennen lässt. Der große Saubermann Victorias, der …«
»Robert!«, unterbrach Mrs. Maguire ihren Mann ruhig, aber bestimmt.
»Entschuldige, Liebes!«, sagte Maguire prompt und erklärte, jetzt wesentlich gelassener: »Jack Harewood ist der Führer der Kampagne ›Sauberes Victoria‹: Keine Sträflinge, Freigelassenen, Taugenichtse – und Einwanderer nur, wenn sie mindestens fünfhundert Dollar als Sicherheit hinterlegen können. Nach zwanzig Jahren im Stadtrat hat er bei der Wahl im nächsten Monat zum ersten Mal einen Gegenkandidaten: mich!«
»Zwanzig Jahre.« Gowers runzelte die Stirn. »Was genau hat man Ihnen bei der Polizei gesagt, Sir?«
»Dass wir warten müssen, bis die Entführer Forderungen stellen. Vorher könne man überhaupt nichts machen«, sagte der Reeder.
»Sonst nichts?«
»Nur, dass wir nichts tun sollen, was das Leben unserer Kinder gefährdet«, antwortete besorgt Mrs. Maguire.
»Hm.« Gowers ging probeweise davon aus, dass doch bereits eine Forderung gestellt worden war, behielt diese Überlegung aber für sich, um keine vorschnellen Reaktionen auszulösen.
21.
Desmond Bonneterre erwachte in der Dämmerung, weil er Durst hatte, und äußerte das knurrend. Seine Zunge fühlte sich zäh und wund an. Er hatte am Abend zuvor zu viel getrunken und zu viel geraucht und brauchte eine Weile, ehe er auch nur schlucken konnte. Seine Träume waren wirr gewesen und durchdrungen von der Schmach der Niederlage, die er erlitten hatte. Nathan. Das Kopfschütteln des alten Generals Willoughby. Die Zurechtweisung seiner Mutter. Noch einmal fiel er in einen klebrigen Halbschlaf und erwachte schließlich, weil er in einer Pfütze seines eigenen Schweißes lag. Dass es schon am frühen Morgen so warm sein konnte! Hatte er jetzt getrunken? Seine Zunge stieß vertrocknet gegen Zähne und Gaumen, er hatte noch nicht getrunken!
Die tiefen Atemzüge neben seinem Bett weckten ihn vollends und stachelten sofort auch die Wut an, die sein ganzes Leben bestimmte. Er wollte etwas trinken. Sofort! Rollte zur Seite, deckte sich auf dabei und schlug heftig mit der flachen Hand nach unten, wobei er etwas Warmes traf, das sich neben seinem Bett auf dem Boden ringelte, sofort hochschreckte und verängstigt zur Seite rutschte.
»Zu trinken!«, befahl Bonneterre der etwa sechzehnjährigen Negerin, die in seinem Schlafzimmer auf genau solche Befehle zu warten hatte. Sie sprang auf, um ihrem Herrn ein Glas von dem Wasser zu holen, das im Krug neben der Waschschüssel am anderen Ende des geräumigen Zimmers stand. Sie hoffte inbrünstig, dass er danach noch einmal einschlafen würde. Aber Bonneterre hatte die leichte seidene Decke jetzt vollständig zur Seite geschleudert, lag nackt auf dem durchgeschwitzten Laken und befahl ihr, ihn zu waschen, nachdem das Wasser seine Kehle und seine Stimmbänder freigespült hatte. Gehorsam feuchtete sie eines der Handtücher an und rieb seinen Körper damit ab, den dabei eine angenehme Kühle und eine kitzelnde Gänsehaut überzogen. Nach einigen Minuten drückte er ihren Kopf auf seinen Unterleib.
Obwohl er seit zwei Jahren verheiratet war, schlief Desmond Bonneterre allein, wenn man von der Sklavin Darioleta absah, deren Anwesenheit aber nicht mehr zählte als in späteren Zeiten das Vorhandensein eines Lichtschalters oder eines Wasserhahns. Auch im Zimmer seiner jungen Gemahlin Eleanor schlief eine Sklavin, die ihr das Nachtgeschirr unterhielt, das Licht anzündete, die Waschschüssel füllte, Handtücher und Kleider bereitlegte. Einzig seine Junggesellengewohnheit, auch andere morgendliche Bedürfnisse von den stummen Dienerinnen befriedigen zu lassen, hatte Eleanor abgestoßen und sie in ein separates Schlafzimmer auswandern lassen.
Bonneterre war das gleich, er hatte seine Pflicht getan. Er hatte das Mädchen geheiratet, das seine Mutter für ihn ausgesucht hatte, den Familienbesitz dadurch noch einmal beträchtlich vermehrt und sie nun schon zum zweiten Mal geschwängert. Wenn es wieder ein Junge wurde, die Erbfolge damit endgültig gesichert wäre, würde man sich ohnehin nur noch bei Tisch sehen und bei gesellschaftlichen Anlässen zusammen zeigen. Eleanor war so langweilig! Nachdem er befriedigt war, stand er auf, ließ sich das restliche Wasser über den Kopf schütten, bis der wieder halbwegs auf seine Schultern passte, und trat auf den Balkon hinaus.
Das Haus schlief noch, aber die Plantage war wach. Weit hinten, die Platanenallee hinunter, hörte er Hufgetrappel, das heisere Klirren der Pferdegeschirre, hier und da einen lustigen Peitschenknall, und über den Bäumen, hinter denen die große Brettersiedlung der Feldsklaven lag, stieg der dünne Rauch ihrer Feuerstellen auf. Bonneterre wandte sich mit zerzausten nassen Haaren zu der kleinen Sklavin um, die hinter ihrem nackten Herrn in der Tür stehen geblieben war, und sagte: »Darry! Geh runter in die Küche und sag Bescheid. Ich will heute hier oben frühstücken!«
Darioleta, die ihren ungewöhnlichen Namen einer in der Familie Bonneterre erblichen Vorliebe für den Ritterroman Amadis von Gallien verdankte, gehorchte stumm. Sie war als Kind einmal auf eine schwärmerische Art in ihren jungen Herrn verliebt gewesen; er war groß, schlank und kräftig, stets sehr elegant gekleidet und frisiert, sein kleiner Schnurrbart glänzend gewichst. Aber seit ihrem elften Geburtstag tat er ihr Dinge an, die dieses Gefühl ins Gegenteil verwandelt hatten. Ob auch die Verstümmelung Gandalods, eines jungen Feldarbeiters, der sie einmal geküsst hatte, Desmond Bonneterres Idee gewesen war oder doch die seiner Mutter, wusste sie nicht. Als Darioleta ihren Auftrag ausgeführt hatte, begab sie sich jedenfalls zum Abtritt der Haussklaven neben der Scheune, steckte einen Finger in den Hals und erbrach sich, bis ihr das Wasser aus Augen und Nase lief.
22.
»Sir?!« Der alte Arban war auf den Balkon getreten, als Bonneterre eben mit seinen langen Fingernägeln die Überreste des Frühstücks aus seinen Zähnen kratzte. »Ihre Mutter bittet Sie, so bald wie möglich in den grünen Salon zu kommen.«
»Dachte ich mir«, antwortete Bonneterre. »Sag ihr, ich bin unterwegs.« Dabei lehnte er sich noch einmal in seinem Korbsessel zurück und atmete tief durch. Sie würde besprechen wollen, wie man heute Abend am besten vorgehen könnte. Er wusste, dass man ihm Vorhaltungen machen würde, dass er nicht nur versagt, sondern auch den anderen jede Chance verbaut hatte. Über dreißig Sklaven waren in den letzten Wochen in Denham Parish – so wurden in Louisiana, und nur dort, die Countys oder Landkreise genannt – verschwunden, und den einzigen Zeugen, der vielleicht über ihren Verbleib Auskunft geben konnte, hatte er mundtot gemacht. Trotz allem musste er lachen, als er das dachte. Warum fielen ihm, in all seinen Schwierigkeiten, nur immer wieder derart lustige Formulierungen ein?
Den Zorn seiner Mutter musste er nicht mehr fürchten; den hatte sie ihn schon tags zuvor durch eine Ohrfeige mit dem Handrücken spüren lassen, und Marie-Therese Helisena Milisande Bonneterre war nicht die Frau, die ihren Unwillen tagelang hätschelte. Ihr würde es nur darum gehen, wie man weiteren Schaden vom Hause Bonneterre abwenden könnte. Uralter hugenottischer Adel, nach der Schlacht von La Rochelle in die Kolonien ausgewandert, auf einem eigenen Schiff wohlgemerkt! Weitläufige, wenn auch nie nachgewiesene Verwandtschaft mit der Familie Tascher de La Pagerie, und das hieß: Madame Bonneterre konnte Josephine Beauharnais zu ihren Vorfahren zählen und die Könige von Neapel, Holland, Bayern und last, not least den dritten Napoleon selbst als ihre Vettern bezeichnen. Das traf aber auf nahezu alle Kreolen von Louisiana zu, weswegen man es nie direkt erwähnte, sondern im Umgang mit den Amerikanern nur gelegentlich durchblicken ließ.
Sie war die einzige Frau und thronte an diesem Abend trotz des jämmerlichen Betragens ihres Sohnes wie eine Königin inmitten der Versammlung von Pflanzern und Großgrundbesitzern. Da sie noch immer eine exquisite Schönheit war, hätten die versammelten Gentlemen, die sich auch gern als die Ritter des Südens bezeichneten, sich niemals so weit vergessen, die edle Dame und ihren missratenen Prinzen offen zu tadeln. Sie beließen es dabei, Desmond Bonneterre, so gut es ging, zu schneiden, ein wenig den Kopf zu schütteln – und der junge Mann mit den glänzenden schwarzen Locken sah, durch den Rauch ungezählter Zigarren hindurch, dass es Ben Huggins und Owen Cheever deutlich schlechter gegangen war.
Cheever setzte sich so vorsichtig, als sei sein Gesäß ein höchst zerbrechliches, mit Quecksilber gefülltes Messinstrument, und verzog dennoch den Mund, als er sein eigenes Gewicht in den Knochen spürte. Huggins’ Gesicht zierte ein Veilchen, das ihm sein würdiger, aber als jähzornig bekannter Erzeuger am Abend zuvor verpasst hatte. Nur die beiden Willoughbys waren leer ausgegangen, zweifellos weil ihr alter Vater in einem gepolsterten Rollstuhl saß, in den ihn der Amerikanisch-Mexikanische Krieg befördert hatte.
Das Gespräch wogte lange hin und her, ehe General Willoughby seine versammelten Nachbarn zum Verstummen brachte, indem er mehrmals mit einer völlig überflüssigen Reitpeitsche über die eisernen Speichen seines Jammergefährts strich.
»Schluss jetzt«, sagte er leise. »Es hat sich nichts Neues ergeben, und wir werden auch nichts erfahren, solange wir alle nur raten.« Er wandte sich an einen hochgewachsenen, weißhaarigen Gentleman, der sich eben aus einer Karaffe mit Branntwein bediente. »Lem! Besteht die Chance, dass der alte Nathan überlebt?«
»Nein«, sagte der Angesprochene achselzuckend. »Ich bin Arzt, kein Zauberer! Und selbst wenn: Reden wird er nie wieder, und schreiben kann er nicht.«
»Gut«, erwiderte der General. »Dann sehe ich keinen Grund, sein Leiden unnötig zu verlängern.« Er gab seinem Sohn Michael einen Wink, und der ging wortlos hinaus, um die offenbar vorher abgesprochenen Instruktionen an einen der Sklavenaufseher weiterzugeben. »Also«, sagte wieder der alte Willoughby, als das erledigt war. »Wie kriegen wir diesen Moses?«
Die kleine, aber feine Gesellschaft zuckte kollektiv zusammen, als sie den verhassten Namen hörte. »Dieser Moses«, eine Art Prophet für die Schwarzen, hatte in den vergangenen Jahren überall im Süden immer wieder Sklaven entführt beziehungsweise zum Weglaufen überredet, ohne dass man bisher mehr von ihm wusste als seinen Namen.
»Achtunddreißig Nigger können doch nicht spurlos verschwinden!« , sagte erbost Thomas Enderby. »Sie müssen essen und irgendwie wegkommen, also sich bewegen.«
»Meine Jungs reiten sich seit einer Woche den Hintern wund«, erwiderte Henry Hunter, Chef der Louisiana-Miliz, Regiment Denham Parish, mit einer tief im Rachen nahezu gurgelnden Stimme. Der nun schon zum dritten oder vierten Mal zwischen den Zeilen geäußerte Vorwurf mangelnder Wachsamkeit ließ ihn kurzfristig sogar die Anwesenheit einer Dame wie Marie-Therese Bonneterre vergessen, deshalb fuhr er erst nach einem verlegenen Räuspern fort. »Entschuldigung, Madame, aber so ist das nun mal. Ich habe sechzig Mann auf allen Straßen, Tag und Nacht. Die beschweren sich schon, weil sie ihre eigenen Farmen nicht so lange liegen lassen können.«
»Vielleicht war der Kreis, den wir gezogen haben, von Anfang an zu klein«, sagte Madame Bonneterre und fügte bewusst derb hinzu: »Also erlösen wir die Ärsche unserer Jungs und schicken wir sie auf ihre Farmen zurück!« Dröhnendes Gelächter antwortete ihr, und erst als es verebbt war, fuhr sie mit mildem Lächeln fort: »Warten wir, Gentlemen. Vergessen wir diese achtunddreißig Nigger und bauen wir eine Falle für Moses, wenn er das nächste Mal zuschlägt.«
»Entschuldige, Mary«, schaltete sich wieder General Willoughby ein. »Aber achtunddreißig Nigger, das sind fünfzigtausend Dollar. Keiner von uns« – und hier lächelte er ironisch – »die Bonneterres einmal ausgenommen, kann es sich leisten, auf so viel Geld einfach zu verzichten.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich. »Außerdem«, fügte Willoughby hinzu, »habe ich das Gefühl, dass sie noch nicht im Norden sind, sondern immer noch hier unten. An einem Ort, den wir nicht kennen. Die gottverfluchten Railroader4 werden es nicht wagen, einen solchen Haufen Nigger auf einen Schlag wegzubringen. Die werden sie tröpfchenweise raufschaffen – und das ist unsere Chance!«
»Aber wir können doch nicht den ganzen Mississippi überwachen«, grollte Hunter. »Wir brauchen mindestens einen Anhaltspunkt, eine Stelle, an der wir anfangen. Wir können nicht jeden einzelnen Nigger auf jedem verdammten Schiff überprüfen.«
»Müssen wir auch nicht«, beschwichtigte der General. »Vielleicht nicht. Ich habe schon letzte Woche nach New York telegrafiert und einen Mann hergebeten, der uns helfen kann.«
»Einen Yankee?!«, schnaubte Enderby entrüstet.
»Die Yankees, Tom«, entgegnete Willoughby, »haben bei all ihrer Charakterlosigkeit einen Vorzug, und das ist ihre Geldgier. Man kann sie für alles mieten.«
»Wofür um alles in der Welt willst du denn einen Yankee mieten, Pa?«, warf der junge Dick Willoughby vorwitzig ein. »Ist er ein Zauberer?« Das leise Gelächter, das daraufhin entstand, galt weniger dieser Äußerung als vielmehr der Tatsache, dass der junge Mann überhaupt etwas zu sagen gewagt hatte.
»Der Mann ist Detektiv«, sagte der General mit einem erbosten Seitenblick auf seinen Sohn. Jetzt eine Viertelstunde Beine, einen Gürtel, einen Holzschuppen haben! »Und zwar ein sehr guter, wie ich erfahren habe. Er wird unsere Nigger finden und die Leute hochnehmen, die ihnen helfen. Und Moses, Ladies and Gentlemen, wird endlich ein Gesicht bekommen!«
23.
Mete Kingi Paetahi, Häuptling der Te Ati Haunui a paparangi von Wanganui, kam in der prachtvollen Uniform eines britischen Seekapitäns: blinkende goldene Knöpfe und Schultertressen, die dem schmächtigen Mann bis weit auf die Oberarme hingen. Immerhin hielt er als Symbol seiner Führerschaft die Mere punamu, eine traditionelle neuseeländische Kriegskeule, in der Hand, die wie das Blatt eines Paddels geformt und verschwenderisch mit Schnitzereien verziert war.
Titokowaru mochte den klugen kleinen Mann nicht, dessen Väter und Onkel vor mehr als einem Vierteljahrhundert den verräterischen Vertrag von Waitangi unterzeichnet hatten und der auch selbst längst mehr Politiker als Krieger war. Dennoch begrüßte er ihn mit dem Hongi, wie es einem Häuptling zukam, legte also seine Stirn an die Stirn Mete Kingis, fühlte dessen mächtigen, walrossartigen Schnauzbart an seiner Oberlippe und sog mit geblähten Nasenflügeln den Geist und die Gedanken seines Gastes ein. Der fremde Häuptling roch nach Tabak und würde gegen den Krieg stimmen.
Die Oberhäupter der Ngati Mutunga, Te Atiawa und Taranaki würden dagegen wohl auf seiner Seite stehen, denn sie hatten als Küstenstämme an der nördlichen Taranaki-Bucht unmittelbar unter dem illegalen Vordringen der Pakeha zu leiden. Alles käme also auf die Stimme Tawhiaos an, den die Stämme des nördlichen Binnenlandes am Waikato, die Ngati Haua, Te Arawa und Te Maniapoto, ihren König nannten.
Seine Erscheinung hatte allerdings etwas Königliches: Im Gegensatz zu den übrigen Häuptlingen und auch Titokowaru selbst trug er keine europäische Kleidung, sondern das traditionelle Kaitaku, ein aus Tihore, der feinsten der drei verschiedenen Arten des neuseeländischen Agavenflachses gewobenes Staatskleid, das mit geometrischen Mustern in Rot und Schwarz verziert war. Von seinen Schultern hing der berühmte Umhang der alten Waikato-Häuptlinge, eine Art Mantel aus Vogelfedern, in dem angeblich sogar noch Federn des drei Jahrhunderte zuvor ausgestorbenen Riesenvogels Moa verarbeitet waren. In der rechten Hand hielt er die Taiaha, den mannshohen Kriegsspeer, seine Mere war beinahe sichelförmig gebogen, und die dunklen Flecken getrockneten Bluts auf dem Rand der Hartholzkeule zeigten, dass sie keineswegs immer ein symbolischer Gegenstand gewesen war.
Dunkelblaue Tätowierungen, genealogische Linien, Kreise, Punkte bedeckten mit Ausnahme der Wangenknochen sein gesamtes Gesicht, reichten bis in den kurz geschnittenen, dichten grauen Haarschopf hinein und vereinigten sich auf seiner Nasenwurzel, was dem Blick seiner schwarzen Augen etwas beinahe Hypnotisches verlieh. Zweimal hatte Titokowaru als Tawhiaos Verbündeter in den Waikato-Kriegen gekämpft, und das bloße Auftauchen des Königs bei dieser Beratung in Te Ngutu o te Manu machte den versammelten Häuptlingen den Ernst des Anliegens der Ngaruahine deutlich. Das Hongi der beiden Männer fiel deutlich respektvoller, aber auch herzlicher aus als die bisherigen Begrüßungen. Titokowaru spürte dabei jedoch auch die Vorbehalte des Königs gegen den von ihm geplanten Krieg.
Ein grundlegendes Problem war, dass der Prophet Te Ua Huamene im Jahr zuvor gestorben war und damit ein geistiger Führer fehlte, der den gemeinsamen Widerstand der Stämme weckte. Die von Te Ua begründete Religion des Pai Marire hatte sich inzwischen auf der gesamten Nordinsel ausgebreitet und war die große Triebfeder für die Kriege und Aufstände der letzten acht Jahre gewesen. Wie immer wollte die neue Religion nur das Beste: Pai, das Gute, und Marire, den Frieden. Aber Te Ua Huamene hatte eben auch einen religiös motivierten Anspruch der Maori auf ihr eigenes Land gepredigt, was seinen Prophezeiungen eine unverzichtbare politische und militärische Dimension verlieh. Leider hatte der alte Mann in einer seiner letzten Visionen dieses, das Jahr 1867/68, zum te tau tamahine, tenai terau o tera muti, dem Jahr der Töchter und des Lammes erklärt, was alle kriegerischen Aktivitäten ausschloss. Zwar waren seit seinem Tod einige kleinere Propheten aufgestanden, die die Botschaften des Pai Marire fortschrieben und veränderten, aber keiner von ihnen hatte die Autorität, dieses letzte Gebot des alten Te Ua umzustoßen.
Die Macht eines Maorihäuptlings gründete sich nicht auf seine politische Intelligenz oder militärische Stärke, nicht auf Erbfolge, Lehnswesen oder gar demokratische Wahlen, sondern einzig und allein auf sein persönliches Tapu, die geistige, seelische, transzendentale Kraft, die er ausstrahlte. Spürten die Krieger die unsichtbaren Schwingungen dieser Kraft, folgten sie dem Häuptling bis in den Tod; hatte er sein Tapu verloren, konnte keine Macht der Welt einen freien Maori zwingen, ihn weiterhin als Führer anzuerkennen. Titokowaru musste also Rücksichten auf Traditionen, Rituale, unausgesprochene Glaubenssätze und gesellschaftliche Übereinkünfte hinsichtlich der Beurteilung von Gut und Böse nehmen, die den Pakeha, ihren Königen und Gouverneuren, Generälen und einfachen Soldaten immer fremd blieben.
Umso schwerer war es für ihn, dem Landraub, den die Weißen mithilfe des 1865 gegründeten Native Land Court betrieben, tatenlos zuzusehen. Das Vorgehen der Pakeha war denkbar simpel: Angeblich um die Eigentumsverhältnisse des den Maori im Vertrag von Waitangi zugesicherten Landes zu vereinfachen, wurde ohne Rücksicht auf die Rechte der Stämme je zehn Individuen ein Stück Land übereignet, das diese dann einzeln und ohne Zustimmung der Häuptlinge an die Weißen verkaufen konnten oder mussten. Angebliche Schulden, Manipulationen und Korruption durch Geld und Alkohol, aber auch die willkürliche Konfiszierung durch weiße Gerichtsvollzieher führten dazu, dass das Land der Ureinwohner immer weiter zusammenschmolz. Schon bald würden die Ngati Ruanui praktisch heimatlos sein. Dabei den Glauben an das Jahr der Töchter und des Lammes zu behalten fiel schwer.
Bis auf Mete Kingi, der sich am Wanganui River von jeher mit den Weißen arrangiert hatte und als ihr Kupapa, Verbündeter, galt, pflichteten alle Häuptlinge Titokowaru darin bei, dass dem Treiben der Pakeha Einhalt zu gebieten sei. Einige versprachen sogar, ihm Beistand zu leisten, und besiegelten dieses Bündnis auf traditionelle Art, indem sie eine ungekochte Eidechse verzehrten; was angesichts ihrer europäischen Kleidung, Tweedhosen, Karo-Westen und Bowler-Hüte, einen allerdings reichlich absurden Eindruck machte. Tawhiao spürte als Einziger, dass der Häuptling der Ngaruahine etwas vor ihnen verbarg, aber da Titokowaru sein Keuschheitsgelübde nicht öffentlich gemacht hatte, um sein Tapu nicht zu gefährden, konnte der König auch nicht wissen, wie seinem alten Kampfgefährten zu helfen war.
Titokowaru litt unter den nächtlichen Vereinigungen mit der Frau, die ihm beinahe jeder seiner Träume schickte. Die Orte, Gegebenheiten, Situationen, ja selbst die Art, auf die sie sich liebten, waren immer unterschiedlich. Nur die Frau nahm auf unheimliche Weise immer individuellere Züge an. Schließlich kannte er jedes einzelne Muttermal auf ihrem Körper, auch die, die nur ein Mann von seiner Ehefrau kennt. Er vermutete, dass ihn der Geist einer Frau quälte, die er in einem früheren Leben besessen und durch irgendetwas Unauslöschbares beleidigt hatte, und opferte, betete zu ihr um Vergebung, aber in der Nacht kam sie wieder zu ihm.
Es waren keine Alpträume; er schwamm in Lust und Liebe, wenn sie bei ihm lag, aber trotzdem machte sie ihm Angst. Vielleicht hätte es geholfen, mit einer anderen, einer wirklichen Frau zu schlafen, aber das, hatte er geschworen, würde er erst wieder tun, wenn er das Zeichen zum Krieg erhalten hatte, nach dem er Ausschau hielt in allen Dingen. Er wusste nicht, wie das Zeichen aussah, nur, dass er es erkennen würde, wenn es kam. Irgendwann begann er, die fremde Frau auch am helllichten Tag zu sehen, und hätte sie unter Tausenden sofort erkannt. Wer war dieses Wesen und was wollte es von ihm?
Als seine Nächte ihn so erschöpften, dass er Fieber bekam, wusste er, dass er den Krieg vorantreiben musste, wenn er Frieden finden wollte, und berief die Versammlung der Häuptlinge nach Te Ngutu o te Manu ein. Aber leider waren sich alle Beteiligten einschließlich des Königs Tawhiao darin einig, dass der Krieg warten musste, bis das Jahr der Töchter und des Lammes vorüber oder aber ein mächtiger neuer Prophet hervorgetreten war.
24.
Die Hure war jünger als Mrs. Maguire und kleiner und weniger hübsch. Vorsichtig schob John Gowers ihr langes blondes Haar, eigentlich das Einzige, was sie mit der Frau des Reeders gemeinsam hatte, aus dem Nacken der Schlafenden und legte sacht und ohne sie mit dem gesamten Gewicht seines Kopfes zu belasten, ein Ohr zwischen ihre nackten Schulterblätter. Er lauschte auf die gleichmäßigen, dunklen Herzschläge in dem schmalen Körper und begann, mit langsamen, ruhigen Bewegungen ihren Rücken zu streicheln. Ihre Haut war angenehm sauber, was sich natürlich auf ihren Preis auswirkte. Gowers zählte die Wirbel unter seinen Fingern, schob dann seine Hand unter die Bettdecke und legte sie leicht auf die kleinen, nachtwarmen Hinterbacken.
Wenn seine Vermutung richtig war, gab es einen ganz einfachen Weg, auf dem die Kinder wohlbehalten wieder nach Hause kommen würden: Maguire musste seine Kandidatur zurückziehen. Vielleicht würde man zusätzlich auch noch Geld von ihm verlangen, aber der Reeder war ja kein armer Mann. Das Hindernis war sein Stolz. Würde er aufgeben, wenn er wusste, dass er zur Aufgabe gezwungen werden sollte? Würde er es ertragen, seinen Gegnern sozusagen auch noch die Unkosten zu zahlen, die seine Kandidatur verursacht hatte? Gowers wusste, dass er dem Mann zumindest diesen Vorschlag machen, ihm diese Möglichkeit anbieten musste. Alles andere, jede Form der Ermittlung, wäre zu riskant. Aber was würde er selbst an der ganzen Sache verdienen?
Nur um der Herausforderung willen überlegte er, wie er vorgehen könnte, um die Kinder zu finden und zu befreien. Er stellte sich diese Frage wie eine mathematische Aufgabe: Harewood plus, Klammer auf, Blampin mal x, Klammer zu, gleich y. Diese Gleichung ließe sich nur lösen, wenn man die bekannten Faktoren scharf beobachten und zu möglichst unüberlegten Reaktionen verleiten würde. Aber genau da lag das Problem, das Risiko. Waren diese Reaktionen kalkulierbar? Harewood plus Blampin geteilt durch die Provokation, das Wissen, die Vermutung zumindest, dass man ihnen auf der Spur war, konnte den Weg zu den Kindern ergeben, konnte die Kinder aber auch töten. Den Ausschlag gab – sagte er sich später noch häufig – die Überlegung, dass die Gegner Politiker waren; also eher Spieler als kaltblütige Killer. Insgeheim wusste er aber von Anfang an, dass das nicht stimmte: Den Ausschlag gab, dass er Geld verdienen wollte.
Die junge Frau in seinen Armen stöhnte leise, und eine kaum merkliche Veränderung im Schlag ihres Herzens verriet ihm, dass sie jeden Moment aufwachen würde. Aber erst als seine Finger auf ihrem Geschlecht kreisten und sie ihre Schenkel ein wenig öffnete, um sich ihm ganz zu überlassen, erwachte sie tatsächlich und murmelte: »An deine Hände könnte ich mich gewöhnen!«
Etliche träge Minuten später wurde ihr Stöhnen zu einem Keuchen. Sie drehte sich auf die Seite, zog beide Knie an und reckte sich im Rhythmus seiner Hand entgegen. Als es vorbei war, rollte sie sich auf den Bauch zurück, seufzte, räusperte sich und sagte: »So möchte ich öfter geweckt werden.«
Er wischte seine Hand zärtlich an ihrem Gesäß ab, fühlte das Nachbeben ihrer Muskeln und fragte: »Mary?«
Die junge Frau wurde plötzlich stocksteif, warf sich zu ihm herum und starrte ihn wütend an. »Sarah!«, sagte sie. Dann fiel ihr aber offenbar ein, dass er ja ein Kunde war, und sie machte ein Spiel aus ihrem Zorn. Setzte sich rittlings auf ihn, legte mit inszenierter Strenge seine Hände auf ihre kleinen Brüste und wiederholte: »Sarah!« Führte seine Hände zu ihrem Bauch hinunter, auf ihre Hüften, die Hinterbacken: »Sarah!!«
»Sarah …« John Gowers lächelte. »Willst du dir zwanzig Dollar verdienen?«
Statt einer Antwort rieb sie sich an seinem Bauch, anders als eben, härter, professioneller. »Hab ich das nicht schon?«, fragte sie kokett.
»Ich meine heute Abend«, sagte er.
»Heute Abend und jeden Abend«, antwortete sie. »Und wann immer du willst.« Sie legte sich jetzt auf ihn und versuchte, ihn auf den Mund zu küssen. Aber er drehte den Kopf weg, weil sie noch nicht gefrühstückt hatte. Nur um sie nicht zu beleidigen, küsste er sie jedoch auf die Wange.
»Ich möchte mit dir zu einer Versammlung gehen«, sagte er.
»Was?« Sie hob den Kopf ein wenig und suchte verwirrt seinen Blick.
»Eine politische Versammlung«, erklärte er. »Die Kampagne ›Sauberes Victoria‹ …«
Sie prustete ihm mitten ins Gesicht. Das war zuerst unangenehm, aber dann fühlte er, wie ihr Bauch vor Lachen bebte, und das war ein Gefühl so ansteckender Heiterkeit, dass er mitlachen musste.
»Also, mit mir wollten sie ja schon manches machen.« Sie japste und rollte von ihm herunter. »Einer wollte, dass ich die Kleider seiner Mutter anziehe, ein anderer, dass ich Uniform trage, und ich musste dauernd ›Ja, Sir!‹, ›Nein, Sir!‹ sagen. Einer wollte es sogar mal in einer Kirche machen, aber ich bin immer noch katholisch, ob du’s glaubst oder nicht! Nur auf eine …« Sie begann erneut zu kichern und steigerte sich zu einem Gelächter, für das ihre Bauchmuskeln eigentlich schon zu erschöpft waren. »Eine politische Versammlung … ›Sauberes Victoria‹!«
Sie hörte erst auf zu lachen, als er sich auf sie legte, sein Gesicht in ihre üppigen blonden Haare wühlte und tat, wofür bezahlt zu werden sie gewohnt war.
25.
Die monatliche Versammlung der Literarischen Gesellschaft von St. Louis war eine gemeinhin eher familiäre Veranstaltung. Zwar konnte die Gesellschaft eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Mitgliedern verzeichnen, aber die meisten waren nur beigetreten, um für verhältnismäßig wenig Geld verhältnismäßig viele Bücher zu lesen, die die Gesellschaft anschaffte und in ihrer entsprechend umfangreichen Leihbibliothek zur Lektüre bereithielt. Vorstandsarbeit und Veranstaltungen überließ man jedoch seit Jahrzehnten den immer gleichen, von Gott offenbar zu diesem besonderen Zweck geschaffenen Individuen: dem leider etwas zu progressiven emeritierten Professor Hartford als erstem Vorsitzenden, einer pensionierten Lehrkraft für höhere Töchter, Miss Pringle, als Schriftführerin und der Witwe des Friedensrichters, Mrs. Sheperd, als zweiter Vorsitzender. Kassierer und »Junior« in dieser Runde war der Kaufmann Charles Dorfman, der diese Position eigentlich nur seiner Frau zuliebe ausübte beziehungsweise diese einzige Möglichkeit abendlicher Abwesenheit an immerhin einem Tag der Woche nicht mehr missen wollte.
Da in den Statuten festgelegt war, dass ein Buch angeschafft werden konnte, wenn in diesem Vorstand mindestens Stimmengleichheit herrschte, fiel es Professor Hartford relativ leicht, auch literarische Erzeugnisse anzukaufen, vor denen Miss Pringle ihre Zöglinge ein Leben lang gewarnt hatte. Modernes Zeug, Hawthorne, Melville, Poe, aber immer wieder auch die alten Engländer und ihre fragwürdigen Romanhelden: Tom Jones, Tristram Shandy, Jack Walton … Einmal im Monat diskutierte man in öffentlicher Versammlung über die brennenden Fragen der Literaturgeschichte, hörte Vorträge wie »Pommeroy und die Aufklärung« und nahm Vorschläge für Neuerwerbungen entgegen. Aber seit einer öffentlichen Lesung aus Typee im Jahr 1846 hatte die Literarische Gesellschaft von St. Louis nicht mehr einen solchen Andrang erlebt wie an diesem Abend, mehr als zehn Jahre später.
Das Erstaunlichste daran war, dass diesmal die Damen das Thema gewählt und die Veranstaltung vorbereitet hatten. Mrs. Harriet Beecher-Stowe hatte sich lange vor allem als Autorin sentimentaler Erzählungen in Frauenzeitschriften hervorgetan, aber eine dieser Fortsetzungsgeschichten hatte ein solches öffentliches Interesse ausgelöst, dass 1852 ein Verleger das Risiko einer Buchausgabe einging – und dreihunderttausend Exemplare von Onkel Toms Hütte waren allein im ersten Jahr über die Ladentheken gegangen. Dieser Erfolg, in den kommenden Jahren noch ausgebaut, war zweifellos darauf zurückzuführen, dass Mrs. Stowe einen Nerv ihrer Zeit und ihrer Landsleute getroffen hatte.
1850 hatte es ein mühsam erkämpfter Kompromiss möglich gemacht, dass Kalifornien als »freier« Staat der Union der Vereinigten Staaten von Amerika beitreten konnte. Damit war, nachdem fünf Jahre zuvor die Aufnahme von Texas den »Sklavenhalterstaaten« die Mehrheit im Senat beschert hatte, wieder eine Parität hergestellt. Aber die freien Staaten des Nordostens hatten sich dafür vertraglich verpflichten müssen, entlaufene Sklaven auf ihrem Gebiet wieder stärker zu verfolgen und gegebenenfalls an ihre Besitzer im Süden auszuliefern. 1854 wurde es auf Betreiben des Südens den Territorien Nebraska und Kansas freigestellt, die Sklaverei zu befürworten, zu dulden oder abzuschaffen; was diese Territorien auf Jahre hinaus in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand versetzte.
Immer weniger Menschen zogen deswegen in den unsicheren Westen, die Landpreise sanken wegen der geringeren Nachfrage, die Aktienwerte der Eisenbahngesellschaften und der von ihnen abhängigen Schwerindustrie fielen mit dem Transportaufkommen. Dadurch hatten die Banken des industrialisierten Nordens immer weniger Geld zur Verfügung und konnten nur hoffen, dass der Weizenexport nach Europa stabil blieb; eine Hoffnung, die sich zerschlug, als 1856 der Krimkrieg endete und die billigen Erträge der endlosen Weizenfelder Russlands den amerikanischen Weizen vom Markt drängten, als hätte es ihn nie gegeben.
Gleichzeitig verdoppelte sich im prosperierenden Süden die Baumwollproduktion auf mehr als zwei Milliarden Pound, die Sklaven haltenden Baumwollpflanzer benötigten immer dringender billige Arbeitskräfte und dachten ernsthaft darüber nach, den vor einem halben Jahrhundert geächteten transatlantischen Sklavenhandel wieder einzuführen. Die erfolgreichen Jahrzehnte des Abolitionismus5 schienen vorbei und die Idee von einer allgemeinen Sklavenbefreiung ein politisches Auslaufmodell zu sein.
Wie immer in solchen Situationen appellierte die politisch und wirtschaftlich unterlegene Partei oder Bewegung an ihre eigene moralische Stärke, und bis weit ins freie Illinois hinein ergingen die flammenden Aufrufe der Abolitionisten, sich massenhaft in St. Louis einzufinden, um auf der Versammlung der Literarischen Gesellschaft Zeugnis abzulegen für die Freiheit des Menschen unter Gott.
Aber just an diesem 24. August 1857, als Mrs. Sheperd in Vertretung des erkrankten Professors Hartford, der so etwas geahnt haben mochte, die Glocke erhob und um Ruhe bat, hatte Charles Stetson, Präsident der Ohio Life Insurance Company, die Zahlungsunfähigkeit seiner Gesellschaft erklären müssen. Die Kreditgeber dieses Unternehmens, einige New Yorker Großbanken, hatten daraufhin ihre Darlehen von den nächstkleineren Banken zurückgerufen, und diese waren in kürzester Zeit ebenfalls bankrott, da die besorgten Kunden massenhaft ihre Einlagen abhoben. So wurde eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, der bis zum Ende des Jahres nicht weniger als fünftausend Industrieunternehmen zum Opfer fielen und die als die erste große Wirtschaftskrise des Industriezeitalters bekannt werden sollte. Keine gute Zeit für die Freiheit des Menschen.
26.
Obwohl man auf den Ansturm nicht vorbereitet war, wurde man seiner doch überraschend leicht Herr, was vor allem daran lag, dass die angereisten Sklavereigegner, Abolitionisten, Quäker und Puritaner sehr disziplinierte Fanatiker waren. Anstandslos ließen sie sich von Miss Pringle Plätze anweisen, rückten zusammen und rückten noch weiter zusammen, als die Zuhörer immer zahlreicher wurden, bis sie einander, allerdings streng nach Geschlecht getrennt, praktisch auf dem Schoß saßen.
Der Vorstand der Literarischen Gesellschaft, der erhöht auf einem kleinen Podium vor dem einzigen Tisch des Saals den ihm gebührenden Platz eingenommen hatte, entdeckte auch unter den übrigen Anwesenden nur wenige bekannte Gesichter. Das Ehepaar Prendergast, das seit Jahren keine Möglichkeit zu gemeinsamer literarischer Erbauung ausließ, mehrere ehemalige Zöglinge des Pringle’schen Instituts, die aus ihrer anhänglichen und hartnäckigen Verehrung für ihre Lehrerin keinen Hehl machten und zum Teil bereits mit ihren deutlich distanzierteren Ehegatten erschienen waren. Der Anwalt Clay Simpson mit Ehefrau und den drei nun schon etwas zu lange unverheirateten Töchtern. Mrs. Dorfman natürlich, die wie immer ihr Strickzeug mitgebracht hatte, oder jener merkwürdige junge Mann mit der blauen Brille, von dem es hieß, er sei ein Mississippilotse und habe auf jeder seiner Fahrten einige Bücher der Literarischen Gesellschaft dabei. Mrs. Sheperd nickte insbesondere dem Schießpulverfabrikanten John Lafflin zu, der paradoxerweise ein enger Freund des vor drei Jahren verstorbenen Friedensrichters gewesen war, sich aber für ihren Geschmack viel zu selten in den Versammlungen sehen ließ und trotz seiner fünfundsiebzig Jahre auch jetzt nur in der Tür stand.
Mittendrin aber, und gewissermaßen das Gros der nichtabolitionistischen Zuhörer bildend, saß eine große Gruppe unbekannter Männer, deren Äußeres, die eleganten Anzüge, die geschnitzten Spazierstöcke, deren lange Haare und mit großer Sorgfalt getrimmte Schnurrbärte sie als klassische Gentlemen des Südens auswiesen. Tatsächlich hatten sich vor allem die Jüngeren unter ihnen, Bonneterre, Cheever, Huggins und die beiden Willoughbys, mächtig in Wichs und Schale geworfen und fühlten sich nun wie Gralsritter in einer Versammlung von Leibeigenen; arrogant, amüsiert, unendlich überlegen, aber auch ein wenig fehl am Platz.
Nur am Rand dieser feinen Gesellschaft fiel ein kleiner, rundlicher Herr in billigem grauem Anzug und mit dem Gesicht einer jovialen Bulldogge als Nordstaatler auf. Dass er trotzdem dazugehörte, sah man an den angeregten leisen Gesprächen, die er mit den Gentlemen des Südens führte. Vermutlich handelte es sich um einen Reporter oder etwas Vergleichbares. Da auch diese Gruppe sich ruhig und zivilisiert verhielt, glaubte Mrs. Sheperd noch immer, das allgemeine Interesse richte sich auf die angekündigte Diskussion über die literarische Qualität von Onkel Toms Hütte, und kündigte als Hauptredner des heutigen Abends den jungen Cord Chambers an, der soeben seine philologischen Studien im berühmten Harvard mit Auszeichnung abgeschlossen habe.
Magister Chambers stand während dieser kurzen Vorstellung auf und verbeugte sich ebenso schüchtern wie selbstbewusst; ungefähr so, als hätte er im Laufe der letzten Tage den tiefen Teller erfunden, aber die Tragweite des Ereignisses noch immer nicht ganz erfasst. Er sprach sodann mit großer Kunstfertigkeit über »Retardierende Erzählelemente in ihrem Bezug zum Spannungsbogen« und begann – wie jeder ausgezeichnete Philologe – bei Homer. Schlagartig umhüllte so etwas wie der tiefe Friede des Unverständnisses die dicht gedrängte Zuhörerschaft. Tatsächlich ist kaum etwas geeign eter, jedwede Art von Fanatismus zu beschwichtigen, als die retardierenden Erzählelemente in ihrem Bezug zum Spannungsbogen. Der novellistische Einschub, der klassische vierte Akt, schließlich die Sterne’sche Digressionstheorie – auch die wildesten Herzen und Hirne fühlten sich bald heimelig in die sorglosen Tage ihrer Schulzeit versetzt.
Der junge Philologe machte den sympathischen Eindruck eines Mannes, der so genau weiß, wovon er spricht, dass im Grunde keine Notwendigkeit zum Zuhören besteht, sondern seinem fachlichen Urteil blind vertraut werden kann. Er beging allerdings irgendwann den unverzeihlichen Fehler, auf Harriet Beecher-Stowe und Onkel Toms Hütte zurückzukommen. Nun erinnerten sich die zahlenmäßig drückend überlegenen Sklavereigegner wieder, wozu sie hergekommen waren, und ein Mann mit einem furchterregend alttestamentarischen Bart erhob sich und schwieg so eindrucksvoll, dass Chambers irgendwann nicht mehr umhinkonnte, ihn zu bemerken.
»Ja, bitte?!«, sagte der Magister, als erwartete er Einwände gegen seine Interpretation des Schildes des Achill – und kam danach, zumindest an diesem Abend, nie wieder zu Wort.
Er danke seinem Vorredner, sagte der Wohlbebartete – was sowohl der Hauptredner als auch der Vorstand der Literarischen Gesellschaft mit überraschtem Stirnrunzeln quittierten –, für seine klugen und nachdenkenswerten Worte. Aber man dürfe doch über alle retardierenden Elemente nicht den Sinn des Buches vergessen, der darin bestehe, die gotteslästerliche Unmenschlichkeit der Sklaverei anzuprangern, die fluchwürdige Gesetzgebung über die Auslieferung entlaufener Sklaven und die ganze jammervoll verfehlte Politik der Vereinigten Staaten von Amerika in der Sklavenfrage. Donnernder Beifall spülte wie ein reinigendes Gewitter die Diskussion über die literarische Qualität von Onkel Toms Hütte ganz einfach aus dem Saal.
In offenbar nicht abgesprochener Reihenfolge sprangen nun nacheinander mehrheitlich schwarz gekleidete Herren und Damen auf und äußerten Grundsätzliches über beziehungsweise gegen die Sklaverei: Bibelverse, Worte großer Männer, Zitate aus der Verfassung und den Klassikern, die vor allem gemeinsam hatten, dass sie ursprünglich auf alles Mögliche, aber eben nicht auf die Sklaverei bezogen waren. Diese Jubelverse hoben jedoch die Stimmung ganz beträchtlich, sah man sich doch nach einer Weile nicht mehr nur im Schulterschluss mit allen guten Menschen hier im Saal oder in Amerika, sondern in der gesamten Menschheitsgeschichte und überall auf der Welt. Die dazu notwendige Vereinfachung aller Sachverhalte, gegenwärtiger wie vergangener, führte dazu, dass man innerhalb einer halben Stunde nur noch von Gut und Böse sprach, von Richtig und Falsch, wenn auch nicht von Schwarz und Weiß. Denn schließlich gab es gute Weiße, einfach, bieder, schwarz gekleidet, und böse Weiße in eleganten Anzügen. Die schwarzen Sklaven aber waren nur noch die Verhandlungsmasse zwischen den verfeindeten Parteien, Stoff für rührende kleine Geschichten, den Hintergrund des düsteren Gemäldes, auf dem die eigene Moral so strahlend hell und gottesfürchtig hervortrat.
Nachdem man sich so eine Weile an sich selbst berauscht hatte, klangen konkrete Vorschläge an: Der Marsch nach Washington wurde verworfen – man hatte Felder zu bestellen, Handel zu treiben, Essen zu kochen, Kinder zu erziehen. Ein von allen unterzeichneter schriftlicher Protest wurde erwogen, aber dazu hätte man sich zuerst auf einen Inhalt einigen müssen, was länger gedauert und die Aufbruchstimmung zu sehr gedämpft hätte. Die Idee einer Spendensammlung war leichter zu realisieren; so etwas hatte man schon öfter gemacht. Es vermittelte einem für wenig Geld das Gefühl, etwas Sinnvolles und Gerechtes zu tun. Allerdings war zunächst nicht klar, welch hehrem Ziel die Kollekte dienen sollte.
Das in den Reihen der »Neutralen«, der einfachen Mitglieder der Literarischen Gesellschaft von St. Louis, in eine erste Begeisterungspause gezischte Wort »Ablass!« konnte dieses gute Gefühl nur ein wenig stören, nicht wirklich erschüttern. Wer hatte die ungeheure Frechheit besessen, so etwas zu sagen? Die giftigen Blicke der Erleuchteten bissen sich kurz an einem jungen Mann mit blauer Brille fest, der aber nur spöttisch lächelte, ehe eine weitere Woge von Gottesfurcht, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft ihn mitsamt seinem billigen Zynismus verschlang.
»Ein Schiff!«, sagten die Abolitionisten.
»Ein Schiff!«, griffen die Puritaner das Wort auf.
»Ein Schiff«, bestätigten leise die Quäker.
»Halleluja!«, riefen dann alle, zuerst vereinzelt, zuletzt in einem brausenden Chor.
Der Vorschlag eines Dankgebets für diesen rettenden Einfall, dieses lohnende Ziel aller propagandistischen Bemühungen, kam auf, aber nicht zustande. Ausgerechnet Miss Pringle erinnerte daran, dass dies eben die Lösung sei, mit der Harriet Beecher-Stowe ihren Roman ausklingen lasse – und man wollte, bei aller Wertschätzung, doch kein Dankgebet an eine Schriftstellerin richten.
Ein Schiff, mit dem man die befreiten oder losgekauften Sklaven nach Afrika zurückbringen würde! Während man die Sammlung vorbereitete und ehe die Frage aufkam, ob man denn genug freiwillige befreite Sklaven für einen solchen Transport zusammenbekommen würde, trat eine zweite längere Pause ein. Die Gerechten hatten sich ordentlich leer geredet, begeistert, entrüstet und hallelujat.
Diese Pause benutzte ein ungewöhnlich distinguiert wirkender Mann aus den eleganten Reihen der Südstaatler, um sich zu erheben und mit freundlichen Blicken um Aufmerksamkeit zu bitten. Die wurde ihm zuerst von den Damen geschenkt, denn seine eindrucksvolle Erscheinung, Größe, offensichtliche Höflichkeit, seine langen weißen Haare, der vertrauenerweckende silberne Bart entsprachen auf romantische Weise der Vorstellung, die man sich etwa am Pringle’schen Institut für höhere Töchter jahrelang von König Artus oder zumindest einem seiner bejahrteren Ritter gemacht hatte. Der Aufmerksamkeit der Herren, die notgedrungen irgendwann jener der Damen folgte, war deshalb anfangs ein gewisser Widerwille, ein Misstrauen beigemischt – etwa, als hätte der elegante Fremde allen anwesenden Ehefrauen unaufgefordert die Hand geküsst.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, begann er.
27.
Seit ihrer Gründung hielten sich die Stadt Melbourne und die ganze Provinz Victoria viel darauf zugute, dass sie nie eine Strafkolonie des britischen Mutterlandes gewesen waren wie Perth oder vor allem Sydney. Dieser Umstand machte das hiesige Establishment, machte Farmer, Schafzüchter, Geschäftsleute, Handwerker, Unternehmer – jedenfalls in ihren eigenen Augen – zur Crème de la Crème des gesamten Landes, und die Kampagne »Sauberes Victoria«, gegründet von diesen alteingesessenen Siedlern, hatte sich zum Ziel gesetzt, den entsprechenden Status gegen alle Widerstände beizubehalten oder wiederherzustellen, wo sie ihn bereits für beschädigt hielt. Verächtlich und misstrauisch blickte man vor allem auf die Freigelassenen, die von Sydney hergezogen waren, und strebte ein Zweiklassenwahlrecht, eine Zwei-Klassen-Einwanderungspolitik an: die gebildete Elite der Immigranten für Victoria und Melbourne, Habenichtse und Schmarotzer für den Rest Australiens. Zwar hatte der große Goldrausch von 1852 diese Denkweise vollkommen überrollt und doppelt bis dreimal so viele Leute ins Land gespült, wie vorher da gewesen waren, aber überwunden war diese spezielle Spielart des Kolonialchauvinismus noch lange nicht.
In Jacob Edward Harewood, General einer von ihm selbst gegründeten Bürgerwehr, der seit zwei Jahrzehnten so hartnäckig im Stadtrat saß wie der Holzbock in der dortigen Wandvertäfelung, fanden diese Ressentiments einen würdigen Vorfechter. Er hatte die demagogische Gabe, sie immer wieder neu, aber immer auch so einfach zu formulieren, dass jeder Idiot sich einbilden konnte, genau das doch immer schon gesagt oder wenigstens gedacht zu haben. Wenn Harewood richtig loslegte, bebten die Pfosten der rasch errichteten Fest-und Wahlkampfzelte, in denen sich seine Anhänger schon lange vor dem Auftritt des Hauptredners in Stimmung tranken.
Entsprechender Jubel brandete auf, als der etwa sechzigjährige General sich eine Bahn durch das Zelt brach wie ein preisgekrönter Bulle und die lorbeergeschmückte Rednertribüne betrat. Da die seiner Bürgerwehr angehörenden »Ordner« stets dafür sorgen mussten, dass keine »Störer«, also Vertreter gegensätzlicher politischer Meinungen, die ersten zehn, fünfzehn Reihen unsicher machten, sah der General meist nur bekannte Gesichter vor sich sitzen, denen er die ebenso bekannten Parolen von Ordnung, Anstand, Sauberkeit ins Gedächtnis rief. So war seine gesamte Politik – wie jede Politik – letztlich nur eine Art Theateraufführung: Auf der Bühne steht ein bezahlter Mann, der so tut, als wäre er Hamlet – und vor der Bühne sitzen die zahlenden Zuschauer, die so tun, als würden sie ihm glauben.
General Harewood brauchte eine Weile, um sich warm zu reden, vermittelte dann aber jedem einzelnen seiner Zuhörer das beglückende Gefühl, nur mit ihm und für ihn zu sprechen. Das so überzeugend wirkte, weil der Mann dieser Illusion selbst anhing; er erblickte einen Bekannten und bildete sich einige Sekunden lang ein, nur für dieses eine rote, begeisterte Gesicht zu sprechen. Sein Blick glitt weiter, und der nächste Satz galt ganz dem nächsten roten, begeisterten Gesicht. Von Vorteil war dabei, dass sich die Gesichter seiner Anhänger nicht allzu sehr voneinander unterschieden, und in diesem Sinn kannte er sie alle.
Seine Ordner hatten die ausdrückliche Anweisung, wann immer sich die Gelegenheit böte, junge Damen in den ersten Reihen zu platzieren, damit der Redner etwas habe, an dem er sich aufrichten könne. An diesem Abend fiel ihm eine hübsche junge Person auf, die er noch nie auf einer seiner Versammlungen gesehen hatte, die ihm aber trotzdem bekannt vorkam. Sie saß in der zweiten Reihe, trug ein cremefarbenes Kleid und einen Hut, der in der dritten für Unmut sorgte. Als sie ihn schließlich vom Kopf nahm, kamen üppige blonde Locken zum Vorschein, und Harewood sprach länger als gewöhnlich nur zu dem dazugehörigen hübschen, aber merkwürdig strengen Gesicht.
Woher kannte er sie? Diese Frage irritierte den General. Zwar sprach er frei, aber er hatte seine Argumente schon so oft zum Besten gegeben, dass sie sich gewissermaßen von selbst abspulten, als würde er Luftschlangen in die Menge blasen.
»Was ist mit meinen Kindern?«
Zwischenrufe waren in Harewoods Reden fest eingeplant, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Schlagfertigkeit und Spontaneität unter Beweis zu stellen. Fast immer dienten sie dazu, Gegenargumente lächerlich zu machen, und der General bildete sich tatsächlich eine Menge auf seinen Witz ein, obwohl er natürlich genau wusste, wo die Zwischenrufer platziert waren und wann sie den Mund aufmachen würden.
Gelegentliche Einwürfe Unbekannter pflegte er gern zu ignorieren, meist mit der Miene und dem fatalistischen Seufzen eines Irrenarztes, der beim besten Willen nicht mehr weiß, wie dem armen Irren noch zu helfen ist. Aber jetzt stockte er, denn er glaubte plötzlich zu wissen, woher er die Frau kannte, die nach ihren Kindern gefragt hatte. Der Bruchteil einer Sekunde, in dem er sie fixierte, um diese Erkenntnis zu prüfen, genügte Gowers, der im hinteren Teil des Zelts einen Stehplatz eingenommen hatte, um seine Vermutung bestätigt zu finden.
Ehe er fortfuhr, suchten die Augen des Generals dann einen Mann, der ebenfalls am hinteren Rand der Versammlung Ordnungsaufgaben versah. Auch er, dessen ungepflegtes graues Haar in auffälligem Kontrast zu dem dunklen Anzug stand, den Harewood seinen Angestellten vorschrieb und finanzierte, stutzte und reckte den Hals, um die Zwischenruferin zu identifizieren. Er sah jedoch nur ihren blonden Hinterkopf und verließ daraufhin hastig das Versammlungszelt. Gowers folgte ihm.
»Ihre Kinder, Madame«, hörte er noch, als der General sich gefangen hatte, »und unser aller Kinder sind die Zukunft Victorias! Wir werden alles tun, um diese Zukunft besser, schöner und sicherer zu machen!«
28.
In seinen trüben Stunden – und was konnte trüber sein als eine dreitägige Flaute an Bord eines noch unbeladenen Truppentransporters – sagte sich Gustav Ferdinand von Tempsky selbstquälerisch, dass er auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit ein Dilettant war – mit der einen großen Ausnahme: dem Handwerk des Tötens, das er professionell beherrschte. Das lag weniger an seiner Ausbildung als preußischer Offizier, sondern vor allem an einer echten Begabung für den Kampf Mann gegen Mann, mit Messer und Schwert, der in seinem Jahrhundert leider weitgehend aus der Mode gekommen war. Genau genommen hatte ihn diese archaische Fähigkeit für die zivilisierteren Formen der Kriegsführung sogar disqualifiziert. Nur am Rand der bürgerlichen Gesellschaft, in den Goldgräberlagern oder eben den gelegentlichen Buschkriegen der europäischen Kolonialmächte, konnte derlei Handarbeit einem Mann noch zu Macht oder wenigstens zu Lohn und Brot verhelfen.
Er war ein hoffnungslos verspäteter Ritter, Romantiker, fahrender Sänger, gestrandet eher in der Zeit als im Raum, verschlagen nicht so sehr ans Ende der Welt, sondern ins Zeitalter von Maschine und Industrie. All seine übrigen »Berufe«, journalistisches oder gar literarisches Schreiben, das Zeichnen von Karikaturen, das Aquarellieren, betrachtete er in solchen Momenten als bloße Liebhabereien, die seiner adligen Herkunft geschuldet waren. Leider kollidierte das Wissen um diese Herkunft immer wieder mit einem geradezu bürgerlichen Arbeitsethos, das er sich in seiner Zeit als Kolonist in Mittelamerika angeeignet hatte. Auch dort ging es um profane Handarbeit: Häuser bauen, Brunnen bohren, Felder roden, Möbel tischlern – alles Dinge, die er zwar halbwegs, aber nicht sehr gekonnt beherrschte.
Der Umgang mit Feder und Pinsel fiel ihm dagegen leichter, und die dazugehörigen Künste waren ihm von Kindheit an vertraut. So vertraut allerdings, dass seine diesbezüglichen Kenntnisse seine entsprechenden Fähigkeiten weit überstiegen und ihn – wie gesagt: in seinen trüben Stunden – zu der vernichtenden Einsicht brachten, dass sein Schaffen immer dilettantisch, seine Werke stets epigonal bleiben würden. Er hatte sich auch damit abgefunden und hätte gerne und mit Freuden nur mehr gesungen, »wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet«, wenn die letzten beiden Jahre nicht so hart gewesen wären. Seit seiner Entlassung als Kommandant der gefürchteten Forest Ranger hatte von Tempsky kein festes Einkommen mehr gehabt.
Wieder einmal schien sich zu bestätigen, was sein Schwiegervater, der schottische Handelsagent James Stanley Bell, seiner Tochter Emilia prophezeit hatte, als sie zum ersten Mal davon sprach, die Werbung dieses unruhigen deutschen Abenteurers, der zudem fünf Jahre jünger war als sie, möglicherweise anzunehmen.
»Du wirst weder Dach noch Tisch, weder Bett noch Brot besitzen!« Beim zweiten Anlauf des unpassenden Freiers modifizierte Bell seine Einwände zu einem säuerlichen: »Mit dem wirst du keine ruhige Minute haben«, aber darauf hatte Emilia inzwischen eine passende Antwort parat: »Das will ich doch sehr hoffen, Pa!«
Drei Kinder, zwölf Jahre und siebzehntausend Kilometer lagen zwischen Emilia und dieser hochherzigen Entgegnung, als die Prognose ihres würdigen Erzeugers die kleine Familie wieder einmal einzuholen schien. Von Tempskys finanzielle Lage war zuletzt so verzweifelt, dass er über den Schatten seiner eigenen künstlerischen Einsicht sprang und für Geld malte, jedenfalls, nachdem niemand anderes als Emilia eine glänzende Idee gehabt hatte, wie sich seine mäßigen bis mittelmäßigen Gemälde auch tatsächlich an den Mann bringen ließen.
Neuseeland war kulturell unterentwickelt. Es gab weder einen Kunstmarkt noch Künstler, die ihn belieferten, oder Käufer, die ihn vermissten; sehr schlechte Voraussetzungen also, um von der Kunst zu leben. Die Siedler in den wenigen Städten, die Pioniere auf dem Land hatten noch mehr damit zu tun, stabile Häuser zu errichten, als zu überlegen, was man an ihre Wände hängen könnte. Ihre Kaufkraft war zudem genauso wenig ausgeprägt wie ihr Kunstverstand – aber eine Verlosung der Gemälde musste doch eigentlich die Spielernatur dieses robusten, einfachen Menschenschlags ansprechen, der seinem Glück letztlich um die ganze Welt nachgejagt war.
Wenn nur tausend Kolonisten bereit waren, je einen Dollar darauf zu setzen, eines der rund vier Dutzend Gemälde zu gewinnen, die von Tempsky zu diesem Zweck in rascher Folge anfertigte, war seine Familie wieder für ein Jahr in der kleinen Hütte auf der Coromandel Range geborgen. Die notwendige Berühmtheit hoffte er durch seine Kriegstaten erlangt zu haben, Ausstellungen in Auckland und Wellington würden auch die Bilder bekannt machen, und kein Geringerer als Gouverneur Grey war bereit, die Schirmherrschaft über eine solche Verlosung zu übernehmen. Das wiederum lag am Sujet seiner Gemälde.
Er hatte keine mythologischen Helden aufs Papier geworfen, nicht die großen historischen Gestalten Englands und ihre Taten, keine Heiligenlegenden, fleischigen Damen, mittelenglischen Parklandschaften, keine Rennpferde in gestrecktem Galopp, sondern Szenen aus den eben vergangenen Waikato-Kriegen. Daran war vieles idealisiert, vor allem der Heroismus, mit dem die weißen Soldaten die wild tätowierten, augenrollenden Maorikrieger abschlachteten, aber mit derlei »Vereinfachungen« konnte von Tempsky leben. Er wusste, was er seinem Publikum schuldig war.
Was ihn wirklich belastete, war die Tatsache, dass er in den Gemäldegalerien des alten Europa die Werke der wahren Meister gesehen hatte – und das zwangsläufig daraus resultierende Wissen, dass er dagegen immer nur ein Pinselquäler sein würde. Das änderten auch die freundlichen Kritiken nicht, die seine Bilder in der neuseeländischen Presse fanden. Der New Zealand Herald, die Weekly News, der Wellington Independent – er hatte die Ausschnitte noch bei sich und las sie gelegentlich, aber eher, um sich von ihnen belustigen als überzeugen zu lassen. Sorgfalt im Detail und kraftvolle, kühne Farbgebung wurden ihm attestiert, eine gelungene Anordnung der Figuren, ihr lebendiger Ausdruck, die vielen verschiedenen Haltungen, umrahmt vom wundervoll erfassten Blattwerk der neuseeländischen Fauna, lobend hervorgehoben.
All das konnte gerade ein intelligenter und darum zynischer Dilettant, der sich seiner technischen Unzulänglichkeiten wohl bewusst war, auch ironisch auffassen. Dazu kam die uneingestandene, aus den finsteren Tiefen eines preußischen Selbstverständnisses aufsteigende Überzeugung, dass Kunst und Literatur – selbst wenn ein Rembrandt oder Goethe sie betrieben – wie allen Tätigkeiten, die nicht wenigstens mittelbar der Nahrungsbeschaffung, der Aufzucht der Nachkommenschaft oder dem Dienst am Staatswesen galten, etwas Unseriöses anhaftete.
An diesem tiefsten Punkt seiner Depression angelangt, pflegte von Tempsky sich zu schütteln. Herrgott, es tat doch gut, wieder Soldat zu sein, Kämpfer, Krieger, und sich damit und dabei über alle bürgerlichen Tugenden zu erheben. Mit unverhohlenem Stolz notierte er in sein Tagebuch: »In neuen Ländern, noch unter dem Joch der Barbarei, gibt es keinen mächtigeren Zivilisator als den Krieg. Alle Hindernisse der Zivilisation verschwinden vor ihm.« Die Doppeldeutigkeit des letzten Satzes entging ihm, denn dass auch alle Errungenschaften der Zivilisation, all das bürgerliche Werkeltagsbemühen um Wirtschaft, Kultur und Religion vor dem Krieg verblassten, dachte er nicht einmal.
Er freute sich, dass es nun endlich wieder hinausging, und eine lächerliche Flaute, der fehlende Wind in seinen Segeln, würde ihn nicht lange aufhalten können.
29.
William Blampin hatte sein Glück kaum fassen können, als man ihn aus einer Gemeinschaftszelle des Schuldgefängnisses von Sydney herausholte. Er hatte auch keine Vorstellung davon, wer für ihn die exorbitante Summe von vier Pfund gezahlt hatte, denn er kannte keine einflussreichen Leute, und seine Freunde waren wie er: entlassene Sträflinge, Trinker, Spieler, Tagelöhner und vor allem – arm. Zwei schwarz gekleidete junge Männer hatten ihn zuallererst in ein Badehaus geführt, ihm dann etwas zu trinken spendiert und ein üppiges Mittagessen bezahlt, das ihm nur deshalb nicht recht schmeckte, weil sie dabei zusahen und die ganze Zeit über kaum ein Wort sprachen. Anschließend hatte man ihn in eine Postkutsche verfrachtet und fünfhundert Meilen weit und eine Woche lang nach Melbourne gefahren, was seine äußere Erscheinung erneut ziemlich ruinierte.
Wieder hatte man ihn abgeholt, wieder hatte er baden müssen – nun schon zum dritten Mal in diesem Jahr –, aber dann war er endlich dem großen Mann begegnet, Jacob Edward Harewood, der nach all den Jahren der Entbehrungen und Erniedrigungen offenbar seinen, William Blampins, Wert erkannt hatte und für sich einzusetzen hoffte. Blampin wünschte von ganzem Herzen, seinen Wohltäter nicht zu enttäuschen, und als er hörte, dass es um den alten Bobby Maguire ging, mit dem er zusammen auf dem Holzplatz gearbeitet hatte, glaubte er, dass alles ganz einfach gehen würde. Aber Maguire hatte ihn aus dem Haus geworfen; sein Auftraggeber, der General, wirkte enttäuscht und fragte sich anscheinend, ob seine vier Pfund und all das übrige Groß und Klein nicht eine Fehlinvestition waren.
In diesen dunklen Stunden hatte William Blampin den Plan ausgeheckt, wie man den alten Bobby doch noch drankriegen konnte. Er war kein Verbrecher, aber was blieb ihm angesichts der Hartnäckigkeit, mit der der Reeder an seiner Kandidatur festhielt, denn anderes übrig? Den General, diesen honorigen Mann, setzte er nur vage von seinen Plänen in Kenntnis, bat ihn lediglich um eine weitere Vorfinanzierung, »um die Sache zu einem erfolgreichen Ende zu bringen« – an dieser Formulierung hatte er lange gefeilt, und er war stolz auf sie. Er klang allmählich wie ein erfahrener alter Geschäftsmann, und der General hatte ihm das Geld tatsächlich gegeben, ohne zu wissen, was er dafür bekommen würde.
Ein Problem war die Durchführung. Blampin kannte sich in Melbourne nicht so gut aus wie in Sydney, kannte die richtigen Leute nicht und wandte sich prompt an die falschen; Polizeispitzel, die ihm jedoch, für eine gewisse Summe, die geeigneten Handlanger vermittelten.
Nell Fagan war die Anführerin einer erstaunlich großen Gruppe von Dieben und Schlägern, zu der neben ihrem jüngeren Bruder James noch ein gutes Dutzend anderer irgendwie Verwandter, Cousins, Cousinen und ein entfernter Onkel gehörten. Sie alle waren sehr jung, jünger als Nell, selbst der Onkel war noch nicht dreißig, und sie sicherte sich die Führung, indem sie die einen schlug, mit den anderen schlief und vor allem immer wieder erfolgreiche Beutezüge in die City organisierte. Die lukrativsten dieser Unternehmungen verdankte sie wiederum den Informationen der Victorian Police – und auf diese Weise lernte sie auch William Blampin und sein Anliegen kennen.
Sie einigten sich darauf, dass Nell für eine gewisse Summe die Kinder der Maguires aus dem Verkehr ziehen würde, bis Blampin sein Ziel, das er gegenüber dem jungen weiblichen Räuberhauptmann nie näher definierte, erreicht hätte. Danach könnte Nell dann auf eigene Rechnung ein Lösegeld in beliebiger Höhe fordern. Den Kindern selbst dürfe kein Leid geschehen.
Es war ein durchdachter Plan, aber leider hatten weder Nell noch ihre Bande sonderlich viel Erfahrung auf diesem Gebiet. So fiel ihnen kein besseres Versteck ein als ihre eigene, ohnehin schon zu enge Wohnhöhle im verwilderten Norden, und die ständige Bewachung und Versorgung der kleinen Gefangenen ging ihnen sehr bald auf die Nerven. Das alles war unbequem, brachte Nell aber auf die gute Idee, mehrmals Nachforderungen an ihren Auftraggeber zu stellen, ja gewissermaßen ihn zu erpressen.
Schließlich verlangte sie eine tägliche Zahlung, und Blampin, dem die Mittel fehlten, sah sich gezwungen, den General über die Sachlage zu informieren. Der tobte zuerst, ließ sich dann aber auf das Spiel ein – um die Kinder womöglich zu einem geeigneten Zeitpunkt von seiner Bürgermiliz befreien zu lassen. Das würde nicht nur seinen Ruf als Ordnungspolitiker festigen, sondern auch außerordentlich generös wirken.
Maguire konnte dann tun, was er wollte; sich still und leise aus der Politik zurückziehen oder aber die Entführung öffentlich machen und die Wahl gegen den Befreier seiner Kinder verlieren. Glücklicherweise tat er zunächst einmal gar nichts – außer zur Polizei zu gehen, die Harewood über alle Schritte seines Gegners auf dem Laufenden halten würde.
Von einer derartigen Verflechtung persönlicher und politischer Absichten ahnte John Gowers nur wenig, als er an diesem Abend mit Sarahs Hilfe seine Nadel in das Wespennest stieß. Und keiner der Beteiligten würde nun noch bekommen, was er wollte.
30.
Nell Fagan wartete an diesem Abend in Hays Tavern, dem letzten Hort rudimentärer Zivilisation vor der Wildnis der ehemaligen Goldfelder, auf nicht mehr als die tägliche Zahlung. Sie hatte sich erschreckend schnell an die Macht gewöhnt, die sie in den Händen hielt, und sie sowohl die Kinder als auch ihren Auftraggeber Blampin bereits mehrmals fühlen lassen. Es war ihre Idee gewesen, Mairie Maguire das lange Haar abzuschneiden, und sie hatte die Angst genossen, die das zitternde reiche Mädchen unter ihrer Schere empfand.
Auch die Schmerzen und die Scham des kleinen Jonathan taten ihr wohl; ihr Bruder Jamie hatte ihm einige Zehen gebrochen, als der Junge seine Fluchtversuche auch unter Schlägen nicht aufgab. Um ihn nicht mehrmals täglich auf den Topf setzen zu müssen, hatten sie ihm schließlich einfach die Hosen ausgezogen, und so lag der feine Bürgerknabe einen ganzen Tag lang halb nackt, frierend und weinend im eigenen Dreck. Mairie hatte dann die Erlaubnis erbettelt, sich um ihren Bruder kümmern und ihn unter ihre schäbige Decke nehmen zu dürfen, indem sie mit ihrer glockenhellen Stimme für die ganze grölende Bande Kinder-und andere Lieder sang. Wenn es nach Nell ging, konnte diese Entführung noch wochenlang dauern.
Entsprechend ungehalten war sie, als Blampin ihr sagte, dass die Sache zu einem schnellen Ende gebracht werden müsse. Es habe den Schatten einer Verdächtigung gegeben, die Kinder müssten so rasch wie möglich freigelassen werden. Sofort entstand in Nells geschäftstüchtigem Kopf der Gedanke an eine Art amerikanische Versteigerung: Sie nannte Blampin eine Summe, über die der unmöglich allein entscheiden konnte, und beschloss, von den Maguires noch eine entsprechend höhere Forderung einzutreiben.
Gowers, der die jämmerlich übervölkerte kleine Spelunke am äußersten Rand der bewohnbaren Viertel von Melbourne etwa eine Minute vor William Blampin betreten hatte, als er erkannt hatte, welches Ziel dieser ansteuerte, sah nur, dass der Mann, den er bis hierher verfolgt hatte, in ungeheure Aufregung geriet. Blampin verlor derart die Fassung, dass ihm sogar der Satz »Ich werde die Polizei einschalten!« erstaunlich laut entfuhr. Oder besser: Das Wort »Polizei« brachte das geradezu babylonische Gesprächswirrwarr in der Verbrecherkneipe mit einem Schlag zum Verstummen.
Es gibt Gasträumlichkeiten, in denen man das Wort »Polizei« bedenkenlos aussprechen kann, und es gibt solche, in denen man seine Verwendung eher meiden sollte. William Blampin merkte nun deutlich, dass Hays Tavern ein Lokal der zweiten Kategorie war. Er konnte von Glück sagen, dass die geistesgegenwärtige Nell in Gelächter ausbrach, denn seine Entgleisung als gelungenen Scherz darzustellen war unter diesen Umständen das Einzige, was sein Leben möglicherweise retten würde. Dennoch blieb die Atmosphäre gespannt und unangenehm leise, als er sich nur Sekunden später erhob, seinen Sinneswandel durch die hier nicht unbekannte Abschiedsformel »Ich werde das Geld beschaffen!« kundtat und nach draußen wollte.
Man verstellte ihm den Weg, ein Mann nahm ihm den Hut vom Kopf: »Den brauchst du dazu ja nicht.« Ein zweiter meinte offenbar, dass auch Blampins Jacke nicht vonnöten sei, um das Geld beizubringen, äußerte das aber nicht, sondern zog sie ihm ganz einfach aus. Ein dritter fand Gefallen an seinen Stiefeln. Die Hosen anzubehalten war das Einzige, dessen er sich rühmen konnte, und auch das lag vorwiegend an der erstaunlichen Geschwindigkeit, mit der er jetzt den Ort der Handlung verließ. Nell lachte immer noch.
»Geht der wirklich zur Schmiere?«, wurde sie in unterschiedlichen Formulierungen gefragt.
»Der wird sich hüten«, antwortete sie ernst und bestellte sich ein weiteres Glas Gin, um ihre Aussage durch Ruhe und Gelassenheit zu untermauern.
Es fiel dem Investigator schwer, Blampin unbeaufsichtigt ziehen zu lassen und seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die unbekannte junge Frau zu richten, die den Mann so sehr in Rage gebracht hatte. Vor allem seine anfänglichen Überlegungen über das Geschlecht des Entführers gaben ihm jedoch die Sicherheit und die Geduld, bis kurz vor Mitternacht darauf zu warten, dass Nell Fagan das Lokal verließ.
Obwohl sie betrunkener war, als er glaubte, blieb sie auf ihrem Weg in die Tiefen der Geisterstadt immer wieder stehen und drehte sich um, um zu sehen, ob jemand ihr nachkam. Glücklicherweise hatte sie aber nicht Gowers’ Augen, der sie nun am äußersten Rand seiner Nachtsichtigkeit verfolgte. Nach fast einstündigem Fußmarsch durch die Weiten des großen Labyrinths blieb sie dann plötzlich verschwunden, und der Investigator wusste, dass sie unter die Erde gegangen und das Versteck nahe war.
So vorsichtig wie möglich schlich er bis zu dem Punkt, an dem er sie zuletzt gesehen hatte, und schloss dort die Augen, um zu hören und zu riechen. Aber er stand noch keine fünf Minuten so da, als eine helle, zitternde Mädchenstimme »Come all ye gallant poachers« anstimmte. Er ging der Stimme nach, bis er zwischen zwei Schuttkegeln eine dunkle Öffnung in der Erde sah, deren Ränder seltsam flackerten. Das musste eine Art Vorhang sein. Gowers überlegte, wie viele Gegner ihn dahinter maximal erwarten konnten, zog dabei aber bereits seine Jacke aus und streifte im Gehen den eisernen Totschläger über.
31.
»Es gehört zu den Errungenschaften unserer großen Nation«, sagte der weißhaarige Redner mit einer pathetischen Geste, »dass ein Mann in einer Versammlung von Menschen, die sich einstimmig und leidenschaftlich für eine bestimmte Meinung aussprechen, dass ein einzelner Mann inmitten dieser Versammlung Gleichgesinnter aufstehen und sagen kann: Ich bin anderer Ansicht! Die Kaiser und Könige im alten Europa, die Päpste und ihre Inquisition würden einen solchen Mann hängen, und auch wir Amerikaner, geben wir’s nur zu, sind zumindest verärgert über den Mann!«
Vereinzelt lockerte erleichtertes Gelächter über diesen ersten Scherz des Abends die allzu ernste Stimmung in der Versammlung der Literarischen Gesellschaft von St. Louis auf.
»Aber dann«, fuhr der Redner fort, »erinnern wir uns zweifellos daran, dass das Recht dieses einzelnen dummen Mannes, anderer Ansicht zu sein, eines der wichtigsten Rechte ist, für die unsere Väter und Großväter einst gekämpft und geblutet haben, und wir werden ihn ruhigen Herzens anhören, selbst wenn er Unsinn redet.«
Auch die eifrigsten Abolitionisten schmunzelten leise und gefielen sich jetzt nicht mehr nur in ihrer Gerechtigkeit, sondern auch in ihrer Toleranz. Ihre Selbstgefälligkeit erhielt jedoch einen schweren Dämpfer, als der Redner mit ausgesuchter Höflichkeit hinzufügte: »Dieser Mann, meine sehr verehrten Damen und Herren, bin heute Abend ich.«
Es dauerte eine Weile, bis sie verstanden, was er damit gesagt und dass er ihre Wachsamkeit mit seinen schönen Worten nur eingelullt hatte. Zumindest das Ziel, nicht einfach niedergeschrien zu werden, hatte er allerdings erreicht und konnte mit großer Ruhe und Verbindlichkeit fortfahren.
»Mein Name ist Lemuel Willard. Doktor Lemuel Willard, um genau zu sein, denn ich bin Doktor der Medizin und Ältester der ersten presbyterianischen Kirche von Baton Rouge. Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet.« – Vereinzelte Laute der Enttäuschung bei den Damen. – »Meine Ehe wurde mit drei Töchtern und zwei Söhnen gesegnet. Ich besitze eine Baumwollplantage bei Indian Mound, zu der gegenwärtig hundertsiebenundachtzig Negersklaven gehören, darunter fünf schwangere Frauen – meines Wissens –, sodass sich mein Besitz an Sklaven in den nächsten Monaten noch vergrößern wird.«
Ein deutliches Murren der Versammlung war die Antwort auf diese zuletzt leicht ironische Vorstellung, aber der geübte Rhetoriker schien seine Ironie jetzt sofort auf sich selbst anzuwenden, indem er sich langsam einmal um die eigene Achse drehte und dabei sagte: »Ich bin heute Abend nicht hier, um Ihnen zu zeigen, wie ein Sklaven haltender Unmensch aussieht – wenngleich ich Sie bitten möchte, mich aufmerksam zu betrachten und mir alle Züge von Barbarei mitzuteilen, die Sie an mir feststellen können. Ich bin vielmehr in der aufrichtigen Absicht gekommen, mich zu Ihren Ansichten bekehren zu lassen – falls sich herausstellen sollte, dass Ihre Argumente besser sind als meine. Aber selbst wenn das nicht geschieht, beabsichtige ich keineswegs, Ihnen zu sagen, was und wie Sie denken sollen. Ich möchte lediglich das Recht in Anspruch nehmen, Ihnen zu sagen, was und wie ich denke.«
Dieses Recht konnte man ihm nach so vielen wohlgesetzten, vernünftigen Worten natürlich kaum noch streitig machen, obwohl die hellsichtigeren Sklavereigegner mit Sorge sahen, dass sich da etwas zusammenbraute, was ihnen den bislang so gelungenen Abend verderben konnte.
»Lassen Sie mich noch hinzufügen«, sagte Willard, wobei er diese Sorge mit aufrichtigen Zeichen der Devotion beschwichtigte, »dass ich, ganz gleich, wohin meine Worte mich tragen sollten, von der Aufrichtigkeit Ihrer Ansichten und Absichten überzeugt bin. Obgleich eine allgemeine Sklavenbefreiung mich wirtschaftlich ruinieren würde, halte ich Sie also nicht«, und er akzentuierte dieses Wort als besonders bedeutsam, »für Räuber oder Diebe, so wie viele meiner heißblütigeren Landsleute im Süden, sondern ich glaube, dass Sie der ernsten und deshalb ernst zu nehmenden Überzeugung sind, das Richtige zu tun.
Aber was tun Sie eigentlich? Oder besser: Was wollen Sie tun? Sie wollen die Sklaverei beenden, die Neger befreien, gut. Aber was dann? Wie weiter?
Die Neger nach Afrika zurückzuschaffen war offen gestanden der einzige wirkliche Vorschlag, den ich heute Abend gehört habe. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin niemand, der seinen Mitmenschen leichtfertig vorwirft, Unsinn zu reden. Aber ich bitte jeden, der die Negerfrage auf diese Weise zu lösen hofft, folgende Fakten in seine Überlegungen aufzunehmen.«
Die versammelten Gemüter, die bei den Worten »Räuber«, »Diebe« und »Unsinn« in anschwellendem Gemurmel hochgegangen waren, beruhigten sich erst mit der Vokabel »Fakten« wieder ein wenig. Willard gab sich nun die Miene eines loyalen Buchhalters, der die visionären Ziele eines Vorstandsvorsitzenden in harte, nüchterne Kleinarbeit umsetzen muss.
»Es gibt in diesem Land nach den neuesten und zuverlässigsten Schätzungen dreieinhalb Millionen Negersklaven. Wenn wir diese Neger unter halbwegs erträglichen Bedingungen nach Afrika transportieren wollen, benötigen wir etwa dreißigtausend Schiffe. Alle zivilisierten Nationen der Erde zusammengenommen verfügen kaum über eine solche Flotte. Selbst die spanische Armada bestand nur aus etwa fünfhundert Schiffen – aber die spanische Armada ist bekanntlich vor zweieinhalb Jahrhunderten untergegangen.« Mit geschickten Handbewegungen dämpfte der Redner das höhnische Gelächter, das in den eleganten Reihen der Sklavereibefürworter aufkommen wollte.
»Nehmen wir trotzdem an, wir hätten die spanische Armada: Dann müssten fünfhundert Schiffe sechzig Mal den Atlantischen Ozean überqueren, hin und zurück, eine Reise, die auch unter den besten Bedingungen etwa sechs Monate dauert. Wenn ich noch richtig rechnen kann, hätten wir also die Negerfrage auf diese Weise im Jahre 1887 glücklich gelöst – vorausgesetzt, dass wir die Neger in diesen dreißig Jahren daran hindern, sich zu vermehren, und weiter vorausgesetzt, dass wir jede andere Tätigkeit, für die wir unsere Schiffe brauchen, den Überseehandel, den Personentransport, den Walfang, eine Generation hindurch vollständig einstellen.«
Während sich das Gelächter der Südstaatler nun nicht mehr zurückdrängen ließ, bemächtigten sich Wut und Ratlosigkeit der übrigen Versammlung. Wut, weil Lemuel Willard sie wie Idioten aussehen ließ, Ratlosigkeit, weil niemand irgendeine Zahl oder ein Argument parat hatte, das seinen kühl kalkulierten Äußerungen ernsthaft entgegengestellt werden konnte. Und wiederum und verstärkt – Wut, weil auch in den verbohrtesten Köpfen der Verdacht aufkeimte, an diesen Ausführungen sei manches Wahre.
Willard schien diese Gefühle seiner Zuhörer auf eine gespenstische Weise sehr genau zu kennen und steckte diplomatisch zurück: »Ich erzähle Ihnen das alles nicht, weil ich Sie verhöhnen will. Die Idee, die Neger nach Afrika zurückzubringen, ist durchaus ehrenwert – aber sie ist schlicht und einfach nicht durchführbar. Was bedeutet das?
Nun, es bedeutet vor allem, dass die Neger in Amerika bleiben werden. Aber als was? Sie wollen nicht, dass diese Neger Sklaven sind, gut. Aber was sollen sie dann sein? Ihre Nachbarn? Ihre Mitbürger? Sollen sie das Wahlrecht bekommen? Sollen sie die gleichen Schulen besuchen wie Ihre Kinder? Aus der gleichen Schüssel essen? Soll kein Unterschied mehr sein zwischen Schwarz und Weiß?
Dann, meine Damen und Herren, wird der Tag kommen, an dem ein Negerjunge in Ihrem Wohnzimmer sitzt und Sie um die Hand Ihrer Tochter bittet. Weißer Mann, wird er sagen, du hast mich Bruder genannt und mir die Freiheit gegeben. Du hast mich lesen und schreiben gelehrt, mir den Weg zu Gott gewiesen, mich zu einem ehrlichen Handwerker, Krämer oder Farmer gemacht – mit welchem Recht willst du mir jetzt deine Tochter verweigern? Und warum? Kleine braune Babys werden auf deinem Schoß sitzen, schwarze Hände werden dir den Todesschweiß von der Stirn wischen, dunkle Augen an deinem Grab weinen. Und dann werden meine schwarzen Kinder in deinem weißen Haus wohnen, in deinen weißen Betten schlafen, von deinen weißen Tellern essen!«
Erhebliche Unruhe bemächtigte sich der Versammlung während dieser letzten Ausführungen, und endlich fanden einige führende Abolitionisten die willkommene Gelegenheit zu Zwischenrufen.
»Unsinn!«, riefen sie und: »Separation!«
Insgeheim spürten sie, dass Lemuel Willard ihnen gerade eine der wichtigsten Waffen des Fanatismus aus den Händen wand und gegen sie in Stellung brachte: die Angst!
Wenn Fanatiker Ängste schüren, tun sie das lauthals, peitschen sich und ihre Zuhörerschaft hoch, und das Ergebnis ist eine lärmende, primitive Angst, die Angst des Mobs, die rasch zuschlägt und sich ebenso rasch zerstreut. Wenn aber ein offensichtlich vernünftiger, klug argumentierender Mann die Alpträume seiner Zeit beschwört, schleicht sich die Angst leise, lähmend ins labile Haus des bewussten Denkens und verlangt dort ein bleibendes Wohnrecht.
32.
Vier der Anwesenden waren während all dieser Vorkommnisse und Debatten noch ganz anders, nämlich miteinander beschäftigt – wenn es auch nicht alle von ihnen wussten. Dorothy Simpson, älteste und daher am längsten unverheiratete Tochter des literarisch nur mäßig, aber gesellschaftlich umso stärker interessierten Anwalts, warf immer wieder verstohlene Blicke auf den jungen John Gowers, der in seiner fadenscheinigen Lotsenkleidung ohnehin nicht in diese Versammlung passte, ehe er sich eben mit dem Wort »Ablass« endgültig zu ihrem Paria gemacht hatte.
Unter dem höchsten Siegel der Verschwiegenheit hatte die stark romantisch veranlagte, stark auf die dreißig zugehende junge Dame ihren besten Freundinnen bereits gestanden, dass ein Einverständnis bestehe; aber zu mehr als ein paar – allerdings sehr aufregenden – Küssen in der Dämmerung eines kleinen Parks hinter der Bibliothek hatte dieses Einverständnis noch nicht geführt. Zwar wusste sie, in welchem der schäbigeren Hotels von St. Louis John Gowers abstieg, wenn er in der Stadt war, denn sie war ihm, ganz zu Anfang ihres Interesses, heimlich einmal nachgegangen, hatte seine Einladungen, ihn dort zu besuchen, aber selbstverständlich jedes Mal abgelehnt.
Erst würde er sich erklären müssen, einen Plan ausarbeiten, mit dem man das skandalöse Verhältnis ihren Eltern zumindest nahebringen könnte, und natürlich seinen Beruf als Lotse aufgeben. Dann noch ein, zwei Jahre als seriöser möblierter Herr in einer gut geführten Pension, vielleicht eine Bürotätigkeit in einer Reederei, ein paar Anzüge, Schuhe, ein vernünftiger Haarschnitt natürlich – und niemand würde mehr auf die Idee kommen, Dorothy eine alte Jungfer zu nennen. Sie errötete heftig, als ihr sechs Jahre jüngerer Freund sich in die komplizierten Vorgänge des Abends einmischte, und ihr Herz schlug wild, entsetzt, erfreut über seine Kühnheit, fast wie ein blinder Passagier in ihrer Brust. Was für ein unmöglicher, aufregender Mann!
John Gowers wusste wenig von diesen Gefühlswallungen; hatte beiläufig registriert, dass Dorothy da war, sich an ihre weichen Lippen, ihre schüchterne Zunge, den angenehmen Geschmack in ihrem Mund erinnert und sich dann wieder auf den sozialen Sturm konzentriert, der ihm nach seiner Äußerung ins Gesicht pfiff. Er lächelte, während sein Blick wach über die entrüsteten Mienen seiner vielen Gegner glitt – und blieb dann hängen an den alten Augen eines Mannes, der in der Tür stand und sein Lächeln erwiderte, ihm sogar leicht zunickte. Er hatte den Mann schon einmal gesehen und durchforstete den enormen Schatz seiner Gedächtnisbilder nach diesem Gesicht. Sheperd! Er hatte diesen Mann einmal im Gespräch mit Mrs. Sheperd gesehen und wusste sofort wieder, dass der ihm auch damals zugenickt hatte, während die zweite Vorsitzende der Literarischen Gesellschaft wie ertappt den Blick senkte. Hatten sie über ihn geredet?
Der Schießpulverfabrikant John Lafflin musterte den jungen Lotsen sehr genau, und was er sah, gefiel ihm. Seine kecke Bemerkung ließ ihn sogar ein wenig schmunzeln. Er war nun fast völlig sicher, seinen Mann gefunden zu haben, und bemerkte nicht, dass er selbst beobachtet wurde.
Es war der unauffällige kleine Nordstaatler am Rande der Willard-Gruppe, dem von Anfang an keine Regung unter den Anwesenden entgangen war. Zwar bemühte er sich, jede Emotion auszuschließen, die sich zwischen seine Wahrnehmung und seinen analytischen Verstand schieben wollte, aber er konnte manchmal nicht anders, als sich an Doktor Willards Vorstellung zu ergötzen.
Er war ihm unter regem Gelächter als mittelmäßiger Arzt, aber begnadeter Redner vorgestellt worden, den man zu Propagandazwecken auch schon in die Territorien Kansas und Nebraska geschickt hatte – wo nach Ansicht der Großgrundbesitzer die Sklavenfrage entschieden würde. Beale hatte den Doktor zunächst für einen Idioten gehalten, der arrogant genug war, vorher anzukündigen, was er wann, wie und warum sagen und wie das Publikum reagieren würde. Nun lief der Mann mit der Präzision eines Uhrwerks ab, und während nacheinander jeder Punkt seiner Vorhersage eintraf, verwandelte sich Gabriel Beales Skepsis in ehrlichen Respekt. Seine Anerkennung galt einfach einem Meister seines Fachs, und das umso aufrichtiger, als er selbst ein Meister seines Fachs war.
Keiner der entrüsteten Sklavereigegner würde seinen Auftraggebern ernsthaft gefährlich werden, nur in der Masse stellten sie eine gewisse Bedrohung dar, so wie jede Menschenmasse eine Gefahr ist, wenn sie wörtlich oder sprichwörtlich in Bewegung gerät. Diese Dinge ließen sich kalkulieren. Aber in keinem der bärtigen, blassen, erregten Gesichter fand er auch nur die Spur eines Geheimnisses, einer Verschwörung – und einer Verschwörung war Gabriel Beale auf der Spur. Nur aus diesem Grund waren die meisten seiner Klienten persönlich anwesend, nur aus diesem Grund hatten sie Willard geschickt. Beale wusste, dass die Drahtzieher der Verschwörung aus St. Louis kamen, aber er kannte keine Namen und kein Gesicht, bis er den alten Mann sah.
Er hätte nicht sagen können, was John Lafflin verdächtig machte, vielleicht ein Blick, eine Haltung, die reservierte Aufmerksamkeit, mit der er das Geschehen verfolgte. Dennoch spürte Beale deutlich, dass dieser Mann etwas verbarg, fühlte es irgendwo in seinem Bauch, seiner Brust: ein Gefühl, das nicht immer zu etwas führte, aber ihn noch nie getrogen hatte. Herauszufinden, wer und was der Mann war, würde Routine sein. Gabriel Beale war Privatdetektiv.
33.
Inseln waren von jeher beliebte Schauplätze der Weltliteratur. Ihre geografische Ambivalenz, also ihre Überschaubarkeit einerseits und ihre Abgeschiedenheit andererseits, machte sie zur idealen Projektionsfläche für Träume, Sehnsüchte, Abenteuer, Gedankenexperimente und – spätestens seit Robinson Crusoe – der bürgerlichen Angstlust.
Zunächst nur auf Seemannsgarn und Schiffermärchen zurückgehende exotische Bühnen, auf denen die Naturgesetze aufgehoben waren und die von entsprechend seltsamen Wesen, Feen, Zyklopen, Baumfrauen, Sirenen bewohnt wurden, mit denen sich Lukian und Shakespeare, Sindbad und Odysseus herumschlagen mussten, machten kulturmüde Theoretiker, Philosophen, die Insel zum sprichwörtlichen Utopia, zum Nicht-Ort. Atlantis, Kythera, Avalon, Taprobana, die Insel der Seligen – überall, wo man nicht war und nicht hinkonnte, war das Leben besser, schöner, gerechter und, spätestens seit Bougainvilles Reisebericht über die Südseeinseln, auch sexuell freudvoller.
Daniel Defoe kommt das Verdienst zu, die Insel zumindest literarisch zum Exerzierplatz zivilisatorischer Tugenden und Gegenstand ihrer Bewährung gemacht zu haben. Schon sechs Generationen kleiner Jungen waren – Rousseau sei Dank – mit Robinsons Insel im Kopf zu selbstbewussten Bürgern und tüchtigen Kolonialisten herangewachsen.
Dass die Insel auch ein hervorragendes Gefängnis war, wusste schon Sophokles und mussten die Ausgesetzten des 17. und 18. sowie die Aussätzigen des gepriesenen 19. Jahrhunderts bitter erfahren. Lemnos und Salas y Gomez, die Teufelsinsel in Französisch-Guayana und schließlich – düsterste von allen – Molokai, das Lepragefängnis im hawaiianischen Archipel, waren die Gegenbilder zum himmelblauen Tahiti und zu der Sonneninsel des Diodor.
Ganz neu war die Idee, Meuterer, Rebellen, Verbrecher und sonst wie gesellschaftlich missliebige Existenzen auf einsame Inseln zu verbannen, also nicht, als die neuseeländische Regierung in Wellington beschloss, die unruhigsten und gefährlichsten ihrer Maorigegner nach Chatham Island, fünfhundert Meilen südwestlich und abgelegen im endlosen Südpazifik, zu schicken. Man hatte das sogar schon einmal gemacht: In einer der seltsamsten Allianzen der Kolonialgeschichte hatten britische Schiffe im Jahr 1835 eine Armee von Maorikriegern auf die Chatham-Inseln gebracht, um sie zu unterwerfen und die Aggressivität des kriegerischen Volkes von den Pakeha abzulenken.
Die Moriori von Chatham hatten keine Chance gegen ihre mit Musketen und Keulen bewaffneten Vettern, denn im Gegensatz zu den Maori waren sie ein friedliches Volk. Auseinandersetzungen wurden, wenn sie nicht geschlichtet werden konnten, durch Zweikämpfe entschieden, und selbst diese Zweikämpfe wurden abgebrochen, sobald Blut floss. Blut floss nun in Strömen. Zwei Drittel der Ureinwohner wurden abgeschlachtet, der Rest mit rigideren Methoden versklavt, als die Weißen sie sich je ausgedacht hatten: Die überlebenden Frauen der Moriori durften nicht länger mit den Männern ihres Volkes schlafen, sondern mussten den neuen Herren zu Willen sein, und dreißig Jahre später gab es nur noch entsprechend wenige reinblütige Moriori.
Dreißig Jahre später brachten die Schiffe der Pakeha also erneut Maorikrieger nach Chatham, aber diesmal trugen sie keine Waffen, sondern Ketten, und ihre Frauen und Kinder teilten ihr Exil. Es waren Deportierte, Gefangene, die die Weißen in den Hauhau-Aufständen von 1865 gemacht hatten, oder einfach Männer, die sie für Hauhau hielten. Selten hatte eine Widerstandsbewegung die Kolonialherren so in Panik versetzt wie die Pai-Marire-Religion und ihre extremsten Anhänger, die Hauhau. Sie hielten sich für die neuen, von Gott auserwählten Kinder Israels, und Aotearoa war in ihren Augen das neue Kanaan. Die wildesten ihrer Propheten predigten den Hauhau, es sei die ihnen von Jehova gestellte Aufgabe, die Weißen zurück ins Meer zu werfen. Zumindest diese Forderung war für die Briten nichts wirklich Neues: Kanada, Afrika, Indien, irgendwer wollte sie ja immer zurück ins Meer werfen – das war nun einmal das Schicksal einer Kolonialmacht.
Was die Hauhau für eine zivilisierte Nation wie die englische so unangenehm machte, war nicht so sehr ihr Fanatismus, sondern die Art und Weise, in der sie ihn anwandten. Die von ihnen überfallenen Siedler, Missionare, Soldaten wurden nicht einfach nur getötet, sie wurden auch enthauptet, die Köpfe in Rauch getrocknet und als Grußbotschaften zwischen den einzelnen Stämmen kreuz und quer über die gesamte Nordinsel verschickt. Zwar geschah das relativ selten, aber die öffentliche Wirkung war enorm demoralisierend. Leute, die Derartiges taten, wollten die Briten weder als Nachbarn noch auch nur als Untertanen haben; den Hauhau ihr Land wegzunehmen war deshalb zu wenig. Diejenigen, die man nicht tötete, sollten dauerhaft aus Neuseeland entfernt werden.
Te Kooti Arikirangi Te Turuki war etwa Mitte dreißig, als er 1866 ohne Prozess oder auch nur eine offizielle Anklage als Rebell auf die Chatham-Inseln deportiert wurde. Bei der Belagerung von Waeranga-a-Hika, einem befestigten Lager der Hauhau in der Poverty Bay, hatte er sogar aufseiten der Weißen gestanden. Leider kämpfte aber sein Bruder Komene, ein Pai-Marire-Anhänger, auf der anderen. Diesen Umstand machten sich die lokalen Milizkommandeure Reginald Biggs und James Wilson zunutze, die schon lange ein Auge auf Te Kootis Land bei Matawhero geworfen hatten, ohne eine legale Möglichkeit zu finden, es zu kaufen oder zu konfiszieren.
Ein Denunziant, der sich unter den zerstrittenen Maori für wenig Geld auftreiben ließ, bezeichnete Te Kooti also kurzerhand als einen Spion der Hauhau, und ohne zu dieser Beschuldigung gehört zu werden, fand der große Maorikrieger sich eines Morgens von Konstablern umstellt, in Ketten gelegt und auf eines der berüchtigten Deportationsschiffe verfrachtet. Paratene Pototoi, ein ihm feindlich gesinnter Häuptling, drängte den gefesselten, noch immer völlig überraschten Te Kooti mit höhnischen Worten zum Strand: »Geh auf das Boot, mein Sohn, das Boot wartet auf dich!«
Er haderte nicht mit seinem Schicksal, auch nicht, als seine Heimat am Horizont in einem Dunst aus Nebel und tiefen Wolken versank und er viele Frauen und Kinder, sogar wilde, tätowierte Krieger bei diesem Anblick ihre Häupter verhüllen und weinen sah. Obwohl kein Häuptling, sondern einfaches Mitglied des Rongowhakaata-Stammes, wusste Te Kooti seit frühester Jugend, dass Gott ihn zu Großem bestimmt hatte und seine Schritte leiten würde. Er las die Bibel, wieder und wieder, vor allem das Alte Testament. Keiner der Propheten war ein Königs-oder Häuptlingssohn gewesen, sondern alle nur einfache Männer, die Gott nicht einmal immer gesucht hatten, sondern denen er sich ohne ihr Zutun irgendwann offenbart hatte, in Visionen, in Träumen, in Trance.
In seiner Jugend war Te Kooti ein wilder Bursche gewesen, der als Anführer einer kleinen Gruppe junger Männer den Besitz weißer Siedler geplündert hatte, die irgendwelcher Übergriffe auf Maori schuldig waren. Inzwischen war sein Blut kühler geworden. Seine Kämpfe waren jetzt Kämpfe des Geistes, Auseinandersetzungen mit den Propheten Moses, Ezechiel, Zerubbabel und Te Ua Huamene, den Erzengeln Michael und Gabriel, die Krieg und Frieden bedeuteten, dem tiefen Nachdenken über die Kinder Israels in der ägyptischen und babylonischen Gefangenschaft.
Sein Babylon, sein Ägypten wurde nun die Insel Wharekauri, größte der Chatham-Inseln, sein Pharao der Inselkommandant Captain William Edward Thomas und sein Aufseher der Hauptsergeant Michael Hartnett. Die Whakarau, wie die Gefangenen der verschiedenen Maoristämme sich selbst nannten, um in der Fremde ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, standen buchstäblich vor dem Nichts, als die Schiffe sie bei Waitangi an der Petre Bay an Land setzten. Es war eine sehr schlecht vorbereitete Deportation. Selbst die primitiven Hütten, in denen sie leben sollten, mussten die Gefangenen selbst errichten und zunächst einige Nächte am Strand schlafen.
Dort, unter dem fremden Himmel, hatte Te Kooti seine erste Vision, und sie machte ihn krank. Mehrere Wochen hindurch glaubte man, dass er sterben würde. Als er wider Erwarten gesund wurde, konnte jeder sehen, dass eine große Veränderung mit ihm vorgegangen war. Der zornige junge Mann war endgültig fort. Te Kooti war ein Prophet geworden. Er sah seine Rückkehr nach Aotearoa voraus, und die Whakarau glaubten ihm, wie Gefangene immer an ihre Befreiung glauben werden.
Das Gerücht, er sei ein Urenkel Te Toiroas, des Hundertjährigen, machte die Runde, und Te Kooti tat nichts, um diesem Gerücht entgegenzutreten. Te Toiroa, der große Seher, den alle noch kannten, der erst vor wenigen Jahren gestorben war, hatte einst in seiner Kindheit die Ankunft der Pakeha und ihres großen Seefahrerhäuptlings Tu-Te vorausgesagt – und nur drei Jahre später hatte die Endeavour unter dem Kommando von James Cook tatsächlich in der Poverty Bay Anker geworfen.
Te Kooti selbst war allerdings klar, dass es diese Verwandtschaft nicht gab, und sosehr er an seine eigenen Prophezeiungen glaubte, wusste er doch, dass das fünfhundert Meilen breite Meer sich nicht teilen würde, um ihn und die Whakarau zurück ins Gelobte Land zu bringen. Er brauchte Schiffe, zumindest Boote; und einen Navigator, der Aotearoa, das neue Kanaan, und den Strand von Whareongaonga in der furchtbaren Weite der See finden würde.
34.
»Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren«, sagte Doktor Willard nach einer Pause von so großer Kunstfertigkeit, dass niemand sie zu unterbrechen wagte. »Ich bemerke, dass die Vorstellung, was aus den Negern werden soll, Sie erschreckt, und das ist auch gut so. Der Gedanke an eine Flutkatastrophe ist gemeinhin das Einzige, was uns daran hindert, Dämme niederzureißen. Und es ist eine Flut, eine Flut von dreieinhalb Millionen Negern, die über dieses Land hereinbrechen wird, und wie bei einer Flut wird das Wasser nicht fragen, wohin es fließen darf. Separation rufen Sie?!«
Der Redner wirkte plötzlich gelangweilt, fast beleidigt. Das Wasser, das nicht fragt, wohin es fließen darf, wäre bereits ein gutes Schlusswort gewesen und hätte für diese Ansammlung stumpfsinniger Farmer und Krämer mehr als ausgereicht. Stattdessen musste er ein weiteres rhetorisches Versatzstück aus seinem nicht unbeträchtlichen Fundus anflechten. Er warf wahrhaftig Perlen vor die Säue und wünschte nur, er hätte für diese Dreckarbeit mehr Geld verlangt.
»Aber wie stellen Sie sich die Separation vor?! Wollen Sie Reservationen für die Neger einrichten und sie sich selbst überlassen? Sich selbst überlassene Neger tun gar nichts. Ich sage das nicht nur aus meiner eigenen Erfahrung. Ich sage es auch, weil in hundert Jahren Afrikaforschung auf diesem gesamten Kontinent, der fünf Mal so groß ist wie die Vereinigten Staaten von Amerika, noch kein einziges von Negern organisiertes Staatswesen gefunden werden konnte. Keine auch nur halbwegs zivilisierte Gesellschaft, sondern immer wieder nur einzelne Stämme, barbarisch, wild und grausam. Sie leben von der Jagd und von dem, was sie im Urwald finden. Höher entwickelte Stämme bauen vielleicht hier und da Feldfrüchte an, und wissen Sie, wer diese Felder bestellt? Sklaven! Männer, Frauen und Kinder, die sie von ihren Nachbarstämmen geraubt haben.«
Die Unruhe in den Reihen der Abolitionisten war in den letzten Minuten zunehmend aggressiver geworden, und hier und da wurde jetzt das Wort »Lüge!« hervorgestoßen, herausgepresst wie eine Verwünschung.
»Kann sein«, sagte Willard nachgiebig, scheinbar ermüdet. »Schließlich war ich noch nie in Afrika. Vielleicht ist es eine Lüge. Aber dann lügt …« Plötzlich hob er das Buch hoch, das er bisher in der Handgehalten und von dem die Anwesenden mehrheitlich geglaubt hatten, es sei eine Bibel. »… Mr. David Livingstone!«
Der Name des großen Missionars und Afrikaforschers verdammte die Sklavereigegner erneut zum Schweigen, und Willard fuhr mit einer fast wegwerfenden Handbewegung und deutlichem Hohn fort. »Also lassen wir das mit der Reservation! Vergessen wir den Negerkral neben dem Indianerwigwam! Lassen wir die Neger mitten unter uns leben, dann behalten sie wenigstens ihre Hosen an! Separieren wir sie, in extra für sie eingerichteten Vierteln, planen wir in jeder Stadt ein Negergetto mit ein! Was würde geschehen?
Lernfähige und begabte Individuen – und die gibt es gelegentlich – würden alles versuchen, um aus diesen Gettos herauszukommen. Aber die stumpfe Masse, also der Großteil der dreieinhalb Millionen Neger, würde, da können Sie sicher sein, dasitzen und auf Almosen warten und immer neue Generationen von Almosenempfängern hervorbringen. Sie wären ein günstigenfalls nutzloser Auswuchs am Leib unserer Nation, schlimmstenfalls aber ein ständig wachsendes Heer unzufriedener, unbeschäftigter Kreaturen, die über die Mauern ihrer Gettos mit neidischen, lüsternen Blicken auf unseren Wohlstand schielen und deshalb ständiger Überwachung bedürfen. Nein, meine Damen und Herren, die Sklaverei mag ein Übel sein, aber sie ist das kleinere Übel – für Sie, für mich und nicht zuletzt für die Neger selbst!«
Willard nahm wieder Platz und schaute seelenruhig Richtung Podium, während hinter ihm vorwiegend religiös motivierte Tumulte ausbrachen, gegen die Mrs. Sheperds schüchterne Rufe zur Ordnung völlig wirkungslos blieben. Noch immer waren die Gerechten zu gerecht, um vor Wut zu brüllen, aber es erhob sich ein Stimmengewirr, aus dem nun gelegentlich lautere Äußerungen hervorklangen.
»Der Mensch soll keinen Menschen besitzen!«
»Sklaverei ist Gotteslästerung!«
»In der Bibel steht …«
»In der Bibel steht«, donnerte Willard plötzlich mit einer Lautstärke, die in so erschreckendem Gegensatz zu seinem bisher ruhigen Tonfall stand, dass seine Gegner schon vor Verblüffung verstummten. Es war, als wollte ein väterlicher, umgänglicher Sergeant seinen Rekruten einmal kurz zeigen, dass er auch anders kann. »In der Bibel steht, dass die Knechtschaft der Kinder Israels eine von Gott verhängte Strafe war.«
»Aber Gott hat die Israeliten aus Ägypten geführt«, ertönte eifrig der berechtigte Einwand, den Willard mit dieser Äußerung provozieren wollte.
»Ja, Gott«, lautete seine prompte Antwort. »Aber nicht Sie, Sir! Sollte also in Baton Rouge eine Feuersäule erscheinen, sollte der Mississippi sich teilen, bin ich der Erste, der seine Sklaven ziehen lässt.«
Die Ungeheuerlichkeit dieser Lästerung war für die einfachen Quäker und Puritaner so groß, dass einige Zuhörer sich bekreuzigten und eilig den Saal verließen, um nicht von dem längst überfälligen Blitz mitsamt dem zungenfertigen Sünder von der Erde vertilgt zu werden. Tatsächlich war Lemuel Willard gerade in Kansas und Nebraska mit diesem letzten Satz schon einige Male hereingefallen. Es hatte Beulen und Schrammen gesetzt, die der begnadete Redner seinen Auftraggebern extra in Rechnung stellte. Diese Bauern, diese Beter mit ihren läuseschlichten Matratzen im Gesicht liefen stattdessen davon wie die Hasen, und er würdigte sie keines Blickes mehr.
Gabriel Beale hatte im Tumult des fluchtartigen Aufbruchs den alten Mann aus den Augen verloren, wusste aber aus Erfahrung, dass eine sofortige Beschattung ohnehin schwierig gewesen wäre. Bevor man sich dem Gegner näherte, war es wichtig, Informationen über ihn zu sammeln. Während sich nun auch die Gruppe der Südstaatler erhob und geschlossen zum Ausgang strebte, bewegte er sich deshalb lieber in Richtung Podium und Vorstand der Literarischen Gesellschaft von St. Louis.
Die reichlich aufgelöste zweite Vorsitzende umklammerte noch immer ihre Glocke, an der sie sich in der letzten Stunde fest gehalten hatte, als hinge sie über einem Abgrund. Die Prendergasts kondolierten Mrs. Sheperd zum kulturell so gründlich misslungenen Abend und wandten sich dann dem in Vergessenheit geratenen Magister Chambers zu, der schüchtern im Hintergrund stand und über allerhand Retardierendes nachdachte. Miss Pringle begann mit fahrigen Händen und der freiwilligen Unterstützung einiger ihrer Schülerinnen, die hier und da umgeworfenen Stühle zusammenzutragen.
Mrs. Sheperd wirkte ein wenig allein gelassen, der Kapitän auf dem geborstenen Schiff, als der bullige kleine Mann, den Hut in der Hand, sich ihr höflich näherte. Es richtete sie ein wenig wieder auf und schmeichelte ihrer Menschenkenntnis, dass er sich als Zeitungsreporter vorstellte, der alles Wissenswerte über die ihr bekannten Zuhörer in Erfahrung zu bringen wünschte.
35.
Dorothy Simpson versuchte, im Tumult einen Blick von John Gowers zu erhaschen, aber ihre Eltern trieben sie und ihre Schwestern vor sich her zum Ausgang. In der Hoffnung, dass er bald kommen würde, gab sie vor, einen Knoten in ihren Schnürsenkel geschlagen zu haben, und blieb mit der Begründung, diesen jammervollen Zustand zu korrigieren, so weit wie möglich hinter ihrer heimwärts ziehenden Herde zurück. Schließlich sah sie, dass der junge Mann die Bibliothek verließ und sich tatsächlich suchend umblickte.
Hochbeglückt – denn wem oder was konnte sein Suchen gelten? – ging Dorothy ein paar Schritte zurück, obwohl ihre Familie bereits hinter dem nächsten Block verschwunden war. John lächelte, als sie ins Licht trat. Es war das freche Lächeln, das ihr immer so seltsam in alle Glieder fuhr. Ehe sie irgendetwas sagen konnte, hatte er sie in den Schatten der Bäume gezogen, lag sie in seinen Armen, war seine Zunge in ihrem Mund. So schnell er sie gepackt hatte, musste er sie aber auch schon wieder loslassen, denn jemand räusperte sich in ihrer unmittelbaren Nähe.
Dorothy stieß ihn so heftig von sich, als sei etwas zwischen ihren Körpern explodiert, und konnte nur deshalb nicht weglaufen, weil ihre Knie zitterten und sie nicht lange getragen hätten. Nun war alles aus, der Skandal perfekt, und sie wäre am liebsten in Ohnmacht gefallen. Vor Scham, vor Angst – und weil sie noch immer seine Lippen auf ihren spürte und sich für den Bruchteil einer Sekunde sogar gewünscht hatte, heute Abend einfach mit ihm zu gehen. Dann sah sie, dass es der alte Mr. Lafflin war, der sie gestört hatte.
»Guten Abend, Dorothy«, sagte er und nahm seinen Hut ab, als hätte er nichts bemerkt und sie lediglich beim Betrachten des Sternenhimmels ertappt. Sie kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn mit heftigen, raschen Schritten war plötzlich ihr Vater hinter ihr aufgetaucht.
»Dotty! Wo bleibst du, zum Teufel !«, stieß er wütend hervor und zermalmte damit den letzten Rest ihrer romantischen Courage.
»Hallo, Clay«, sagte wiederum Mr. Lafflin, und der Anwalt, der bereits den ihm unbekannten jungen Mann mit den vielsagenden Blicken eines Vaters dreier Töchter zu durchbohren begonnen hatte, erwiderte verwirrt: »Oh! Hallo, John. Ich hatte dich gar nicht gesehen!«
»Entschuldige, dass ich deine Tochter aufgehalten habe«, sagte der alte Mann und lüftete erneut seinen Hut. »Einen guten Abend, Dorothy. Und Grüße an deine Mutter!«
Die beiden Männer sahen der schwankenden jungen Dame und ihrem verwirrten Erzeuger hinterher, bis sie um die nächste Ecke bogen. Dann sagte John Gowers ruhig: »Vielen Dank, Sir!«
»Keine Ursache«, entgegnete der alte Mann verschmitzt. »Meine Augen sind leider nicht mehr so gut, wie ich es gern hätte. Deshalb würde ich auch gerne mit Ihnen reden.«
»Sir?« John runzelte die Stirn.
»Sie sind John Gowers, der Engländer, nicht wahr? Haben neulich die Eclipse von New Orleans heraufgebracht.«
»Jawohl, Sir.«
»Sie haben mich eine Stange Geld gekostet, junger Mann. Ich hatte nämlich auf die Shotwell und den alten Sellers gesetzt.«
»Tut mir aufrichtig leid, Sir«, sagte John mit seinem unaufrichtigsten Lächeln.
»Sagen Sie, Mr. Gowers …« Der alte Mann deutete mit einer nachlässigen Handbewegung auf den Eingang der Bibliothek, aus dem gerade die Südstaatler hervorstolzierten, als hätten sie eine Schlacht gewonnen. »Wie stehen Sie zu diesen Dingen?«
»Einen Moment, Sir«, erwiderte John, setzte seine Lotsenmütze ab und ging auf den siegreichen Rhetor zu. Sofort schlossen sich die Söhne des Südens zu einer zwanglosen Mauer vor ihrem Cicero zusammen. Der aber erkannte nach kurzem Überlegen nicht Catilina, sondern den jungen Mann, der eben mit einem einzigen Wort den Unwillen der Abolitionisten auf sich gezogen hatte, und winkte seinen Genossen, ihn vorzulassen.
»Entschuldigen Sie, Mr. Willard«, begann der potenzielle neue Mitstreiter ohne Zögern und Schüchternheit. »Haben Sie alles ernst gemeint, was Sie da drin gesagt haben?«
»Ich pflege immer ernst zu meinen, was ich sage, junger Freund«, entgegnete Willard und versuchte blitzschnell, sein Gegenüber einzuschätzen. »Auch wenn ich mich dadurch unbeliebt mache.« Hatte der junge Mensch nicht ein bemerkenswertes Gespür für ironische Äußerungen gezeigt? »Die Leute lieben einen nun mal nicht, wenn man ihnen ein Geschwür vom Hintern schneidet. Erst später sind sie einem irgendwann dankbar!«
Bonneterre, Cheever und Huggins lachten über den rauen Scherz, und John lachte leise mit. »Sie sagen Geschwür, und Sie meinen Idealismus, nicht wahr?«
»Ich sehe, wir verstehen uns«, meinte Willard leutselig und gab aus dem Stegreif eine weitere Probe seiner austrainierten Beredsamkeit. »Idealismus ist eine schöne Sache, vor allem, wenn man von seinen Folgen nicht betroffen ist. Dann schmeckt er süß und zergeht auf der Zunge. Aber ich sage Ihnen, dass diese vorübergehende Süßigkeit langfristig nicht nur mich, nicht nur den Süden, sondern unser gesamtes Land vergiften wird. Der Bruder wird gegen den Bruder, der Sohn gegen den Vater aufstehen, ein Riss wird durch das große Haus unserer Nation gehen. Und wofür?
Ich habe nichts gegen die Neger, solange sie gut arbeiten. Ich peitsche sie nicht, ich quäle sie nicht, im Gegenteil. Meine Neger leben in sauberen, trockenen Hütten, ohne je Steuern zu zahlen, ohne die geringste Verantwortung zu tragen. Ich kleide sie anständig, ich gebe ihnen reichlich zu essen, und wenn sie krank sind, behandle ich sie persönlich, nicht besser und nicht schlechter als meine weißen Patienten – aber natürlich kostenlos! Ist es da wirklich zu viel verlangt, wenn sie für mich arbeiten?«
Scheinbar inbrünstig hob er die Hände und streckte sie dem jungen Mann entgegen. »Mit diesen Händen habe ich in unserem Bezirk mehr schwarzen Kindern auf die Welt geholfen, als wir heute Abend Menschen gesehen haben, Mr. …«
»Gowers«, sagte John trocken. »Und Sie täuschen sich, Sir. Sie verstehen mich nicht. Aber ich verstehe Sie!« Er drehte dem in seiner großartigen Pose erstarrten Redner den Rücken zu und schlenderte aufreizend langsam zurück in den Schatten des kleinen Parks.
Die jungen Ritter des Südens, die zwar nicht ganz verstanden hatten, was hier vorgegangen war, aber immerhin begriffen, dass man ihren Vorfechter brüskiert hatte, packten ihre eleganten Spazierstöcke fester und gingen ihm einige Schritte hinterher. Eher irritiert als ängstlich blieben sie jedoch stehen, als sie sahen, dass der junge Mann, der ihnen noch immer den Rücken zudrehte, plötzlich ein offenes Messer in der Hand hielt und anscheinend nur auf einen Angriff wartete, um es zu gebrauchen.
»Wie war noch Ihre Frage, Sir?«, sagte John, als er wieder bei dem alten Herrn angekommen war, der die Szene mit wachsender Verwunderung beobachtet hatte und nun völlig sicher war, die richtige Wahl getroffen zu haben.
»Können Sie ein Dampfschiff von New Orleans so heraufbringen, dass es möglichst wenig gesehen wird?«, fragte John Lafflin.
36.
Nell hatte den schweren ledernen Vorhang kaum wieder vor dem Eingang der Höhle heruntergelassen, als diejenigen ihrer Bande erwachten, die nicht zu betrunken dazu waren.
»Wie war’s?«, fragte Jamie, ihr neunzehnjähriger Bruder. »Wie viel hat er heute ausgespuckt?«
Ohne ihn zu beachten, ging sie in den hintersten Winkel der Höhle, die einmal ein Keller gewesen war, und trat gegen ein schmutziges Bündel, das dort auf der Erde lag. Aus dem Bündel tauchten zwei durch unruhigen Schlaf und anhaltendes Weinen verquollene Gesichter auf.
»Du«, sagte Nell zu Mairie Maguire, »sing was für mich!«
Als das Mädchen nicht gleich gehorchte oder auch nur verstand, riss sie den Kindern die Decke weg und schleuderte sie quer durch den Raum,wo sie einen weiteren Schläfer weckte. Sie trat nach Mairie und registrierte dabei belustigt, wie der kleine Junge einen Hemdzipfel über seine Blöße zog, die er dann mit beiden Händen bedeckte.
»Singen, hab ich gesagt!«
Mairie wusste, dass längeres Überlegen nur Ohrfeigen nach sich ziehen würde, und sang ein Lied, mit dem sie in dieser Gesellschaft schon großen Erfolg gehabt hatte und das die jungen Frauen und Männer, manche kaum ein Jahr älter als sie, irgendwie milde zu stimmen schien. Es ging um Tom Brown, Jack Williams und den armen Joe, die in Schottland als Wilddiebe verhaftet und nach Australien deportiert worden waren, wo sie nun gegen Wölfe und Tiger kämpfen mussten. Natürlich wusste jedes Kind, dass es in Australien weder Wölfe noch Tiger gab, überhaupt keine großen Raubtiere, wenn man von Krokodilen und Dingos absah, die sich allerdings nur schwer reimen ließen.
Sie war in der achtstrophigen Ballade auch noch gar nicht bis zu dem entsprechenden Vers gekommen, als James Fagan sich plötzlich alarmiert aufsetzte.
»Was war das?«, fragte er, bekam aber keine Antwort, denn im gleichen Moment geschahen zu viele Dinge.
Mairie Maguire sah flüchtig, dass ein Mann in den Keller sprang und mit einem Tuch oder einer Jacke nach der kleinen Öllampe schlug, die neben dem nur noch glimmenden Herdfeuer den Raum erhellte. Die Lampe erlosch gleich darauf, und das restliche Licht war zu schwach, um erkennen zu können, was innerhalb der nächsten ein, höchstens zwei Minuten im Einzelnen geschah. Sie hörte Schreie aus vielen Kehlen, Schreie nach Licht – das war Jamie Fagan –, Schreie der Wut – Nell –, der Ratlosigkeit – Onkel Sam Fagan, soeben aus wirren Träumen hochgeschreckt, die er indes für noch nicht ganz beendet hielt – und zu Mairies Überraschung auch bittere Schmerzensschreie, die sie den einzelnen Bandenmitgliedern aber nicht genau zuordnen konnte.
»Licht! Licht! Fasst ihn! Ich hab ihn! Wo ist das Schwein? Scheiße! Mich hat’s erwischt! Was ist hier los?«
Instinktiv kauerte sie sich auf den Boden, tastete nach hinten, nach ihrem Bruder; aber im gleichen Moment, in dem sie ihn gefunden hatte, fühlte sie, dass sie hochgehoben wurde.
»Jonathan!«, rief sie angstvoll. »Jon!« Und hörte dann dicht neben sich seine Stimme. »Ich bin hier.« Offenbar wurde er mit ihr fortgetragen. Sekunden später fühlte sie zum ersten Mal seit acht Tagen Wind in ihrem Gesicht, frische Nachtluft, die ihre Lunge nach der langen Zeit in dem stickigen, stinkenden Keller wie ein Faustschlag traf.
Gowers, der einen letzten unbekannten Verteidiger der Diebeshöhle mit einem Fußtritt hinter sich stieß, hatte den ledernen Vorhang nur wie eine leichte Ohrfeige in seinem Gesicht gespürt, als er mit den Kindern hinausstürmte. Sofort begann er, mit lauter Stimme Kommandos in die Nacht zu brüllen.
»Legt an, Jungs, und aufgepasst! Der Erste, der seine Nase rausstreckt, wird abgeknallt! Wir warten, bis es hell ist!«
Mairie Maguire blickte sehr verwirrt um sich, und als sie niemanden sah als einen unbekannten Mann und ihren Bruder, keine Soldaten, keine Polizei, überhaupt niemanden, starrte sie ihren Retter mit weit aufgerissenen Augen an und fürchtete, einem Verrückten in die Hände gefallen zu sein.
»Kannst du rennen?«, flüsterte der Verrückte, und Mairie sagte: »Ja, aber mein Bruder …« Gowers hatte den Jungen allerdings schon heruntergelassen, wo er mit einem Schmerzensschrei sofort auf die Knie fiel. Er hob ihn wieder auf, warf ihn über seine Schulter, wobei er notgedrungen zum ersten Mal seine Nacktheit registrierte, und zog an der linken Hand das Mädchen eilig mit sich fort, denn er wusste, dass sein Bluff allenfalls für ein paar Minuten funktionieren würde.
In der Höhle hatte James Fagan inzwischen die Lampe gefunden und das Licht wieder entzündet. Er sah, dass seine Schwester aus Mund und Nase blutete wie ein Schwein.
»Rennt ihm nach! So rennt ihm doch nach!«, schrie sie, und die Worte schlugen rote Blasen auf ihren Lippen.
Es war allerdings unmittelbar niemand bereit oder in der Lage, ihrem Befehl Folge zu leisten. Onkel Sam hatte sich nach einem heftigen Schlag auf den Hinterkopf wieder schlafen gelegt und träumte nun womöglich noch unruhiger als vorher. Cousin Billy rieb sich entsetzlich zusammengekrümmt und stöhnend den Unterleib, Cousin Joe lag japsend am Boden und bekam anscheinend nicht genug Luft in seine gestauchte Lunge, einige Cousinen starrten jammernd und ungläubig auf die Kratzwunden, die sie sich im Dunkeln gegenseitig zugefügt hatten. Nur Jamie selbst war offenbar geistesgegenwärtig genug gewesen, sich auf den Boden zu werfen, und bis auf ein paar Tritte, die über ihn hinweggegangen waren, unverletzt geblieben.
Nell Fagan raste vor Wut, war aber zu sehr mit dem Schlucken ihres eigenen Blutes beziehungsweise der Identifikation einzelner Zähne beschäftigt, die in ihrer Mundhöhle schwammen, um den Eindringling persönlich zu verfolgen. Am Eingang zur Höhle fand Jamie seinen Cousin Lionel, ebenfalls leicht verletzt, in zähe, weil sehr einseitige Übergabeverhandlungen mit den »Belagerern« verwickelt.
»Was soll das?«, fragte der Unterhäuptling. »Mit wem sprichst du?«
»Soldaten«, flüsterte Lionel. »Soldaten und Polizei! Ich hab deutlich gehört, wie sie ›Legt an!‹ gesagt haben. Nicht schießen!« , brüllte er dann so plötzlich, dass James Fagan zusammenfuhr. »Nicht schießen, um Gottes willen! Wir kommen freiwillig raus.«
Das schüchterne Angebot wurde allerdings zum wiederholten Mal keiner Antwort gewürdigt.
»Gottverflucht!« Nell war hinter sie getreten. Um ihr zerschlagenes Gesicht hatte sie die Fetzen eines alten Unterrocks gewunden, der nun langsam durchblutete, und in den Händen hielt sie einen Revolver; die einzige ernsthafte Waffe der Bande, die aber eben im Dunkeln weder gefunden noch benutzt werden konnte. »Warum rennt ihr ihm nicht nach?«
»Soldaten!«, wisperte Lionel und holte schon Luft, um noch einmal die bedingungslose Kapitulation anzubieten, als Nell ihn beiseitestieß.
»Schwachsinn!«, sagte sie. »Der Kerl war allein.«
Sie schlug den Vorhang hoch, gab Cousin Lionel aber nicht viel Zeit, um sich angesichts der gähnenden Leere der Nacht zu genieren, sondern organisierte die Verfolgung mit bemerkenswertem Verständnis für die Sache. »Kein Licht«, befahl sie, als die Cousinen Fackeln entzünden wollten. »Dann sieht er uns, aber wir ihn nicht! Schwärmt lieber aus. Wer ihn findet, schreit. Er kann noch nicht weit sein!«
Gowers war in der Tat keine fünfhundert Meter entfernt und wusste, als er die Geräusche der Verfolger in seinem Rücken hörte, dass er mit den Kindern, dem verletzten Jungen zumal, auch nicht weit kommen würde. Mairie weinte vor Angst und wünschte sich Wölfe und Tiger anstelle Nell Fagans auf ihrer Fährte.
Der Investigator blickte sich immer öfter um, und was er sah, beunruhigte ihn. Über diversen Schutthügeln, auf Mauerresten tauchten immer mehr und immer näher zerlumpte Gestalten auf und starrten in die Nacht. Noch schützte sie die Dunkelheit, aber je dichter die Verfolger herankamen, desto unsicherer wurde dieser Schutz, besonders, wenn weite, offene Flächen zu überqueren waren.
Er wusste, dass ihm keiner aus dieser jämmerlichen Räuberbande einzeln im Kampf überlegen war, aber der Überraschungseffekt war nun dahin und gegen die Übermacht würde auch er sich nicht lange behaupten können. Es war auch nicht klar, welche Waffen sich die Entführer inzwischen beschafft hatten. Ein Versteck zu suchen und sich einzugraben wäre ebenfalls riskant, denn obwohl sie sich zu beherrschen versuchte, konnte Mairie ein Schluchzen nicht immer unterdrücken. Auch der Junge auf seiner Schulter stöhnte leise.
Als Gowers einmal kurz anhielt, um seine Last zurechtzurücken, sagte Jonathan plötzlich: »Lassen Sie mich hier, Sir. Lassen Sie mich hier und rennen Sie mit Mairie weiter. Ich werde sie herlocken, und das wird Ihnen einen Vorsprung verschaffen.«
Es war ein tapferer Vorschlag, tapferer, als Gowers ihn von einem so kleinen Kerl ohne Hosen erwartet hatte, und für ein paar Sekunden erwog er sogar, ihn anzunehmen. Dann sah er die Lichter, Fackeln, kleine sich bewegende Punkte in der Nacht, weit voraus. Während er weiterlief, überlegte er fieberhaft.
Es musste Blampin sein, vielleicht mit Teilen der Bürgermiliz, wahrscheinlicher mit einigen Beamten der Victorian Police. Vermutlich hatte er versucht, Nell in Hays Tavern verhaften zu lassen, und sich dann auf ihre Spur gesetzt. Aber wer und was sie auch immer waren, die Lichter würden die Verfolger zurücktreiben. Doch wie den Lichtern entkommen?
37.
Mrs. Emma Lafflin, eine zierliche Dame von Anfang fünfzig, war es gewohnt, dass ihr über zwanzig Jahre älterer Gatte bisweilen auch noch am späten Abend seltsame Menschen mit nach Hause brachte. Indianer, Mulatten, entlaufene Lehrlinge, Landstreicher jeden Alters, Wanderprediger – sie alle fanden im Haus des Pulverfabrikanten in der Collins Avenue 24 zumindest für eine Nacht gastliche Aufnahme und ein Bett – das man allerdings manchmal gründlich entlausen musste, weil die Gäste ihres Mannes nicht immer ganz allein kamen, obwohl John Lafflin insgeheim ein Auge auf die Sauberkeit seiner neuen Bekanntschaften hatte. Auch Trunkenbolde oder Bettler kamen ihm nicht ins Haus. Das Einzige, was seine Gäste miteinander verband, waren gemeinhin eine Existenz am Rande der Gesellschaft und Lebensschicksale, die so farbig waren, dass Emma schon seit vielen Jahren keinen Roman mehr gelesen hatte. Ihre Romane kamen ins Haus und erzählten sich selbst.
Die meisten dieser ruhelosen Männer zogen nach einem guten Frühstück weiter, aber manchen verschaffte ihr Mann auch Anstellungen in den Fabriken und Handwerksbetrieben von St. Louis. Am geheimnisvollsten waren einige wenige alte Männer mit Landschaften anstelle von Gesichtern, die – zuletzt nur noch selten – stets nach Einbruch der Dunkelheit kamen und noch vor Morgengrauen wieder verschwanden und ihren Mann mit »Kapitän« anredeten, wenn sie glaubten, dass Emma es nicht hörte. Einer von ihnen war hier im Haus gestorben, und zum einzigen Mal in ihrem Eheleben hatte sie Tränen der Trauer in Johns Augen gesehen.
Der junge Mann, den er diesmal heimbrachte und der selbst bei Tisch seine blaue Brille nicht abnahm, war für Mrs. Lafflin also keineswegs die sonderbare Bekanntschaft, für die er sich selbst vermutlich hielt. Nach einem späten Abendessen, das unter Geplauder über den Mississippi und New Orleans vonstattengegangen war, zündeten die Männer sich Zigarren an, und obwohl sie, anders als in den meisten Haushalten des Südens, ohne Weiteres hätte bleiben können, zog Emma es vor, zu Bett zu gehen, als ihr Gatte sagte: »Ich bin Sozialist, Mr. Gowers.« Seit er vor einigen Jahren die Internationale Arbeitervereinigung von St. Louis gegründet hatte, der allerdings außer ihm selbst und seinem besten Freund, dem Maler De Franca, niemand angehörte, kannte sie das Gespräch, das jetzt folgen würde. Oder zumindest den Anteil, den ihr Mann daran hatte.
»Wissen Sie, was Sozialismus ist?«
»Ich habe davon gehört«, sagte John Gowers höflich. »Die Franzosen haben ihn erfunden, nicht wahr?«
Lafflin schmunzelte. »Den Sozialismus hat niemand erfunden, Mr. Gowers. Einige haben ihn als richtig erkannt und beschrieben, hier und da wurde auch schon versucht, ihn umzusetzen. Sozialismus ist im Kern der Gedanke, die Ungerechtigkeit unter den Menschen zu beseitigen, indem man die Eigentums-und Arbeitsverhältnisse reguliert.«
»Sie meinen: anders reguliert, Sir«, erwiderte John. »Anders als jetzt. Denn geregelt sind sie ja mehr oder weniger.«
»Geregelt im Sinne der Besitzenden, ja. Und deshalb so geregelt, dass sich der Besitz einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit immer stärker vergrößert. Der Sozialismus will das ändern, Mr. Gowers.«
»Daran sind schon die Gracchen gescheitert, Sir.«
Lafflin hob verwundert die Augenbrauen. Er war vor zehn Jahren ins alte Europa gereist, um in London, Amsterdam, Brüssel und Paris die Theoretiker des Sozialismus persönlich kennenzulernen. Da diese mehrheitlich aus ihren Heimatländern exilierten Leute gerade in den 1840er-Jahren dabei waren, ihren revolutionären Gedanken eine historische Dimension zu geben, waren ihm in den Diskussionen und Vorträgen immer wieder die Bodenreform der Gracchen und die von ihr ausgehende Revolution der römischen Republik begegnet. Dass ein Mississippilotse, noch dazu ein so junger Mann, anscheinend mit diesen Zusammenhängen vertraut war, weckte in ihm den Verdacht, dass John Gowers mehr über den Sozialismus wusste, als er gesagt hatte. Denn wie alle, die erst spät und über Umwege zur Geschichte gefunden haben, glaubte Lafflin, die Quellen seiner Erkenntnisse seien wenn nicht die einzigen, dann doch die maßgeblichen, und wusste nicht, dass man auch bei Gibbon, McCauly und Carlyle etwas über die Gracchen erfahren konnte.
»Dadurch wird der Gedanke ja nicht falsch«, sagte er vorsichtig.
»Nein, Sir«, stimmte John zu, »nur seine Durchführbarkeit steht infrage.«
»Dann meinen Sie, dass man sich mit den Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich einfach abfinden sollte?«
»Sagen wir, ich glaube nicht, dass irgendeine Lehre oder Staatsform diese Ungerechtigkeit dauerhaft beseitigen kann. Das kann nur jeder für sich.«
Schweigend paffte der eigenartige Schießpulverfabrikant eine Weile vor sich hin, ehe er die entscheidende Frage stellte: »Nicht auch für andere?«
John überlegte. »Das ist verdammt gefährlich und hat nur geringe Aussichten auf Erfolg. Und es wird schwieriger mit jedem, den man auf diesem Weg mitnehmen will.«
Endlich fand Lafflin sein Lächeln wieder. »Nun, Mr. Gowers«, sagte er, »ich habe nicht behauptet, dass Sie etwas Einfaches für mich tun sollen!«
»Worum geht es, Sir?«, fragte John, der dieses Spielchen allmählich leid war.
»Was wissen Sie über Barataria?« Lafflin drückte seine Zigarre aus und beugte sich zu dem jungen Mann hinüber.
»Wenig«, antwortete John. »Ein paar alte Cajuns erzählen gelegentlich davon. Vor fünfzig Jahren war es so eine Art Schmugglerkönigreich in den Sümpfen vor New Orleans.«
»Republik«, widersprach der alte Mann, »Schmugglerrepublik, Mr. Gowers. Ansonsten stimmt das so weit. In Barataria sitzen einige Dutzend Leute fest, die ich nach Norden bringen möchte. Das Problem ist, dass sie nicht gesehen werden dürfen.«
»Ich verstehe, Sir«, sagte John. »Auf dem Fluss kann ich das weitgehend garantieren. Nur den Weg nach Barataria kenne ich nicht.«
»Aber ich«, erwiderte John Lafflin.
38.
Nell Fagan sah so schrecklich aus in ihrem Zorn, den blutigen Fetzen Stoff um ihr halbes Gesicht gewunden, die Pistole in der Hand, dass ihren eigenen Leuten grauste.
»Da sind sie!«, rief Cousine Gwynn und hüpfte auf einem Schuttkegel auf und ab. »Hier! Hierher! Da sind sie!« Sie zeigte auf einen rasch voraneilenden Schatten, eine Spur dunkler als die Nacht.
Als die Bande ein Ziel hatte, bewegte sie sich deutlich schneller und koordinierter, aber kaum hatte sie ein Ziel, als Cousin Marcus, schneller auf den Füßen als alle anderen und ihnen mehr als ein Dutzend Meter voraus, auch schon warnte: »Schmiere! Da vorn!«
Der Anblick der Fackeln, noch weit entfernt, aber stetig näher kommend, brachte die Verfolgung der Flüchtigen zum Erliegen. Nur Nell und ihr Bruder liefen noch ein Stück weiter, und als sie keine dreißig Meter mehr von Gowers und den Kindern entfernt waren, nahm die Anführerin die Waffe in beide Hände, zielte und schoss.
William Blampin hatte auf Geheiß General Harewoods die Polizei alarmiert und auf gut Glück in die Richtung geführt, in die er Nell eines Abends einige Kilometer weit nachgegangen war – bis sie ihn bemerkt und ihm voller Hohn und Verachtung ihren nackten Hintern gezeigt hatte. Langsam und ohne große Hoffnung dirigierte er also die Beamten, die nur höchst widerwillig in das unwegsame Räuberterritorium eindrangen, nach Norden.
Immer wieder musste er auf seine Autorität als leitender Angestellter eines führenden Mitglieds des Stadtparlaments pochen, das lohnen, aber auch strafen könne, und gerade hatte sich dieses Argument endgültig erschöpft, als ein Schuss fiel. Nun waren Schüsse nicht eben etwas, was den Ermittlungseifer der Victorian Police anspornte. Solange man nicht wusste, auf wen oder was geschossen wurde, hüteten sich die Beamten im Allgemeinen sogar, sich in derartige Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit einzumischen.
Ein Schuss konnte hier draußen sonst was bedeuten; aber der Harewood-Mann schien sehr klare Vorstellungen oder Befürchtungen davon zu haben, was da vorging, und rannte jetzt wie ein Wahnsinniger in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Nicht auszudenken, wenn der Mann in und unter dem Schutz der Polizei zu Tode kam! So liefen die Beamten notgedrungen hinterher, zogen nun ihrerseits die Pistolen und feuerten in die Luft – nicht um irgendetwas zu treffen, sondern im Gegenteil: um alles, was ihnen ausweichen konnte, auch zum Ausweichen zu veranlassen.
Poll Hunley hatte sich in ihre Höhle zurückgezogen und war gerade eingeschlafen, als draußen die Knallerei begann. Das war ungewöhnlich. In den ehemaligen Goldfeldern arbeiteten selbst Meuchelmörder normalerweise mit Messern oder fantasievolleren Hieb-und Stichwaffen. Sie lauschte entsprechend angespannt, würde aber den Teufel tun und hinausgehen, um nachzuschauen, was los war. Poll machte sich klein in ihrem Drahtkäfig und duckte den Kopf nur noch ein wenig tiefer, als sie leise knirschende Schritte in dem Gemäuer über sich hörte.
»Poll«, ertönte leise eine Stimme. Aber das war ja nicht möglich. Niemand kannte ihre Zuflucht, fand den Eingang in diesen Keller – und selbst als sie schon hörte, wie mit leisem Kratzen und Scharren die Balken über der Treppe bewegt wurden, rührte sie sich nicht.
»Poll!« Noch einmal, unmissverständlich. Jemand kam in den Keller, mehr als einer, sie hörte es an den Schritten. »Ich bin’s.« Wieder diese Stimme, und nun endlich kam sie der zusammengekauerten Hure bekannt vor.
»Yankee?«, fragte Poll leise.
»Ich bringe dir jemanden«, antwortete John Gowers, »und für fünf Pfund will ich keinen Laut von dir hören, bis ich komme und sie wieder abhole. Sind sie weg, bist du tot. Ist das klar?« Er hob das Gitter hoch und drängte zwei verängstigte kleine Wesen in ihre Arme. »Das gilt auch für euch«, sagte er dann. »Kein Laut und keine Bewegung, bis ich euch hole!«
Der Drahtkäfig schloss sich wieder, der Eingang wurde vorsichtig verbarrikadiert. John Gowers war weg. Poll tastete behutsam über einen offenbar kahl geschorenen kleinen Kopf, der bei dieser Berührung zurückzuckte, fühlte dann einen nackten, eiskalten Kinderschenkel.
»Wer sind Sie?«, fragte eine Jungenstimme.
»Ich bin die Frau, die fünf Pfund bekommt, wenn ihr still seid«, knurrte Poll leise. »Also seid gefälligst still! Wenn ihr ein Trippeln hört, denkt euch nichts dabei. Das sind nur die Ratten.« Und die Ratten kamen.
39.
Selten war eine Befragung so einfach und so ergiebig, ja geradezu erschöpfend gewesen. Der Detektiv stellte eine Frage – und eine zehnminütige Flut von Informationen, Anekdoten, Witzen und Namen brach über ihn herein. Er stellte – »Nicht bewegen, bitte!« – die nächste Frage, und das Spiel wiederholte sich. Andrew De Franca redete wahrhaftig wie ein Friseur, nur dass er nicht hinter, sondern vor seinen Kunden stand, denn er war Maler.
Gabriel Beale hätte sich gerne Notizen gemacht, er hielt ja sogar eine Schreibfeder in der Hand, aber das dazugehörige Tintenfass war leer, und den kleinen Bogen Papier auf dem Schreibtisch vor ihm identifizierte er bei näherem Hinsehen als die Rechnung einer chinesischen Wäscherei. Er besaß indes die Fähigkeit, wichtige von unwichtigen Informationen schon beim ersten Hören voneinander trennen zu können, und immer, wenn etwa das Wort »Sozialismus« fiel, ließ er nicht nur seine Augen, sondern auch seine Gedanken über die etwas überladenen, aber durchaus geschmackvollen Frauenakte wandern, die in Öl und Goldrahmen an der gegenüberliegenden Wand hingen.
Manchmal amüsierte ihn die Vorstellung, wie er so stocksteif dasaß. Die Heiterkeit stieg hoch in seine Kehle, überzog seine Wangenknochen und warf Fältchen rings um seine Augen, ohne dass sie wirklich zu einem offenen Lachen geworden wäre. Er hatte in seinem Berufsleben ja schon vieles machen müssen, aber das hier eben noch nicht. Gabriel Beale saß Modell.
Der Künstler, Andrew De Franca, konnte sich zwar nicht vorstellen, warum ein Mann mit einem Gesicht wie der vor ihm sitzende Mr. Dorset, Farmgeräte & Saatgut en gros, auch noch ein Porträtgemälde von sich anfertigen ließ, denn eigentlich hätte ihm jeder Blick in den Spiegel zur Erkenntnis der grausamen Wahrheit vollauf genügen müssen. Aber De Franca nahm sowohl seine Aufgabe als auch seine Kundschaft ernst. Er schönte, er glättete, aber er log nicht, und so blieb der Charakter der Porträtierten stets sichtbar. Sie sahen sich gewissermaßen so, wie sie vielleicht an strahlend schönen Sonntagen aus besonders günstiger Perspektive tatsächlich gelegentlich aussehen mochten.
De Franca malte also, sagte er sich philosophisch, so etwas wie die platonische Idee hinter den Dingen, durch die Dinge hindurchschimmernd, und so sollte auch die ihm unbekannte Mrs. Dorset nicht einfach den Mann sehen, der ihr jeden Morgen beim Frühstück gegenübersaß, sondern gewissermaßen Gottes Idee dieses Mannes und alles, was dieser Mann in bester Laune und Beleuchtung sein konnte. Das war in diesem Fall nicht einfach, denn Mr. Dorset hatte ein ausgesprochen uninteressantes, ein Dutzendgesicht, in dem nur seine hellen Augen als zu lebhaft und zu wach für einen Farmgeräte-&-Saatgut-Händler auffielen.
Auch seine vielen Fragen waren ungewöhnlich, aber De Franca liebte es, bei der Arbeit möglichst über andere Dinge zu sprechen; es half ihm, sich zu konzentrieren. Dass sich die Fragen fast ausschließlich auf seinen Freund John Lafflin bezogen, verwunderte den Maler dagegen nicht, denn Mr. Dorset hatte gesagt, dass er John vor einigen Tagen kurz kennengelernt hatte – und damit war der Pulverfabrikant der einzige gemeinsame Bekannte von Künstler und Klient und spielte notgedrungen die Hauptrolle in ihrer etwas einseitigen Konversation.
Wie er selbst Mr. Lafflin kennengelernt hätte? Er habe ein Gemälde von Mrs. Lafflin gefertigt, und man sei sich, nach anfänglichen Missverständnissen, über die gemeinsame Begeisterung für die Idee des Sozialismus nähergekommen. Mr. Lafflin sei sehr bewandert in den verschiedenen Theorien und Spielarten dieses großen Gedankens, sei sogar in Europa gewesen und habe die führenden Köpfe der neuen Bewegung persönlich kennengelernt. Er betrachte sich gewissermaßen als einen Mäzen des Sozialismus und habe zweien dieser jungen Männer sogar beim Druck eines kleinen Traktats finanziell unter die Arme gegriffen: Das kommunistische Manifest, von einem gewissen Engels und – wie hieß noch der andere? Sehr interessante Gedanken. Er, De Franca, habe noch ein gutes Dutzend Exemplare der kleinen Schrift, die John Lafflin damals in einer großen Kiste nach Amerika einführte. Falls Mr. Dorset sich interessiere? Ach nein?!
Wie ein Schießpulverfabrikant auf solche Ideen komme, wisse er auch nicht genau, John rede nicht viel darüber. Es müsse mit seiner Vergangenheit zu tun haben, sozialistischen Lebensexperimenten in seiner, Johns Jugend, unten im Süden. Galveston, soweit er wisse. Und irgendetwas noch Früheres, wohl in New Orleans. Sicher ein halbes Jahrhundert her, schließlich sei der alte Knabe inzwischen schon über siebzig.
Seine Geschäfte? Gut. Glänzend vielleicht sogar, denn erst vor drei Jahren habe er ein eigenes Schiff erworben, und das spreche doch – »Nicht bewegen!« – für eine exorbitante Auftragslage. Kein Wunder, Schießpulver werde ja leider immer gebraucht.
Passagiere? Nein, nicht, soweit er wisse. Wer wolle auch schon auf einem Schiff voller Pulver reisen, nicht wahr?! Offene Kessel und all das – »Nicht den Mund verziehen, bitte, Sir. Entschuldigung!« – Der Name? Schöner, kraftvoller Name. Wenn er seinen Freund John Lafflin je malen sollte, dann nur vor seinem Schiff und dessen verschnörkeltem Namenszug.
Deep South.
40.
Sobald er die Kugel pfeifen hörte, dicht über seinem Kopf, wusste Gowers, dass die Flucht zu Ende war und er kämpfen musste. Er konnte schlecht mit einem halb nackten Kind über der Schulter und einem zweiten an der linken Hand kämpfen; ihm blieb also nichts anderes übrig, als die Kinder zu verstecken. Kaum hatte er sich zu diesem Zweck in einen Graben fallen lassen, als wieder wie wild geschossen wurde: diesmal von der anderen Seite. Um nicht zwischen zwei Feuer zu geraten, schob er die Kinder den Graben entlang aus der Linie, an der sich die Parteien treffen mussten. Dabei schoss Nell Fagan noch einmal auf ihn. Erst dann ergriff sie die Flucht vor den herannahenden Ordnungskräften.
Gowers, der mitsamt den Kindern begreiflicherweise auch William Blampin nicht in die Arme laufen wollte, stieg kurz auf eine kleine Erhebung und sah, dass ihn seine Flucht bis auf eine Viertelmeile an Poll Hunleys Unterschlupf herangeführt hatte. Er fasste seinen Entschluss rasch, zu rasch vielleicht, aber die Tatsache, dass Nell auf sie geschossen hatte, brachte ihn auf den Gedanken, dass zunächst die Verfolger um jeden Preis vertrieben werden mussten. Dazu würde er den Polizisten die Höhle der Entführer zeigen müssen, denn nur er war in der Lage, sie in der Dunkelheit ohne Verzug zu finden. Also verließ er Polls Keller so schnell wie möglich, um sich dem »Gegenangriff« anzuschließen – ein Fehler und nicht der letzte in einer Kette von Fehlern, aber vielleicht der entscheidende.
Die Polizisten hatten William Blampin endlich wieder eingefangen und zu einem deutlich langsameren Tempo genötigt. Sie schlichen geduckt, die Waffen im Anschlag, durch unbekanntes Gelände auf einen weder zahlenmäßig noch sonst wie identifizierten Gegner zu; nie eine schöne Sache und für Beamte der Victorian Police eigentlich viel zu heroisch. Deshalb wurden sie auch immer langsamer und blieben schließlich ganz stehen. Den letzten von ihnen, den hintersten, erkannte John Gowers, der ja schon einige seiner Gefangenen an die Polizei überstellt hatte.
»Billings, nicht schießen!«, sagte er so unaufgeregt wie möglich, als er sich aus der Deckung einer flachen Mauer zu erkennen gab. Konstabler Billings tat dennoch einen sehenswerten Sprung in die Nachtluft und prallte dabei auf einen seiner Vorderleute, der ebenfalls glaubte, sein letztes Stündlein habe geschlagen. »Jesus!«, riefen beide wie aus einem Mund, dann fasste sich zumindest Billings wieder, den die bloße Nennung seines Namens in diesem nächtlichen Polizistenalptraum ein wenig beruhigt hatte, zielte nach rückwärts und fragte: »Wer zum Teufel ist da?!«
»Ich bin’s, Gowers. John Gowers. Nicht schießen!« Mit erhobenen Händen trat er auf die verwirrten Männer zu.
»Gowers?«, fragte der Konstabler. »Der Detektiv?«
»Investigator«, antwortete Gowers. »In Amerika sagen wir: Investigator.«
»Was tun Sie hier?«, fragte Billings, ehe er mit einem entrüsteten Schnaufen hinzufügte: »Mann! Ich hätte mir fast in die Hose geschissen!«
»Ich jage dieselben Leute wie Sie«, sagte Gowers. »Ich weiß, wo ihr Nest ist.«
41.
Der Detektiv hatte es sich zum Prinzip gemacht, sein Herz, seine Empfindungen, seine eigene Meinung aus seinen Ermittlungen herauszuhalten. Sobald er bezahlt wurde, war er ein Werkzeug mit mehr oder minder klar umrissenen Aufgaben. Weil er auf diese Weise persönlich seltsam unbeteiligt an seinen Fällen war, trafen ihn auch Beleidigungen oder Vorhaltungen seiner Klienten selten persönlich. Manchmal, wenn es sich um ausgesprochene Idioten handelte, fiel das allerdings selbst ihm schwer. Im Grunde hielt Gabriel Beale die jungen Gentlemen des Südens, die sich in dem engen Hotelzimmer in St. Louis versammelt hatten und ihre feinen Anzüge durchschwitzten, also für herausgeputzte Affen. Aber solange sie ihn bezahlten, gab es keinen Grund, ihnen das zu sagen.
Nachdem Lemuel Willard und die alten Herren, Enderby, Hunter und General Willoughby abgereist waren, betrachtete sich Desmond Bonneterre als Anführer und Vertreter ihrer Interessen, auch und gerade weil Michael Willoughby dasselbe von sich dachte. Die jungen Südstaatler hatten in den letzten Tagen aus purer Langeweile die Stadt, vor allem den Hafen und seine Schankbetriebe, nach dem impertinenten Burschen mit der blauen Brille durchsucht. Es nagte an ihnen, dass Willard und die anderen sie an jenem Abend zurückgepfiffen hatten und ein Kerl, der die Frechheit besessen hatte, gegen ein halbes Dutzend von ihrer Sorte ein Messer zu ziehen, ungestraft davongekommen war.
Den Fluch der Demokratie nannte Bonneterre den Umstand, dass so etwas überhaupt hatte geschehen können. Wenn im Mittelalter ein Bauer oder ein Schweinehirte die Hand erhoben – oder eben ein Messer gezogen – hätte gegen einen Edelmann, habe man den Kerl nach Herrenrecht ohne Prozess an den nächsten Baum gehängt, und niemand hätte danach gefragt. Hatte Cedric der Sachse je mit Wamba und Gurth diskutiert? Hugh de Lacy oder Anne of Geierstein außer Gott irgendjemanden um Rat gefragt? Diese Art Adelsherrschaft sei doch im Grunde eine sehr vernünftige Regierungsform gewesen, man müsse sich ja nur mal die Schlösser im alten Europa ansehen.
Natürlich war weder Bonneterre noch einer der anderen je im alten Europa gewesen und ihre Vorstellung vom Mittelalter eine vor allem literarisch vermittelte: Sir Walter Scott und seine Epigonen standen in Prachtausgaben in jedem Herrenhaus zwischen Cairo und Baton Rouge, dessen Besitzer auch nur ein wenig auf sich hielt, und selbstverständlich konnten Cheever, Huggins und die beiden Willoughbys jeden der genannten Namen blind einordnen und Bonneterres Gedankengang entsprechend glatt nachvollziehen. Hohe Taten, holde Damen, schäumende Rosse und hier und da ein ungeschlachter Riese – das war das Mittelalter des amerikanischen Südens.
Gabriel Beale, in New York geboren und aufgewachsen, hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, vor den bösen Buben einer Sonntagsschule zu stehen, sagte das jedoch nicht und machte nur seinen Bericht an seine Auftraggeber so kurz wie möglich. Es kam ohnehin nur darauf an, dass sie seine Informationen so schnell wie möglich an ihre Väter weitergaben. Leider schien es jedoch im Augenblick so, als würden sie gerade daran am widerwilligsten denken. Wie strahlend würden sie heimkehren, wenn sie diesen vertrackten Fall schnell und ohne Hilfe der Miliz lösen könnten!
»Also wenn dieser Lafflin hinter dem Ganzen steckt«, fragte Dick Willoughby nach angestrengtem Nachdenken, »warum erledigen wir ihn dann nicht einfach?«
»Weil wir es nicht wissen, Dick«, beschwichtigte ihn sein Bruder Michael.
»Wir können es ja darauf ankommen lassen«, beharrte Dick achselzuckend. »Wenn er weg ist, und die Sache hört auf, hatten wir recht. Wenn nicht, kaufen wir ihm einen besonders schönen Kranz Blumen!«
Cheever und Huggins kicherten bei dieser Vorstellung.
Der Detektiv seufzte. »Gentlemen, bleiben wir bitte sachlich. Ein Netz von Verschwörern beseitigt man nicht, indem man eine Masche zerreißt.«
»Aber indem man die Spinne tötet«, erwiderte Dick Willoughby hartnäckig, wenn auch nicht ganz im Bild bleibend.
»Denken Sie bitte auch an die bereits entlaufenen Neger«, fuhr der Detektiv ungerührt fort. »Wenn meine Vermutungen richtig sind, sollen sie auf der Deep South in den Norden gebracht werden. Das verhindern Sie nicht, wenn Sie in blindem Aktionismus einen alten Mann töten – von den juristischen Folgen gar nicht zu reden.«
»Woher wissen Sie überhaupt, dass dieser Lafflin Teil der Verschwörung ist?«, warf Bonneterre misstrauisch ein. »Alles, was Ihre sogenannte Ermittlung bisher ergeben hat, ist, dass der Mann ein Schiff besitzt und in den Süden fährt. Für alles andere habe ich zumindest noch keine Beweise gesehen.«
Gabriel Beale zog prompt einen großen Umschlag aus der Rocktasche und entfaltete ihn mit schnellen, geübten Handgriffen. »Das sind Kopien der Frachtpapiere der Bywa Bryan, die heute Morgen nach New Orleans abging.«
Die jungen Männer, wieder ganz die Ritter, für die sie sich hielten, beugten sich über die ihnen vorgelegten Dokumente, als seien es die Angriffspläne der Schlacht von Salisbury oder Barham Down.
»Wenn Sie sich diese Position ansehen«, sagte Beale und zeigte auf eine bestimmte Stelle des Frachtbriefs, »werden Sie zweifelsohne feststellen, dass die Firma Lafflin vorgestern Nachmittag achtzehn Fässer mit Pulver auf der Bywa Bryan eingeschifft hat.«
»Ja und?«, fragte Dick Willoughby. »Die leben ja schließlich davon, dass sie Pulver verkaufen.«
»Idiot!«, sagte sein Bruder Michael trocken. »Warum wohl bringt er das Zeug nicht auf seinem eigenen Schiff runter nach New Orleans?«
»Weil er mit seinem eigenen Schiff etwas anderes transportiert«, beantwortete Bonneterre die ironische Frage.
»Eben!«, sagte Gabriel Beale nicht ohne einen Anflug von Ermittlerstolz. »Und diese Reise geht vermutlich gar nicht nach New Orleans.«
»Wer ist dieser Lafflin?«, fragte Bonneterre nach einer beeindruckten Pause den schlauen kleinen Yankee mit jetzt deutlich erhöhtem Respekt. »Was haben Sie sonst noch über ihn herausgefunden?«
»Noch nicht viel«, erwiderte Beale bescheiden. »Außer dass niemand zu wissen scheint, woher er das Geld hatte, um seine Firma zu gründen. Aber …« Er lächelte und machte eine kleine Kunstpause, um die Spannung der jungen Männer zu erhöhen. »Es interessiert Sie vielleicht, wer sein Lotse ist, Gentlemen. Der Mann heißt John Gowers und wird ›der Engländer‹ genannt.«
»Und?«, fragten Cheever und Huggins ungeduldig wie aus einem Mund.
»Irgendwas scheint mit seinen Augen nicht zu stimmen«, sagte der Detektiv. »Er trägt fast ständig eine blaue Brille.«
Das entschied die Sache. Nun würden sie, ohne anzuhalten, heimfahren und den Mississippi, all seine Ufer und Anlegestellen nach einem Dampfschiff namens Deep South absuchen, als sei es das Flaggschiff der spanischen Silberflotte.
42.
Nell Fagans Mund blutete immer noch, aber sie riss sich den Fetzen Stoff im Laufen vom Kopf, um mehr Luft zu bekommen. Sie sah ihren Bruder nicht neben sich und nicht hinter sich, als sie lief; nur die Lichter kamen, nachdem sie eine Weile gestoppt hatten, jetzt immer rascher hinter ihr her. Jamie musste ihr wieder einmal voraus sein, der Feigling, so wie er ihr auf den vielen Fluchten ihres Lebens immer voraus gewesen war, wenn es gefährlich wurde.
Als Letzte von allen erreichte sie ihren Schlupfwinkel und schob ihre dicht am Eingang zusammengedrängte Bande unter die Erde. Keine besonders gute Idee, aber dafür auch ihre einzige. Nachdem sie verwundert festgestellt hatte, dass Jamie auch hier nicht gegenwärtig war, ließ sie alle Lichter löschen und drohte, jeden niederzuschießen, der auch nur einen Laut von sich gäbe. Daraufhin weckten die Cousinen den in seinem Winkel schnarchenden Onkel Sam.
Nell kroch unterdessen zum Eingang zurück und spähte unter dem Vorhang hindurch in die Nacht. Sie musste nicht lange warten. Graue Schatten schlichen heran, drei, vier, fünf – sie verteilten sich rings um die Höhle und nutzten dabei jede Deckung, die sie finden konnten. Einen hätte Nell vielleicht sogar erschießen können, er reckte den Kopf zu hoch. Aber dann hätten die anderen den Vorhang und alles, was hinter ihm lag, mit Kugeln zersiebt, und sie ließ die Gelegenheit in der aberwitzigen Hoffnung verstreichen, dass die Männer doch noch an ihnen vorbeigehen könnten. Die wurde rasch zunichte.
»Nell! Nell Fagan«, rief William Blampin. »Gib die Kinder heraus, und keinem geschieht was!«
Die Kinder? Nell verstand nicht. Hatten sie die Kinder denn nicht längst? Und wenn nicht, wer hatte sie dann? Wie hatten sie überhaupt ihre Höhle entdeckt? So schnell? So zielsicher? Wer war der Mann gewesen, der sie so übel zugerichtet hatte, und warum hatte er der Schmiere die Kinder nicht einfach übergeben?
»Kommt doch rein und holt sie euch«, schrie sie in der plötzlich aufflackernden Hoffnung, durch die offensichtliche Ahnungslosigkeit der Verfolger doch noch einen Trumpf ausspielen zu können.
»Sei nicht blöd, Nell. Wenn den Kindern was passiert, werdet ihr alle gehängt.«
»Ja, aber du auch.« Sie lachte halb wahnsinnig, in die letzte Enge getrieben. »Und den Ersten, der reinkommt, knalle ich ab!«
Um dieser Drohung Gewicht zu verleihen, schob sie den Revolver unter dem Vorhang durch, aber das war auch ihr Fehler. Im gleichen Moment, als sie abdrücken wollte, sprang jemand von der niedrigen Aufschüttung oberhalb des Eingangs schwer auf ihre Hand und brach ihr dabei zwei Finger und den Mittelhandknochen. Fast im gleichen Augenblick wurde sie am Arm nach draußen gerissen und wie ein lebender Schutzschild gegen den Eingang gedrückt.
»Ihr da drin: Kommt einzeln und langsam heraus, es ist vorbei!« , rief der Mann, der sie gepackt hielt. Nell versuchte, nach ihm zu treten, aber er drehte ihr die verletzte Hand auf den Rücken, bis sie vor Schmerz aufschrie.
»Nicht schießen!«, schrie von innen Cousin Lionel, wobei er seine ganze Erfahrung in Kapitulationsverhandlungen ausspielte. »Wir kommen, wir kommen!«
Und sie kamen, einer nach dem anderen, Onkel Sam Fagan auf allen vieren in einen ihm jetzt völlig unverständlichen Alptraum kriechend. Die Polizisten legten sie aus wie eine Strecke erbeuteter Hasen. Nur Nell musste gefesselt werden und spuckte zornig ihr Blut auf alles und jeden, der ihr zu nahe kam.
»Das sind noch nicht alle«, sagte Gowers, der den großen blonden Jungen vermisste, den er zuletzt auf der Jagd, unmittelbar neben der Anführerin gesehen hatte. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Er riss ein Streichholz an und ging entschlossen in den Keller hinunter. Blampin und Billings entzündeten erst die kleine Paraffinlampe, die zur Notfallausrüstung der Victorian Police gehörte, und folgten ihm dann.
In der Höhle war niemand mehr. Wo war der Junge geblieben?
»Wo sind die Kinder?«, fragte William Blampin.
»Nicht hier«, sagte Gowers und hatte es plötzlich sehr eilig. Er bückte sich nach seiner Jacke, die er eben bei der Befreiung einfach fallen gelassen hatte, und wollte hinaus.
»Ist das Ihre Jacke?«, fragte Billings misstrauisch.
»Ja«, sagte Gowers und war schon halb zum Eingang hinaufgegangen, als er den Lauf einer Waffe in seinem Rücken spürte.
»Sie sind verhaftet!«, sagte der Konstabler.
Als die Schießerei begann, hatte James Fagan sich in den gleichen Graben geworfen, in dem Gowers wenige Minuten zuvor mit den Kindern verschwunden war. Um ein Haar hätte ihn seine eigene Schwester erschossen, als er weiterkroch und dabei kurz hochschaute. Das vertrieb gründlich seine Lust, hinter ihr herzulaufen. Er robbte stattdessen weiter voran, zur Seite, bemerkte dabei, dass die Polizisten oder wer immer die Fackeln trug, an ihm vorüberliefen und er jetzt außerhalb des Kreises war, den sie gezogen hatten.
Dann sah er plötzlich den Mann und die Kinder, wenige Dutzend Meter vor sich. Hätte er eine andere Waffe bei sich gehabt als sein Messer, wäre er aufgesprungen und hätte ihn angegriffen, so sehr pulste das Adrenalin der Verfolgung noch in seinen Adern. Stattdessen blieb er liegen und sah, wie die Flüchtenden geduckt eine große Ruine erreichten und in ihrem tiefen Schatten verschwanden.
Zu seiner nachhaltigen Überraschung tauchte der Mann wenige Minuten später wieder auf, und hocherfreut sah er ihn den in der Ferne verschwindenden Lichtern nachlaufen. Er wartete noch eine Weile, aber als er sich ganz sicher fühlte, erhob sich James Fagan, klopfte den Staub aus seinen Kleidern und ging zu der Ruine hinüber. Im Innern war es zu dunkel, um irgendeine Spur zu erkennen. Er schloss die Augen und lauschte; mit allen Fasern seines Körpers und Geistes konzentrierte er sich darauf, die Anwesenheit der Kinder zu erspüren. Sie mussten ganz in der Nähe sein. Aber es blieb zu dunkel. Er würde auf die Dämmerung warten müssen.
43.
Obwohl sie geborene Seefahrer und auf vielen Wal-und Robbenfängerschiffen des 19. Jahrhunderts begehrte Matrosen waren, hatten die Maori nach achthundert Jahren des Lebens auf festem Land die Künste der Tangata Whenua, ihrer Seefahrerahnen, verlernt, wenn auch nicht vergessen: Durch das Verständnis der Sterne, der Wolken, des Meeres und seiner Strömungen Länder, Inseln und die Wege zwischen ihnen zu finden bei Tag und bei Nacht war ihnen fremd geworden. Lediglich die Küstenschifffahrt war ihnen halbwegs vertraut, aber dennoch war schon die Fischerei in ihren Augen keine Beschäftigung für Krieger, denn Fischer sind geduldige, friedliche Menschen. Menschen, die hinnehmen, anstatt wegzunehmen, weil Aggression im Kampf mit dem Meer keinerlei Vorteile mit sich bringt.
Die Moriori von Chatham waren Fischer gewesen.
Der alte Mann lebte unweit von Owenga, am Manukau Point, den die Weißen Kap Fournier nannten. Das Kap bildete die Südostspitze von Chathams Hauptinsel Wharekauri und war von Waitangi und den Hütten der Verbannten gute fünfundzwanzig Meilen entfernt. Eine Reise von zwei, drei Tagen. Eine Volkszählung fünf Jahre zuvor hatte ergeben, dass von den einst über zweitausend Moriori nur noch knapp hundert am Leben waren, darunter nicht mehr als eine Handvoll Männer in seinem Alter. Denn er war schon nicht mehr jung gewesen, als die Maori kamen, um sein Volk zu versklaven, und die meisten Männer seiner Generation waren umgekommen bei den verzweifelten Versuchen, das zu verhindern.
Er hatte seit dieser Zeit mit keiner Frau mehr geschlafen, mit keiner mehr schlafen dürfen, denn seine Ehefrau hatte ein Maorikrieger ihm weggenommen, und seine Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, hatte er sterben sehen. Niemand war mehr da, an den er sein Wissen weitergeben konnte, wie sein Vater es an ihn weitergegeben hatte – und dessen Vater an ihn und dessen Vater an ihn und dessen Vater an ihn. Die heilige Kette war zerbrochen, und sein Wissen würde mit ihm sterben.
An guten Tagen erinnerte er sich daran, wie sein Vater ihn mit hinausgenommen hatte, bis die Inseln in einer Welt aus Wasser versunken waren. Die erste Nacht ohne Land. Die Bahnen der Sterne, die Länder und Inseln, über denen sie auf-oder untergingen; der Lauf der Sonne im Wechsel der Jahreszeiten, die Wolken, die immer dorthin zogen, wo Land lag, weil das Land wärmer war als das Meer. Das Lapa, geheimnisvolles unterseeisches Leuchten, das von den Landmassen ausging und in dunklen Nächten bis in eine Entfernung von hundert Meilen mehr zu erahnen als wirklich zu sehen war. Schließlich die Strömungen. Einige konnte man spüren, wenn man die Hand ins Wasser tauchte. Aber die großen Strömungen wohnten weit unten im Meer.
Mit Stricken aus Bast, die bis zu fünfzig Meter lang waren, hatten sie sich an das kleine Kanu gebunden und sprangen nackt, mit schweren Steinen in ihren Armen, ins Wasser. Die Steine zogen sie rasch hinab. Ein guter Lotse war immer auch ein guter Taucher und konnte unglaublich lange unter Wasser bleiben.
»Spreiz die Beine und achte auf deine Hoden«, hatte sein Vater gesagt, und er spreizte die Beine und achtete auf seine Hoden, an denen die Strömung zog in der grundlosen Tiefe.
»Die stärksten saugen an dir wie der Mund eines Weibes«, sagte der Vater und lachte, als sie wieder auftauchten, aber noch hatte keine Frau ihn berührt, und er verstand diese Worte erst sehr viel später. Dafür wusste er nun, wie die Strömungen hießen und wohin sie führten, wusste, dass die »Löcher« in einer Strömung durch weit entfernte Inseln hinter dem Horizont verursacht wurden, und würde diese Inseln auch in sternloser Nacht finden. Die Kombination all dieser Kenntnisse machte den Navigator aus.
Nach einer Lehrzeit von fast zehn Jahren hätte er mit dem geeigneten Boot und genügend Proviant ausgestattet jeden Punkt im Pazifischen Ozean erreicht – und erhielt die Tätowierungen, die das anzeigten: Punkte und Linien, Kreise, die von seinen Augenwinkeln zu den Schläfen und Ohren führten, über die Kieferknochen bis auf sein Kinn liefen, wo sie einander umschlangen wie die Arme von Liebenden. Sterne und Strömungen, die Wolken und den Wind kenne ich, sagten die uralten Zeichen, die sich seit den Tagen der Tangata Whenua nicht verändert hatten und im gesamten pazifischen Raum verstanden wurden.
44.
Deborahs Mutter hatte glaubhaft angegeben, dass sie verschleppt und vergewaltigt worden war, deshalb wurde sie im September 1831 in Virginia nicht gehängt, sondern nur in den tiefen Süden verkauft. Für den Rest ihres kurzen Lebens zehrte sie von diesem einen Monat Freiheit, den sie an der Seite der Aufständischen erlebt hatte; von Hunden gehetzt, tötend, brandschatzend, die Virginia-Miliz auf den Fersen, durch die Wälder gejagt wie wilde Tiere – aber frei.
Für einen Sklaven wird es nie Tag, hieß es, aber für sie hatten sich die Nebel ein wenig gehoben, war die Sonne zwei Dutzend Mal aufgegangen. Tautropfen, glänzend und schwer wie reife Elderberries, hatten in den Hecken gehangen, unter denen sie schliefen, waren in ihr Gesicht gefallen und hatten sie aufgeweckt mit der unglaublichen, der wunderbaren Frage: Was tue ich heute?
Niemand hatte sie verschleppt, niemand hatte sie vergewaltigt, aber niemand konnte ihr das beweisen. Sie war aus eigenem Entschluss fortgelaufen und hatte sich Bloody Nat Turner und seinen zeitweilig siebzig Leuten angeschlossen, die bewaffnet das Land durchzogen und Brandsätze in die Häuser ihrer weißen Herren warfen. Sie hatte nicht selbst getötet, aber zwei Dutzend Weiße sterben sehen, darunter auch Frauen und Kinder.
Sie hatte kein Mitleid gehabt.
Sie war voller Liebe für die schwarzen Männer, die all das taten, schlief mit mehreren von ihnen, nicht wahllos, aber auch nicht sehr wählerisch. Und unter einer dieser Hecken, in einer dieser blutwarmen Nächte wurde ihr siebtes Kind gezeugt: in Freiheit – und etwas von der Schönheit und den Schrecken der Freiheit lebte in dem kleinen Mädchen weiter.
Ohne dass sie es je erfuhr, verdankte Deborah selbst ihren Namen Nat Turners Aufstand im fernen Virginia beziehungsweise den Worten der Bibel: »Geh hin und ziehe auf den Berg Tabor und nimm zehntausend Mann mit dir«, die ein schwarzer Prediger unter ihnen auf die Aufständischen angewandt und die Deborahs Mutter so sehr beeindruckt hatten. Deborah war eine Richterin und Prophetin, lange vor Salomon, David, Saul, allen Königen Israels, Judas, ein halbes Jahrtausend vor dem Bau des Tempels. Zusammen mit Barak, dem Sohn Abinoams, und mithilfe von Jahel, der Frau des Heber, schlug sie die Kanaaniter und ihren Feldhauptmann Sisera aufs Haupt, »und das Land hatte Ruhe vierzig Jahre«.
Deborah wusste das nicht und glaubte, ihr Name sei von ihrem weißen Herrn ausgesucht worden, und hasste beides, als sie alt genug zum Hassen war. Sie wurde auf einer kleinen Plantage in Covington /Louisiana geboren, nachdem ihre Mutter sie in ihrem Leib, zu Fuß und in Ketten quer durch die Vereinigten Staaten getragen hatte. Als Deborah acht Jahre alt war, starb ihre Mutter, die sich nie an das sumpfige Klima der Coastal Plains gewöhnt hatte, an einem Fieber; starb unruhig, starb schwer, vom glänzenden, kühlen Tau der Freiheit träumend. Fast alles, was das Mädchen über seine Herkunft wusste, wurde in diesen Fiebertagen gesprochen.
Als sie zwölf war, machte ihr Herr, der bis dahin ein guter Herr und mit dem halben Dutzend anderer Sklaven ihre einzige Familie gewesen war, sie so brutal zur Frau, dass sie zum ersten Mal weglief, als sie erst wieder laufen konnte. Sie kam nicht weit auf dieser ersten Flucht, wurde rasch wieder eingefangen und von den Drivern, weißen und schwarzen Menschenjägern, erneut vergewaltigt. Aber sie zerbrach nicht daran; wurde stattdessen aufsässig, bösartig und fast totgeschlagen, als ihr Herr einmal sah, wie sie in sein Essen spuckte. Er vermietete sie auf ein Jahr an einen sogenannten Niggerbreaker in Hammond, und das war eine seltsame Erfahrung.
Seltsam, weil der Mann sein Handwerk verstand. Er schlug seine Sklaven nicht und gab ihnen besser zu essen, als Deborah es gewohnt war, aber nur, wenn sie ihre Arbeit taten, sechzehn Stunden am Tag. Wer bummelte, zu viel schlief, Widerworte gab, wurde in einem formvollendeten Gerichtsverfahren, in dem die anderen Sklaven sogar als Beisitzer fungierten, zu einer von zwei möglichen Strafen verurteilt: den Hörnern oder dem Stock. Die Hörner bestanden aus einem eisernen Ring, der um den Hals gelegt wurde und an dem drei oder vier spitze, gut dreißig Zentimeter lange Zinken festgeschmiedet waren, die den Kopf, das Gesicht wie die Stangen eines Käfigs umgaben. Mit den Hörnern konnte man nicht schlafen, nur auf der Seite, manchmal, für wenige Minuten, und nach einer Woche bettelte auch der wildeste schwarze Teufel darum, wieder arbeiten zu dürfen.
Im Stock ging es noch schneller. Dort wurden die Sklaven wie an einem mittelalterlichen Pranger eingeschlossen, auf den Knien, mit Kopf und Händen, erhielten ein starkes Abführmittel und knieten dann in den eigenen Exkrementen, bis sie sich eines Besseren besannen. Zur Strafverschärfung war der Stock so konstruiert, dass man dort problemlos zwei Menschen übereinander einschließen konnte; eine Erfahrung, die man nicht einmal selbst machen, sondern nur mit angesehen haben musste, um sie um jeden Preis zu vermeiden.
All das führte dazu, dass Deborahs zweite Flucht besser vorbereitet war. Sie dauerte fast zwei Wochen und führte sie bis nach Vidalia, wo sie zum ersten Mal den Mississippi sah und überquerte. Der ehrwürdige, weißhaarige Sheriff, der sie nur aufgrund des Zeitungsinserats »Entlaufen!« angehalten hatte, unterzog sie auf der Straße, vor dem Gefängnis, der Prozedur des bucking, die eigentlich Männern vorbehalten war. Man zog sie aus, fesselte ihre Hände um die angezogenen Beine und steckte dann eine hölzerne Stange zwischen Ellenbogen und Kniekehlen hindurch. Ein heftiger Tritt in die Seite ließ sie hilflos auf dem Boden umherrollen, und natürlich setzte ihr Peiniger seinen ganzen Ehrgeiz darein, sie mit seiner Peitsche auf besonders gemeine Weise zu verletzen. Das rettete insofern ihr Leben – oder zumindest ihre Ohren, die man rückfälligen Flüchtlingen abzuschneiden pflegte –, als eine Dame der besseren Gesellschaft von Vidalia das unwürdige Schauspiel durch ihr mutiges Einschreiten beendete und sie zwei Tage später – kaufte.
Die nächsten sechs Jahre waren die besten in Deborahs Leben, denn obwohl sie Sklavin blieb, Putzfrau, Zimmermädchen und gelegentlich auch Köchin, behandelte ihre neue Herrin sie doch immer wieder als eine Art Gesellschafterin. Sie las ihr die Geschichten aus der Bibel so häufig vor, dass Deborah sie auswendig konnte. Und weil sie sie auswendig konnte und einmal in aller Unschuld gefragt hatte, welches unter all diesen Zeichen ihr Name sei, lernte Deborah, trotz der Todeswürdigkeit dieses Verbrechens, heimlich ein wenig lesen. Eine kleine, in Stahl gestochene Karte des Mississippitals von New Orleans bis Memphis, an einer Wand des Empfangszimmers, klärte sie ebenso heimlich über ihren Ort in der Welt auf. Wenn dies der Fluss Mississippi war und dies Vidalia, dann gab das seltsam verschnörkelte Kreuz am oberen Ende der Karte offensichtlich die Himmelsrichtungen an: W für Westen, S für Süden, E für Osten und N …
Deborah blieb von da an nur noch bei der alten Dame, weil sie ihr das Leben gerettet hatte – und um ihre dritte Flucht noch gründlicher vorzubereiten. Ehe es jedoch so weit kam, starb ihre Herrin völlig überraschend, und die jetzt Neunzehnjährige fand sich als Teil der Erbmasse wieder. Sie lauschte an den Türen, hinter denen sich eine erstaunlich zahlreiche Verwandtschaft tagelang um die Hinterlassenschaft, Porzellan, Möbel, Bilder, Bücher und das sonstige chattel, also das bewegliche Hab und Gut der Verstorbenen, stritt, zu dem auch Deborah gehörte. Eine Schwester aus St. Louis hätte sie gerne genommen, gab aber dann doch dem französischen Silberbesteck den Vorzug, und so gelangte Deborah in den Besitz eines Neffen, der bei Vicksburg eine größere Plantage betrieb.
Das war gut, weil sie dadurch etwas weiter in den Norden gelangte, das war schlecht, weil sie wieder auf dem Feld arbeiten musste, denn die Ehefrau des glücklichen Erben fand sie zu hübsch, um sie im Haus und in der unmittelbaren Nähe ihres Gatten arbeiten zu lassen. Nach einem halben Jahr hielt die feine Dame es außerdem für an der Zeit, dass Deborah weitere kleine Sklaven in die Welt setze. Sie war inzwischen schlau genug, um sich dumm zu stellen, floh aber in der ersten Nacht vor dem ihr zugewiesenen schwarzen Ehemann – und zwar diesmal nach Süden, in der nicht unberechtigten Hoffnung, dass man eine entlaufene Sklavin in dieser Richtung nicht oder doch deutlich weniger intensiv suchen würde.
Sie kam tatsächlich unbehelligt und unkontrolliert bis Baton Rouge, schmuggelte sich dort auf ein nach Norden gehendes Dampfschiff und erreichte bei Mound City das freie Illinois. In langen nächtlichen Wanderungen, hungernd, barfuß und mit zerfetzten Kleidern kam sie schließlich nach Evansville/Indiana. Hier nahm sie durch die Vermittlung eines abolitionistischen Pfarrers einen Kredit auf, kaufte sich selbst für vierhundertfünfundsiebzig Dollar, die sie ihrem ehemaligen Herrn nach Vicksburg schickte, und einundzwanzig Jahre nach dem blutigen Aufstand Nat Turners wurde es zum ersten Mal in ihrem Leben Tag.
45.
Man hatte Moses vor allem deshalb noch nicht gefasst, weil er ein Meister der Tarnung war. Er war alt, er war jung, trug einen Bart oder keinen, Männer-und Frauenkleidung, arm oder reich – es waren die unterschiedlichsten Beschreibungen von Moses im Umlauf. Die Pflanzer und ihre Milizen, die Polizei, wussten nicht einmal, ob er im Süden oder Norden lebte, und fragten sich vor allem, wie er Kontakt zu den zur Flucht bereiten Sklaven aufnahm, ja, wie er sie und sie ihn überhaupt erkannten.
Tatsächlich hielten sie den Gospel »Go down, Moses«, der in den letzten Jahren wie eine Infektionskrankheit über die Schwarzen der Südstaaten gekommen war, nur für eine amüsante, biblisch motivierte Provokation, aber nicht für einen Code. Auch dass Sklaven einander nur in die Augen sehen müssen, um ihre Fluchtgedanken zu lesen, war den Sklavenhaltern naturgemäß unbekannt.
Wie viele Sklaven Moses bereits nach Norden und ins Gelobte Land Kanada geführt hatte, wusste nur er. Lediglich, dass er sein Werk in Kentucky begonnen hatte, vermutete man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.
Bei Cloverport am Ohio war der Tabakpflanzer Dean Stanton an einem Morgen vor vier Jahren aufgewacht, weil es auf seiner kleinen Plantage so grabesstill war. Er fühlte sich, als hätte er am vergangenen Abend schwer getrunken, dabei hatte er nur zwei oder drei Gläser zu sich genommen, weil er bei klarem Verstand mit dem neuen, auffallend hochgewachsenen Niggermädchen schlafen wollte. Das Letzte, was er wusste, war, dass er sich tatsächlich zu ihr ins Bett gelegt hatte; danach nichts mehr. Er suchte jetzt nach seinen Kleidern und fand sie nicht, nichts, keine Hose, keine Stiefel, nicht einmal Pantoffeln. Barfuß und im Nachthemd irrte er über den Hof, fand zuerst seine Hunde, ein halbes Dutzend scharfer, bissiger Schweißhunde, in ihrem Zwinger liegend. Schwarze Fliegen saßen in ihren Augen, und der Schaum vor ihren Mäulern bewies, dass man sie vergiftet hatte.
Stanton tobte, noch immer barfuß, noch immer im Nachthemd, riss alle Hütten, Verschläge, Schuppen und Scheunentore auf, aber seine elf Nigger, Männer, Frauen und Kinder, waren verschwunden. Ebenso sein Pferd und sämtliche Waffen. Es kostete ihn vier Stunden, einen Himmel voll Flüche und völlig zerschundene Füße, um die Farm seines Nachbarn Charles Wilkinson zu erreichen. Als der endlich die Miliz alarmiert hatte, waren die geflohenen Sklaven natürlich längst über den Ohio und alle Berge, und auch ein offizielles Auslieferungsersuchen an die Behörden des freien Staates Indiana fruchtete nichts, da sie nach zwei Wochen Kanada erreicht hatten. Dean Stanton war ruiniert.
Ähnliche Vorfälle wiederholten sich bei Maysville und Peducah, bis die Sklavenhalter entlang des Ohio in ständiger Alarmbereitschaft waren und verstärkt weiße Aufseher anstellen mussten, die ihre Nigger auch nachts nicht aus den Augen ließen. Eine Weile kehrte daraufhin Ruhe ein, aber dann verschwand eine Gruppe Sklaven aus Shelbyville am Duck River, mitten in Tennessee, so spurlos, als wären sie unsichtbar geworden. Moses’ Raubzüge hatten das südliche Kernland erreicht, und obwohl seine unheimlichen Attacken vorwiegend im Grenzland zwischen freien und Sklaven haltenden Staaten stattfanden, von New Martinsville im nördlichsten Zipfel Virginias bis St. Genevieve/Missouri, konnten sich insbesondere die kleinen Farmer mit fünf oder fünfzehn Sklaven nirgends mehr sicher fühlen.
Nur in das Territorium der wirklichen Großgrundbesitzer, in den tiefen Süden, der bei Memphis begann, hatte Moses sich noch nicht vorgewagt. Das hing vermutlich mit Transportschwierigkeiten zusammen. Man nahm als sicher an, dass Moses seine Kinder auf dem Wasserweg in den Norden brachte, denn all seine Überfälle fanden in der unmittelbaren Nähe schiffbarer Flüsse statt. Wie das im Einzelnen vor sich ging, wusste im Süden niemand, aber eine weitere Gemeinsamkeit deutete auf einen einzelnen, hinter alldem stehenden Willen hin: Auffallend viele der entlaufenen Sklaven schickten ihren Herren von Kanada aus kleine oder größere Geldbeträge, um ihre Freiheit gewissermaßen offiziell zu erwerben.
Da niemand einem Schwarzen so viel Intelligenz, Geschick und Kühnheit zutraute, hielt man Moses zeitweise sogar für einen weißen Mann, einen Abolitionistenführer, der über ein Heer von Helfern, Zuträgern, Spionen verfügte, und die Wut der bestohlenen Plantagenbesitzer und Farmer wurde so groß, dass es gelegentlich zu Lynchmorden an Weißen kam, die im Verdacht standen, solche Hilfsdienste zu leisten. Tatsächlich überstieg die Zahl der vom Mob getöteten Weißen diejenige der gelynchten Schwarzen zeitweise um mehr als die Hälfte.
Man dachte auch an einen freigelassenen Sklaven, von denen es im Süden rund eine Viertelmillion gab, denn Moses, so viel war sicher, konnte offenbar ohne große Schwierigkeiten enorme Strecken zurücklegen, und das war einem Schwarzen, der nicht über die entsprechenden Papiere verfügte, so gut wie unmöglich. Aber als Chat Logan, ein fleißiger freigelassener schwarzer Pflanzer aus Blytheville/Arkansas, bei den Polizeibehörden seines Staates den Verlust von sechzehn seiner Sklaven beklagte, war auch diese Möglichkeit wieder infrage gestellt.
Moses machte offenbar keinen Unterschied zwischen weißen und schwarzen Sklavenhaltern, und das steigerte die Verwirrung, die seine Tätigkeit auslöste, zeitweise bis zur Hysterie – auch bei den Sklaven selbst. »Go down, Moses«, erklang von Sonnenauf-bis Sonnenuntergang immer inbrünstiger auf den Baumwoll-und Tabakfeldern des Südens, und es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis er auch in Louisiana, Mississippi oder Alabama zuschlagen würde.
46.
Die Einladung der Whakarau erfolgte heimlich. Ein Bote kam zu dem alten Mann und bestellte ihn nach Waitangi; er sollte in einer bestimmten Nacht dort sein und weder vorher noch nachher noch unterwegs mit den Pakeha sprechen. Der Bote war kein Gefangener, war ein Maori von Chatham, zu jung, um einer der Eroberer zu sein oder auch nur Erinnerungen an die Eroberung zu haben. Die Whakarau bedienten sich solcher Leute, bestachen sie mit Geld oder der Gunst ihrer Frauen, um sich auf der Insel untereinander zu verständigen.
Der alte Mann, seit mehr als dreißig Jahren gewohnt, den Maori zu gehorchen, ging. Ging auf der einzigen Straße der Insel, die, obwohl hier und da von den Pakeha aufgeschüttet und mit Wagen befahren, doch nicht viel mehr war als ein breit ausgetretener Pfad. Er schlief schlecht in den Hügeln und war sehr unruhig, wie immer, wenn er das Meer einen Tag lang weder sah noch hörte. Er trug ein Netz bei sich, um, falls jemand ihn fragen würde, was er in Waitangi wolle, sagen zu können: ein Netz verkaufen. Aber niemand fragte ihn irgendetwas, obwohl er gelegentlich Leuten begegnete, die ihn wohl nur für einen verrückten alten Mann hielten, der ein Netz ins Landesinnere schleppte.
Mit der Abenddämmerung des dritten Tages kam er nach Waitangi, und der Bote, der ihn bereits erwartet hatte, brachte ihn in eine der Hütten der Whakarau in der Otea-Niederung. Eine Frau bot ihm zu essen an, was er ablehnte, und hieß ihn, sich niederzulegen, was er annahm, denn er war schon lange nicht mehr eine so weite Strecke gelaufen. Mitten in der Nacht wurde er geweckt, und als er aus der Hütte kam, sah er zu seinem Erstaunen, dass alle Gefangenen wach waren, selbst die Kinder, und mit freudigen, gespannten Gesichtern einem großen Feuer zustrebten, das man in einer Talmulde entfacht hatte. Dort erwartete sie der Prophet.
Te Kooti sah ganz und gar nicht aus wie ein Erzengel; er ging herum, lächelte, scherzte mit den Erwachsenen und brachte die Kinder zum Lachen. Erst nach einer Weile drehte er sich mit dem Gesicht zum Feuer und schwieg lange. Sein Schweigen fiel auf die Menge und verbreitete sich in ihr. Die Menschen sanken zu Boden, einige setzten sich, andere knieten, nur die dunkle Gestalt Te Kootis schien zu wachsen vor dem lodernden Feuer, und als er sich umdrehte, sahen sie, dass der Geist über ihm war.
Mit tiefer Stimme begann er zu singen: »Tiwha tiwha te po!« – Schwarz, schwarz ist die Nacht! Dann sprach er von den Offenbarungen, die er in seiner schweren Krankheit empfangen hatte, von dem Auftrag, den ihm Te wairua o te Atua, der Geist Gottes, gegeben habe: seinen Namen bekannt zu machen »ki tona iwi e noho whakarau nei i tenei whenua«, unter seinem Volk, in der Gefangenschaft dieser Insel. Er sprach von den ersten Dingen der Vergangenheit und dem Whakapapa als der Verbindung zwischen Menschen und Gott. Er sprach vom Frieden, von dem man sich abgewandt habe und den man wieder leben müsse, statt ihn nur zu fordern, und warnte sie vor allen Büchern, die von Sterblichen geschrieben waren.
All das sagte er nicht wie ein Hexenmeister, sondern mit ruhiger, vernünftiger Stimme, die das Bedürfnis auslöste, dem Gesagten rasch zuzustimmen. Nur als er zu den Zeichen kam, wurde es unheimlich; wie er Ngarara gesehen hatte, die Eidechse, und die Flamme, die sich nicht verzehrt. Dabei hob er langsam beide Hände in die Höhe, und ein einziger lauter Ruf des Erschreckens entfuhr der Menge, als er sie plötzlich aneinanderrieb und dann über ihren Köpfen ausstreckte wie Fackeln – denn Te Kootis Hände standen in Flammen, deutlich sah man das Flackern um seine Finger, ohne dass sie verbrannten. Ebenso plötzlich ballte er die Hände und löschte dadurch das Feuer, als hätte er es mit den Fäusten eingefangen.
Ringatu – die erhobene Hand – war der Höhepunkt des Rituals und zugleich sein Ende. Te Kooti verwandelte sich wieder in einen freundlichen, wenn auch etwas erschöpften Menschen, der zwischen den anderen umherging und leise mit ihnen redete. Aber selbst der alte Mann war in diesem Moment vollständig davon überzeugt, einen Boten Gottes vor sich und Gottes Befehle gehört zu haben. Zu seinem Schrecken blieb der Prophet in diesem Moment direkt vor ihm stehen und sah ihm für einige Sekunden in die Augen. Dann nickte er freundlich, bedeutete aber den deutlich weniger freundlichen Whakarau neben ihm, offenbar seinen Leibwächtern, den alten Mann in seine Hütte zu bringen. Dort musterte er ihn eindringlich mehrere Minuten lang und berührte sogar die Tätowierungen in seinem Gesicht.
»Sterne und Strömungen, die Wolken und den Wind kenne ich«, murmelte der Prophet. Dann bot er dem Navigator zu trinken an, und sie tranken und redeten von der Ungerechtigkeit der Pakeha, dem Kampf der Maori, dem Zorn Gottes und der neuen Religion des Friedens, die all das beseitigen würde und deren Prophet er war. Zuletzt erinnerte Te Kooti den alten Mann daran, dass sie Brüder seien, lange getrennt durch das Meer, aber beide die Kinder Kupes, des großen Seefahrers.
Ob er ein Boot über die See steuern könne, zu einem bestimmten Punkt im Norden Aotearoas, eine Flotte von Booten vielleicht, wie in den Tagen der Landnahme? Angst müsse er nicht haben, die Whakarau würden ihre Wächter überwältigen, Gott sei auf ihrer Seite. Wenn er sie treu und recht führe, könne er unter ihnen leben, als ihr hochverehrter Bruder und Vater, würde wieder eine Frau bekommen und Kinder zeugen. Nur bei Verrat drohe ihm ein schrecklicher Tod in dieser und allen folgenden Welten.
Der alte Mann nickte zu diesen Fragen und Forderungen und versuchte, ein gleichmütiges, ehrliches Gesicht zu machen. Aber Angst und tiefes Misstrauen hämmerten zwischen seinen Schläfen, denn er hatte den Phosphor an den Händen des Propheten gerochen und wusste, dass alles ein Schwindel und der freundliche Mann vor ihm ein äußerst gefährlicher Mensch war, der tief in sein Herz gesehen hatte.
47.
Der Reeder hatte sich nicht die Zeit genommen, sich richtig anzuziehen. Ohne Kragen und Krawatte, Hemdbrust oder sonst ein Zeichen seiner bürgerlichen Existenz war er dem Boten gefolgt, der ihn zu einer Polizeistation im Norden beordert hatte, um eine Identifizierung vorzunehmen. Zwischen atemberaubenden Hoffnungen und den schlimmsten Befürchtungen fast verzweifelnd, hatte er dem Droschkenkutscher das Trinkgeld seines Lebens gegeben, und nun flogen sie so dahin, wie man auf Melbournes überwiegend noch ungepflasterten Straßen nur dahinfliegen konnte.
Nach weniger als einer halben Stunde stürmte er in das Polizeirevier und sah zu seiner Enttäuschung oder zu seinem Entzücken – er war sich nicht sicher –, dass es nur der Detektiv war, den er identifizieren sollte. John Gowers trug einen blutigen Verband um die Stirn, Resultat eines Fluchtversuchs, der mithilfe eines Gewehrkolbens vereitelt worden war, und hatte die Nacht in der Zelle gleich neben der von Nell Fagan und ihrer Bande verbringen müssen. Es war infolgedessen keine sehr ruhige Nacht gewesen.
Es dauerte eine Weile, bis Robert Maguire ihn ausgelöst hatte, denn zur nachhaltigen Verwirrung des Reeders hielt man Gowers offenbar für einen Mittäter oder -wisser bei der Entführung seiner Kinder, und seine Entlassung erfolgte nur unter dem Vorbehalt, sich jederzeit zur Verfügung von Polizei und Justiz zu halten. Einmal draußen, versuchte der Investigator auch gleich, seinen Auftraggeber wieder nach Hause zu schicken, aber der ließ sich natürlich nicht abweisen, als Gowers seine entscheidende Frage: »Wissen Sie, wo die Kinder sind?«, mit einem zögernden Kopfnicken bejaht hatte.
Wieder eine Droschke, wieder ein exorbitantes Trinkgeld, aber in die Wildnis, in die sie nun mussten, konnten Wagen aller Art nur sehr begrenzt eindringen. Die letzten Kilometer gingen sie deshalb zu Fuß, obwohl Gowers den Reeder noch einmal inständig bat, bei der Droschke zu warten. Aber Robert Maguire war nicht der Mann, der sich von der riesigen, jetzt in trügerischem Sonnenschein liegenden Trümmerlandschaft abschrecken ließ. Er wunderte sich nur, dass der Detektiv, der in der vergangenen Nacht einiges abbekommen haben musste, dennoch so schnell auf den Beinen war und ein erstaunliches Tempo vorlegte. Nur sagen, wohin sie eigentlich unterwegs waren, wollte er bis zuletzt nicht.
Vor der großen, rauchgeschwärzten Ruine des Speichers angekommen, bestand Gowers kategorisch darauf, allein weiterzugehen, und verpflichtete sich lediglich, dem Reeder in weniger als fünf Minuten Bescheid zu geben. Im Innern des Gemäuers schien zunächst alles unverändert, und er glaubte schon, dass seine Befürchtungen ihn getrogen hatten und alles gut gehen würde. Dann sah er jedoch, dass die Balken vor dem Eingang zu Polls Keller beiseitegestoßen worden waren, und dann – Poll selbst, die zusammengesunken an der Wand lehnte.
»Poll«, rief er leise. Keine Antwort. Er legte ihr leicht die Hand auf den Rücken und fühlte an der Restwärme ihres Körpers, dass sie sehr langsam gestorben sein musste und noch nicht lange tot war. Er ging um die Mauer herum, und dort, zwischen Schutt und der Asche eines riesigen alten Lagerfeuers, fand er die weiß geblutete Leiche des kleinen Jonathan.
Gowers zitterte, als er sich auf den Weg in den Keller machte. Fast um sich zu beruhigen, untersuchte er vorher noch einmal Polls Leiche und sah, dass das Messer, das sie getötet hatte, noch in ihrer Leber steckte. Die Art, in der ihre verkrampften Finger die Klinge umklammerten, sagte ihm, dass sie es nicht hatte herausziehen, sondern im Gegenteil hatte festhalten wollen; und das war Poll Hunleys letzte Botschaft an ihn, den Yankee. Wahrscheinlich hatte sie etwas gehört, nachdem der Junge aus dem Keller gekrochen war, war ihm gefolgt und ihrem Mörder direkt in die Arme gelaufen.
Was war mit dem Mädchen? Gowers ballte die Hände zu Fäusten, als er sich jetzt die enge Treppe hinunterzwang, und schauderte, als ein wildes Pfeifen und das Trippeln vieler kleiner Füße ihm verrieten, dass er ein Festmahl störte. Mairie Maguire lag auf dem Bauch, den schmutzigen Rock hochgeschlagen, und das Blut zwischen ihren Beinen deutete darauf hin, dass man sie erst vergewaltigt und dann getötet hatte. Die Ratten waren danach gekommen. Unter ihren Fingernägeln fand er Blut und Fetzen von Haut, die nicht ihre war; sie musste sich bis zuletzt gewehrt haben.
Er schlug eben ihren Rock zurück und sah an den tiefen schwarzen Würgemalen an ihrem Hals, dass sie erdrosselt worden war, als draußen ein entsetzlicher, jämmerlicher Schrei erklang: »Jonathan! O mein Gott! Mein Gott!«
Gowers zerrte hastig den völlig intakten Drahtkäfig über die Leiche des Mädchens und stürzte nach oben. Maguire hielt seinen toten Jungen in den Armen, als er den Detektiv scheinbar aus einem Loch im Boden heraufsteigen sah. Sofort rannte er auf die Öffnung zu.
»Mairie?«, rief er, als er von Gowers’ Gesicht das Ergebnis seiner Ermittlungen ablas. »Mairie!« Immer lauter. »Mairie!« Bis er nicht mehr Herr seiner Stimme war.
»Nicht, Sir!«, sagte Gowers und versuchte, den schweren, kräftigen Mann aufzuhalten. »Nicht, bitte!«
Der Reeder stieß ihn beiseite und raste, in einem fort schreiend, die Treppe hinab.
Gowers konnte ihn zwar einholen, musste aber drei Mal zuschlagen, ehe Maguire das Bewusstsein verlor.
48.
Noch in der gleichen Nacht machte sich der alte Mann an den Rückweg und zwang sich dazu, nicht zu laufen, denn er wusste, dass er beobachtet wurde. Er ging, ohne anzuhalten, den ganzen Tag und die folgende Nacht hindurch. Obwohl er todmüde war, fürchtete er, dass die Späher des Propheten ihm die Kehle durchschneiden würden, sobald er sich schlafen legte. So erreichte er Owenga schon am frühen Morgen des nächsten Tages bei Sonnenaufgang. Und die Sonne bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen, färbte die See vom Horizont bis zum Strand hinauf blutrot – ein schreckliches Zeichen, das er erst einmal gesehen hatte; damals, bevor die Maori kamen und sein Volk, seine Familie, sein Leben auslöschten. Da wusste der alte Mann, was er zu tun hatte.
Mehrere Tage lang hielt er sich ruhig und tat nichts, was er nicht immer getan hätte. Aber in der Nacht flickte und nähte er an dem großen Segel, das er nicht mehr gesetzt hatte, seit seine Kinder tot waren. An einem späten Abend nach fast einer Woche in Angst und angestrengter Überlegung schob er sein Boot ins Wasser und paddelte hinaus. Als er die Brandung so weit hinter sich hatte, dass er sie nur noch sehr leise hörte, setzte er sein Segel und steuerte einen Stern an, von dem er wusste, dass kein Land unter ihm lag. Von alters her war es das Vorrecht der Navigatoren gewesen, auf diese Weise den Tod zu suchen.