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49.
Die Deep South war ein Heckraddampfer, also weniger schnell, manövrierfähig und deutlich weniger elegant als ihre großen Schwestern, die Shotwell oder die Eclipse mit ihren beiden riesigen Seitenrädern. Mit knapp fünfundzwanzig Meter Länge bei sechs Meter Breite und nur zwei Decks sah sie neben den schwimmenden Palästen, den stolzen weißen Sidewheeler-Schwänen des Mississippi aus wie eine plumpe kleine Ente. Alles an ihr wirkte altertümlich und ein wenig verkommen, bis auf die Maschine, die kohlegeheizten Kessel, die so glänzend neu waren, als habe man das alte Schiff um sie herumgebaut.
Ihr größter Vorteil war, dass auch eine kleine Besatzung sie sicher handhaben konnte. Ein Lotse als Steuermann, ein Maschinist und ein Lotgast würden zur Not genügen, um sie – bei Tag – an jeden beliebigen Punkt des Flusses zu bringen. Nachts stellte sich die Sache schwieriger dar, weil dann gelegentlich zwei, manchmal vier Lotungen gleichzeitig vorgenommen werden mussten, um an gefährlichen Stellen in einer geeigneten Fahrrinne zu bleiben. Aber dort würde John sich einfach auf sein Gedächtnis verlassen und hoffen, dass der Mississippi ihm keinen Streich spielte.
»Wem gehört sie?«
»Mir«, antwortete John Lafflin so selbstverständlich, als habe er in seinem Leben schon mehr als ein Schiff besessen. In seiner einfachen Flussschifferkluft sah der Pulverfabrikant auf eine merkwürdige Weise auch überhaupt nicht verkleidet aus.
Zwei Männer waren mit ihm an Bord gekommen, beide Arbeiter in seiner Fabrik: ein schlanker junger Mulatte mit raschen, wachen Augen und dem Namen Jason und ein wahrer Herkules von Mann, der Gowers als »Mr. Phineas« vorgestellt wurde. Mr. Phineas war gut zwei Meter groß, hatte riesige Hände, mit denen er die Kessel zur Not auch ohne Schaufel hätte heizen können, und einen Bart, den er beim Arbeiten mit kleinen Schlingen aus Bindfaden bändigte und so gezähmt kurzerhand vorn in den Hosenbund steckte.
Da irgendeine Geheimhaltung noch nicht nötig war und nur zu dummen Gerüchten geführt hätte, verließ die Deep South St. Louis am späten Nachmittag unter Dampfgeheul. John brachte sie in die Mitte des Flusses und ließ dann die Ventile so weit drosseln, dass er bei Bedarf gerade noch manövrieren konnte, überließ aber die eigentliche Arbeit der starken, stetigen Strömung. Gegen Mitternacht legten sie zum ersten Mal an; bei Chester, auf der Illinois-Seite, und ein weiterer Mann kam an Bord. Er war nur wenig jünger als John Lafflin, sah aber mit seinen langen weißen Haaren, seinem ungepflegten Bart und einem wüsten, von Narben entstellten Gesicht aus wie ein Evangelist, der lange in schlechter Gesellschaft gelebt hat.
Er begrüßte Lafflin, indem er mit der rechten Hand an eine Wollmütze tippte, die vor drei oder vier Jahrzehnten feuerrot gewesen sein mochte, und sagte: »Mon Capitaine!«
Lafflin erwiderte den seemännischen Gruß – »Gringoire!« –, schloss den Neuankömmling aber dann in die Arme und klopfte ihm dabei so krachend auf die Schulter, dass man es auf dem ganzen Schiff hörte. Beides bestätigte Gowers in der längst gehegten Vermutung, dass John Lafflin nicht immer nur Schießpulver fabriziert, sondern in seiner Jugend auch nicht unbeträchtliche Mengen davon verbraucht haben musste. Trotz seiner nur wenig über zwanzig Jahre hatte der Lotse in seiner Zeit auf britischen Schiffen oft genug gesehen, wie sich Männer begrüßten, die zusammen im Feuer gelegen hatten.
Als sie in der Morgendämmerung weiterfuhren, sah er, dass Gringoires Familie auf dem Hügel über der schäbigen kleinen Anlegestelle gewartet hatte, um ihn zu verabschieden: eine große, weißhaarige Negerin und ihre beiden hellhäutigeren Töchter, eine davon mit einem Säugling auf dem Arm, die andere mit einem Kind an der Hand. Gowers fragte sich, warum sie nicht wenigstens kurz mit an Bord gekommen waren, aber das blieb nicht das einzige Geheimnisvolle an dem im Übrigen sehr einsilbigen neuen Besatzungsmitglied.
Der große Fluss war in den ersten grauen Morgenstunden so leer wie das Herz eines Bankiers oder das Hirn eines Soldaten; also nur hier und da ein paar kleine Flöße, so weit entfernt, dass man ihnen nicht einmal ausweichen musste. Lafflin, der sich, obwohl nominell Kapitän, auch für die Dienste eines Stewards nicht zu schade war, brachte seinem Lotsen und Steuermann eine große Blechtasse und eine Kanne mit schwarzem Kaffee ins »Texas«, wie das Steuerhaus auf Mississippidampfern allgemein genannt wurde.
Gowers hatte eben beobachtet, wie sich Gringoire auf dem Vordeck zum Schlafen einrollte und nun schon seit einer Viertelstunde schnarchte wie ein betrunkener Erzengel. Während die Hitze des Kaffees in seinem Magen anschlug und sich mit wohliger Langsamkeit in seine Gliedmaßen verbreitete, fragte er: »Heißt der Mann wirklich Pierre Gringoire?«
Lafflin schüttelte den Kopf. »Nur Gringoire, soweit ich weiß. Vielleicht nur ein Spitzname, aber den hatte er dann schon weg, als wir uns kennenlernten.« Ehe Gowers weitere Fragen stellen konnte, ging der alte Mann in die Offensive. »Sagen Sie nicht, dass Sie auch einen französischen Renaissancedramatiker gelesen haben!«
»Nein«, erwiderte Gowers belustigt. »Aber Notre-Dame de Paris natürlich, wenn auch nur in einer englischen Übersetzung.«
»Parlez-vous français?«
»Nur das, was man in New Orleans so nennt, Sir.«
Gringoire war tatsächlich ein Spitzname, aber Gringoire trug ihn schon so lange, dass er sich an seinen eigentlichen Namen kaum noch erinnern konnte. Schon seine Kommilitonen an der Sorbonne hatten ihn so genannt, wegen der Narrenstreiche, die schließlich zu seiner Relegation geführt hatten, und in seiner Gerichtsakte stand »Gringoire« bereits gleichberechtigt neben seinem bürgerlichen oder vielmehr adligen Namen. Einem der wenigen, die es anderthalb Jahrzehnte nach der großen Revolution in Frankreich noch gegeben hatte.
Im Bagno, auf den Îles du Salut, wurde er endgültig und ausschließlich Gringoire und blieb es auf seiner abenteuerlichen Flucht durch Französisch-Guayana, Surinam, Kolumbien und die Inselwelt der Karibik. Auf Santo Domingo schloss er sich dem berüchtigten Freibeuter Pierre Laffitte an, der französische Waren an der gesamten englischen Kriegsflotte vorbei nach New Orleans schmuggelte. In New Orleans endlich lernte er Pierres jüngeren Bruder Jean kennen; einen Mann, der nicht nur Liebhaber der amerikanischen Gouverneursgattin war, sondern auch die Chuzpe besaß, ein von ebendiesem Gouverneur, William C. C. Clairborne, auf ihn ausgesetztes Kopfgeld von fünfhundert Dollar zu verzehnfachen – auszuzahlen an denjenigen, der ihm Gouverneur Clairborne brächte, tot oder lebendig.
In der sinnlosesten Schlacht des Jahrhunderts, die Anfang Januar 1815 bei New Orleans nur stattfand, weil weder Engländer noch Amerikaner wussten, dass die Vertreter ihrer beiden Länder bereits Weihnachten 1814 im fernen Belgien einen Friedensvertrag unterzeichnet hatten, kämpften sie aber dann doch aufseiten der Amerikaner: Gringoire, die Brüder Laffitte und zweihundert ihrer halbwilden Schmuggler und Piraten aus den Sümpfen von Barataria. Der Dank der Vereinigten Staaten für ihre schlachtentscheidenden Dienste bestand darin, dass ein Bataillon der US-Marine die kleine Schmugglerrepublik dem Erdboden gleichmachte, während zur gleichen Zeit die zerlumpten Baratarier die Übermacht der britischen Rotröcke unter General Sir Edward Palkenham vier Mal zurückschlugen.
Eine bereits ausgerufene Amnestie wurde kassiert, und die so schäbig betrogenen Piraten zerstreuten sich in alle Winde der Karibischen See. Gringoire und die Brüder Laffitte schlossen sich dem mexikanischen Freiheitskampf unter Admiral Manuel de Herero an, plünderten von Galveston aus allerhand Fracht-und die letzten Silberschiffe, die die spanische Krone aus Mittelamerika herauspresste. Sie gründeten auch erneut eine Piratengemeinde: Campeachy, letzte natürliche Tochter der alten Seeräubernester Tortuga, Port Royal und New Providence.
Amerikanische Kriegsschiffe machten schließlich 1821 diesem letzten Spuk der Freibeuter, Buccaneers und Piraten der Karibik, die unter der Flagge Groß-Kolumbiens ihrem seeräuberischen Handwerk nachgingen, ein unblutiges Ende. Die Brüder Laffitte segelten aus der Geschichte ins mythische Reich der Schatzinseln und Knabenträume, und Gringoire, ihr bester Kanonier, verschwand mit ihnen – um vier Jahrzehnte später an Bord eines kleinen Mississippidampfers wieder aufzutauchen.
50.
Gegen Mittag hatte Gringoire das Steuer übernommen und Gowers sich unter Deck verholt, wo John Lafflin, merkwürdig vertraut auch mit den Küchengerätschaften eines Schiffes, wenn auch nicht unbedingt mit Zutaten und Gewürzen, ihre erste Mahlzeit auf dem Fluss zubereitete.
»Was liegt an, Mr. Gowers?«
»Recht so, wie’s geht, Sir«, sagte John und fügte, nachdem er dem Treiben eine Weile zugesehen hatte, amüsiert, aber durchaus respektvoll hinzu: »Sie sind der erste Kapitän, den ich kochen sehe.«
»Meinen Sie, ich sollte ein bisschen an Deck gehen und wichtig aussehen?«, erwiderte Lafflin ironisch. Er wandte sich wieder den beiden Töpfen zu, die über der Feuerstelle hingen. »Nein«, fuhr er fort, »wenn an Deck alles glattgeht, alle Pläne gemacht sind und alle Mann ihre Arbeit tun, sollten Kapitäne viel öfter kochen.«
»Jason liegt achtern auf einer Taurolle und schläft.« Gowers war kein Denunziant, aber zu lange auf britischen Schiffen gefahren, um sich diese Bemerkung verkneifen zu können.
»Jason ist gerade mal zwanzig. Der braucht seinen Schlaf«, antwortete Lafflin gleichmütig. »Ich dagegen kann selbst nachts kaum schlafen, zum Kohleschaufeln bin ich zu alt, und zum Lesen fehlt mir gegenwärtig die Lust. Kochen ist wirklich das Sinnvollste, was ich im Moment tun kann. Außerdem esse ich gern, und so weiß ich wenigstens, was ich esse.« Er wusste es allerdings nicht ganz genau, denn er hatte zumindest ein paar Gewürze verarbeitet, die ihm bis dahin unbekannt gewesen waren.
»Und die Autorität?«, bohrte John weiter.
»Wenn ich die dauernd beweisen müsste, wäre ich arm dran.« Der Alte lächelte. »Da wir in Amerika schon die Wahl zwischen sinnloser Autoritätswahrung und sinnvoller Tätigkeit haben, wähle ich lieber die Tätigkeit.«
»Ah! Sozialismus, nicht wahr?«, stichelte der Lotse.
»Ja«, antwortete Lafflin trocken. »Die Beseitigung des Einkommens ohne Arbeit sozusagen.« Er scharrte mächtig in einem der beiden Töpfe, in dem sich trotz einer Unmenge Öls etwas anzusetzen drohte.
»Warum wollen Sie eigentlich gerade das abschaffen, wovon alle träumen?«, fragte der junge Mann ehrlich erstaunt.
»Weil es gute und schlechte Träume gibt, Mr. Gowers. Aber verstehen Sie mich recht: Der Traum von einem sorgenfreien Leben ohne Anstrengung ist nicht an sich schlecht. Schlecht ist er nur, wenn ihn wenige auf Kosten vieler verwirklichen, weil er dann für die vielen immer nur ein Traum bleiben wird.«
»Ist nicht genau das natürlich?«
»Das glaube ich eben nicht.« Lafflin ereiferte sich allmählich. »Ich halte es für eminent politisch. Für eine politische Konstruktion von den Reichen für die Reichen, begründet durch angeblich göttliche Prinzipien, organisiert von einer korrupten Beamtenschaft und durchgesetzt von Polizei und Militär – also fünftausend Armen, die man ein bisschen besser bezahlt, damit sie hunderttausend andere Arme in Schach halten. Natürlich, Mr. Gowers, ist dagegen die Revolution!«
»Aha«, sagte der Lotse und führte den Daumen quer unter seinem Kinn über den Hals.
»Ja«, bestätigte Lafflin, »wenn es nicht anders geht.« Wieder verlangten die Töpfe ihr Recht, und der Kapitän nahm einen von ihnen von der offenen Flamme. »Wissen Sie, was Marie-Antoinette geantwortet hat, als man ihr erklärte, dass die Armen revoltieren, weil sie kein Brot mehr haben?«
Gowers schüttelte den Kopf.
»Sie sagte: Dann sollen sie doch Kuchen essen!« Lafflin schnaufte verächtlich. »Einen solchen Kopf zu verlieren kann man wohl kaum als Verlust für die Menschheit bezeichnen.«
»Ich nehme an, dass Marie-Antoinette das anders gesehen hat.«
Der alte Mann zuckte jetzt die Achseln, als hielte er die Fortsetzung des Gesprächs allmählich für sinnlos. »Revolutionen sind immer grausam, in ihrem Verlauf ungerecht, in ihren Ergebnissen häufig verfehlt. Aber eben nie – unberechtigt! Ein Prozent der Bevölkerung hat nun einmal nicht das Recht, neunundneunzig Prozent auszubeuten, und darf sich nicht wundern, wenn das dazugehörige System gelegentlich mit einem hässlichen Geräusch im Mülleimer der Geschichte verschwindet.«
»Aber das Verhältnis stellt sich doch offenbar immer wieder her, sozusagen in neuen Gewändern. Wäre es da nicht logisch …«
Lafflin winkte nun beinahe verächtlich ab. »Ich fürchte Dinge, die logisch sind«, sagte er. »Logik suggeriert eine Wahrheit ohne Inhalt, also bloße Folgerichtigkeit, und die Ereignisse, auch die schlimmsten, drängen sich uns dadurch als unausweichlich auf. Wir glauben allen Ernstes, wir dürften an Abläufen nichts ändern, wenn sie nur logisch sind, und insofern lähmen sie uns. Jeder Krieg tritt auf und sagt dröhnend: Ich muss stattfinden! Und die Menschen sind ihm zu Willen, weil er ihnen mit seiner Logik kommt.« Er nahm jetzt auch den anderen Topf vom Feuer und rührte dann die bis zur Undefinierbarkeit verkochten Inhalte der beiden Gefäße ineinander, während er fortfuhr: »Die nobleren Seiten unseres Wesens sind fast alle unlogisch: Gnade und Liebe. Humor. Fantasie. Kunst. Kosten Sie mal!«
Er hielt seinem Lotsen den Kochlöffel hin, und so kam John nicht dazu zu erwidern, dass auch die übelsten Seiten des menschlichen Wesens nicht unbedingt logisch sind: Hass, Grausamkeit, Neid und all ihre rachitischen Verwandten. Der fragende Blick des kochenden Kapitäns galt jetzt auch nicht mehr seinen Ansichten zur Logik oder zum Sozialismus, sondern dem sonderbaren, etwas streng riechenden kreolischen Reisgericht, das er zusammengerührt hatte. Gowers schaffte es, das Gesicht nicht übermäßig zu verziehen, kaute jedoch deutlich länger, als er musste, weil er seinen Wortschatz nach einem nicht allzu vernichtenden Adjektiv durchsuchte.
»Nahrhaft!«, sagte er dann und war froh, dass Gringoire im gleichen Moment die Dampfpfeife betätigte; das vereinbarte Signal dafür, dass sie in die große Flussschleife vor Cairo einfuhren. Hier veränderte der Mississippi seinen Lauf um fast hundertachtzig Grad, floss also für gute fünfzehn Meilen wieder nach Norden, ehe eine weitere halbe Drehung ihn wieder auf Südkurs brachte, wo er sich kurz darauf mit dem Ohio vereinigte. Es war, auch bei guter Sicht und hohem Wasserstand, eine der anspruchsvolleren Navigationsaufgaben, die der alte Fluss seinen Lotsen stellte, und Gowers ging, um den verwitterten Piraten im »Texas« abzulösen.
51.
Und was du suchst, liegt immer hinter dir – der einfache Satz hielt von Tempsky noch immer gepackt, und kaum hatte McDonnell ihn abgehängt, also mit dem ersten Schiff voller Freiwilliger Melbourne und die Port Philipp Bay verlassen, da gab Manu-Rau das Werbekommando an einen untergeordneten Leutnant weiter und saß im Zug nach Bendigo. Hier besaß er noch immer ein Stück Land, einen Claim, und – wer weiß? – vielleicht hatte Goethe ja recht und die Goldader lag nur einen Spatenstich entfernt, den er damals, vor sechs Jahren, nicht getan hatte. Zwei Tage sinnlosen Staubaufwerfens ließen den Kommandeur der Fünften Division der Armed Constabulary allerdings über sich selbst und den Kerl aus Weimar lachen. Das war es also nicht, was Proserpina ihm sagen wollte!
Von Tempsky sah ins Outback hinaus und dachte an einen anderen, noch länger zurückliegenden Tag, im Sommer 1860. Das Philosophische Institut von Melbourne, erst kürzlich in den Rang einer Royal Society erhoben, suchte Mitglieder für eine Forschungsexpedition, die Australien von Süden nach Norden durchqueren sollte. Selbst den Leiter dieser Expedition, Robert O’Hara Burke, einen irischen Polizisten, von dem es hieß, er könne weder mit Sextant noch Kompass umgehen und würde am helllichten Tag Norden und Süden verwechseln, hatte man per Zeitungsinserat gefunden, und so bewarb sich von Tempsky als Chronist, Historiker und Zeichner des heroischen Unternehmens. Da er jedoch, gemäß seinem Wappenspruch, auf den reichlich in Aussicht gestellten Ruhm solcher Taten gern verzichtete und stattdessen auf angemessener Bezahlung bestand, wurde er abgelehnt – und hatte damit keinen Anteil an einer der legendären Katastrophen der Entdeckungsgeschichte.
So war es eigentlich immer. Von Tempsky schrammte knapp am Erfolg, der Weltgeschichte und einem Platz im Konversationslexikon vorbei: kam einen Tick zu spät, wie 1850 in Kalifornien, kolonisierte den falschen Ort, wie die Mosquito Coast in Nicaragua, die bald keinen Menschen mehr interessierte, verpasste die glänzende Gelegenheit, in der australischen Wüste ehrenvoll zu verschmachten, und stand im Waikato-Krieg neben dem Mann, der das Viktoriakreuz erhielt. Kopfschüttelnd lächelte er, die Pfeife im Mundwinkel, und blickte nachdenklich in die Sonne, die im Westen im großen Garnichts versank. Komische Sache, der Ruhm. Gut, dass die Tat alles war!
Als von Tempsky von seiner sentimentalen Reise nach Melbourne zurückkehrte, war sein Schiff seeklar und seine Division mit Freiwilligen aller Art aufgefüllt, darunter sogar ein paar Chinesen. Wie nicht anders zu erwarten, war es zwar eher die Hefe der Kolonie, die angemustert hatte, aber auch etliche ausgediente Soldaten der britischen Indienarmee, die ihr Glück auch in Australien nicht gefunden hatten. Gute irische und schottische Namen waren in der Stammrolle eingetragen, was indes nicht viel heißen wollte, da man sich nicht die Zeit genommen hatte, die dazugehörigen Identitäten zu überprüfen.
Von Tempsky seufzte und grinste gleichzeitig, als er den sechsten oder siebten John Smith entdeckte. Kolonialtruppen waren überall gleich und boten dem Hühnerdieb wie dem Hochstapler rund um den Globus die bequeme und einfache Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Aber er würde die Kerle schon hinkriegen in den drei oder vier Wochen auf See, in denen sie nicht desertieren konnten. Eben wollte er dem Kapitän den Befehl übermitteln, bei nächster Gelegenheit die Anker zu lichten, als lautstarke Stimmen an Deck ihm verrieten, dass Ärger bevorstand.
Es war eine Abteilung der Victorian Police, die das Schiff geentert hatte und nun offenbar glaubte, das Kommando übernehmen zu können. Von Tempsky nahm sich nicht die Zeit, seinen Uniformrock anzuziehen, und lediglich seine Feldmütze, ein schmales »Schiffchen«, das er in einem die Schwerkraft und jede Art von Autorität herausfordernden Winkel auf die dunklen Locken gesetzt hatte, wies ihn als Offizier aus. Sein um Hals und Nacken nur nachlässig geschlossenes Hemd, die in die kniehohen Stiefel gestopfte graue Hose und insbesondere der Gürtel, in dem ein Revolver und zwei Bowiemesser steckten, ließen ihn dagegen eher wie einen Piraten-oder Schmugglerhäuptling aussehen.
»Captain von Tempsky«, stellte er sich mit feinem Lächeln dem Sergeant und seiner sechsköpfigen Polizeitruppe vor. »Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?«
Der Sergeant überlegte kurz, beschloss dann, vor einem derart heruntergekommenen Offizier, der offenbar nicht einmal Brite war, nicht zu salutieren, und sagte so amtlich kühl, als würde er die Sätze ablesen: »Wir suchen einen Amerikaner namens John Gowers. Wir haben Grund zu der Annahme, dass er sich als Soldat hat anwerben lassen. Wir werden deshalb mit Ihrer gütigen Erlaubnis dieses Schiff durchsuchen.«
»Die Arbeit können Sie sich sparen, Sergeant«, sagte von Tempsky leichthin, der so etwas geahnt haben mochte und die Stammrolle noch in der Hand hielt, die er gerade durchgegangen war. Mit einem verständnisvollen Nicken reichte er sie jetzt dem Polizisten. »Tun Sie Ihre Pflicht, Sergeant. Suchen Sie Ihren Mann!«
Er wusste, dass das ganze Schiff jetzt vor Anspannung bebte, wusste aber auch, dass seine nächsten Worte das Verhältnis der neuen Rekruten zu ihrem Kommandeur bestimmen würden. »Wenn er allerdings nicht auf dieser Liste steht«, sagte er kategorisch, »ist der Mann nicht an Bord.« Das war es, was seine Männer wissen mussten. »Was hat er denn ausgefressen?«
»Ist in diese Maguire-Geschichte verwickelt«, brummte der Sergeant stirnrunzelnd, während er das Verzeichnis der Eingeschriebenen wenig hoffnungsvoll entgegennahm. »Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben.«
Von Tempsky hatte davon gehört, sogar in einigen Gazetten darüber gelesen; bis nach Bendigo hinauf sprach die ganze Kolonie von dem tragischen Selbstmord einer gewissen Mrs. Maguire, dem Tod ihrer Kinder und dem, was ihr Mann, übrigens ein ehemaliger Sträfling, einer Verdächtigen angetan hatte. Nur der Name John Gowers war ihm in diesem Zusammenhang noch nicht begegnet. Vollkommen bereit, den Mann entgegen seinen Gepflogenheiten tatsächlich auszuliefern, fragte er: »Ist er der Mörder?«
»Wissen wir nicht«, antwortete der Polizeibeamte, der die Liste gründlich studierte. »Hat jedenfalls ausgesagt, dass er den Mörder kennt. Undurchsichtige Geschichte! Gibt sich als Detektiv aus«, fügte er nur mehr brummend hinzu.
Ein John Gowers war in der Stammrolle nicht eingetragen.
»Vermutlich hat er einen falschen Namen angegeben«, mischte sich ein junger Konstabler ein, als wäre dieser Sachverhalt irgendeinem der Beteiligten unklar. »Gucken wir uns die Männer doch einfach mal einzeln an!«
Er machte zwei Schritte, um sich nach achtern und in die Mannschaftsquartiere zu begeben, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sich ein Bowiemesser weniger als einen halben Meter neben seinem Kopf in den Großmast bohrte. Selbst diejenigen, die ihn gut kannten, hatten kaum die Bewegung gesehen, mit der Manu-Rau das Messer geschleudert hatte.
»Komische Dinger … Fliegen«, sagte der seltsame Offizier jetzt scheinbar ganz unvermittelt. »Ich kann kein positives Verhältnis zu den Biestern entwickeln. Entweder sie sind mir egal, oder sie gehen mir auf die Nerven.« Beinahe schlendernd trat er dem Polizisten in den Weg und zog langsam die Klinge aus dem Holz. Er lächelte. »Ich glaube, wenn die Fliegen das wüssten, würden sie alles tun, um mir egal zu bleiben!« Er hielt dem noch immer konsternierten Beamten das Messer unter die Nase, an dessen Spitze tatsächlich die Reste einer Fliege klebten.
Der Konstabler schluckte schwer, als die Bedeutung der Worte nach und nach sein Bewusstsein erreichte, und machte keinen zweiten Versuch mehr, von Tempskys Soldaten in Augenschein zu nehmen.
»Lassen Sie’s gut sein, Billings«, sagte der Sergeant langsam und ließ die Liste sinken. »Sieht so aus, als wäre der Mann nicht an Bord!«
52.
Am frühen Abend, das Land war noch nicht außer Sicht, aber die Seekrankheit hatte die ersten der neuen Soldaten bereits schwer gepackt, kam von Tempsky, dem es in der Kajüte zum Lesen zu dunkel und stickig war, noch einmal an Deck. Er hatte sich nicht umgezogen, nur den Gürtel mit seinen Waffen abgelegt und Goethes Gesammelte Werke, Band VII, unter den Arm geklemmt.
Die frische Brise spielte mit den dünnen Rauchwolken, die aus der Pfeife und seinem Mund aufstiegen. Er schnüffelte kurz, aber auch achtern war die Luft nicht besonders. Zu viele Männer hingen bäuchlings über der Reling. Also ging er nach vorn, um sich ein gemütliches Plätzchen am Fockmast zu suchen. Als er dort ankam und gerade um die Kombüse herumbog, stutzte er plötzlich, weil er für eine Sekunde glaubte, seinem eigenen Spiegelbild gegenüberzustehen.
Der Mann hatte seine Größe und seine Figur, eine Pfeife im Mund und ein Buch unter dem Arm. Seine Aufmachung war ähnlich nachlässig, sogar eine alte Feldmütze trug er auf dem Kopf. Die hatte allerdings einen schmalen Schirm, und sein Haar war etwas dunkler, etwas kürzer. Verblüfft musterten die beiden Männer einander fast eine halbe Minute lang.
Der wesentlichste Unterschied blieb wahrhaftig die Mütze; 4th Illinois Scouts, entzifferte von Tempsky mit Mühe den auf den Schirm aufgestickten, fast völlig verblassten Schriftzug. Dann lächelte er.
»John Smith der Vierte oder Fünfte, nehme ich an?!« Aber sein Gegenüber schüttelte den Kopf.
»Williams, Sir, Joseph B.«
Beide zogen an ihren Pfeifen, die zu verlöschen drohten.
»Der Name klingt beinahe echt«, sagte von Tempsky anerkennend.
»Der ist auch echt, Sir«, erwiderte John Gowers, der seinen Taufnamen indes seit seinen Tagen als Telegrafist kaum noch benutzt hatte.
»Was lesen Sie Gutes, Mr. Williams?«
Wortlos hielt Gowers das Buch hoch, das im Augenblick sein Verhältnis zu Gott und der Welt und seinem eigenen ruhelosen Gewissen am besten beschrieb: Cain: A Mystery.
»Byron!«, rief von Tempsky überrascht und fügte mit gewohnter Heiterkeit hinzu: »Dürfte eines der ersten Exemplare sein, die in Neuseeland eingeführt werden.«
»Und Sie, Sir?« Gowers deutete auf den Band, den der Kommandant in der Hand hielt.
»Oh, Goethe«, sagte von Tempsky und zeigte dem seltsamen Rekruten das Buch. »Kennen Sie ihn?«
»Leider nein, Sir«, erwiderte Gowers und erinnerte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder an die endlose Nacht des Nordens und ein Gespräch mit dem deutschen Missionar Miertsching. »Obwohl man mich mal vor ihm gewarnt hat.«
»Sie kannten sich, wissen Sie.« Von Tempsky deutete zwischen den Büchern hin und her, als stünden sich der alte und der junge Faust leibhaftig gegenüber. »Haben sich gegenseitig Gedichte geschrieben und all das.« Er erinnerte sich dunkel zumindest an ein Gedicht Goethes, das Byron gewidmet war, aber mehr als die ihn damals unmittelbar ansprechenden Verse »Liebt den Säbel, liebt das Schwert, freut sich der Gewehre« fiel ihm beim besten Willen nicht ein, und so verzichtete er darauf, das Gespräch mit einem klassischen Zitat zu würzen.
»Stimmt es?«, fragte er stattdessen unvermittelt. Von Tempsky ging zu Recht davon aus, dass sich der Besuch der Victorian Police herumgesprochen hatte – zumindest bis zu dem Mann, dem er gegolten hatte.
»Was, Sir?« Gowers wusste zwar tatsächlich, dass die Polizei an Bord gewesen war, und konnte sich denken, was, oder besser: wen sie gesucht hatte. Da die Männer noch immer von dem spektakulären Messerwurf sprachen, hatte er auch erfahren, auf welche Weise von Tempsky diese Suche unterbunden hatte. Aber was genau der Kommandant von den Polizisten erfahren hatte, konnte er unmöglich wissen.
»Dass Sie den Mörder kennen?!«, beharrte von Tempsky. Entweder würde er jetzt seinen Ruf festigen, ein wenig seltsam zu sein, oder aber sich seiner Menschenkenntnis schmeicheln dürfen. Schon am kurzen Zögern des neuen Soldaten erkannte er, dass Letzteres der Fall war.
»Ja«, sagte Gowers, weniger, weil er rasch ein paar richtige Schlüsse gezogen hatte und seinem Gegenüber vertraute, und mehr, um herauszufinden, was der Mann sonst noch über ihn wusste.
»Dann sind Sie also ein Detektiv!« Von Tempsky konnte die Freude am eigenen Scharfsinn nicht länger unterdrücken und lächelte ein wenig zu überlegen.
»Investigator«, sagte Gowers mechanisch. »In Amerika sagen wir: Investigator.« Er trat langsam an die Reling und sah aufs Meer hinaus.
Auch von Tempsky bewegte sich jetzt; verstaute Goethe in einer Taurolle, setzte sich darauf und fragte nach einer Weile, den Rücken behaglich an die Kombüsenwand gelehnt und die Pfeife frisch gestopft: »Was ist geschehen?«
53.
Der Fluss hatte seinen Sänger noch nicht gefunden. Als Meschacebé war er die pittoreske Wildnis, in der französische Romanheldinnen zugrunde gingen: schuldig und entsprechend erschütternd die wilde Manon Lescaut, unschuldig und bis zum Erbrechen erbaulich die kreuzbrave Atala. Vielleicht weil der Mississippi so lange französisch gewesen war, ging es auch im ersten amerikanischen Epos, das ihm zumindest nahekam, Longfellows Evangeliné, in heroischen Versen um eine heroisch leidende Französin. Anscheinend hatten die Frauen einfach kein Glück mit dem Fluss, und es mussten Jungenbücher geschrieben werden, um ihn adäquat zu besingen.
Sein bis auf einen gut gemeinten Versuch auf der Oberlippe noch bartloser Homer war ein Spötter erster Güte und lächelte auch als junger Mississippilotse schon so feinsinnig in die Welt, als wüsste er insgeheim, dass sein jeweiliges Gegenüber heute noch auf den Arsch fallen würde. Er hatte gerade seine erste Satire veröffentlicht – gegen den Altvater aller Lotsen, den ehrwürdigen Kapitän Isaiah Sellers. Der alte Mann hatte im Picayune für den Geschmack seiner Lotsenkollegen einmal zu oft darauf hingewiesen, dass der Fluss sich nach seiner Erinnerung in den letzten hundertsechsundsiebzig Jahren um zweihundertzweiundvierzig Meilen verkürzt habe, und musste nun im True Delta, einer anderen in New Orleans erscheinenden Zeitung, die spöttische Erwiderung lesen, dass das einen Durchschnitt von 1,3 Meilen pro Jahr ergebe.
»Also kann selbst ein Blinder mit Krückstock sehen«, schrieb der Spötter, »dass der Unterlauf des Mississippi im alten Oolith-Silur, nächsten November vor genau einer Million Jahre, wenigstens eine Million dreihunderttausend Meilen lang war. Ebenso muss es jedem einleuchten, dass es in siebenhundertzweiundvierzig Jahren von Cairo bis New Orleans bloß noch eindreiviertel Meilen sein werden und die beiden Städte spätestens dann ihre Straßen zusammenlegen.«
Der ehrenwerte Isaiah Sellers veröffentlichte nie wieder irgendetwas, und sein Widersacher stahl ihm daraufhin sogar das Pseudonym, unter dem der Kapitän fast ein halbes Jahrhundert geschrieben hatte: Mark Twain.
Sam Clemens hatte den Lotsenberuf ebenfalls unter Horace Bixby erlernt. Trotz seiner erst einundzwanzig Jahre hieß es, er könne aus dem Stegreif und ohne Not ein Loch in den Boden lügen, »so groß wie Texas«. Dass damit nicht der Staat, sondern nur das gleichnamige Steuerdeck gemeint war, tat der Exorbitanz seiner diesbezüglichen Fähigkeiten nur wenig Abbruch.
Er konnte den Engländer nicht leiden, und John wusste das. Umso überraschter war Gowers, als die Doc Brown, der sie am frühen Morgen des zweiten Tages bei Osceola begegneten, mit den üblichen zwei kurzen und zwei langen Pfeifsignalen kundtat, dass die Lotsen beider Schiffe miteinander zu reden hätten – und Sam Clemens auf dem in solchen Fällen angesteuerten nächsten Anlegesteg flussabwärts von Bord ging, als wollte er sich die Beine vertreten.
So etwas kam gelegentlich vor. Ein Lotse, der eine neu aufgetauchte Gefahr auf dem Fluss, ein Wrack, einen tückisch verkeilten Baumstamm oder ein durch einen nächtlichen Abbruch entstandenes Riff entdeckte, tat nur seine Pflicht, wenn er seine Kollegen bei erster Gelegenheit darauf hinwies. Dennoch war es ein seltsames Schauspiel: die beiden großen Schiffe, Fracht und Passagiere, Werte von leicht zehn-oder zwanzigtausend Dollar – und die beiden jungen Burschen, knapp über zwanzig, die den Lauf der amerikanischen Wirtschaft aufhielten, um auf einem gottverlassenen Steg unterhalb von Osceola/Arkansas anscheinend locker miteinander zu plaudern.
»Mr. Gowers.«
»Mr. Clemens.«
Obwohl sie kurzzeitig unter demselben Meister gelernt hatten, begrüßten sich die beiden jungen Männer sehr förmlich, indem sie mit knappen Verbeugungen die Lotsenmützen voreinander zogen.
»Schöne alte Nuckelpinne das«, sagte Clemens mit einem Lächeln in Richtung der Deep South. »Wohin geht’s?«
»New Orleans«, antwortete Gowers. »Und selbst?«
»Louisville.« Ohne sich vom Anblick des alten Schiffes losreißen zu können, fuhr Clemens fort: »Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber Ihr Kahn sieht nicht gerade so aus, als würde er die Aufmerksamkeit klügerer Reisender auf sich ziehen.«
»Ja, jetzt, wo Sie’s erwähnen … Aber die Sonne scheint für alle, nicht wahr?«, sagte John achselzuckend. »Haben Sie mich deshalb angeheult?«
»Ja und nein.« Clemens kratzte sich in einem eindrucksvollen Dickicht widerspenstiger brauner Locken. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, dass man mich trotzdem von Baton Rouge bis Memphis in nahezu jeder erwähnenswerten urbanen Ansiedlung nach einer gewissen Deep South gefragt hat. Und die Herren sahen nicht eben freundlich und zahlungswillig aus.«
Das Protokoll verlangte, dass sich nun Gowers hinter dem rechten Ohr kratzte und die Stirn runzelte. »Wie sahen sie denn aus?«
»Sozusagen schlagfertig, Mr. Gowers.« Sam Clemens grinste milde. »Sind Sie in letzter Zeit mal jemandem auf die Füße getreten?«
»Dauernd«, entgegnete John und seufzte. »Aber ich weiß auch nie genau, wem.« Er ließ sich noch ein wenig genauer beschreiben, was und wer im Süden auf sein Schiff wartete, wurde aber durch den Bericht seines scharf beobachtenden Kollegen nicht wesentlich klüger.
»Freut mich, wenn ich Ihnen zu denken geben konnte.« Clemens wandte sich wieder der Doc Brown und ihrem ungeduldigen Kapitän zu. »Na dann, sonst meinen die oben in Kentucky noch, wir wären abgesoffen, und fangen an, ergreifende Briefe an die Versicherung zu schreiben. Mast-und Schotbruch!«
Noch einmal grinste er mit dem Charme eines alten Krokodils, denn natürlich besaß ein Mississippidampfer weder Masten noch Segelleinen. John hatte jedoch während ihrer kurzen gemeinsamen Zeit beim alten Bixby einmal von einem Sturm im Südpazifik erzählt, und Sam, der die Ufer des Flusses noch nie aus den Augen verloren hatte, trug ihm das noch immer ein wenig nach.
»Danke verbindlichst«, sagte John und zog zum Abschied seine Mütze.
»Mr. Clemens!«
»Mr. Gowers!«
54.
Barataria war ein Kunstwort. Barato bezeichnete im Spanischen einen wohlfeilen Kauf, Baratterie war im französischen Sprachgebrauch der Karibik ein Synonym für Betrug und barare, italienisch, bedeutete so viel wie falschspielen, schummeln. Miguel de Cervantes hatte 1615 im zweiten Teil des Don Quijote einen Ort namens Barataria erfunden und zu der »Insul« gemacht, auf der Sancho Pansa endlich seinen Gouverneursposten erhielt. Die literarisch gebildeten Brüder Laffitte hatten es amüsant gefunden, ihrer kleinen Schmugglerrepublik in den Sümpfen vor New Orleans diesen ebenso vielschichtigen wie zwielichtigen Namen zu geben.
All das wusste Deborah nicht, als sie über vierzig Jahre später, im Sommer 1857, eine zu Tode erschöpfte Gruppe von sechsunddreißig entlaufenen Sklaven, Männern, Frauen und Kindern, an den Ort führte, der ihr als die letzte Zuflucht genannt worden war, wenn alles schiefginge. Nicht alles, aber doch das meiste war schiefgegangen, jedenfalls nach der annähernd zeitgleichen Flucht ihrer Schützlinge von nicht weniger als sieben verschiedenen Plantagen in Denham Parish bei Baton Rouge.
Es hatte viel Zeit und Koordination gekostet, diese Massenflucht vorzubereiten, und entsprechend viele Leute waren in den Plan eingeweiht. Einer, Nathan Willoughby, ein Haussklave und ausgesprochen vernünftiger Mann, war offenbar geschnappt worden, und Deborah wagte daraufhin nicht mehr, ihre Gruppe zum vereinbarten Treffpunkt mit dem Schiff zu führen. Stattdessen gingen sie – Deborah wusste aus eigener Erfahrung, dass ein Erwachsener fünf Tage, ohne zu essen, marschieren kann – nach Südosten, in die Sümpfe des Lake Maurepas, und hatten damit den von der Miliz gezogenen Fahndungsring überschritten. Hier versteckten sie sich einige Tage, bis Deborah, in der Maske eines Cajunmischlings, ein Floß aufgetrieben hatte, das groß genug war, um sie alle über den Fluss zu bringen.
Das Übersetzen war eine selbstmörderische nächtliche Aktion gewesen, da keiner von ihnen besonders viel Erfahrung mit Flößen hatte, und zwei Kinder waren ertrunken: ein vorwitziger kleiner Junge, der ins Wasser gefallen, und seine dreizehnjährige Schwester, die ihm nachgesprungen war, um ihn zu retten. Die Klagen der untröstlichen Mutter hatten sie am anderen Ufer, nahe Lulling, beinahe verraten, und ein paar wilde junge Männer in ihrer Gruppe waren nahe daran gewesen, die Frau zu erschlagen. Überhaupt waren die jungen Männer diesmal ein Problem, und das Fehlen eines besonnenen Mannes wie Nathan Willoughby machte sich hier besonders bemerkbar: Sie gehorchten Deborah nur widerwillig, und besonders einer, Gandalod von der Bonneterre-Plantage, sprach immer wieder davon, nicht mehr zu flüchten, sondern zu kämpfen, in der nächstbesten Stadt Waffen zu stehlen und alle Weißen zu töten, die ihnen begegnen würden.
Gandalod drohte wahrhaftig damit, sich – und alle Männer, die mit ihm gehen würden – von der Gruppe zu trennen und in den Sümpfen eine Räuberbande zu gründen, eine Armee freier Mörder, als deren General er sich bereits sah. Er war zweifellos halb wahnsinnig und beruhigte sich erst, als Deborah ihm sehr verständnisvoll klarmachte, dass das eine das andere ja nicht ausschließen müsse; zuerst würde man die Frauen und Kinder in Sicherheit bringen, dann könne man immer noch über einen Krieg der Sklaven gegen ihre Herren nachdenken.
Von da an war Gandalod einer der Eifrigsten in dem Bestreben, die Flüchtlinge ungesehen nach Barataria zu bringen. Deborah erfuhr später von den Frauen, dass man den jungen Mann kastriert hatte – auf Befehl seiner Herrin und vor den Augen des Mädchens, in das er verliebt gewesen war. Das erklärte zumindest seinen wahnsinnigen Rachewunsch.
Der Weg durch die Sümpfe, immer bei Nacht, bis zu den Ufern des Lake Salvador, war lebensgefährlich gewesen. Eine der Frauen war von einem Alligator angefallen worden, als sie sich von den anderen entfernt hatte, um Beeren zu suchen, und die anschließende Panik hatte die Gruppe beinahe völlig zerstreut. Es dauerte einen ganzen Tag, um sie wieder zusammenzubringen und zum Weitergehen zu überreden. Gandalod, der den Alligator mit nichts als einem Knüppel angegriffen und vertrieben hatte, schwankte unter der Last der schwer verwundeten Frau, und Deborah hatte fast siebzig Stunden lang nicht geschlafen, als sie Barataria endlich erreichten. Hier, im tiefsten Süden, wo man sie am wenigsten suchen würde, trieben sie Pfähle in den weichen Boden, bauten kleine Plattformen und errichteten primitive Hütten darauf, um zumindest vor Raubtieren geschützt zu sein.
Die Versorgung mit Nahrungsmitteln war ein Problem. Die Männer schnitzten sich Speere und jagten ohne großen Erfolg die wilden Schweine, die Frauen angelten und sammelten unbekannte Beeren und Kräuter, an denen sich die ganze Gruppe beinahe vergiftete. Alle litten unter Durchfall und aßen schließlich das Moos, die Flechten und sogar die Rinde der Bäume, um überhaupt etwas im Magen zu haben. Die verletzte Frau starb, und Deborah gab auch den anderen nur noch zwei, höchstens drei Wochen. Dreimal machte sie sich auf den langen, gefährlichen Weg nach New Orleans. Einmal, um dem alten Mann zu telegrafieren, zweimal, um Nahrungsmittel zu stehlen; zwei Säcke mit Futtermais, die sie ganz allein und auf den Schultern zwanzig Meilen weit durch die Sümpfe trug. Ein Boot zu stehlen wäre zu gefährlich gewesen.
Die Aufsässigkeit der jungen Männer nahm wieder zu, und eine offene Meuterei konnte nur verhindert werden, indem einige der Frauen und jungen Mädchen mit den Männern schliefen, um sie zu weiterem Ausharren zu bewegen. Das konnte natürlich nicht alle beruhigen, und als Deborah verkündete, dass das Schiff jetzt täglich eintreffen müsse und sie noch einmal nach New Orleans gehen werde, um den Kapitän am vereinbarten Treffpunkt aufzusuchen, bestand Gandalod gegen alle Vernunft darauf, sie zu begleiten.
55.
Gowers hatte zu viel erlebt, zu viele Tote – schuldige und unschuldige – gesehen, als dass die Tragödie, in der mitzuwirken er das Pech gehabt hatte, ihm den tiefen, traumlosen Schlaf geraubt hätte, der Teil seines bitteren Erbes war.
Und es sei Summe allen Menschenwissens
Die Nichtigkeit der sterblichen Natur;
Vererbst du dieses Wissen deinen Kindern,
Dann bleibt denselben manches Leid erspart.
George Gordon Noel, sechster Baron von Byron und der vielleicht hochmütigste Geist seiner Epoche, hatte das gewusst. Robert und Elizabeth Maguire naturgemäß nicht. Und der schuldlose Tod ihrer Kinder, das so furchtbar willkürliche Verstummen ihres klaren blauen Lachens hatte beide die eine gute Gabe gekostet, die der verhängnisvolle Apfel dem schwachen Lehm verliehen hatte: ihre Vernunft – oder jedenfalls das, was Gowers dafür hielt.
Er selbst konnte sich nichts mehr vorstellen, was ihn so vernichten würde, dass er das Leben freiwillig aufgäbe. Wie weit ihn das zum Vieh oder zum Menschen machte, wusste er nicht und dachte auch nicht mehr darüber nach, seit er die winzige Mississippi-Insel verlassen hatte, auf der seine Frau gestorben war.
Vater! Eva! Adah! Kommt hierher. Der Tod ist in der Welt!, sagt Abels Witwe Zillah in Byrons Stück.
»Nein«, antwortete John Gowers, als er an einem der ersten trüben Abende nach dem Ende seiner Ermittlung in dem unscheinbaren Oktavband auf diese ungeheure Klage stieß. »Der Tod ist die Welt.«
Als er erfuhr, dass die schöne Elizabeth Maguire sich die Pulsadern geöffnet hatte, empfand er Trauer, Mitgefühl und ehrlichen Schmerz – aber keine Schuld. Als Robert Maguire bei einer von ihm eingeforderten Gegenüberstellung mit der Haupttäterin plötzlich aufsprang und das böse, triumphierende Lachen aus Nell Fagans jungen Augen schnitt, konnte Gowers den Mann verstehen und entschuldigen. Schuld – das Wort tauchte merkwürdig oft in seinen Gedanken auf, sprang ihm entgegen aus Byrons Buch, und dann wusste er es.
Es gibt keine Schuld ohne Wissen.
Das war das eigentliche Mysterium um Cain und hinter dem ganzen Brimborium vom Baum der Erkenntnis. Wissentlich das Falsche zu tun heißt: sich schuldig machen. Alles andere geschieht nur, weil man ein Teil der Welt ist.
Er hatte das Falsche getan, hinterher war das leicht erkennbar. Aber er hatte – und das war der Punkt, der ihm am meisten zu schaffen machte – in der ehrlichen Überzeugung gehandelt, das Richtige zu tun. Von da an ärgerte er sich nur noch über seine offensichtliche Unfähigkeit, seine vielen Fehler rechtzeitig erkannt zu haben. Er hatte seinen Beruf verfehlt!
Und er war in einen Verdacht geraten, den die Initiatoren der Kampagne »Sauberes Victoria« geschickt zu nähren verstanden: in die undurchsichtige Geschichte von Entführung, Erpressung und Mord zumindest als Mitwisser verwickelt zu sein. Hatte er nicht genau gewusst, wo die Räuberhöhle im Chaos der Geisterstadt zu finden war? Hatte er nicht laut eigener Aussage die Kinder in die zweifelhafte Obhut einer polizeibekannten Hure gegeben?
Die Anschuldigung, General Harewood habe die Entführung der Maguire-Kinder nur inszeniert, um seinen politischen Gegner loszuwerden, konnte dagegen in ihrer Ungeheuerlichkeit ja wohl nur einem kranken Geist entspringen. Den hatte der Reeder durch seine blutige Attacke auf eine der Hauptverdächtigen ja auch prompt unter Beweis gestellt.
Der arme Mann! Erst die Kinder, dann die Frau. Harewoods Reden trieften von Mitgefühl, ließen aber immer wieder auch durchblicken, dass dubiose Verwicklungen dieser Art nun mal das unglückliche Erbe eines ehemaligen Sträflings seien.
Der einzige Mensch, der Gowers’ Version der Ereignisse bestätigen konnte, hieß William Blampin – und war spurlos verschwunden. Die wenigen Zeitungen, die ihn überhaupt erwähnten, bezweifelten, dass ein Mann dieses Namens jemals in Victoria gewesen war. Gowers hätte ihn finden, seine Spur aufnehmen können, aber erneut musste er eine Entscheidung treffen. Und er entschied sich – nicht mehr im Namen seines geistig umnachteten Auftraggebers, sondern ganz für sich selbst – für die Jagd auf James Fagan.
Als er wusste, wie er den Mörder finden konnte, räumte er seine Wohnung auf, so gut es ging, denn er würde eine Weile wegbleiben. Er ließ all seine Bücher – bis auf Byrons Cain – in den Regalen zurück, sogar die Canterbury Tales, die ihn sein Leben lang begleitet hatten, weil er annahm, dass er bald zurückkommen würde. Kleider zum Wechseln brauchte er nicht, lediglich seine Waffen und die Offiziersmütze, die er in all seinen Kämpfen trug. Entsprechend klein war sein Bündel, als er die Tür hinter sich abschloss. Er deponierte den Schlüssel in einem Schließfach seiner Bank, ging dann zum Hafen hinunter und war einen Tag später als einfacher Soldat der 5th Armed Constabulary auf dem Weg nach Neuseeland.
56.
In seinem Beruf hatte der Detektiv es häufig mit »schweren Jungs« zu tun, verschwiegenen, maulfaulen Gesellen, die lieber zuschlugen, als ein Wort zu viel zu sagen. Noch schlimmer waren die kriminellen Frauen, Damen des Gewerbes, die gemeinhin zwar schnell und viel redeten, aber selten die Wahrheit sagten. Als Plage betrachtete er auch jene Beamten in Justiz und Verwaltung, denen weder durch Bestechung noch gutes Zureden Informationen zu entlocken waren.
Gabriel Beale hatte viele Strategien, die ihn trotz solcher menschlichen Hindernisse normalerweise rasch ans Ziel führten. Er hatte sich schon als Pfarrer, General, Saufkumpan, Freier, Juwelier, Journalist, Anwalt, Polizist, potenzielles Opfer, Versicherungsvertreter, Büchsenmacher und, und, und ausgegeben, einmal sogar als Standesbeamter. Am Ende bekam er seine Informationen, Namen und Daten, vor allem, weil er die unheimliche Gabe besaß, binnen Minuten das Vertrauen seiner Gesprächspartner zu gewinnen.
Nur Mrs. Emma Lafflin und das Haus Nr. 24 in der Collins Avenue, St. Louis/Missouri, erwies sich mehr und mehr als uneinnehmbare Festung. Das traf ihn umso härter, als die Ermittlung bis dahin so einfach gewesen war. Er hatte natürlich den arglosen Maler ausgequetscht wie eine Zitrone und wusste nun, dass die Lafflins eine glückliche Ehe führten und zwei erwachsene Söhne hatten. Er wusste sogar, wo und was sie studierten. Aber andererseits wollte er in seinem Leben nie wieder etwas über den Sozialismus und die Internationale Arbeitervereinigung von St. Louis hören oder irgendetwas zu den künstlerischen Bemühungen dieses Pinselquälers sagen müssen.
Es kostete ihn einen Nachmittag herauszufinden, wo und wann die Lafflins getraut worden waren, und er musste diese lächerliche Information – 7. Juni 1832 – auch noch aus den unzähligen Familienanekdoten der presbyterianischen Gemeinde herausfiltern, mit denen der redselige Pfarrer das gemeinsame Durchblättern des Kirchenbuchs offenbar kurzweiliger zu gestalten glaubte. Mit kaum noch gespielter Rachsucht klapperte er danach einen Tag lang sämtliche Rechtsanwälte der Stadt ab, um als geprellter Salpeterzulieferer P. W. Dobbington seinen betrügerischen Geschäftspartner John Lafflin zu verklagen. Aber nicht einer, nicht der schäbigste unter den ortsansässigen Winkeladvokaten wollte den Fall übernehmen oder konnte auch nur irgendetwas Negatives über den Leumund des Schießpulverfabrikanten sagen – es war zum Verzweifeln.
Seine letzte selbstmörderische Attacke führte ihn direkt und persönlich vor die Tür und sogar in die Halle des belagerten Hauses. Sehr gekonnt, seriös und mit würdevoller Besorgnis spielte er dort die Rolle eines privaten Ermittlers namens Edward Doughty, der seit einigen Wochen die Schritte der Ehefrau seines ungenannten Auftraggebers beobachtet habe und dabei, wie solle er sagen, auch auf die Spur des Hausherrn, John Lafflin, gestoßen sei, der in ihrer Gesellschaft verkehre. Selbstverständlich wolle er alles tun, um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, sehe es aber als seine unangenehme Pflicht an, sie, Mrs. Lafflin, zu fragen, ob sie ihres Gatten sicher und über seine gesellschaftlichen Aktivitäten jederzeit auf dem Laufenden sei. Im Interesse aller Beteiligten …
Sein Auftritt dauerte nur knapp zwei Minuten. Dann sagte Emma Lafflin amüsiert zu ihrem Hausdiener, einem großen, sehr distinguiert wirkenden Neger: »Lucius, der Herr will gehen und findet die Tür nicht.«
Und Gabriel Beale – »Da haben Sie aber Glück, Sir. Die kann ich Ihnen so deutlich zeigen, dass Sie’s im Leben nicht mehr vergessen!« – hörte noch auf der Treppe, wie die Dame des Hauses in ein herzliches Gelächter ausbrach.
Er würde also einbrechen müssen. Das hatte er schon lange nicht mehr getan und fluchte, als das Licht in Emma Lafflins Schlafzimmer am ersten Abend auch um halb zwei Uhr nachts noch nicht erloschen war. Ihm fehlte die Geduld für so etwas, und er lenkte sich mit der Frage ab, ob das wohl eine Alterserscheinung war, denn früher war er häufiger eingebrochen, und das Warten war ihm leichter gefallen. Nach der ersten so hingebrachten Nacht war er sicher, dass Mrs. Lafflin bei Licht schlief, und das würde ihm immerhin das Suchen erleichtern.
Dennoch wartete er in der zweiten Nacht wieder bis drei Uhr, ehe er möglichst geräuschlos einen Fensterladen im Erdgeschoss aushebelte und endlich in die so hart wie heimlich umkämpfte Festung eindringen konnte. Mit der ihm eigenen Systematik verschaffte er sich zunächst einen Überblick über sämtliche Räume, um keine Zeit mit dem Suchen an falscher Stelle zu verlieren. Das Arbeitszimmer im ersten Stock schien ihm zunächst am vielversprechendsten, aber er begann seine Recherche dann doch in der Familienbibel, die auf dem Nachttisch lag und – wie in jedem ehrbaren amerikanischen Haushalt des 19. Jahrhunderts – die Abendlektüre der friedlich und geräuschlos schlafenden Hausherrin gebildet hatte.
Schon auf der ersten der damals üblichen Seiten für die Familieneintragungen am Ende des Alten Testaments wurde er fündig. »Ich weiß jetzt alles über Jeans Vergangenheit«, hatte die damals vierundzwanzigjährige Emma Lafflin im Jahr 1832 in einer klaren, festen Frauenschrift zu Papier gebracht. »Er hat mir sein Leben erzählt, und ich bin jetzt umso mehr entschlossen, seine Frau zu werden.« Das klang vielversprechend, und Gabriel Beale schlich, statt ins Arbeitszimmer und zur Geschäftskorrespondenz des Schießpulverfabrikanten, lieber ins Nähstübchen der wagemutigen Ehefrau, wo er nach kurzem Suchen tatsächlich die Briefe fand, die John Lafflin seiner Frau vor zehn Jahren aus Europa geschrieben hatte.
Man sah ihnen ihre lange Reise an. Sie waren von belgischen, französischen, britischen und amerikanischen Postbehörden abgestempelt, aber leider auf Französisch geschrieben, das Beale nur unzureichend beherrschte. Lafflins Handschrift war zudem klein und unruhig, schwer zu entziffern; dennoch brauchte der Detektiv nur wenige Minuten, um eine aufschlussreiche Besonderheit und Gemeinsamkeit dieser Schreiben zu entdecken.
Obwohl an Mrs. Emma Lafflin adressiert und auf der Rückseite mit John Lafflins jeweiliger Hotelanschrift versehen, waren sie doch allesamt mit J’n Laffitte unterzeichnet. J’n war Jean, so viel war klar. Aber wer oder was war Laffitte? Er wusste, dass er diesen Namen schon irgendwo gehört oder gelesen hatte, aber in welchem Zusammenhang?
Das charakteristische Geräusch eines Abzugshahns, der gespannt wird, unterbrach seine Überlegungen, und er verfluchte sich dafür, dass er so rücksichtsvoll gewesen war, die Briefe im Licht seiner kleinen Petroleumlampe zu lesen, anstatt sie einfach zu stehlen.
»Hätten Sie wohl die Freundlichkeit, die Hände hochzunehmen, Mr. Doughty?«, sagte Emma Lafflin, die mit dem Revolver ihres Mannes auf den nächtlichen Eindringling zielte.
Gehorsam hob Gabriel Beale die Hände, erwiderte dabei aber in seinem ruhigsten und beruhigendsten Tonfall: »Ich glaube nicht, dass Sie schießen werden, Madame!«
»Dann sind Sie ein gottesfürchtiger Mensch und werden mit Sicherheit in den Himmel kommen«, lautete die beunruhigend ruhige Antwort. Mrs. Lafflin läutete nach ihrem Hausdiener, und schon eine halbe Stunde später befand sich der Detektiv auf dem Weg ins öffentliche Gewahrsam der Gemeinde von St. Louis.
Dort konnte er sich immerhin zum ersten Mal seit zwei Tagen ordentlich ausschlafen und glaubte schon, nach seinem kläglichen Scheitern als Einbrecher nun sein Talent als Ausbrecher beweisen zu müssen, ehe er nach immerhin achtzehn Stunden gegen eine Kaution von hundert Dollar auf freien Fuß gesetzt wurde. Seine Ermittlungen verliefen nun wieder in den weniger aufregenden, aber zuverlässigeren Bahnen der Zeitungsrecherche und führten ihn noch einmal in die Bibliothek der Literarischen Gesellschaft von St. Louis.
Nach einem weiteren Tag solider Handwerksarbeit wusste er dann endlich, wer John Lafflin war respektive gewesen war, telegrafierte in den Süden und ließ sogar seine Kaution verfallen, um seinem Telegramm hinterherzureisen – obwohl er bereits vermutete, dass er zu spät kommen würde.
57.
Die körperliche Anstrengung tat ihm gut. Titokowaru hatte auf heiligen Pfaden den Mokau River überschritten und war damit nicht länger in der Provinz Taranaki, sondern in Greys County, nördlich davon. Er war allein unterwegs, und das war Ursache der Anstrengung, aber auch seines Vergnügens. Es gab niemanden, der seinen Proviant trug, niemanden, der den Weg auskundschaftete, sodass er manche Hügel, Abhänge zweimal hinauf-oder hinunterstieg. Es war aber auch niemand da, auf den er Rücksicht nehmen oder den er nach seiner Meinung fragen musste.
Er überlegte, wann er zuletzt so auf sich gestellt, frei, als sein eigener Herr unterwegs gewesen war, und kam auf einen Frühling vor sechsundzwanzig Jahren. Damals, als junger Methodistenlehrer, war er zwischen den weit verstreuten Dörfern hin und her gezogen, um Unterricht zu erteilen. Seither hatte er fast ohne Unterbrechung Männer angeführt, Kriegs-und Friedenspläne geschmiedet, Entscheidungen getroffen, und auch das war ein sehr einsames Leben, aber es war weniger schön. Ein Lächeln lag auf seinem entstellten Gesicht, als er sich an das Erwachen im Wald erinnerte, damals, die Morgenkühle, das frische Grün. Selbst die Luft war jünger gewesen. Nun war es Herbst geworden in seinem Leben, sein Schritt schwerer, und nur manchmal, für Sekunden, glaubte er, dass jener ferne Frühling noch neben ihm ging. Er bemerkte ihn aus den Augenwinkeln, aber wenn er hinsah, war er verschwunden.
Klug sind die Alten und weise, dachte der Häuptling der Ngaruahine, aber sie sind nicht jung.
Vor ihm lagen die Hügel der Mairoa Range, und das feine Rauschen im Tal des Mokau musste bereits von den Wasserfällen verursacht werden. Es war nicht mehr weit bis zu den Höhlen. Das gesamte Kalksteinplateau von Greys County war unterhöhlt, ausgewaschen von unterirdischen Flüssen, deren Verlauf noch völlig unerforscht war und die keine Namen hatten. Titokowaru stieg hinab in die Unterwelt, um sich zu reinigen und um Antworten zu finden; immer wieder waren, durch die Jahrhunderte, Männer und Frauen zu diesem Zweck unter die Erde gegangen. Manche hatten Zeichen hinterlassen, manche waren darin gestorben. Man sah noch hier und da, oft an schwer zugänglichen Stellen, die Skelette dieser Sucher.
Der Häuptling fand unter riesigen Büschen grünen Farns einen niedrigen Einlass. Auf dem Bauch durch das träge fließende Wasser eines kleinen Bachs kriechend, gelangte er in die Erde. Erst nach einigen Dutzend Metern weitete sich der Gang so, dass er sich auf Händen und Knien fortbewegen konnte, aber noch strich die Oberwelt, strichen dünner werdende Baumwurzeln über seinen Rücken. Irgendwann fühlte er, dass der Raum um ihn weiter wurde, und als er sich aufsetzte, sah er die Lichter. Sie sahen aus wie der Sternenhimmel, aber er wusste, sein Vater hatte ihm beigebracht, dass es nur leuchtende Spinnweben waren, in denen blinde Spinnen das Gewürm der Unterwelt fingen, Käfer und im Boden lebende Insekten. Als er sich wieder aufrichten konnte, entzündete er die erste seiner Fackeln, um sich nicht von der trügerischen Schönheit der unterirdischen Lichter verwirren zu lassen, und bewegte sich weiter, immer weiter in die Erde hinein. Irgendwann konnte er stehen. Das Wasser, das seine Beine jetzt bis zu den Knien umspülte, war kalt. Er sah die gewaltige Arbeit, die es in Abertausenden Jahren vollbracht hatte, und hielt nach Zeichen Ausschau.
Erst als die Höhle sich so sehr geweitet hatte, dass er fast trockenen Fußes vorankam, suchte er sich einen Stein, einen Absatz, auf dem er sitzen konnte, und aß ein wenig von seinem Proviant. Die erste Fackel erlosch dabei, aber Titokowaru störte die Dunkelheit nicht. Er stellte vielmehr befriedigt fest, dass er die fluoreszierenden Lichter und damit das letzte Leben der Welt hinter sich gelassen hatte. Nachdem er gegessen hatte, begann er im Dunkeln zu singen und lauschte auf den Klang seiner eigenen Stimme. Die Wände erstickten sie nicht, im Gegenteil. Irgendwo weit voraus hörte er die Steine antworten, von Biegung zu Biegung prallte sein Lied zurück, ehe es sich in der unbekannten, weglosen Tiefe verlor.
Er entzündete die zweite Fackel und ging weiter, fand aber keine Zeichen. Vielleicht war von Anbeginn der Welt kein lebendes Wesen hier gewesen. Er war allein und würde allein bleiben. Niemand, nicht die Mutunga, Te Ati Awa oder Taranaki, wollte an der Seite der Ngaruahine kämpfen. Die Pakeha hingegen sammelten sich, es mochten schon an die tausend Männer sein. Titokowaru hatte noch sechzig Krieger. Fünfzehn zu eins; er war klug genug, um zu wissen, dass ein solcher Kampf zwar ehrenvoll, aber auf Dauer aussichtslos war, und wollte erfahren, unter der Erde, ganz bei sich selbst herausfinden, ob er ihn dennoch beginnen sollte.
Der einsame Wanderer war jetzt bis zu einer Stelle vorgedrungen, an der der im Wasser gelöste Kalk wieder zu sintern begann. Er bemerkte es zuerst an den Wänden, die aussahen wie ein erstarrter, vielfach verwirbelter Fluss. Von oben, von unten, von überall wuchsen ihm nun Steine entgegen, und hier, an den Wurzeln der Berge, fand er, was er suchte. Das Skelett musste uralt sein, denn der Kalkstein hatte schon begonnen, es einzuschließen. Einige Knochen fehlten, vielleicht fortgerissen von der Strömung eines lange vergessenen Flusses, aber der Schädel starrte den Häuptling der Ngaruahine so vertraut an, als hätte er nur auf ihn gewartet, als hätte er von ihm gewusst, schon lange, bevor er geboren wurde.
Titokowaru hockte sich auf die Fersen und hielt die Fackel so, dass der Schatten seines Körpers in die Augenhöhlen des namenlosen Suchers fiel. Lange hockte er so, aber erst als die Fackel erlosch, vollzog sich in der Dunkelheit die Vereinigung von Leben und Tod. Sie waren nun einander gleich.
»Sag mir, was du weißt«, flüsterte Titokowaru.
58.
Nell Fagan hatte noch nicht begriffen, dass sie die Sonne nie wieder sehen würde. Eine eben noch vertretbare Menge Morphium nahm ihr die Schmerzen, und so konnte sie die stark nach Jod riechenden Verbände um ihren Kopf frohgemut für die Anzeichen einer bevorstehenden Heilung halten. Die Dicke dieser Binden hinderte auch ihre tastenden Finger daran festzustellen, dass sie nur noch leere Augenhöhlen bedeckten. Ihre gebrochene Hand, ihren misshandelten Mund hatte man versorgt, und eigentlich war es ihr im Leben nie besser gegangen: Freundliche, aber bestimmt zugreifende Wärterinnen fütterten sie und kümmerten sich um ihre sonstigen leiblichen Bedürfnisse. So musste es sich anfühlen, wenn man reich war.
Von ihrer »Familie« hatte man sie rasch getrennt, und erst während ihres Prozesses erfuhr sie, dass Cousins und Cousinen, ja selbst Onkel Sam Fagan, alle Schuld an nahezu allem ihr zugeschoben hatten. Ansonsten nahm sie nur wenig von dem wahr, was um sie herum vorging, und hörte auch ihr Todesurteil so gleichmütig mit an, als gälte es jemand anderem. Es musste ja jemand anderem gelten! Was für einen Sinn hatte es, eine so aufwendige medizinische Betreuung an eine zum Tode Verurteilte zu verschwenden,warum wurde sie wie eine Königin behandelt? Man würde sie begnadigen, ganz zuletzt. Nur das Klopfen und Hämmern, mit dem im Hof des Gefängnisses ihr Galgen errichtet wurde, verfolgte sie bis in den Schlaf. Aber ihre Blindheit machte es ihr ohnehin schwer, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Nells Henkersmahlzeit war das beste und reichlichste Essen, das sie in ihrem kurzen Leben zu sich genommen hatte. Und selbst als ihr die Arme auf den Rücken gebunden wurden, die rauen Hände der mildtätigen Frauen ihr die Röcke hoben und ihre Körperöffnungen mit Watte verstopften, damit sie nicht im Todeskampf ihre weibliche Ehre beschmutze, fühlte sich das für Nell in ihrer Hilflosigkeit nicht anders an als die vorherige ungewohnte Behandlung. Sie glaubte noch immer nicht, dass sie sterben würde. Und sie schien recht zu behalten.
John Gowers hatte lange überlegt, wie er noch einmal an die Hauptangeklagte im Maguire-Prozess herankommen könnte. Man hatte ihm bedeutet, dass er noch immer verdächtig und ohnehin nur unter Vorbehalt auf freiem Fuß sei; nur aufgrund der Angaben des unglücklichen Maguire – und dessen Aussagen durften nach seiner wahnsinnigen Attacke auf Nell Fagan und seiner Unterbringung in einer Pflegeanstalt für Geisteskranke wieder als zweifelhaft gelten. Derart unzureichend entlastet, schien es für den Investigator, auch aufgrund der haltlosen Anschuldigungen, die er während des Prozesses gegen ein honoriges Mitglied des Stadtrates erhoben hatte, nicht ratsam, eine allzu große Nähe zum Gefängnis, zur Polizei und zu dem ganzen verfahrenen Fall zu suchen.
Den Rest der Fagan-Bande zu sprechen, die als Geringschuldige zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren, war lediglich die Sache einiger größerer Geldscheine an einige kleinere Beamte. Sie identifizierten auch unabhängig voneinander das Messer, das in Poll Hunleys Leib gesteckt, das Gowers behalten und auch im Prozess nicht vorgelegt hatte, um sich nicht noch stärker zu belasten, als Eigentum von James Fagan.
Aber Nell, jung, schön und skrupellos, hatte es in der Kolonie in so kurzer Zeit zu einer so schaurigen Berühmtheit gebracht, dass an die Bestechung ihrer Wärterinnen und eine heimliche Befragung nicht zu denken war. Nach ihrer Blendung durch Maguire hatte es sogar nicht an – vorwiegend männlichen – Stimmen gefehlt, die sie für bestraft genug hielten und ihre Begnadigung forderten. Sie hätte ausgerechnet Gowers, dem Mann, der sie in diese Lage gebracht hatte, freiwillig auch nicht einmal gesagt, wo oben und unten ist. Der Investigator überlegte lange, wie er dennoch an eine brauchbare Aussage der Rädelsführerin gelangen könnte, kam zu einem ebenso riskanten wie aussichtsreichen Ergebnis und wartete dann ruhig die Nacht vor der Hinrichtung ab, ehe er eine Kirche aufsuchte.
Niemand kannte den jungen Geistlichen, der angab, den urplötzlich erkrankten Reverend Bowman zu vertreten. Niemandem kam der Verdacht, dass der Reverend in Wahrheit seit zwei Stunden gefesselt und geknebelt im bequemsten Sessel seiner Dienstwohnung leider mehr lag als saß. Denn niemand konnte sich vorstellen, warum irgendwer so dreist und verrückt sein sollte, freiwillig eine der makabersten Rollen im Schauspiel einer staatlich angeordneten Tötung zu spielen; die des Beichtvaters und geistlichen Begleiters auf dem letzten schweren Gang.
»Lassen Sie uns bitte allein«, sagte Gowers, als er die Zelle der bereits behördlich auf ihren Tod vorbereiteten Delinquentin betrat. Niemand wunderte sich, und jeder gehorchte dieser Aufforderung, da man sich von der auch seelischen Stärkung der Todeskandidatin einen ungestörteren Ablauf des mörderischen Vorgangs versprach.
»Nell?« Gowers beugte sich dicht zu der Verurteilten hinunter und flüsterte die Worte in ihr Ohr, denn so respektvoll die Wachen auch den Raum verlassen hatten, die Tür war offen geblieben und der Gang voller aufgeregter Polizisten. »Erkennst du meine Stimme? Ich bin John Gowers und soll dir ein letztes Angebot machen.«
Nell Fagan lächelte. Sie hatte also recht behalten, niemand würde sie hinrichten!
»Ich wusste es«, murmelte sie glücklich.
»Wir wissen, dass es dein Bruder war«, sagte Gowers rasch. »Du wirst begnadigt, wenn du uns hilfst, ihn zu finden. Wo könnte er sein? Wer könnte ihm helfen? Sag mir einfach alle Namen, die dir einfallen!«
Nells Freude, der ungeheure Triumph, noch einmal den richtigen Riecher gehabt zu haben, ließen sie sogar ihren Hass auf den Mann vergessen, der ihre Pläne vereitelt, ihre Hand gebrochen, ihr Gesicht zerschlagen hatte. Arglos sagte sie zum ersten Mal in ihrem Leben alles, was sie wusste. Jamie hatte sie verraten, sie nicht befreit, keinen Finger für sie gerührt. Nun sollte er sehen, wer wen hängen ließ!
Sie wurde zeitweise so laut, dass Gowers sie beschwichtigen musste. Wie ein Priester in der Beichte legte er dann eine Hand vor die Augen, um seinem Gedächtnis die neuen Informationen einzuverleiben.
»Der Gouverneur ist hier im Haus«, sagte er am Ende. »Ich werde jetzt sofort zu ihm gehen. Die Begnadigung wird erst ganz zuletzt verkündet. Denk dir nichts, selbst wenn sie dir den Strick um den Hals legen!« Er wusste nicht, ob er es der jungen Frau damit leichter oder schwerer machte, aber es würde auf jeden Fall dazu führen, dass sie seine Scharade niemandem verriet.
Nell Fagan hörte, wie er zurücktrat, aber sie sah nicht, wie der vermeintliche Priester ein letztes Kreuzzeichen über ihr schlug und den wartenden Wachen ernst zunickte. Widerstandslos ließ sie sich ins Dunkel führen, leichten Herzens stieg sie die knarrenden Stufen zum Galgen hinauf, jede Sekunde des köstlichen Wissens genießend, dass ihr nichts geschehen würde, dass sie gefeit war durch einen geheimen Vertrag mit dem Teufel.
Niemand achtete mehr auf den Priester, alle Augen hingen an der bemerkenswert gefassten Verurteilten. Gowers verfolgte das grausige Schauspiel wie alle anderen und senkte seinen Blick auch nicht, als sich herausstellte, dass die Schlinge schlecht geknüpft war und der Delinquentin nicht das Genick brach. Stattdessen zappelte Nell eine endlose Minute lang wie ein Wurm an der Angel.
59.
Nichts aus Memphis, Helena, White River, Napoleon, Millikens Bend. Kein Schiff in Vicksburg, Grand Gulf, Coles Creek und Natchez. Weder in Baton Rouge noch in Donaldsonville oder Carrolton hatte man auch nur eine Rauchwolke von der Deep South gesehen, und entweder war sie unsichtbar geworden, oder sie fuhr überhaupt nicht nach New Orleans, und alle Informationen dieses Detektivs waren der pure Unsinn gewesen.
Cheever, Huggins, Dick Willoughby, die jüngeren Gentlemen langweilten sich und ärgerten sich, dass sie sich langweilten; so wie unsympathische Knaben sich schon im Vorschulalter ärgern, wenn sie glauben, beim Versteckspiel ein besonders gelungenes Versteck gefunden zu haben, und dann feststellen müssen, dass niemand sie ernsthaft sucht. Desmond Bonneterre steckte sich gar aus purem Trotz eine Zigarre an, obwohl Rauchen im Hafen von New Orleans und damit im Herzen des amerikanischen Baumwollhandels so ziemlich das schwerste und abwegigste Verbrechen war, das ein Mann begehen konnte. In beinahe ungläubigem Zorn gingen nach nicht einmal drei Minuten ein Hafenwächter und ein halbes Dutzend Dockarbeiter auf ihn los, und wohl nur, weil er seine Zigarre sofort ins Wasser warf und anstandslos einhundert Dollar Strafe zahlte, kam er mit heiler Haut davon und zog sich mit seinen Genossen in einen Spielsalon des französischen Viertels zurück.
Die seriöseren Herren, Thomas Enderby, Henry Hunter und der ältere Willoughby, schienen ebenfalls enttäuscht, aber zumindest die beiden Erstgenannten waren auch ein bisschen schadenfroh, denn der von General Willoughby so hoch gepriesene Yankee-Detektiv war ja wohl eine glatte Fehlinvestition ihres Nachbarn gewesen. Keine seiner Informationen war offenbar auch nur einen Schuss Pulver wert, ihre Nigger längst über alle Berge, und als dann auch noch das Telegramm eintraf, in dem John Lafflin als Jean Laffitte identifiziert wurde, grollte Hunter in seinem tiefsten Bass: »Dazu hätte man auch diesen Fachmann für retardierende Elemente engagieren können.« Er war wieder einmal drauf und dran, seine Miliz, die die Anlegestellen entlang des Mississippi besetzt hielt, ohne greifbares Ergebnis nach Hause zu schicken. Am frühen Abend änderte sich jedoch alles mit einem Mal: Eben noch geschlagen und ratlos, hatten sie nun nicht nur eine Spur ihrer Nigger, sondern über drei Wochen nach seinem Verschwinden von der Bonneterre-Plantage einen der Nigger selbst. Und sie hatten nicht einmal einen Detektiv dazu gebraucht.
Der alte Mann war nicht gekommen, und Deborah wusste nicht mehr weiter. Einen ganzen Tag lang hatte sie am vereinbarten Treffpunkt gewartet, aber nichts war geschehen. Wenn auch morgen nichts geschah, würde sie unverrichteter Dinge nach Barataria zurückkehren und versuchen müssen, die Flüchtlinge auf eigene Faust in den über tausend Meilen entfernten Norden zu bringen, auch wenn das so gut wie aussichtslos war. Ihre Enttäuschung und Erschöpfung waren so groß, dass sie zuletzt nur noch auf den Fluss und die großen Schiffe starrte; wie leicht wäre es, sich einzeln und allein an Bord zu schmuggeln und den Süden wieder einmal hinter sich zu lassen!
Deborah überstand diese Anfechtung nur, weil sie an das Nächstliegende denken musste, riss ihre Augen mit einem Ruck, den sie bis in die Magengrube fühlte, vom Fluss und der Freiheit los, die er versprach. Mit schweren Schritten ging sie in die Stadt zurück, um zuerst Gandalod und dann einen Winkel, ein Kellerloch zu suchen, in dem sie die Nacht verbringen könnten. Bei Tag war es leicht, unauffällig durch das Menschengewimmel zu kommen, aber zwei umherstreifende Schwarze bei Nacht würden mit Sicherheit auffallen. Und aufzufallen würde den Tod bedeuten, nicht nur für sie beide, sondern auch für die drei Dutzend verängstigten, hungrigen Menschen im Sumpf. Wo war Gandalod?
Er hatte noch nie eine so große Stadt gesehen. Ein einziges Mal in seinem Leben war er in Baton Rouge gewesen: als der Sklavenhändler, der ihn als Elfjährigen in Magnolia/Arkansas von seinem bankrotten, versoffenen weißen Vater gekauft hatte, ihn mit einem Gewinn von dreihundertfünfzig Dollar weiterveräußerte. Er hatte sich die Zahlen gemerkt, er war nicht dumm, er wusste das alles noch! Wie der Händler ihm Hemd und Hose heruntergezerrt hatte, auf dem hohen Verkaufspodest, vor aller Augen. Wie sie sein Fleisch, seine Haare betastet, wie sie ihm in den Mund gefasst hatten, wie er hüpfen musste.
»Wie groß war dein Vater, Junge?«, hatte ein fetter, schwitzender Weißer gefragt, als der Händler erwähnte, dass er noch wachsen würde.
»Mein Vater war so weiß wie Ihrer!«, hatte er wütend geantwortet und das dröhnende Gelächter der Zuschauer dafür geerntet.
Als aber einer von ihnen noch einen Trumpf daraufsetzte und rief: »Wenn nicht weißer«, um den Kunden zu verhöhnen, versetzte der erboste Mann dem Jungen einen Faustschlag ins Gesicht, der ihm zwei Schneidezähne herausbrach.
»Sir!«, hatte sich der Händler entrüstet: »Erst kaufen, dann schlagen«, was das allgemeine Gelächter noch steigerte. Der Einkäufer der Bonneterres aber war nun gezwungen, den Jungen zu erwerben – und konnte auf dem Weg zur Plantage schon wieder über sich selbst lachen.
Zwei Dutzend Nigger hatte er eingekauft und aneinandergekettet zu dem großen weißen Haus getrieben. Die feine alte Misses war von der Veranda heruntergekommen, hatte ihre Reihe abgeschritten und dabei in einem dicken Buch geblättert. Jeder der neu erworbenen Sklaven bekam von ihr einen neuen Namen, den er sich merken musste. Aus Pompejus, dem römischen General, von dem ihm sein Vater erzählt hatte, wenn er trank und gut gelaunt war, wurde ein lächerlicher Gandalod, von dem niemand wusste, wer oder was er war.
60.
Bonneterre und Dick Willoughby, ohne Cheever und Huggins, die noch zu sehr Söhne schlagkräftiger Väter waren, hatten eben beschlossen, die Nacht in einem Bordell zu verbringen, als sich ohne Vorwarnung ein offenbar wahnsinniger Nigger auf sie stürzte, Willoughby niederschlug und Bonneterre zu Boden warf, ehe der noch seinen Stock heben konnte.
Längelang auf dem Rücken liegend dachte der elegante junge Kreole noch, dass der Mann sich jetzt so schnell wie möglich aus dem Staub machen würde, fühlte aber dann dessen Hände an seinem Hals und sah in zwei hasserfüllte Augen und ein wutverzerrtes Gesicht. Der Bursche wollte ihn töten, sein kostbares weißes Leben aus ihm herauswürgen, aber warum?
Gandalod hatte seinen jungen Herrn schon von Weitem an seinem Spazierstock erkannt und sich sogar umgedreht, um davonzulaufen. Aber er war wie gelähmt. Seine Arme und Beine zitterten vor Schreck, vor Hass, vor Hunger. Seine Gedanken überschlugen sich; wenn auch Bonneterre ihn erkannt hatte, würde er ihm nachlaufen und ihn, geschwächt, wie er war, sicher erwischen.
Sich zu verstecken, klein zu machen, sein Gesicht wegzudrehen barg das gleiche Risiko. Aber zuschlagen, töten – das würde Massa Bonneterre nicht erwarten, das erwarteten die Weißen nie, darin lag seine einzige Chance! Gleichzeitig wusste er, dass nichts davon stimmte. Hass trieb ihn, Rache. Dieser elegante, ölige junge Mann war dabei gewesen, damals, als vier Aufseher ihn vor den Augen Darioletas an das schmiedeeiserne Geländer der Veranda gebunden hatten und …
Aber nicht jetzt! Jetzt war Gandalod frei, und dieser Gedanke trieb mit einem Schlag die Wärme in sein Blut zurück, und er dachte nichts anderes mehr, als er sich auf den schmalen Weißen stürzte.
Er wusste es wieder, wusste es, als hätten die schweren schwarzen Finger an seiner Kehle zuallererst die Erinnerung aus ihm herausgepresst. Bonneterre erkannte den Mann, wusste nur seinen Namen nicht mehr. Er war dabei gewesen, als man diesen ungebärdigen Feldsklaven, bei dem selbst Peitsche und Halseisen nichts mehr bewirkten, auf Befehl seiner Mutter zum Kapaun gemacht hatte, um ihm die Flausen endgültig auszutreiben – mit der gleichen Zange, die man auch bei den Schweinen benutzte. Er hatte Darioleta, die sich von diesem großen schwarzen Vieh hatte küssen lassen, gezwungen, dabei zuzusehen, und ihren Kopf festgehalten, als sie sich wegdrehen wollte.
Es war, als würden seine Augen aus ihren Höhlen getrieben, die Zunge quoll ihm aus dem Mund, sein eigener Speichel floss ihm bis in die Ohren, und es kam Bonneterre vor, als würde sein Schädel anschwellen vor Luftnot. Schon nach wenigen Sekunden bestand er nur noch aus Todesangst und hörte sogar auf, mit seinem Stock auf den anscheinend völlig unempfindlichen Rücken des Niggers einzuschlagen, der auf ihm hockte wie ein zerlumpter, fleischgewordener Alptraum.
Deborah hörte den Lärm, als sie noch in einer Seitengasse war, und wollte sich schon umdrehen und einen anderen Weg nehmen. Dann bemerkte sie, dass alle anderen, auch die Schwarzen, in Richtung des Lärms liefen und es auffälliger gewesen wäre, gegen den Strom zu schwimmen. Also ließ sie sich mitreißen in die Hauptstraße des französischen Viertels, hielt sich aber im Hintergrund, dicht an eine Hauswand gepresst. Es war ohnehin nicht sehr viel zu sehen; eine Traube von Männern stand dichter gedrängt als die übrigen Zuschauer um ein Zentrum, in dem Deborah nichts erkennen konnte als geschüttelte Fäuste und wütende Gesichter.
Plötzlich wandten sich ihr all diese Gesichter zu, und ihr Herzschlag jagte in ihren Schläfen. Aber dann sah sie, dass dieses Interesse nicht ihr galt. Aus dem Hauseingang, in dem sie stand, erschien vielmehr ein kleiner, dünner Mann mit einem Strick und wurde johlend, mit viel Schulterklopfen begrüßt, als habe er als Einziger inmitten der allgemeinen Hysterie einen klaren Kopf bewahrt. Die Menge teilte sich vor dem Mann, und Deborah konnte einen kurzen Blick in die entstehende Gasse werfen. Die Männer im inneren Kreis hielten ein seltsames, großes Bündel gepackt, das schlaff und widerstandslos von ihren Händen mehr aufrecht gehalten als niedergedrückt wurde.
Erst als der kluge kleine Mann, der den Strick geholt hatte, einen schwarzen Kopf an den Haaren aus dem Bündel hob und ihm die Schlinge um den Hals legte, erkannte Deborah, dass es ein Mensch, dass es Gandalod war.
Als man den Sklaven von seinem Herrn herunter zerrte, hatte er sich gewehrt, aber immer noch nicht daran gedacht wegzulaufen, sondern versucht, wieder an sein Opfer heranzukommen, das röchelnd und spuckend am Boden lag und kaum noch bei Bewusstsein war.
Dieser Schwarze war offenbar nicht nur gewalttätig, sondern auch verrückt. Ein Amokläufer, wie es sie unter den Niggern im Süden immer wieder hier und da gab. Im Norden konnte man sogar Vorträge darüber hören, dass die Sklaverei gerade bei klugen und einsichtsvollen Individuen Gewalttaten dieser Art fast zwangsläufig hervorbringe, wenn sie erkannten, dass sich an ihrer Situation ihr Leben lang nichts ändern würde, egal was sie taten oder ließen. Im Süden sah man es eher als eine Art von Tollwut an und stand den Tätern mitleidloser gegenüber als einem durchgehenden Pferd.
Gandalod war durch die Schläge von allen Seiten ohnmächtig geworden und kam erst wieder zu sich, als sich der Strick um seinen Hals zusammenzog und er daran vorwärtsgezerrt wurde, hin zur nächsten Straßenecke und ihrer prächtigen, fast vier Meter hohen gusseisernen Straßenlaterne im Stil des französischen Empire. Dort wurde er hochgehoben und konnte zum ersten Mal die Menge überblicken, die ihn fast einen Häuserblock weit umstand. Wütend, stellte er verwundert fest, waren eigentlich nur die Männer, die ihn gepackt hielten. Je weiter die Leute weg waren, desto freudiger, amüsierter starrten die Menschen ihn an.
Der kleine dünne Mann, ein Ladengehilfe in einem Kurzwarengeschäft, war noch dabei, den Strick an der Laterne zu befestigen, als die Menge sich noch einmal teilte, diesmal erschrocken, respektvoll, mitleidig. Desmond Bonneterre humpelte, tapfer auf seinen Stock gestützt und die andere Hand an seinen Hemdkragen gelegt, als würde er ihm die Luft abschnüren, auf den Mittelpunkt des Schauspiels zu, und niemand musste gesondert erwähnen, dass er der Geschädigte war. Die Zuschauer verstummten mit einem Schlag und erwarteten jetzt sozusagen das letzte Aufflackern des menschlichen Dramas, unmittelbar vor seinem schaurigen Höhepunkt. Aber Bonneterre krächzte zur allgemeinen Enttäuschung nur:
»Lassen Sie ihn herunter, Gentlemen. Der Mann gehört mir. Er ist gesetzlich mein Eigentum!«
Da war nichts zu machen, nicht dran zu rütteln, sie stünden ja sonst wie Diebe da. Ganz kurz hofften sie noch, der Mann würde das Hängen mit eigener Hand besorgen, aber als er seinen Nigger nur mit sich fortzog, zerstreute die Menge sich missmutig, um ihr Schauspiel betrogen.
Nur der kleine, dünne Ladengehilfe folgte Bonneterre und lamentierte devot; er wollte seinen Strick wiederhaben.
61.
Ihr erster Impuls war davonzulaufen. Aber der naheliegende Gedanke, dass sie das verdächtig machen und man ihr nachlaufen würde, hielt sie davon ab. Also sah sie zu, wie Gandalod von der geilen Menge fortgerissen und in die Höhe gehoben wurde; wie man ihn zugerichtet hatte und widerwillig wieder herunterlassen musste. Wie er am Strick von seinem Herrn mitgezerrt wurde.
Deborah folgte ihnen in vorsichtigem Abstand, bis sie im Mietstall eines Hotels verschwanden. Kurz darauf wurden im Innern Laternen entzündet, lief ein Junge aus dem Stall ins Hotel, aus dem nur wenige Minuten später mehrere weiße Männer stürzten, als habe sich große Aufregung ihrer bemächtigt. Einer trug sogar noch eine Serviette im Hemdkragen.
»Wo war er? Wo sind die anderen? Was sollen wir mit ihm machen?« Für einen Anführer der Louisiana-Miliz, Regiment Denham Parish, stellte Henry Hunter eigentlich zu viele Fragen.
»Na, was schon?«, krächzte Desmond Bonneterre heiser und rieb seinen zerschundenen Hals. »Wir werden ihn verhören!«
»Aber nicht Sie, Bonneterre!« Hunter hatte sich nach der ersten Aufregung jetzt im Griff und gab wieder den bassdröhnenden Entscheider. »Nicht schon wieder. Sie müssen auch die Interessen der anderen berücksichtigen.«
»Der Mann gehört mir, Hunter«, sagte Bonneterre zum zweiten Mal an diesem Abend.
»Wohl eher Ihrer Mutter, Sir«, erwiderte Hunter erregt.
»Nicht so viel Angst, Mensch!« Der junge Mann lachte leise. »Ich werde ihm schon nichts tun. Im Gegenteil, ich werde ihn nicht mal anfassen. Er soll sich erst mal erholen. Sehen Sie denn nicht, dass der arme Kerl halb verhungert ist und fast totgeschlagen wurde?!« Die Männer lachten, verstanden aber die ironische Haltung Bonneterres nicht.
»Ich werde jedenfalls nach Baton Rouge telegrafieren«, sagte Henry Hunter, sichtlich erleichtert, dass er die endgültige Entscheidung damit nicht nur aufgeschoben, sondern an andere abgetreten hatte. Aber Bonneterre schüttelte den Kopf.
»Das mache ich selbst. Ich brauche hier jemanden, der mir hilft.« Er erhob sich und sah dem Milizführer mit funkelnden Augen ins Gesicht. »Glauben Sie mir, morgen wird er uns alles sagen, was er weiß.« Bonneterre hatte seinen Plan schon gefasst, als er Gandalod vor dem Lynchmob bewahrte. »Er wird sich sogar wünschen, noch mehr zu wissen!« Spielerisch schwang er seinen Spazierstock und ging hinaus.
»Wo wollen Sie hin, Mann?«, rief Henry Hunter ihm nach.
»Nun«, Bonneterre deutete lässig auf seine zerrissene, staubige Kleidung. »Ich werde mich umziehen, waschen und einen angenehmen Abend verbringen, wie es einem Gentleman zusteht!« Als er hinauskam, wobei er immer noch humpelte und seinen Hals rieb, sah er einen schlanken jungen Schwarzen in der Nähe des Stalls und lächelte grimmig. Nur ein paar Minuten und ein wenig warmes Wasser, und ich bin wieder dein Herr, dachte Bonneterre.
Deborah, die, so gut es ging, an der Tür gelauscht hatte, sprang zurück, als die Männer herauskamen, hörte jetzt, wie der Dicke mit der Serviette im Kragen ein paar kurze Befehle gab. Wenig später kamen zwei der Männer mit Gewehren in der Hand zurück und bezogen Posten, einer im, einer vor dem Stall.
Sie war nun völlig ratlos. Ihr erster Gedanke war, sich sofort und so schnell wie möglich auf den Rückweg zu machen, um ihre Leute aus dem Sumpf zu führen oder tiefer in ihn hinein. Schließlich war klar, dass die Männer Gandalod fragen würden, wo die anderen waren, und mehr als wahrscheinlich, dass er es ihnen früher oder später sagen würde. Gab es eine Möglichkeit, das zu verhindern? Konnte sie ihn befreien? Aber wie weit würden sie kommen, blindlings losrennend, mitten in der Nacht?
Als sie verstand, dass weder die Befragung Gandalods noch die daran irgendwann anschließende Jagd auf Moses und seine Kinder unmittelbar bevorstand, beschloss sie, zumindest die Nacht abzuwarten, morgen in aller Frühe noch einmal den vereinbarten Treffpunkt aufzusuchen und erst dann zurückzugehen. Sie fürchtete, dass dies die falsche Entscheidung war, aber sie hoffte, wünschte sich auch so sehr, der alte Mann würde kommen und ihr zumindest einen kleinen Teil ihrer schweren Verantwortung abnehmen.
62.
Schon in ihrer Schöpfungsgeschichte bewiesen die Griechen einen bemerkenswerten Sinn für Bildlichkeit: Kronos, der Gott der Zeit, entmannt seinen Vater Uranos, die Ewigkeit, und beherrscht nun die Welt, und alle Dinge sind ihm untertan. Durch die Erfahrung der eigenen Tat misstrauisch gegen alles und jeden, ist die Zeit jedoch ein missgünstiger Gott und verschlingt ihre Kinder, Demeter, Hera, Hades, Poseidon und viele mehr. Nur einer, Zeus, kann Kronos entkommen, verabreicht ihm ein Brechmittel und zettelt mithilfe seiner ausgespienen Brüder und Schwestern eine Revolte an. Die Zeit wird entmachtet, die Götter sind wieder unsterblich, und von allem, was vor Zeus und seiner Familie war, wird nicht mehr gerne geredet – es könnte ja ältere Rechte an der Welt haben.
Die drei Göttinnen Alekto, Megaira und Tisiphone waren älter als Zeus und alle Olympier, bis auf eine: Aphrodite, aus dem Schaum geboren, den die abgeschnittenen Geschlechtsteile des Uranos im Meer bei Kythera aufwühlten, war ihre Schwester. Die helle, glückliche Schwester, die Göttin der Liebe. Denn die anderen drei, entstanden aus den Blutstropfen, die aus der Wunde des Uranos in den Staub fielen, waren dunkle Gottheiten, Erdgöttinnen, und so furchtbar, dass die Griechen nicht einmal ihren Namen – Erinnyen – öffentlich auszusprechen wagten.
Die Erinnyen verfolgten Verbrechen gegen die naturgegebene Ordnung, Vater-und Muttermord sowie alle Taten, die zu entsetzlich waren, um von Menschen gerächt zu werden. Niemand konnte den Erinnyen entkommen, in keinem Heiligtum, keinem Tempel gleich welchen Gottes, war man vor ihrer Rache sicher. Es gab keine Zuflucht – bis auf die eine, die den Griechen unerreichbar schien: Man musste ein Land finden, das ganz neu war, jünger als die restliche Schöpfung, so jung, dass die Erinnyen es nicht kannten und folglich auch nicht erreichen konnten. Australien war so ein Land.
Es waren deshalb nicht die Erinnyen, die James Fagan quer durch Melbourne trieben, den Lauf des Yarra hinunter aus dem verwilderten Norden bis in den Hafen, die Port Philipp Bay. Es war das Wissen, dass er eine ganze Weile von der Bildfläche verschwinden musste. Unumkehrbares war geschehen, zum ersten Mal in seinem Leben. Aus all den Gaunereien, Diebstählen, kleinen Raubüberfällen war er, meist durch die Umsicht seiner großen Schwester, irgendwie wieder herausgekommen, sogar wenn man ihn schon geschnappt hatte.
James Fagan dankte es ihr nicht, im Gegenteil. Er hasste sie für den Schatten, in den sie ihn selbst durch ihre Hilfe immer wieder stellte. Was er in dieser Nacht getan hatte, ging zum Teil auf diesen Hass zurück. Als er in der Dunkelheit neben Poll Hunleys Höhle hockte, hatte er sich vorgestellt, dass er diesmal, dieses eine Mal etwas schaffen würde, was Nell ganz offensichtlich nicht gelungen war: Er würde die Kinder zurückbringen, das Geschäft um sie fortsetzen, er würde von nun an die Forderungen stellen. Wer weiß, vielleicht wurden Nell und die anderen in dieser Nacht geschnappt, das Polizeiaufgebot sprach dafür. Dann würde er sie herausholen, freipressen mit dem Faustpfand, das er nur erst noch in seinen Besitz bringen musste.
Aber als er im ersten Grau der Dämmerung den Jungen sah, der auf Händen und Knien aus einer schmalen Öffnung im Boden gekrochen kam, um zum ersten Mal seit einer Woche beim Verrichten seiner Notdurft wieder allein zu sein, bemerkte James Fagan – ohne dass er es hätte sagen können –, dass ihn noch anderes trieb. Der Anblick des ahnungslosen Kindes, das in Schmutz und Asche da hockte wie ein kleines Tier, erregte ihn.
Es war nicht die Erregung, die ihn überkam, wenn er mit seinen Cousinen schlief. Er hatte nicht vor, den Jungen zu missbrauchen. Immer war es Jamie gewesen, der den kleinen Maguire in der letzten Woche am meisten gequält, ihn getreten, geschlagen, schließlich seine Zehen gebrochen hatte. Gerade die Vorstellung, dass der Junge jetzt offenbar glaubte, ihm entkommen zu sein, sich in Sicherheit wähnte, erregte ihn. Der ungeheure Kitzel dieser geheimen Macht ließ ihn tun, woran Nell ihn immer wieder gehindert hatte.
63.
James Fagan zog sein Messer, ehe Jonathan ihn gesehen oder gehört hatte. Mit einem raschen Sprung war er hinter dem Jungen und durchschnitt ihm die Kehle, bevor er auch nur einen Laut der Überraschung ausstoßen konnte. Eher neugierig als triumphierend, mit glänzenden Augen und vor Staunen offenem Mund verfolgte der Mörder dann den Todeskampf seines kleinen Opfers. Das Scharren der nackten Beine im Dreck, das hervorströmende Blut, das Zucken des Gesichts bei dem verzweifelten Versuch, noch eine Warnung herauszuschreien, schließlich das langsame Erlöschen des Lebensfunkens in seinen Augen.
Erst als Jonathan sich nicht mehr rührte, wurde James Fagan klar, was er getan hatte, und er wusste, dass nun auch das Mädchen sterben musste. Aber dazu musste er sie zuerst finden. Vorsichtig kroch er hin und her, fast wie ein Raubtier witternd, um das Loch zu entdecken, aus dem der Junge gekommen war. Als er sicher war, es gefunden zu haben, überlegte er. Einfach hineinzukriechen konnte gefährlich sein, das Wegräumen der Balken jedoch, die einen deutlich größeren Eingang versperrten, würde das Mädchen warnen. Er beschloss, sie herauszulocken.
»Hilfe«, rief er leise und versuchte dabei seine Stimme zu verstellen. »Hilfe! Mairie!?«
An einem leisen Rumoren in der Erde erkannte er, dass sie ihn gehört hatte, und zog sich katzengleich in den Schatten der Ruine zurück. Die Balken wurden jetzt von innen weggeräumt, aber zu seiner Überraschung kam nicht Mairie Maguire, sondern ein größerer Gegner, eine unbekannte erwachsene Frau heraus, die ihm glücklicherweise zuerst den Rücken zuwandte. Ohne zu überlegen und im gleichen Moment, in dem sie sich suchend umschaute, hatte er ihr auch schon sein Messer bis zum Heft in den Leib gerammt.
Das Blut, das ihm über das Handgelenk und weit in den Ärmel spritzte, war schwarz, denn er hatte ihre Leber getroffen. Niemand sagte etwas, nicht der Mörder und nicht das Opfer, nur ein dumpfes Ächzen kam über die Lippen der Fremden, und sie hielt seine Hand umklammert, die schmutzigen Nägel tief in sein Fleisch gebohrt. Hätte er das Messer nicht losgelassen, wäre er mit ihr zu Boden gegangen, als sie sich immer weiter zusammenkrümmte und dann vornüber auf die Knie fiel.
Fagan stieß sie mit beiden Händen von sich und sah nicht mehr, wie sie sich zur Seite schleppte, das Messer umklammernd, um in einem Winkel ihrer jämmerlichen Zuflucht einen kalten, einsamen Tod zu sterben. Er wusste nicht, wer die Frau war, aber er wusste, dass ihm das Mädchen womöglich entkommen würde, wenn er es nicht schnell fand. Rasch stürzte er nach unten, eine schmale Treppe hinunter, und prallte an ihrem Ende mit Mairie Maguire zusammen, die gerade beschlossen hatte, Poll zu folgen. Von ihr wollte er mehr als nur ihren Tod.
Er hatte sie schon einmal gesehen. Gleich zu Anfang, als sie noch ihre langen blonden Locken hatte, musste sie sich auf Jamies Befehl und zur johlenden Freude der ganzen Bande nackt ausziehen und unter Ohrfeigen und Fußtritten für sie tanzen. Sie hatte helle, weiche Haare zwischen den Beinen, den ersten Flaum, aus dem ihr noch jungfräuliches Geschlecht rot und kindlich prall hervorleuchtete; aber ehe er sie nehmen konnte, hatte Nell ihm von hinten in die Hoden getreten, und der überwältigende Schmerz hatte seine Geilheit jäh vertrieben.
Diesmal war Nell nicht da, und obwohl sich das Mädchen heftig wehrte und aus Leibeskräften schrie, ihm mit den Fingernägeln eine tiefe Schmarre vom Ohr bis zum Mundwinkel riss, bekam er seine blutigen Hände doch irgendwann an ihren Hals und drückte zu, bis sie nur noch schwache Lebenszeichen von sich gab. Erst seinem schon halb toten Opfer zerrte er den Rock hoch, drückte er die Beine auseinander, spuckte er zwischen die Schenkel, um sich das Eindringen zu erleichtern.
Mairie Maguires letzter Eindruck von der Welt, die so lange freundlich zu ihr gewesen war, waren ein furchtbarer Schmerz und das Unrecht, das ihr geschah. Als er sich in sie ergossen hatte, drückte er ihr die Kehle so lange zu, bis die zuletzt zusammengekrampften Muskeln in ihrem Innern ganz weich wurden und ihr Geist an einen namenlosen Ort floh. Als er aus ihr herausglitt, war sie schon tot.
Fagan drehte die Leiche auf den Bauch, um nicht in ihre weit aufgerissenen Augen sehen zu müssen. Dann erhob er sich, blutig und blutend, zog seine Hosen hoch und rannte davon, ohne an sein Messer auch nur zu denken. Er wusste, dass er nie wieder zurückkommen durfte, dass die Geisterstadt, seine Schwester, seine »Familie«, dass sein ganzes bisheriges Leben nun hinter ihm lag. Und dass es nur noch einen Menschen gab, zu dem er gehen konnte.
64.
In den fast fünfundzwanzig Jahren, in denen Margret-Ann, die alle nur Maggie nannten, nun ihrem Gewerbe nachging, hatte sie alle Spielarten der Lust, des Begehrens, bisweilen auch nur der Verzweiflung kennengelernt. Entsprechend umfassend war ihre Erfahrung in allen Fragen des geschlechtlichen Miteinanders, und da keine Bigotterie oder doppelte Moral, keine religiösen oder gar gesetzlichen Vorgaben ihr Verständnis für die natürlichen und manchmal auch die ein wenig unnatürlichen Vorgänge beschränkten, erhielt in ihrem Etablissement normalerweise jeder die passenden Antworten.
Natürlich war ein Richter, Unternehmer, reicher Kaufmann oder sogar ein Kongressabgeordneter, der sich für teuer Geld von ihren Mädchen den Hintern versohlen ließ, eine lächerliche Figur. Aber wenn das für diese ehrenwerten Graubärte die einzige Möglichkeit war, den nach einem Leben voll schwerer Arbeit und Verantwortung brachliegenden dunklen Teil ihrer Persönlichkeit zu bewässern, lachte Maggie höchstens hinter vorgehaltener Hand und ließ diese Männer ansonsten stundenweise nach ihrer Fasson selig werden.
In ihren philosophischen Augenblicken beklagte sie sogar die Ungerechtigkeit des Lebens, die in Bezug auf ihren Beruf vornehmlich darin bestand, dass gerade den normalen, kräftigen jungen Männern so oft das Geld, den alten, reichen hingegen bisweilen die Kraft fehlte. Nur wenn Gefahr für Leib und Leben ihrer Mädchen bestand, konnte Maggie ausgesprochen verständnislos werden.
Sie sah einem Kunden mit fast gespenstischer Sicherheit an, ob er schwierig werden würde, und wusste, dass sie den eleganten jungen Mann mit dem eng gebundenen Halstuch im Auge behalten musste. Schon im Salon führte sie ihm deswegen nur die älteren, erfahreneren Mädchen vor. Er ließ sie gegen die übliche Anzahlung fast eine Viertelstunde lang nackt vor sich paradieren, ehe er sich für zwei von ihnen, eine Weiße und eine Schwarze, entschied.
Maggie ließ den dreien einen kleinen Vorsprung, um in einem der üppig ausgestatteten Separees im ersten Stock zu verschwinden, ging dann aber selbst nach oben, in einen angrenzenden kleinen Raum und sah durch das unauffällige Guckloch, dass ihr Misstrauen berechtigt war. Der junge Mann, der immer wieder nach seinem Hals tastete, hatte sich nicht ausgezogen und sah über den Griff seines Spazierstocks hinweg lediglich zu, wie die Mädchen auf dem breiten Bett und auf seinen Wunsch hin einander beschnüffelten wie junge Hunde. Das war ein wenig degoutant, aber nicht bedrohlich, und wenn daraus lediglich eine der hier nicht unüblichen Szenen lesbischer Liebe werden würde, gab es für Maggie keinen Grund, dagegen einzuschreiten.
Der Kunde forderte die kräftige schwarze Cleo jedoch nach einer Weile auf, die zierliche weiße Elly zu verprügeln, und die gespannte Aufmerksamkeit der Bordellchefin erhöhte sich. Wie würde er reagieren, falls die Mädchen sich weigerten? Die beiden versierten Huren warfen sich allerdings nur einen kurzen, fragenden Blick zu, dann nickte Elly ergeben und legte sich so über den Schoß ihrer Kollegin, dass der anspruchsvolle Kunde alles sehen konnte, was er offenbar sehen wollte. Die Schläge waren nicht hart, nur Theaterschläge, wurden aber geschickt so ausgeführt, dass es ordentlich klatschte, und das gab der Gezüchtigten Gelegenheit, in ebenso theatralisches Wehklagen auszubrechen. Vielleicht war gerade das ein Fehler; denn anstatt ihn zu befriedigen, machte das Schauspiel den Kunden anscheinend wütend.
»Härter!«, befahl er, und nun rutschte der Farbigen einige Male ernsthaft die Hand aus, das schmale Gesäß des weißen Mädchens rötete sich zusehends, und ihre Klagelaute wurden leiser, aber ehrlicher. Noch immer wartete Maggie auf das alles entscheidende Wort »Nein«, oder darauf, dass der Mann endlich seine Hose aufknöpfte, aber weder das eine noch das andere geschah in den nächsten fünf Minuten.
Erst nachdem die Huren auf sein Geheiß ihre Rollen vertauscht hatten, ohne dass ihn das Schauspiel befriedigte, zog er seinen Ledergürtel ab, forderte die Schwarze auf, sich bäuchlings auf das Bett zu legen, und erhob sich. Cleo weigerte sich nun gleich mehrfach, und während er Rock und Hut ablegte, hatte Maggie ihren Beobachtungsposten bereits verlassen, ging auf den Flur und klopfte heftig an die Zimmertür.
Bonneterre fluchte, während das weiße Mädchen öffnete.
»Alles in Ordnung?«, fragte Maggie, als wenn sie es nicht längst besser wüsste.
»Aber ja«, sagte Bonneterre. »Die Damen unterhalten mich nur ein wenig, bevor wir ins Bett gehen.«
»Nein, Ma’am«, entgegnete Cleo. »Er wollte mich schlagen. Mit dem Gürtel da!«
»Sir«, sagte Maggie freundlich, aber bestimmt und verriet mit keiner Miene, dass sie alles beobachtet hatte, »Vergnügungen dieser Art bieten wir hier nicht an.«
»Es ist nur ein Spiel.« Bonneterre versuchte sich an einem arroganten, verächtlichen Lächeln, aber er schwitzte, und der gewünschte Gesichtsausdruck entglitt ihm. Seine Vorfreude auf die pfeifenden Schläge, die nach dem aufreizend demütigenden Vorspiel nun die schwarze Haut zum Anschwellen bringen würden, war zu groß gewesen. Er flüchtete mit seinen nächsten Worten auf das Terrain, das ihm sein Leben lang Sicherheit geboten hatte.
»Ich zahle selbstverständlich dafür, und ich zahle gut!«
»Das bezweifle ich nicht, Sir«, beharrte Maggie. »Aber bezahlen Sie bitte woanders dafür.«
Als hätte er die Aufforderung in diesen Worten nicht gehört, lächelte der elegante Kreole nun eher dümmlich, und einige unangenehme Augenblicke hindurch geschah gar nichts.
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie jetzt gehen, Sir!« Die Bordellchefin blieb unerbittlich.
Bonneterre schnaufte schwer, bewegte sich aber nicht. Die ganze Lächerlichkeit der Szene kam ihm allmählich zu Bewusstsein. Er fühlte wieder die schwarzen Finger an seinem Hals. Ein verdammter Nigger hätte ihn um ein Haar umgebracht. Eine schwarze Hure, die nichts dabei fand, einer weißen Frau das Fell zu gerben, weigerte sich, ihm zu Willen zu sein. Und eine Puffmutter, eine Mulattin, Quadroon allenfalls, wies ihm die Tür!
All das zusammengenommen war in seiner Welt nicht möglich. Er nahm Rock und Hut an sich, aber anstatt hinauszugehen, ließ er plötzlich beides fallen, packte Maggie an den Armen und warf sie auf den Flur hinaus. Als sie unsanft gegen die Wand prallte, hatte der junge Mann die Tür schon von innen verriegelt. Eilig erhob sie sich. Gut, dass John am frühen Abend zurückgekehrt war!
65.
Auch John Lafflin konnte sich nicht erklären, warum und von wem die Deep South gesucht wurde. Die Fahrt deswegen abzubrechen und nach St. Louis zurückzukehren kam überhaupt nicht infrage. Man musste eben einfach, so gut es ging, vermeiden, dass sie gesehen wurde, und John Gowers konnte nun endlich tun, wofür man ihn engagiert hatte.
In der sandigen Bucht eines Altarms namens Frenchmans Bayou warteten sie die Nacht ab, löschten dann alle Lichter und vertrauten sich in völliger Finsternis wieder der Strömung und seinem Lotsengedächtnis an. Zwei Stunden später tauchten an Backbord die ersten Lichter von Memphis auf, und John kreuzte zum Westufer hinüber, ließ mit frischem Tannenholz heizen und die Deep South dadurch praktisch in einer Wolke ihres eigenen Rauchs verschwinden.
Es war schwer, machte ihm aber auch ein höllisches Vergnügen, das Schiff immer wieder so in den Strom zu legen, dass etwaige Beobachter an den auftauchenden Anlegestellen nicht seine Breitseite, sondern nur den schmalen Bug des Dampfers zu sehen bekamen: als kleinen dunklen Punkt am jeweils gegenüberliegenden Ufer, auch für geübte Augen kaum von einem hoch beladenen Floß zu unterscheiden. Die Hauptgefahr dabei bestand darin, dass sie ihrerseits ein Floß rasierten, aber sein außergewöhnliches Sehvermögen bewahrte sie und andere vor diesem Schaden.
Kritisch wurde es nur ein einziges Mal, als sie die Mündung des Arkansas passierten und ernstlich Dampf vorlegen mussten, um nicht von der reißenden Strömung des zweiten Flusses in die Wälder von Beulah gedrückt zu werden. Erst in der Morgendämmerung, bei der großen Insel Winterville Mounds, steuerte er die Deep South selbst in die niedrigen, überhängenden Zweige der dort wachsenden Bäume, die sie den Tag über sicher verbergen würden.
Die zweite Nacht, das gleiche Spiel. John stieg merklich in der Achtung der Männer, die zwar nicht immer verstanden, was er mit Schiff und Strömung tat, aber jetzt wussten, dass ihr Lotse die Regeln seines Berufs so gut beherrschte, dass er sie nach Belieben brechen konnte. Die Anlegestellen nicht anlaufen, sondern umfahren, immer da sein, wo ein Dampfschiff eigentlich nichts zu suchen hatte, mit Volldampf über Flusskehren kreuzen, sich dann wieder treiben lassen wie ein Stück Holz, das ein Kind in den großen Strom geworfen hat.
Sie passierten Lake Providence, Vicksburg, Grand Gulf und Waterproof, Natchez und Deer Park, ohne einen dieser Orte wirklich zu sehen und folglich auch, ohne gesehen zu werden. Je weiter sie nach Süden kamen, desto schwieriger wurde allerdings dieses Geschäft. Der Fluss, bisher zwischen Wäldern und Hügeln zuverlässig und rasch dahinfließend, trat in die riesige Tiefebene von Louisiana ein und wurde träge und tückisch. Stellenweise bis zu anderthalb Meilen breit und bis zu unglaublichen zweihundert Fuß tief, floss er jetzt doch langsamer und ließ die klaren Begrenzungen durch Bäume oder zumindest solide Uferböschungen hinter sich.
Zu beiden Seiten verschwanden die Wälder und machten endlosen Zuckerrohrplantagen Platz, die sich ohne nennenswerte Erhebung von Horizont zu Horizont erstreckten. Die Bagasse, riesige Haufen von Pflanzenstängeln, pflegten die Farmer in langsam schwelenden Feuern zu verbrennen, und so kam zur Eintönigkeit der Landschaft auch noch der undurchdringliche Rauch, in dem sich jede Kontur verlor. Man schien auf einem trüben, nebligen Meer zu schwimmen und wusste bei hoch stehendem Wasser nicht einmal genau, ob man sich noch im Flussbett befand oder längst auf einer der Plantagen. Gelegentlich war es hier bei Hochwasser sogar vorgekommen, dass kleinere Dampfschiffe einsam stehende Farmhäuser oder ihre Speichertürme rammten.
Sie ankerten den Tag über unterhalb von Hermitage, in einer der letzten Flussbiegungen vor Baton Rouge, und entzündeten wieder ihre Tannenholzfeuer, um mit ein wenig Glück für einen Haufen schwelender Bagasse gehalten zu werden. Gleichzeitig befahl John, mithilfe des Lotsenboots so viel wie möglich von dem stinkenden, halb verfaulten Zeug an Bord zu schaffen, da sie spätestens New Orleans, dessen Stadtteile sich auf beiden Seiten des Mississippi befanden, nur, wie er spöttisch sagte, »als Nebelbank getarnt« unbemerkt passieren konnten.
Aber auch in der letzten Nacht verlief ihre Fahrt erstaunlich glatt, wenn man von einem unbeleuchteten kleinen Floß absah, das ihnen ins Gehege kam, aber naturgemäß den Kürzeren zog. Sie vergewisserten sich, dass die erbosten Flößer ihr unfreiwilliges Bad unbeschadet überstanden hatten, und sahen sie ihre Fäuste gegen den Idioten schütteln, der da nachts ohne Licht unterwegs war. Auch dieser Unfall war eine alltägliche Begebenheit im Leben des Flusses.
New Orleans erreichten sie um drei Uhr nachts, und hier machte John sogar seine Pfeife aus und ließ die Bagasse verfeuern, die sie zwar vor jedem Blick, aber nicht vor jeder Nase verbarg, da der so erzeugte Rauch stank wie die Hölle und all ihre Teufel. Man bemerkte sie, bemerkte sie sogar gründlich – vor allem in den in Windrichtung liegenden Wohnvierteln –, aber man sah sie nicht. Und abgesehen von den bitteren Flüchen, die hier und da einzelne der so unangenehm und schleichend aus dem Schlaf gerissenen Einwohner auf die ganze Menschheit schleuderten, blieb die Nacht ruhig.
In der Morgendämmerung warfen sie Anker in Myrtle Grove, schon weit im Delta des Mississippi, und hatten ihr Ziel erreicht.
66.
Franklin Sykes, M. D., war vor einigen Jahren Nells Liebhaber gewesen, obwohl er etwa drei Mal so alt war wie die damals Sechzehnjährige. Sein Titel war echt und aus Cambridge,wenn seine medizinische Tätigkeit auf dem fünften Kontinent auch vorwiegend darin bestand, Abtreibungen vorzunehmen. Er wohnte zu diesem Zweck periodisch wechselnd in den Hinterzimmern der zahlreichen Hafenbordelle, wo er naturgemäß viele seiner Kundinnen fand, behandelte aber auch andere Frauen, Zimmermädchen, Ladengehilfinnen, die sich unglücklich gemacht hatten. Gelegentlich gehörte zu seinen Obliegenheiten auch die Erstversorgung verletzter Zuhälter und Rausschmeißer, von Dieben oder Räubern, die in Ausübung ihres Berufs körperlichen Schaden genommen hatten. Man hätte ihn einen Wohltäter der unteren Klassen nennen können, wenn er nicht stets einen angemessenen Anteil an der Beute verlangt hätte.
Seine Kuren und Künste waren bei den Patienten nicht eben beliebt, aber das Beste, was man für wenig Geld und vor allem: unter der Hand bekommen konnte, und es wunderte deshalb niemanden, dass ein bis zum beginnenden Wahnsinn verwegen aussehender junger Mann mit einer blutigen Schmarre im Gesicht in mehreren Etablissements nach Doktor Sykes fragte, ehe er ihn schließlich fand.
James Fagan trat in ein enges, schmutziges Zimmerchen ein, ohne sich die Mühe des Anklopfens zu machen.
»Raus!«, knurrte Sykes, der gerade mit zwei stricknadelähnlichen Geräten in einer jungen Dame beschäftigt war, die mit angezogenen Beinen und einem Stück Holz zwischen den zusammengebissenen Zähnen auf einem viel zu kurzen Küchentisch lag.
»Ich bin’s«, sagte Fagan mit flatternder Stimme, der die Flucht durch das Morgengrauen noch anzuhören war. »Jamie!«
Der Arzt hob nur kurz den Kopf.
»Oh! Setz dich. Trink was!«
Er reichte dem Jungen eine unetikettierte braune Flasche, mit deren Inhalt er eben seine Hände, sein Werkzeug und seine Kehle desinfiziert hatte. Jamie setzte sich, trank, und sein Ächzen unter der verheerenden Wirkung der scharfen Flüssigkeit vermischte sich mit dem plötzlichen Aufstöhnen der Patientin, als Doktor Sykes die Behandlung fortsetzte. Ihr Kopf, den sie eben noch krampfhaft erhoben hatte, sank zurück, fand keinen Halt auf der Tischplatte und hing über die Kante herab, bis ihr langes wirres Haar beinahe den Fußboden berührte. Unwillkürlich setzte sie die Ellenbogen auf und bewegte dabei offensichtlich das Operationsgebiet.
»Halt deinen verdammten Arsch still«, sagte jedenfalls der durch nichts zu erschütternde Chirurg, »sonst durchlöchere ich dir am Ende die Blase!«
Das Mädchen, nur unwesentlich älter als James Fagan, war anscheinend nicht zum ersten Mal in dieser unangenehmen Situation, denn sie schnaufte verständnisvoll, zustimmend, ergeben. Dabei lief ihr Rotz aus der Nase und mischte sich mit ihren Tränen.
»Wie geht’s?«, fragte der Arzt und meinte nicht seine Patientin, in der er ungerührt weiter herumstocherte. »Wie geht’s Nell? Was ist mit deinem Gesicht passiert?« Er war berühmt dafür, dass er zu viel redete.
Jamie wusste nicht genau, was Nell über den Arzt wusste und warum er ihr so verpflichtet war, dass er ihr mitsamt ihrem Bruder an schlechten Tagen immer mal wieder Unterschlupf gewährt hatte. Es hing wohl mit einem Todesfall unter seinen Patienten zusammen, und Fagan fragte sich nach einem angewiderten Blick auf den Behandlungstisch nur, wie vielen Leuten Sykes wohl noch für ihr Stillschweigen verpflichtet sein mochte.
»Erledigt!«, sagte der Doktor, als nach seiner Erfahrung genügend kleine blutige Klumpen zwischen den Schenkeln seiner Patientin zum Vorschein gekommen waren. Als sie das Holz ausspuckte und sich schwankend vom Tisch erhob, befahl er ihr, noch einmal die Röcke zu heben, und drehte mit einer schnellen Bewegung ein Stück Tuch in ihre Scheide, das er zuvor in Alkohol getränkt hatte.
»O Scheiße«, wimmerte die Frau, als der scharfe Desinfektionsschmerz sie beinahe in die Knie zwang. »O du schwarze Scheiße!«
»Du solltest weniger fluchen, Helen.« Der Arzt grinste und fügte dann mit so viel medizinischem Ernst hinzu, wie sein verfehltes Leben ihm noch gelassen hatte: »Da darf eine Woche außer mir keiner ran! Hast du mich verstanden?«
»Ja. Danke, Doc!« Helen nickte – und verkaufte einem reichlich unbedarften Bankiersgehilfen aus der City das sickernde Blut noch am gleichen Abend als teures Zeichen ihrer durch ihn erledigten Jungfernschaft.
»Also?«, fragte Sykes, als sie allein waren.
»Ich muss von der Bildfläche verschwinden«, antwortete Fagan, »und werde darum erst mal ein paar Tage bei dir bleiben, bis ich eine Möglichkeit dazu finde.«
»So schlimm?« Der Arzt wischte die Spuren der Abtreibung mit der flachen Hand in einen stinkenden Abfalleimer, ehe er die blutige Tischplatte mit Wasser, etwas Sand und einer schwarzfleckigen Scheuerbürste bearbeitete. Fagan nickte nur, für jede weitere Information zu erschöpft.
»Gut. Lass mich aber wenigstens dein Gesicht verpflastern, damit du mir nicht das Bettzeug versaust«, sagte Sykes.
67.
Was Franklin Sykes, M. D., in den nächsten Wochen aus der Zeitung erfuhr, brachte sogar ihn zum Schweigen. Er fragte James Fagan nicht mehr, was ihn an jenem Morgen hergeführt hatte, und hoffte nur noch, ihn möglichst schnell wieder loszuwerden. Die Gelegenheit dazu ergab sich, als die Schiffe der Neuseeländer einliefen und in allen Hafenkneipen die Anwerber der 5th Armed Constabulary nach Freiwilligen Ausschau hielten.
»Und wie haben Sie ihn ausfindig gemacht?«
Es war der dritte Abend auf See und zum dritten Mal saßen Captain von Tempsky und Joseph B. Williams unter dem Fockmast des Schiffes zusammen, rauchten und redeten, ungeachtet der Tatsache, dass die Männer über die seltsamen Zusammenkünfte bereits die Köpfe schüttelten.
»Das war relativ einfach«, antwortete Gowers, der sich auch selbst schon fragte, warum er zu dem Deutschen so schnell ein so ungewöhnlich großes Vertrauen gefasst hatte: Es war wohl weniger die Deutlichkeit, mit der von Tempsky seinen Verfolgern entgegengetreten war, als die Schwere der Dinge, die auf seiner Seele lasteten.
Die Ermittlung war tatsächlich relativ einfach gewesen. Nell hatte Sykes’ Namen genannt, und obwohl sie seine Dienste glücklicherweise noch nie in Anspruch genommen hatte, kannte Sarah, wie alle Huren Melbournes, den Aufenthaltsort des berüchtigten Engelmachers. Bereits am Tag nach Nells Hinrichtung suchte Gowers die Hafenbordelle auf.
Umständlicher war die Suche nach Zeugen, die Sykes’ Verbindung mit James Fagan bestätigen konnten, denn natürlich stritt der Mann alles ab. Gowers wollte ihn bereits in die Mangel nehmen, als er durch einen puren Zufall auf Helen traf, die sich an jenen Schmerzensmorgen und den Jungen mit dem zerkratzten Gesicht begreiflicherweise gut erinnerte.
»Name?«
James Fagan zitterte, als er nackt wie ein Wurm vor dem Militärarzt stand. Aber wie hieß es unter den Soldaten aller Länder und Waffengattungen so passend? Zur Welt und in die Armee kommen wir ohne Kleider.
»Bradley, Sir«, sagte Fagan. »James Bradley.«
Der Armeeschreiber, der die lange Reihe rachitischer nackter Männer mit gelangweilten Blicken an sich vorüberziehen ließ, suchte diesen Namen in der Liste der Eingeschriebenen und nickte nur müde, als er ihn gefunden hatte.
»Arme hoch!«, befahl der Arzt.
Der Mann sah übel aus. Unterernährt und blass, die Haut ungesund, das Gesicht picklig und zu allem Überfluss von einer breiten, noch schorfigen, also frischen Narbe entstellt.
»Streit gehabt«, stellte der Arzt fest, als Fagan widerspruchslos die Arme hoch.
»Ja, Sir«, antwortete er, und das Zittern seiner Beine verstärkte sich so, dass sein dünnes Geschlechtsorgan über dem klein zusammengeballten Hodensack regelrecht bebte.
Warum war der Mann so nervös? Diese Art erzwungener Musterung gab es, seit es Armeen, Gefängnisse und Sklavenmärkte gab. Sie erfüllte einen dreifachen Zweck. Machte dem Mann, selbst einem Schwachsinnigen, klar, dass er nun mit Haut und Haaren einer höheren Macht gehörte, die mit ihm tun konnte, was immer sie wollte. Brachte körperliche Gebrechen ans Licht, die seinen möglichen Kampfeinsatz beeinträchtigen konnten, und schützte die Armee vor Läusen und anderem Ungeziefer.
»Ich nehme an, sie hat sich gewehrt, wie?«, fragte der Arzt in einem jähen Anflug von Jovialität, und erst am Feixen des bisher so teilnahmslosen Schreibers merkte Fagan, dass das ein Scherz sein sollte. Er schaffte es, sein lädiertes Gesicht zu einem Grinsen zu verziehen.
»Ja, Sir!«
Mit Helens Aussage konfrontiert, erschüttert durch die Zeitungsberichte über Nells Hinrichtung und in der verzweifelten Hoffnung, einer Anzeige wegen Beihilfe zu entgehen, gab Franklin Sykes, M. D., schließlich mehr zu, als Gowers ihm je hätte beweisen können.
»Ich wusste nicht, dass er sie ermordet hat«, winselte der Arzt. »Er hat nichts gesagt, und ich habe ihn nicht gefragt.«
Mühsam unterdrückte Gowers den Wunsch, dem Mann ins Gesicht zu schlagen.
»Wo ist er?«
»Hat sich freiwillig nach Neuseeland gemeldet, vor drei Tagen erst!«
Es hatte rund zwei Wochen gedauert, bis McDonnell genügend Männer beisammenhatte, um mit dem ersten Schiff in See zu gehen. Titokowaru hatte inzwischen vielleicht schon losgeschlagen, und so konnte er keine Rücksicht auf von Tempsky und die nächsten hundertfünfzig, zweihundert Mann nehmen. Kriege warten nicht gern.
Als Gowers zum Hafen kam, sah er deshalb tatsächlich nur noch »Fighting Macs« Segel am Horizont.
»Eine letzte Frage«, sagte von Tempsky, als er die ganze Geschichte kannte. »Warum ist die Polizei denn nun eigentlich hinter Ihnen her?«
Gowers lachte leise. »Der Pfarrer, Sir. Er hatte unglücklicherweise ein gutes Personengedächtnis, und seine Beschreibung passte im Grunde nur auf mich.«
Auch Manu-Rau musste über diese letzte Enthüllung lachen, so sehr, dass er dazu sogar die Pfeife aus dem Mund nahm.
68.
Obwohl er genauso erschöpft gewesen war wie alle anderen, hatte John Lafflin darauf bestanden, noch am gleichen Morgen und zu Fuß nach New Orleans aufzubrechen. Gowers begleitete ihn, wunderte sich über das Durchhaltevermögen des alten Mannes und war heilfroh, als sie noch vor Mittag auf einen kleinen Treck von Cajuns stießen, Fischer und Bauern, die ihre Erzeugnisse auf niedrigen Eselskarren zum Markt in New Orleans schafften. Mit der Abenddämmerung kamen sie auf einem solchen Karren und einer Ladung Fische sitzend in die Stadt, und während John Gowers zunächst seine Wohnung aufsuchte, machte sich Lafflin ohne Verzug zum Hafen auf – wo er seinen Kontaktmann allerdings um weniger als eine halbe Stunde verpasste. Der alte Mann, jetzt deutlich erschöpft und angeschlagen, ging nach gut anderthalb Stunden zurück ins französische Viertel, um die Nacht in dem Bett zu verbringen, das sein Lotse ihm angeboten hatte.
Der junge Mann hatte sich mithilfe von Wasser und Seife eben von dem Fischgestank befreit, der auf der Fahrt an ihm haften geblieben war, als Lafflin eine neue, erstickende Wolke des gleichen Dufts in seine Räumlichkeiten trug. »Und?«, fragte er.
»Nichts«, erwiderte Lafflin, während er die Füße ächzend aus seinen Stiefeln zog. »Wenn morgen niemand da ist, müssen wir uns wohl oder übel selbst nach Barataria tasten. Das Problem ist nur, dass ich dann keine Ahnung habe, was uns dort erwartet.«
»Na, dann spricht ja nichts dagegen, dass Sie sich ein wenig frisch machen, Sir«, sagte John, rümpfte die Nase und verwies Lafflin auf die Waschschüssel, die auf dem breiten Fensterbrett stand. »Ich hole Ihnen sogar frisches Wasser«, kündigte er an und schüttete das alte, verbrauchte aus dem Fenster auf die Straße.
Als sein Lotse gegangen war, kam Lafflin zum ersten Mal dazu, sich in Gowers’ kleiner Wohnung umzusehen. Es war insbesondere ein überquellendes Bücherbord, das den Raum deutlich von den Behausungen der vielen Hundert Seeleute unterschied, die Lafflin in seinem Leben gesehen hatte. Zerlesene alte Bände, zusammengekauft und gestohlen von vielen Bücherkarren, aus vielen Bibliotheken der Alten und Neuen Welt, und sie zeugten von der weit verzweigten, aber nicht sehr wählerischen Belesenheit des jungen Mannes.
Vorwiegend Literatur, nur wenige wissenschaftliche oder philosophische Werke, abgesehen von einigen Geschichtsbüchern. Das verlorene Paradies lag aufgeschlagen auf einigen anderen Bänden und beschirmte sie praktisch wie ein Dach. Der alte Mann nahm das Buch und las die Verse Miltons, die John Gowers mit einem kleinen Bleistiftkreuz als besonders merkwürdig markiert hatte:
In uns allein sei unsre Seligkeit,
Für uns allein zu leben, sei es auch
In dieser Wüste hier, damit wir frei
Und unabhängig statt des leichtern Jochs
Des Sklavenpomps die schwere Freiheit wählen.
Der Verweis I, 679, auf dem Seitenrand notiert, ließ den Fabrikanten zurückblättern, aber ehe er die Stelle gefunden hatte, war John wieder da.
»Glauben Sie das?«, fragte Lafflin und las die Verse noch einmal laut.
»Ich glaube nichts, was in Büchern steht«, antwortete John und goss das frische Wasser in die Waschschüssel. »Aber ich denke darüber nach. Wirklich interessant ist nicht so sehr, was gesagt wird, sondern wer spricht.«
»Nun, an dieser Stelle spricht Satan selbst, wenn ich mich recht entsinne.« Lafflin knöpfte sein Hemd auf, um das Reinigungswerk zu beginnen. »Und er will lieber in der Hölle herrschen, als im Himmel dienen. Glauben Sie, dass das richtig ist?«
John schüttelte den Kopf.
»Der da spricht, ist Mammon, einer der vornehmsten unter den gefallenen Engeln. Und ihn hat schon immer weniger der Himmel als die Erde interessiert. Erst durch ihn haben die Menschen gelernt, nach Gold zu graben und es sich gegenseitig abzujagen. Die Frage ist an dieser Stelle also: Kann ein Lügner etwas Wahres und Gutes sagen? Kann der falsche Mann etwas Richtiges tun?«
Ehe Lafflin dazu kam, etwas zu erwidern, wurde heftig an die Tür geklopft.
»John!?« Es war Maggie, die schon durch die geschlossene Tür rief: »Wir haben Ärger!«
Gowers kehrte den philologischen und moralischen Problemen Miltons den Rücken zu und öffnete. »John Lafflin – Margret-Ann«, stellte er die beiden so unterschiedlichen Menschen einander vor und fragte schon im Hinausgehen: »Wie viele?«
69.
Bonneterre hatte die Farbige in eine Zimmerecke getrieben, wo sie schützend ein kleines seidenes Kissen vor ihren Körper hielt. Schwitzend und mit leuchtenden Augen versuchte er, mit seinem Ledergürtel um dieses Hindernis herumzukommen, und freute sich, wenn die Schmerzensschreie der Hure verrieten, dass er das Fleisch ihrer Schultern und Hüften gefunden hatte. Gleich würde er sie auf dem Boden haben, wo sie hingehörte.
Bei seinen verbissenen Bemühungen hatte er indes das zweite Mädchen aus den Augen verloren, und erst als er hörte, dass es sich am Türschloss zu schaffen machte, drehte er sich um und bedeckte ihren nackten Rücken mit wütenden Schlägen. Elly sackte neben der Tür in die Knie und schützte sich, so gut es ging, mit nicht mehr als ihren erhobenen Armen.
Diese Ablenkung nutzte die kräftige Cleo, um sich ihrerseits auf den rabiaten Kunden zu stürzen und ihrer Kollegin beizustehen. Bonneterre hatte sie noch nicht abgeschüttelt, als die zierliche Weiße die Tür geöffnet hatte und in den Korridor floh.
Endlich lag der schwarze Teufel nackt und wehrlos vor seinen Füßen. Aber gerade als er zuschlagen wollte, fühlte er, wie sein Arm zurückgerissen und auf seinen Rücken gedreht wurde. Er schrie vor Schmerz und sah dann plötzlich die Zimmerwand auf sich zukommen, als jemand ihn lebhaft nach vorn stieß. Die Tapete war aus weichem rotem Samt, die Wand selbst bestand allerdings aus solidem Mauerwerk.
Während Bonneterre zu Boden ging, sprang die Farbige auf und lief ebenfalls aus dem Zimmer, wo Elly, vor ausgestandenem Schrecken schluchzend, in die Arme ihrer Chefin gesunken war. Für die weniger malträtierte, aber ebenso erschrockene Cleo war auf dem Korridor nur noch eine Schulter frei – die von John Lafflin, der sein geöffnetes Hemd wieder in die Hose gestopft hatte und seinem davoneilenden Lotsen mehr aus Interesse als aus Hilfsbereitschaft hinterhergelaufen war.
Derart nachlässig gekleidet, das jammernde nackte Mädchen im Arm, auf dem Korridor eines einschlägigen Etablissements, kam er sich weit kurioser vor, als er wollte, und beschloss, seiner Gattin nichts von diesem Intermezzo zu erzählen. Zwar hatte er durchaus vergleichbare Erfahrungen, aber seit mehr als fünfundzwanzig Jahren keine andere Frau mehr berührt als seine eigene, und so bemühte er sich, der aufgeregten Dame lediglich beruhigend und väterlich, ja großväterlich auf den Rücken zu klopfen.
Als Bonneterre einige Sekunden später wieder zu sich kam, hörte er als Erstes die seltsam ruhige Stimme eines Mannes, der sagte: »Sie haben zwei Möglichkeiten, Sir. Sie können hinausgehen, oder Sie werden hinauskriechen. Ich zähle auf drei!«
Vor diese Wahl gestellt, versuchte der junge Kreole, sich aufzurappeln, musste dabei aber zur Kenntnis nehmen, dass er seinen rechten Arm nicht bewegen konnte, jedenfalls nicht ohne Schmerzen. Wütend über die ungeahnte Entwicklung der Dinge und zugleich ängstlich, murmelte er: »Das wird ein Nachspiel haben!«
Die Worte kamen schwer und mühsam über seine aufgeschwollenen Lippen, seine komplette rechte Gesichtshälfte kam ihm vor wie gelähmt, und als der Mann ihn drei Sekunden später im Nacken packte wie eine Katze, um ihn aus dem Haus zu schleifen, wimmerte er kläglich: »Ich gehe, ich gehe!«
Noch immer hatte er seinen unheimlichen Gegner nicht wirklich angesehen, und erst als Gowers ihm mit rauen Griffen auf die Beine half, erkannte er ihn.
»Sieh da«, murmelte Bonneterre und fühlte ganz im Geheimen, wie seine Niederlage sich in einen Sieg zu verwandeln begann. »Der Literaturfreund aus St. Louis. Was für eine nette Überraschung!« Er verzog sein zerschlagenes Gesicht zu einem hässlichen Grinsen.
Auch John Gowers hatte den Mann jetzt als einen der Gentlemen wiedererkannt, die die Versammlung der Literarischen Gesellschaft so gekonnt gesprengt hatten, und nahm ihm den Ledergürtel aus der schlaffen Rechten. Für einen Moment standen die beiden jungen Männer beinahe Brust an Brust, dann schlang Gowers den Gürtel um die Hüften des Gegners und zog so fest an, als wollte er ein Korsett schnüren.
»Damit Sie Ihre Hosen nicht verlieren, Sir!«
Bonneterre ächzte, starrte den Engländer aber ansonsten so ausdruckslos an wie ein Basilisk, dann wankte er hinaus und schluckte noch einmal schwer an seinem Kreolenstolz.
Wir sehen uns wieder!, wollte er drohen, aber weit davon entfernt, sich anzuziehen oder in die angrenzenden Zimmer zu flüchten, standen Cleo und Elly noch immer im Korridor, und ihr angsterfülltes Schluchzen verwandelte sich in wüste Beschimpfungen, als der mühsam gebändigte Freier steifbeinig an ihnen vorüberging. Die schmale Elly, auf deren Rücken sich bereits schmerzhafte rote Striemen gebildet hatten, spuckte ihm sogar ins Gesicht, ehe Maggie sie davon abhalten konnte.
70.
»Es wäre klug, zumindest für heute Nacht das Quartier zu wechseln«, sagte John Lafflin. Die beiden Männer wussten nicht recht, was sie von der merkwürdigen Begegnung halten sollten, aber das dumpfe Gefühl, dass die Heimlichkeit ihres Tuns aufgedeckt sei, wie es die Verschwörer aller Zeiten und Arten stets begleitet, als Schatten, als schlechter Beigeschmack, hatte sie gepackt. Sie kannten die Zusammenhänge nicht, aber ein Zufall konnte kaum vorliegen, so viel hatten sie in den Augen des Mannes gesehen.
»Kennen Sie ihn?«, fragte John.
»Nein.«
»Irgendeinen der anderen Burschen, mit denen er in St. Louis war?«
Lafflin schüttelte zum zweiten Mal den Kopf. »Überlegen wir lieber, was wir tun. Ich muss entschieden meinen Kontaktmann treffen, also in New Orleans bleiben. Aber Sie könnten zurück zum Schiff.«
»Vielleicht sind sie hinter mir her?«, fragte Gowers sich stirnrunzelnd.
»Was sagte Ihr Kollege? Leute an allen Anlegestellen von Memphis bis Baton Rouge fragen nach der Deep South. Doch wohl nicht, weil Sie ihr Lotse sind!«
»Aber wie hängt das alles mit dem Abend in St. Louis zusammen? Ich verstehe es nicht.«
»Der Hase muss die Hunde nicht verstehen, um zu rennen. Und jedenfalls sollte er nicht in einem Loch sitzen, von dem die Hunde wissen, dass er drinsitzt!«
»Was soll ich beim Schiff, Sir?«
»Es so gut wie möglich verstecken, obwohl sie vermutlich nicht flussabwärts danach suchen werden. Gringoire soll mit den anderen nach Barataria aufbrechen und sich an Monbars erinnern! Ich weiß zwar nicht, ob unsere … unsere Fracht da ist, aber …«
»Wenn ich mit dem Schiff unterwegs bleibe, wenn Ihr Kontaktmann umdisponiert hat und unsere ›Fracht‹ woanders ist, werden wir alle durch die Sümpfe irren und aneinander vorbeilaufen, bis die Miliz uns einsammelt!«
Lafflin schloss die Augen, konzentrierte sich, um diese Probleme zu bedenken, blies aber nach wenigen Sekunden die aufgestaute Luft aus seiner Lunge. Er war offensichtlich ratlos.
»Sir«, sagte John ruhig. »Ich will Sie nicht drängen, aber wäre es nicht an der Zeit, mich über das aufzuklären, was wir hier tun?«
Lafflin nickte, aber in diesem Moment klopfte es zum zweiten Mal an diesem Abend heftig an der Tür.
»New Orleans Police! Sofort aufmachen!«
Bonneterre hatte keine Zeit verloren. Aber vielleicht war gerade das ein Fehler gewesen, denn nicht mehr als zwei Polizeibeamte betraten Gowers’ Wohnung, nachdem dieser geöffnet hatte. Eine Observierung oder aber das gewaltsame Eindringen der Louisiana-Miliz hätte sicherlich mehr gebracht als die offizielle Untersuchung einer polizeilichen Anzeige.
»Mein Name ist Duggan, das ist mein Kollege Helman«, sagte der Wortführer der bescheidenen Abteilung. »Sind Sie John Gowers, auch bekannt als ›der Engländer‹?«
»Ja«, antwortete John und hätte am liebsten hinzugefügt: Wen hatten Sie denn hier erwartet?
»Gegen Sie liegt eine Anzeige wegen Körperverletzung, Nötigung und Beleidigung vor, junger Mann. Würden Sie bitte mitkommen?!«
»Moment, Officer Duggan«, schaltete sich John Lafflin ein. »Wollen Sie den Fall nicht erst einmal untersuchen, ehe Sie der Stadtkasse unnötige Kosten verursachen?« Mit schlafwandlerischer Sicherheit hatte er das Argument gefunden, das noch den fantasielosesten Beamten ins Grübeln bringt. »Ich war zufällig Zeuge der Auseinandersetzung und kann bestätigen, dass Mr. Gowers in einem Akt der Nothilfe gehandelt hat.«
»Wer sind Sie denn überhaupt?«, flüchtete Duggan barsch auf das von ihm schlafwandlerisch beherrschte Terrain der simplen Fakten.
»Mein Name ist John Lafflin. Direktor der Lafflin Gunpowder Limited, St. Louis/Missouri.«
»Und was tun Sie in diesem Haus, Sir?« Duggan verzog den Mund zu einem überlegenen Grinsen, als wüsste er die Antwort bereits.
Aber der alte Mann erwiderte sehr ernsthaft: »Wir diskutieren gerade ein literarisches Problem! Eine Stelle bei Milton, die wir verschieden auslegen.«
»In uns allein sei unsre Seligkeit«, warf John Gowers ein. »Für uns allein zu leben, sei es auch in dieser Wüste hier, damit wir frei und unabhängig statt des leichtern Jochs des Sklavenpomps die schwere Freiheit wählen.«
Die Beamten der New Orleans Police wurden nicht unbedingt nach ihrem literarischen Kenntnisstand ausgewählt und sahen einander stirnrunzelnd an.
»Ich behaupte«, sagte Gowers, »dass der hier formulierte Gedanke von der Autonomie des menschlichen Geistes ein Credo Miltons ist.«
»Aber nein«, entgegnete Lafflin, »denn es ist Satan, der diese Verse spricht, und das konterkariert Ihre Aussage.«
»Eben nicht Satan«, sagte Gowers mit schulmeisterlich erhobenem Zeigefinger. »Nur einer der gefallenen Engel.«
»Und was ist dann passiert?«, unterbrach Officer Duggan den ihm unverständlichen Disput.
»Mrs. Margret-Ann, die Besitzerin des benachbarten Etablissements«, berichtete Lafflin, »informierte Mr. Gowers darüber, dass ein Kunde zwei ihrer Mädchen misshandeln würde, und erbat seine Hilfe. Sowohl Mrs. Margret-Ann als auch die beiden angestellten Damen werden Ihnen das gerne bestätigen, Officer!«
»Und weiter?« Auch rhetorische Weitschweifigkeit gehörte nicht zu den häufig geübten polizeilichen Tugenden Officer Duggans, eher die lakonische Kürze beim Erfragen von Sachverhalten.
»Mr. Gowers folgte dieser Aufforderung, fand einen Mann mit erhobenem Ledergürtel über einer wehrlosen Frau stehend und hinderte ihn daran, weiter zuzuschlagen. Das ist alles, Officer. Auch die ärztliche Untersuchung der beteiligten Damen wird diese Aussage bestätigen.«
»Überprüfen!«, befahl Duggan seinem offenbar niederrangigeren Kollegen Helman, der sich beeilte, der Aufforderung nachzukommen. Sein Chef begann, sich im Zimmer umzusehen, und zog misstrauisch ein paar Bücher aus dem Regal. »Wie kommt Maggie«, sagte er und korrigierte sich errötend, »Mrs. Margret-Ann dazu, Sie um Hilfe zu bitten, Mr. Gowers?«
»Sie ist meine Hauswirtin, Sir, und die Situation war zu eilig, um die Polizei zu verständigen.«
Duggan gab sich mit dieser Auskunft zufrieden, sah aber mit der professionellen Besorgnis eines Menschenfängers, dass ihm die scheinbar so leichte Beute mehr und mehr aus den Fingern glitt. Er war darum hocherfreut, als in diesem Moment ein Bote von der Polizeistation anlangte und ihm ein eigenartiges, altertümliches Dokument aushändigte.
Henry Hunter hatte den Informationen des Detektivs Gabriel Beale endlich Vertrauen geschenkt, als der reichlich derangierte Bonneterre ihm berichtete, dass nicht nur der gesuchte Lotse, sondern auch der Schießpulverfabrikant John Lafflin in New Orleans sei. Sofortige Erkundigungen im Polizeiarchiv hatten Erstaunliches zutage gefördert, nämlich einen über vierzig Jahre alten Haftbefehl, den nun der Police Officer Duggan umständlich entfaltete, wobei das in den Falzen bereits brüchige Papier endgültig einriss. Der Bote flüsterte ihm gleichzeitig etwas ins Ohr, und die Sonne des polizeilichen Fahndungserfolgs ging in Duggans Gesicht auf.
»John Lafflin«, sagte er mit amtlicher Schwere, »alias Jean Laffitte. Sie sind hiermit verhaftet wegen Piraterie, Schmuggel und illegalem Sklavenhandel! Wenn Sie mir bitte folgen würden!«
»Wollen wir nicht noch einen Augenblick warten, Officer?«, antwortete Lafflin, während er aufmerksam das vergilbte Dokument studierte, das der Polizist ihm nach so vielen Jahren unter die Nase hielt. »Dann könnten Sie vielleicht Mr. Gowers auch gleich mitnehmen.«
»Genehmigt«, schnarrte Duggan. »Aber glauben Sie ja nicht, dass Sie mir jetzt noch entwischen können!« Er legte mit ausgesuchter Arroganz beide Hände auf den Rücken und wandte sich wieder dem Bücherregal zu, um dem Delinquenten seine ganze aufreizende Selbstsicherheit zu demonstrieren.
»Sklavenhandel?«, fragte John Gowers verwundert.
Lafflin nickte. »Vor einem Menschenalter, Mr. Gowers. Was sagten Sie eben über den falschen Mann, der das Richtige tut?« Er bedeutete dem Lotsen mit einem Wink seiner Augen, dass Police Officer Duggan just in diesem Moment Das verlorene Paradies zur Hand genommen hatte.
»Kennen Sie John Milton, Officer?«, fragte Gowers den Polizisten, der daraufhin wie ertappt das Buch zuschlug.
Duggan überlegte. »Ist polizeilich bislang nicht aufgefallen«, lautete dann seine amtliche Stellungnahme.
»Ich denke jedenfalls«, fuhr John Gowers in einem retardierenden Stil fort, der Magister Chambers Laute des philologischen Entzückens entlockt hätte, »dass sein Bekenntnis zur menschlichen Willensfreiheit hier evident ist.«
»Ich bin nach wie vor anderer Ansicht, junger Mann«, entgegnete Lafflin, während der Polizist verständnislos vom einen zum anderen sah. »Schließlich war er Calvinist …«
»Puritaner!«, korrigierte Gowers.
»Wie auch immer. Jedenfalls Anhänger der reformierten Auffassung von Gottesgnade und Prädestination, der Vorherbestimmtheit des menschlichen Schicksals. Denken Sie nur an die Hafenszene!«
»Hafenszene?«, Gowers runzelte die Stirn.
»Ja. Am Pier sieben.«
»Sie meinen die Stelle, wo die Verschwörer sich treffen?«
»Exakt.«
»Aber sie laufen doch aneinander vorbei, ohne sich zu erkennen.«
»Bis Gott zu Moses spricht, Mr. Gowers. Exodus, Kapitel drei, Vers zehn.«
»Ich verstehe.«
»Noch nicht ganz, fürchte ich.« Lafflin seufzte. »Denn diese Stelle korrespondiert bekanntlich eng mit den Versen vierzehn folgende im Buch der Richter, Kapitel vier.«
Gowers hob, scheinbar von den besseren Argumenten überzeugt, ergeben die Hände. »Das sollte ich vielleicht noch mal nachlesen, Sir!«
»Bla, bla, bla«, murmelte Officer Duggan gelangweilt. Dann tauchte der dienstbeflissene Helman wieder auf. Die Befragung Maggies und der Huren hatte ergeben, dass John Gowers in Nothilfe gehandelt hatte und deswegen nicht unter Arrest gestellt werden konnte. Das weitere Verfahren in diesem Fall war damit nicht mehr Sache ehrlicher Polizisten, sondern gerissener Anwälte. Lediglich John Lafflin alias Jean Laffitte konnte man ohne weitere Umschweife ins polizeiliche Gewahrsam abführen.
»Kann ich etwas für Sie tun, Sir?«, fragte Gowers, aber Lafflin schüttelte heftig den Kopf.
»Ich komme schon klar, Mr. Gowers. Kümmern Sie sich um Wichtigeres, und frischen Sie vorher Ihre Bibelkenntnisse auf!«
Auch dagegen war polizeilicherseits wenig einzuwenden. Ein Problem war lediglich, dass Gowers keine Bibel hatte. Als John Lafflin abgeführt worden war, sprach der junge Mann deswegen bei Maggie vor, und deren sofortiges Nachfragen bei ihren Mädchen löste eine höchst eigenwillige Suchaktion nach dem Buch der Bücher aus. Denn obwohl keine der hartgesottenen Huren zugeben wollte, eine Bibel zu besitzen, klopften bis weit nach Mitternacht immer wieder einzelne Mädchen an Gowers’ Tür, um ihm verschämt und unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihre ganz persönlichen Ausgaben der Heiligen Schrift zur Verfügung zu stellen. Sonntagsschulausgaben, in denen noch Fleißkärtchen und Heiligenbilder lagen, gepresste Blumen oder kleine, kindliche Liebesbriefe, Familien-, Volks-und sogar eine Mormonenbibel.
Gowers hätte ein Bibelseminar eröffnen können, las aber immer nur wieder den Vers: »So geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk aus Ägypten führst.« Auch Richter 4, 14 ff. prägte er rasch seinem Gedächtnis ein. Aber als er spät in der Nacht aus dem Fenster sah, dass einige elegant gekleidete junge Männer das Haus aufmerksam beobachteten, wurde ihm klar, dass das Problem mit den Hunden und dem Hasen noch nicht gelöst war.
71.
Die See, der Anblick des endlosen leeren Horizonts und das Rollen der Wogen unter seinen Füßen, übte einen eigenartigen, beruhigenden Einfluss auf ihn aus. Es war nur zum Teil das Gefühl, nach Hause zu kommen, bei sich zu sein, obwohl ihm die See, gleich an welcher Stelle der Welt, stärker Heimat war als jeder andere Ort, den er gesehen hatte.
Es war auch nicht nur die Tatsache, dass er auf See jeden Kurs steuern und halten konnte, ohne sich um Straßen, Wege, Pfade und die Spuren der Menschen auf ihnen kümmern zu müssen. Auf See gab es keine traditionsreichen Landschaften, Grenzen, Reiche, Ruinen, und niemand war je so verrückt gewesen, zu behaupten, dass ihm diese oder jene Woge gehöre. Die See war, wie sie schon vor Jahrmillionen gewesen war, und wenn sein Schiff in diesem Augenblick sinken würde, wäre im nächsten nur noch ein wenig Treibgut zu sehen, das das nächste Wetter zerblasen würde. Die See duldete keine Spuren, sie erschuf sich immer neu.
Was er aber von jeher am stärksten empfand, war das beruhigende Wissen, dass er auf See nicht mehr tun konnte, als er tun konnte. Abgesehen von ein paar ziemlich klar umrissenen Tätigkeiten, die allerdings rund um die Uhr ausgeübt werden mussten, gab es an Bord eines Schiffes nur die Arbeit, die man sich selbst machte. Natürlich erhöht regelmäßiges Säubern, Pflegen, Imprägnieren mit Teer und Fett die Funktionsfähigkeit eines seegehenden Fahrzeugs – aber das tägliche Aufklaren und Deckschrubben diente doch im Wesentlichen nur einem einzigen Zweck: der Beschäftigung ansonsten tätigkeitsloser Männer. Hatte man das einmal durchschaut und akzeptiert, war ein tiefer, beruhigender Fatalismus die natürliche Folge.
An Land brauchte man für nahezu jeden Schritt einen Plan und war dann ständig in all die Rücksichten, Bedenken und Ängste verstrickt, die Pläne und Planen mit sich bringen. Die See verlangte keine Pläne, nur Handeln, und kannte deshalb auch nicht die quälende Frage: Habe ich alles richtig gemacht? Fehler rächten sich auf See sofort oder gar nicht, und kein vor den Orkneys ertrinkender Matrose musste sich sagen: Ach, hätte ich doch auf der Doggerbank ein Segel mehr gesetzt, dann würde ich jetzt nicht ersaufen!
Nach einer eher ruhigen Woche, in der sie gegen den Ostwind kreuzten, begann es aus Südwesten, von der Tasmanschwelle her, mächtig zu blasen. Selbst von Tempsky, der doch den Atlantik und Pazifik überquert hatte, wurde angesichts der Wellengebirge, die der Wind auftürmte und die die kleine Bark vorwärtsschoben, ein wenig weiß um die Nase.
»Klempner und Seeleute dürfen nicht allzu viel Fantasie haben«, sagte er zu dem ungerührten Joseph B. Williams, als eines der schwarzgrünen Monster unter ihnen durchgelaufen war, sie mit Mann und Maus vierzig Fuß hochgehoben hatte, um sie dann im tiefen Tal zwischen zwei ähnlichen Wogen zu verschütten. »Man sagt doch, dass die Bewegung der See durch die Ruhelosigkeit der ertrunkenen Träume ausgelöst wird, die darunter begraben sind«, fuhr der Deutsche fort.
John Gowers warf ihm einen zweifelnden Blick zu, um festzustellen, ob das ein Witz sein sollte. »Hier sind wohl vor allem Walfänger ertrunken, Sir«, antwortete er, als er den Ernst und eine Spur Angst in den Augen seines Kommandanten sah, und fügte nicht hinzu, dass die Träume von Walfängern wohl hauptsächlich um Speck, Tran und vielleicht auch noch um die Fischbeinkorsette kreisten, in die die feineren Damen ihre weißen Hüften zwängten.
»Scheinen eher Alpträume zu sein«, sagte er dann aber doch, als eine neue Woge hinter dem Schiff aufstieg und so hoch wuchs, dass sie ihm für ein paar Sekunden sogar den Wind aus den Segeln nahm. Gowers wunderte sich nicht darüber, dass der Kapitän die Segel überhaupt stehen ließ, denn dafür gab es einen jedem Seemann unmittelbar einleuchtenden Grund: Der Sturm schob sie in die richtige Richtung. Er fragte sich nur, ob Tuch und Schoten dem wilden Andrang des Windes auf dem Wellenkamm standhalten oder zerreißen würden. Gespannt wanderte sein Blick in die Takelage, während das Schiff sich langsam aus dem Lee der riesigen Welle hocharbeitete.
Jetzt! Die Segel, die eben noch gekillt hatten, spannten sich mit einem scharfen Knall, der klang wie eine Gewehrsalve, und die Bark flog voran, als hätte sie einen Tritt bekommen. Die Masten und die Mägen der Männer bogen sich unter der plötzlichen Fahrt, die sie aufnahmen, und erst als die Stagen durch die Überbeanspruchung bereits knackten, kam der Befehl »Reff!«, gefolgt von der vorsorglichen Anweisung: »Alle Nichtseeleute unter Deck!« Jetzt ein womöglich falscher Ruderbefehl, nur weil sich irgendein Idiot nicht auf den Beinen halten konnte und von Bord gespült wurde, und es würde wahrhaftig gefährlich werden.
Von Tempsky beeilte sich, der Anordnung nachzukommen, um sich, wie all die anderen Landratten, außer Sichtweite der entfesselten Elemente der Illusion hinzugeben, in einer von Menschen gemachten und von Menschen beherrschten Welt zu leben, die sich eben nur manchmal unwillkürlich hob oder senkte. Gowers jedoch näherte sich einem der verkniffen nach oben starrenden Seeoffiziere.
»Ich bin Seemann, Sir. Brauchen Sie noch Hände an Deck?«
Der Mann, ein kleiner, schmächtiger Kerl, der auf Deck stand wie festgewachsen und dessen Gesicht von Wind und Salz so rot war wie seine Haare, fragte mit vorsichtigem Grinsen: »Sind Sie sicher?«
»Unser Kreuzroyal wird nur noch ein Putzfeudel sein, wenn wir es nicht bald runterbekommen, Sir«, sagte Gowers ruhig.
»Rauf!«, entschied der Offizier knapp und deutete auf den Kreuzmast, dessen Royalgeitau zerrissen war und wie eine riesige Peitsche gegen das oberste Segel schlug.
Der Investigator enterte auf wie eine Katze; und von da an wurde er so selbstverständlich in die seemännischen Arbeiten einbezogen, als hätte er nicht als Soldat, sondern als Matrose angeheuert. Nur der Ton, den man ihm gegenüber anschlug, als die unmittelbare Gefahr vorbei war, war deutlich anders, und das »Würden Sie bitte …«, »Was halten Sie von …« und »Hätten Sie wohl die Freundlichkeit …«, mit dem man ihm Befehle erteilte, sorgte zuverlässig für Stürme der Heiterkeit bei den eigentlichen Seeleuten.
Derart gut gelaunt überquerten sie die Tasmansee, und der mächtige Sturm hatte sich in einen nur noch lästigen grauen Regen verwandelt, als John Gowers von der Spitze des Fockmastes die ersten Ausläufer eines fernen grünen Landes erblickte.
72.
Seit sie eine klar umrissene Aufgabe hatten, nämlich die Überwachung des verrufenen Hauses, waren die jungen Ritter des Südens gewissermaßen körperlich gewachsen, so gerade hielten sie sich. Eben noch nichtsnutzige Herumlungerer, waren sie mit einem Mal zu Wächtern geworden, deren scharfen Augen keine Bewegung des Feindes entgehen würde. Aber leider bewegte der Feind sich nicht; das Ausleeren eines Nachttopfes und ein nach einem kläffenden Hund geschleudertes Stück Feuerholz bildeten die Höhepunkte der Nacht, und das machte die schärfsten Augen müde.
Nur als am sehr frühen Morgen und noch in der Dunkelheit drei der bei Maggie angestellten Damen das Haus verließen, kam noch einmal ein wenig Leben in die Männer. Sie strichen ihre dünnen Schnurrbärte, zogen ihre Rockschöße glatt, richteten ihre Hüte – aber alles, ohne die Aufmerksamkeit der deutlich übernächtigten jungen Damen zu gewinnen. Eine von ihnen gähnte praktisch ununterbrochen, hielt dabei aber immerhin einen Fächer vor ihr Gesicht.
Pier Nummer sieben war menschenleer, bis auf einen schlanken Farbigen, der, den Strohhut auf sein Gesicht gelegt und die Hände über dem Bauch gefaltet, an einem Baumwollballen lehnte und im Sitzen schlief. John, immer noch in den furchtbaren, unpraktischen Frauenkleidern steckend und seelisch nicht wenig durch den ungewohnten Luftzug an seinen nackten Beinen angegriffen, sah sich suchend um und fragte sich, was er eigentlich tun würde, wenn er niemanden fand.
Ratlos ging er auf dem Pier auf und ab, zweimal, dreimal. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihn ein früher Heizer oder später Flößer mit eindeutigen Absichten ansprechen würde, sagte er sich grimmig, aber auch ein wenig erheitert. Er malte sich das überraschte Gesicht des glücklosen Freiers in immer grelleren Farben aus und lachte jetzt einige Male leise, wenn auch mehr vor Verzweiflung.
Deborah beobachtete die Hure durch die Löcher in ihrem Hut. Was wollte diese Idiotin nur hier, um diese Zeit? Selbst wenn Männer hier wären, würden sie jetzt wohl auf dem Weg zur Arbeit sein und nicht mit einem heruntergekommenen Mädchen gehen, das … das sich so eigenartig bewegte. Sie wiegte ihre Hüften nicht und hatte weder vorn noch hinten viel von dem zu bieten, was Deborah an den wenigen käuflichen Damen, die sie in ihrem Leben gesehen hatte, beinahe widerwillig als besonders auffällig registriert hatte.
Obwohl sie sich dabei vor sich selbst genierte, war ihr nächster Blick auf die hin und her gehende Hure hauptsächlich von weiblicher Neugier geprägt. Deborah wusste aus einigen anzüglichen Gesprächen in den Sklavenhütten ihrer Jugend, dass weiße Frauen von der Natur oft weniger reich bedacht worden waren als schwarze. Aber, meine Güte, diese Frau hatte ja anscheinend überhaupt keinen Hintern!
Sie grinste ein wenig unter ihrem Hut, besann sich aber schnell wieder auf ihre wichtige, verzweifelte Aufgabe: Sie musste den alten Mann treffen oder aber den Boten identifizieren, den er ihr schicken würde. Dann sah sie für einen Augenblick die Hände der Hure und begann zu zittern. War das möglich? Durfte sie das riskieren?
John glaubte zuerst, dass seine Ohren ihm einen Streich spielten, als er das Pfeifen hörte. Er sah sich um, aber da war niemand außer dem schlafenden Neger auf der anderen Seite des Piers. Erst beim zweiten Mal fiel ihm auf, dass eine kurze Melodie gepfiffen wurde, und erst beim dritten Mal erkannte er »Go down, Moses«. Aber es dauerte auch danach noch eine knappe Minute, bis ihm die Worte zu dieser Melodie einfielen beziehungsweise bis er in Gedanken die Verbindung zu den Versen herstellte, die er auswendig gelernt hatte.
Noch einmal sah er sich um, noch immer war niemand da. Entweder würde er sich jetzt völlig lächerlich machen oder sein Ziel erreichen. Kurz entschlossen ging er auf den schlafenden Neger zu, blieb kurz vor ihm stehen und sagte fast wütend laut: »So geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk aus Ägypten führst!«
All seine Verwirrung in dieser Nacht, an diesem Morgen war nichts gegen die Überraschung, die jetzt die leise, aber deutliche Antwort – einer Frauenstimme in ihm auslöste.
»Deborah aber sprach zu Barak: Auf! Das ist der Tag, an dem der Herr den Sisera in deine Hand gegeben hat.« Die junge Frau stand auf und schob den Hut aus einem klugen, misstrauischen, erschöpften, aber nicht ängstlichen Gesicht.
»Wer sind Sie?«, fragte sie streng.
»Mein Name ist John Gowers. Ich bin der Lotse der Deep South«, sagte John, dem in seiner Frauenkleidung nun immer unbehaglicher wurde. »John Lafflin schickt mich. Ich soll Sie zum Schiff bringen.«
»Und meine Leute?«
Die Bestimmtheit ihrer Fragen verwirrte ihn. Er hatte erwartet, ein eingeschüchtertes Wesen zu treffen, das dankbar dafür wäre, wenn es gerettet würde, und fand einen weiblichen General vor, der ihn offenbar als eine Art subalternen Melder betrachtete.
»Zuerst müssen wir zum Schiff. Dann holen wir Ihre Leute.« John ärgerte sich ein wenig darüber, dass sie sich noch immer nicht in Bewegung setzte, denn es wurde nun immer heller.
»Ich habe ein Problem«, sagte Deborah. »Einer meiner Männer wurde geschnappt.«
»Ich habe auch ein Problem«, erwiderte Gowers beinahe sarkastisch. »John Lafflin wurde verhaftet!« Diese Antwort schien ihr Selbstbewusstsein zum ersten Mal ein wenig zu erschüttern, und schnell fügte er hinzu: »Aber das bedeutet nur, dass wir uns beeilen müssen.«
Sie gingen jetzt immerhin ein paar Schritte, und durch die Bewegung wurde Gowers wieder an die Lächerlichkeit seiner Verkleidung erinnert. Die junge Frau schien das zu bemerken.
»Warum tragen Sie Frauenkleider?«
»Ich musste ein paar Verfolger abschütteln«, sagte er ärgerlich. »Was dachten Sie denn?«
Ein Lächeln huschte über Deborahs Gesicht, als ihr wieder einfiel, was sie gedacht hatte. »Jedenfalls werden wir so nicht weit kommen«, überlegte sie laut. »Ein Sklave, der keiner ist, und eine Frau, die keine ist – und der man das ansieht.« Sie blieb wieder stehen und seufzte kurz, als hätte sie eine schwere Entscheidung getroffen. »Lassen Sie uns die Kleider tauschen!«
Am Ausgang des Piers, zwischen Baumwollballen und Frachtgutkisten, geschützt durch das Heck eines schlafenden Dampfschiffes, zogen die beiden jungen Leute sich aus; Rücken an Rücken, ohne Scheu, von der bloßen Notwendigkeit ihrer gefährlichen Aufgabe getrieben. Was beide dennoch zutiefst empfanden, war die Wärme des fremden Körpers, die noch in den getauschten Kleidern steckte und sich mit der ihrer eigenen Haut vermischte. Bald konnten sie das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden.
73.
Am selben Morgen, zur selben Zeit, als eben die Sonne aufging, erwachte auf der anderen Seite des Flusses in einem vornehmen Herrenhaus, das einst die Landschaft beherrscht hatte, dann aber von der Stadt eingeholt, überholt und schließlich verschluckt worden war, eine alte Dame aus kurzem, unruhigem Schlaf. Siebenundsechzig Jahre hatten Eileen Clairbornes Rücken nicht beugen können, aber sie allein wusste, wie viel Schmerzen und Disziplin es gekostet hatte, aufrecht und strahlend durch ein Leben zu gehen, von dem aufgrund einer Wirbelsäulenverkrümmung noch die Ärzte des 18. Jahrhunderts vorausgesagt hatten, es würde schon früh wieder von der und in der Erde verschwinden.
Ihre Eltern hatten sich dieser Meinung angeschlossen und nach dem misslungenen ersten Versuch noch ein halbes Dutzend besser geratene Nachkommen in die Welt gesetzt, aber Eileen hatte sie alle Lügen gestraft: war zu einer Schönheit herangewachsen, hatte den Gouverneur von Louisiana geheiratet und war lange Zeit der Mittelpunkt und Magnet der feinen Gesellschaft von New Orleans gewesen. Das verdankte sie einer schwarzen Amme, die mehr vom menschlichen Körper verstand als alle Ärzte Louisianas zusammengenommen, täglichem mehrstündigem Rückentraining und einem eisernen Willen, den niemand in einem so zarten Körper vermutet hätte.
Auch an diesem Morgen erhob sich die zierliche Greisin unter Schmerzen, dehnte und streckte sich wie eine alte Katze, bis die nächtliche Verkrampfung ihrer Muskeln gelockert war, und verschloss dann die Tür, die sie aus Vernunftgründen seit einigen Jahren in der Nacht offen ließ, falls einmal »etwas« mit ihr passieren würde. Sie hängte jetzt ihr seidenes Nachthäubchen an die Klinke und vor das Schlüsselloch und war allein mit sich.
Aus einem Schränkchen, dessen Schlüssel sie stets bei sich trug, nahm sie einen zusammengerollten schmalen Teppich und ein Paar kleine gusseiserne Hanteln, die ein schwarzer Schmied, der Ehemann ihrer Amme, vor über sechzig Jahren für sie angefertigt hatte. Anschließend zog sie ihr Nachthemd aus, entrollte den Teppich und legte sich splitternackt darauf, um das nie geänderte einstündige Morgentraining zu absolvieren.
Fünfzig Jahre, bevor in Bess Mensendiecks Körperkultur des Weibes zumindest der Gedanke heilender und schulender Gymnastik formuliert wurde, praktizierte Eileen Clairborne bereits Übungen, die zum Teil denen des indischen Yoga entsprachen; vollführte also ausgesprochen undamenhafte Bewegungen, bei denen ihre Knie ihre Schultern berührten, Ellenbogen und Fußsohlen gleichzeitig am Boden ruhten und gelegentlich Körperteile in die Luft ragten, die Kirche und Bürgertum nacheinander und seit dem Mittelalter zu einem dunklen, lichtlosen Dasein verurteilt hatten.
Da diese Übungen in ihrer Wirksamkeit immer wieder von den Gewichten unterstützt wurden, geriet Madame Clairborne schon nach kurzer Zeit in einen heilsamen, wohltuenden Schweiß, sodass ihr Körper nicht nur warm und elastisch wurde, sondern in der Morgensonne vor Frische zu glänzen begann. Sie trat vor den Spiegel. Ihre Muskeln, ihr Fleisch waren noch fest, nur die gealterte Haut hier und da schlaff geworden, Kopf-und Schamhaar ergraut, die zierlichen Hände von leider immer größeren braunen Altersflecken bedeckt.
Sie steckte die Haarsträhnen, die sich vereinzelt gelöst hatten, wieder fest und goss dann das Wasser aus zwei großen Porzellankrügen in eine flache Metallwanne, den Tub, der wie eine überdimensionale Bratpfanne ohne Stiel aussah und den Edgar Degas gut zwanzig Jahre später durch eine fast schon obsessive Serie von Aktgemälden unsterblich machen würde. Um sich im Tub den Schweiß und die Nachtruhe abzuwaschen, bedurfte Eileen Clairborne aller akrobatischen Fähigkeiten, die sie soeben eingeübt hatte. Sie war jedoch noch nicht zum Einseifen gekommen, als ein zögerndes Klopfen ertönte.
Das ärgerte sie, denn ihr Personal hatte die strikte Anweisung, sie um diese Stunde nicht zu stören, es sei denn in einem Fall von außerordentlicher Wichtigkeit. Gleichzeitig freute sie sich, dass dieser mit zunehmendem Alter immer seltenere Fall offenbar noch einmal eingetreten war.
»Ja?«
»Ein Brief ist abgegeben worden, Madame!«
»Schieb ihn unter der Tür durch, Molly.«
Ein feines Kratzen am Türspalt verriet, dass dieser Befehl prompt befolgt wurde, und da niemand da war, der ihre Ungeduld tadeln würde, ging Eileen Clairborne nackt und tropfnass zur Tür, hob den Brief auf und öffnete seinen Umschlag. Sie las die Botschaft auf dem kleinen Zettel darin, und ihre Augen schienen plötzlich den Raum zu erhellen.
Noch einmal trat sie vor den Spiegel, löste aber diesmal ihr volles graues Haar, das ihr bis über Schulterblätter und Brüste reichte. Zweifelnd, zögernd und noch immer feucht vom Wasser legte sie sich dann wieder auf ihr Bett. Mit geschlossenen Augen roch sie an dem Brief, roch Tabak und etwas wie Eisen, nahm ihn dann leicht zwischen ihre Lippen und tat etwas, das sie seit Jahren nicht mehr getan hatte: Sie streichelte sich, ihren Schoß, die Schenkel, den Bauch und ihre Brüste.
Ein Lächeln glättete die Falten auf ihrer Stirn, und sie sah sowohl in ihrer Erregung wie auch in ihrer Befriedigung wunderschön aus; wie ein alter Baum, der im Frühling noch einmal Blüten treibt. Erst danach las sie den Brief zum zweiten Mal.
Chère Madame!
Ergebenste Grüße aus einer lange vergangenen Zeit, die ihn nun eingeholt hat, sendet Ihnen der Unterzeichnete. Sie werden sich zweifellos an unser kleines Abkommen erinnern, und so die entsprechenden Papiere noch in Ihrem Besitz sind, würden Sie mir sehr helfen, wenn Sie baldmöglichst damit in der Central-Polizeistation hier am Ort vorsprechen könnten.
Es küsst Ihre Hände, der in seiner Jugend das Glück hatte, Ihr Freund zu sein, und es immer geblieben ist,
J’n Laffitte
74.
Am selben Morgen, zur selben Zeit, eine Stunde nach Sonnenaufgang, hundert Meilen weiter im Norden, hundertundfünfzig, wie der Fluss fließt, schlug auch Marie-Therese Helisena Milisande Bonneterre ihre Augen auf und wusste sofort, dass ein hektischer Tag vor ihr lag. Kurz nach Mittag musste man in Baton Rouge sein, eine gute Stunde später – vermutlich, denn auch die großen Dampfschiffe konnten ihre Fahrpläne nur ungefähr einhalten – auf der Big Missourie und dem Weg nach New Orleans.
Das Telegramm war gestern am späten Abend gekommen, heute Nacht schon würde man zur Stelle sein. Wer schneller war, musste fliegen können. Madame Bonneterre erhob sich, saß kerzengerade auf dem Bettrand und tastete mit den Füßen nach ihren Pantoffeln. Mit klarer Stimme, aber nachtsaurem Atem befahl sie auch ihrem Mädchen, nun endlich aufzustehen.
Darioleta schlief wie ein Baby, seit der junge Herr fort war, was wahrscheinlich daran lag, dass sie keine Angst vor dem Aufwachen hatte. Die alte Misses hatte sie in ihr Zimmer genommen, um sie, wie die alte Misses sagte, nicht in die Versuchung zu führen, den jungen Männern in den Sklavenunterkünften die Köpfe zu verdrehen. Die alte Urganda, Aufwartefrau seit mehr als dreißig Jahren, hatte statt ihrer den schweren Weg in die Sklavenhütten antreten müssen, und Darioleta machte sich die berechtigte Hoffnung, dauerhaft Urgandas Platz einzunehmen und nie wieder zu dem jungen Herrn befohlen zu werden.
Die Mitteilung, dass sie die alte Misses auf eine Reise in den Süden, ins große New Orleans begleiten würde, war erst gestern eingetroffen und bestätigte sie in ihren schönsten Träumen. Als sie wenige Stunden später in ihrem besten Kleid an Bord der Big Missourie ging, eines der prächtigsten Dampfschiffe des Mississippi, fühlte sie sich fast selbst wie eine Misses; so weit vom festgestampften Lehmboden der Hütte entfernt, in der sie geboren wurde, wie es einer Sklavin nur möglich war.
Eigentümlich war nur, dass die alte Misses nicht mehr mit ihr sprach, den ganzen Tag nicht, seit sie aufgebrochen waren; keine Gespräche über das Wetter, die allgemeine Moral, die gute alte Zeit, keinerlei Aufträge, nicht einmal die üblichen kleinen Befehle, tu dies, hol das. Darioleta wunderte sich darüber, freute sich aber auch, dass keinerlei »Seelen kränkende Arbeit«, wie Homer die Sklaventätigkeit genannt hatte, ohne dass das Mädchen es wusste, sie davon abhielt, diese größte Reise ihres Lebens in vollen Zügen zu genießen.
Zwar sah sie nichts, was sie noch nie gesehen hätte: Stech-und Fächerpalmen, Orangenbäume und die in langen Reihen den Horizont begrenzenden Zypressen gab es auch in Denham Parish. Aber das Erlebnis, auf dem fast eine Meile breiten Fluss dahinzugleiten, und die frische Brise aus Süden, die sich auf dieser ungeheuren Fläche entwickelte, waren neu und beinahe berauschend. Immer wieder überholten sie riesige Flöße, manche fast einen Morgen6 groß, und die blendende Stimmung der bis zu zwei Dutzend Männer darauf, die wussten, dass eine vielleicht zweitausend Meilen lange Reise in den nächsten acht oder zehn Stunden zu Ende gehen würde, übertrug sich scheinbar auf den Fluss, den Himmel und alle Reisenden auf und unter ihm.
75.
Auf dem gleichen Fluss und zur gleichen Stunde schmeckte Deborah hundertachtzig Meilen weiter südlich bereits Salz in der Luft. Dennoch schien das braune Wasser hier träger, und auch der Verkehr auf ihm hatte merklich abgenommen. Es gab keine großen, geraden Bäume mehr, also auch keine Flöße, keine reichen Städte, also keine mit Weizen und Mais beladenen Kielboote, und nur wenig Menschen, also keine Passagierdampfer. Die Hochseeschiffe, die von New Orleans abgingen, hielten an den kleinen Anlegestellen des Deltas nicht an, und auf keinem Fahrplan irgendeiner seriösen Schifffahrtslinie stand: New Orleans – London, via Dalcour, Bertrandville oder Wills Point. Die Bewohner des riesigen Deltas, mehrheitlich Cajuns, waren von der Welt abgeschnitten, sahen sie nur hin und wieder arrogant und majestätisch vorüberziehen und mussten den Anschluss an sie mit kleinen Kanus, Kähnen und Ruderbooten bei Bedarf selbst herstellen.
In dem Kanu, das Gowers am frühen Morgen gestohlen hatte, saß Deborah im Bug und hatte in erstaunlich kurzer Zeit das Paddeln gelernt. Zwar brachte sie vor allem die Strömung rascher voran als jeder Eselskarren, aber als John Gowers, der seit dem Sonnenaufgang wieder seine blaue Brille trug, sich einmal umständlich eine Pfeife angezündet hatte, spürte Deborah, dass es auch ihre eigenen Paddelschläge waren, die das Boot antrieben. Und obwohl ihre Schultern schmerzten, hatte sie, durch diese Erkenntnis seltsam gestärkt, ihre Anstrengungen verdoppelt und ihre Geschwindigkeit damit noch einmal merklich erhöht.
Erst nach einigen Stunden und dem pausenlosen Blick auf ihren Rücken, die arbeitenden Muskeln und Arme, auf den dunklen Fleck, der sich zwischen den Schulterblättern auf dem hellen Kleid bildete, wurde John klar, was ihn an der ganzen Situation so sehr irritierte, als hätte er in seinem Leben noch kein Boot gesteuert: Er hatte nie einen weiblichen Schiffskameraden gehabt und seit dem Tod seiner Mutter und seiner Zeit in der britischen Marine Frauen stets als die Passagiere des Lebens betrachtet.
»Kurze Pause«, kommandierte er, als er sah, wie erschöpft seine Begleiterin war – aber auch, dass sie lieber gestorben wäre, als das zuzugeben oder nur einen einzigen Paddelschlag auszusetzen.
»Wie weit noch?«, fragte sie und rollte die schmerzenden, steifen Schultern von vorn nach hinten und umgekehrt, ohne dabei eine nennenswerte Erleichterung zu empfinden.
»Etwa zehn Meilen«, sagte er. »Noch mindestens anderthalb Stunden!«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin Lotse«, erwiderte er schlicht. »Unterhalb von New Orleans war ich zwar noch nicht oft, aber oft genug, um einzuschätzen, wo ich bin.«
»Auf eine Meile genau?!« Deborah ließ nun auch den Kopf langsam von links nach rechts kreisen, um die Nackenmuskulatur zu lockern.
»Nein«, sagte John. »Auf etwa zwanzig Yards genau!«
Er hatte schon so lange nicht mehr angegeben, dass er diese glänzende Gelegenheit einfach nicht auslassen konnte, sagte er sich. Aber als sich die junge Frau jetzt zu ihm umdrehte und ihm einen halb fragenden, halb wissenden Blick zuwarf, wurde ihm klar, dass er sie vor allem beeindrucken wollte, und es war ihm peinlich, dass sie das wusste.
»Weiter!«, befahl er schnell, damit sie wieder nach vorn sehen musste.
Erst als sie einige Minuten schweigend weitergepaddelt waren, fragte Deborah: »Und wie machen Sie das?«
76.
Eine der erfolgreichsten Lügen des 19. Jahrhunderts war die Propagandaerfindung, dass der Beruf des Soldaten ehrenhaft sei. Sie wurde notwendig, als die entstehenden Nationalstaaten die allgemeine Wehrpflicht einführten, ohne die sie ihre Kriege nicht hätten finanzieren können. Nun sträubt sich der gesunde Menschenverstand – leider nicht immer, aber doch gelegentlich – gegen Schwachsinn. Dass man durch den Zufall der Geburt Eigentum des Staates wird, in dem sie stattfindet, ihm Dienst, Gehorsam und letztlich sein Leben schuldet, ist natürlich Schwachsinn. Um Menschen dennoch dazu zu bringen, für fremde Interessen und den Vorteil der Mächtigen zu kämpfen, zu töten und zu sterben, sind neben Maßnahmen der Repression also gewisse Kunstgriffe nötig, mit denen man ihr Denken manipuliert.
Die Uniform, hundert Jahre zuvor in all ihrer Farbenpracht erfunden, um den Soldaten das Desertieren zu erschweren, wurde zum Ehrenkleid der Nation ernannt. Auch der gemeine Mann durfte sich darin wie ein Gockel fühlen. Rituale der Männlichkeit, Kameradschaft und Tradition schlugen die Vernunft in die Flucht, Orden, Rangabzeichen und Marschmusik machten gerade die einfachen Leute besoffen.
Einem erstarkenden Bürgertum die bedingungslose Unterordnung unter mehrheitlich adlige Schwachköpfe und vor allem die archetypische Sklaventugend des Gehorsams als Zeichen besonderer gesellschaftlicher Verantwortung zu verkaufen erwies sich jedoch noch immer als schwierig; zumal zwischen der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und des allgemeinen, freien und gleichen Wahlrechts meist einige Jahrzehnte vergingen.
Für die besitzende Klasse blieb der Soldatenberuf allen konservativen Lippenbekenntnissen zum Trotz also ein verachtenswerter. Weniger, weil er das historisch immer gewesen war, und mehr, weil Soldaten nicht nur zum Töten und Sterben erzogen werden, sondern ihre eigentliche Aufgabe in der massenhaften Zerstörung fremden Eigentums finden. Dieses Sakrileg, die Verletzung ihrer heiligsten Prinzipien machte der Bourgeoisie das Soldatentum gleichermaßen verdächtig und verächtlich. Bis heute versuchen jedenfalls die Bessergestellten, ihre eigenen Kinder von der Soldatenehre nach Möglichkeit fernzuhalten. Zerstören, töten und vor allem natürlich sterben sollen immer die anderen. Die Armen.
Dass die Lügen von Ehre, Fahne und Vaterland auch bei den unteren Klassen auf beschämend geringen Widerstand trafen, liegt an den hierarchischen Aufstiegsmöglichkeiten, die das Militär auf seinen untergeordneten Befehlsebenen bietet. Jeder Dummkopf, jeder Dreckskerl kann durch Glück, Geduld und Willfährigkeit in die angenehme Lage kommen, andere Menschen plötzlich »unter sich« zu haben. Mit diesem ständig lockenden Versprechen, irgendwann vielleicht einen kleinen Fetzen Macht in die Hände zu bekommen, korrumpierte das System das Individuum.
Und wie bei dritten, vierten, fünften Adelssöhnen schon seit Jahrhunderten galt nun bald auch in Bürgerkreisen die Faustregel: Wer die Fähigkeiten für einen zivilen Beruf vermissen lässt, kann es immer noch als Soldat zu etwas bringen. Wer es als Soldat zu nichts bringt, kann immer noch Militärpolizist werden, und nur wer auch dazu nicht in der Lage ist, muss versuchen, als Wärter im Militärgefängnis sein Auskommen zu finden.
Es war das trostloseste Leben der Welt am trostlosesten Ort der Welt, nämlich ihrem gerade noch bewohnbaren Ende. Jenseits der Chatham Islands lagen nur noch die Wasserwüsten des Südpazifiks, gefolgt von den Eiswüsten der Antarktis. Etwa alle sechs bis acht Wochen, manchmal aber auch nur alle drei, vier Monate traf ein sehnsüchtig erwartetes Versorgungsschiff aus Wellington ein, brachte Vorräte und Gerätschaften, die auf der Insel nicht produziert werden konnten – und das waren eine Menge –, sowie gelegentlich Bücher und Zeitschriften, die selbst auf Neuseeland niemand mehr lesen mochte.
Wenn Neuseeland der letzte Außenposten der britischen Zivilisation war, dann war Chatham der letzte Außenposten Neuseelands, und einen Begriff von seiner Isolation konnte sich Captain William Edward Thomas leicht machen, indem er sich sarkastisch vor Augen führte, wie viele Leute in Europa wohl auch nur von der Existenz Chathams wussten. Thomas befehligte zwei Abteilungen von Konstablern, also zwei Sergeanten und zwei Corporals mit jeweils neun einfachen Soldaten, dazu noch ein gutes Dutzend subalterner Maoriwachen, um etwa dreihundert Gefangene in Schach zu halten.
Es gab nur wenige weiße Siedler auf der Insel, die zudem weit verstreut lebten. Der einzige Arzt, John Watson, war Alkoholiker, der einzige Missionar, J. G. Engst, Däne – und damit war das Kontingent an Intellektuellen erschöpft, mit denen der schmächtige, früh ergraute Captain Thomas ein kultiviertes Gespräch hätte führen können.
Die Konstabler, einfache Leute, Tagelöhner und Söhne von Tagelöhnern auf den größeren neuseeländischen Farmen, waren im Grunde nicht übel. Aber der Dienstälteste, Hauptsergeant Michael Hartnett, war ein Teufel. Er bemühte sich nicht einmal um militärische Haltung, als er aufgrund einer Beschwerde der Gefangenen wieder einmal vor seinem Vorgesetzten, der höchsten Autorität in diesem kleinen Teil der Welt, Rechenschaft ablegen musste.
Thomas dachte nicht daran, dem Sergeanten einen Stuhl anzubieten, und hielt das bereits für eine Art von Sanktion. »Sie sind eine Plage, Hartnett. Worum ging es diesmal?«
»Te Kooti, Sir. Hört nicht auf mit seinen beschissenen Gebetsversammlungen. Aber diesmal haben wir sie hochgenommen!«
Captain Thomas seufzte. Te Kooti wurde in der Tat zu einem Problem. Seit einige maßgebende Häuptlinge der Whakarau begnadigt und repatriiert worden waren, war unter den Gefangenen ein Autoritätsvakuum entstanden, das der charismatische Krieger und Prophet geschickt zu besetzen verstand.
»Und warum zum Teufel haben Sie sie dabei nackt ausgezogen?«
Hartnett versuchte, ein dienstbeflissenes Gesicht aufzusetzen, konnte sich aber bei der Erinnerung an seinen schäbigen Triumph ein Grinsen nicht verkneifen. »Damit sie nichts verstecken können, Sir. Diese Affen verstecken doch immer was!« In Reih und Glied hatte Michael Hartnett die Gefangenen, Männer, Frauen und Kinder, vor den aufgepflanzten Bajonetten seiner rauchenden, angetrunkenen Soldaten antreten lassen und sich unter höhnischen Bemerkungen ihre Geschlechts-und Hinterteile angesehen. »Außerdem brauchten sie mal wieder eine Lektion.«
»Tekateka behauptet, Sie hätten seine Frau verprügelt und vergewaltigt«, sagte Thomas streng.
»Die muss man nicht vergewaltigen, Sir«, entgegnete Hartnett frech. »Sie ist eine Hure, das können viele meiner Männer bezeugen. Hätten mal sehen sollen, wie die sich aufgeführt hat!«
Tatsächlich hatte die etwa dreißigjährige Hulana Tamati, eine große, üppige Frau, versucht, aus der Demütigung eine Beleidigung zu machen, und Hartnett hatte sie daraufhin fesseln und ins Wachhaus abführen lassen, um ihr zu zeigen,wo Gott wohnt. Das war ihm so gründlich gelungen, dass sie zwei Tage lang weder gehen noch sitzen konnte.
»Sie streiten das nicht mal ab?!« Captain Thomas verzog angewidert das Gesicht. Dann sagte er resigniert: »Sie werden Chatham mit dem nächsten Schiff verlassen, Sergeant! Und ich sorge persönlich dafür, dass Sie unehrenhaft entlassen werden.«
»Das wird böses Blut geben, Sir«, antwortete der Sergeant im sicheren Glauben an seine eigene Unverzichtbarkeit.
Es war die eklatanteste Form militärischer Insubordination, von der Thomas je gehört hatte. Er erhob sich zur vollen Größe seiner schmächtigen eins fünfundsechzig. »Drohen Sie mir, Sergeant?!«
»Nein, Sir«, sagte Hartnett ruhig. »Mache mir Sorgen um Sie, das ist alles.«
»Abtreten!«, sagte Captain William Edward Thomas, so drohend und gebieterisch er nur konnte. Es klang nicht sehr überzeugend.
77.
Gedächtnisbilder in Gedächtnisräumen an Gedächtnisorten, aufgereiht wie die Masten eines Schiffes. Nein, wie Bäume an einem Fluss, nein, Äste an einem Baum. Oder doch lieber auf seltsame rotierende Scheiben montiert und gegeneinander verschiebbar?
Deborah hatte nicht geglaubt, dass jemand, der ganz offensichtlich kein Pfarrer war, so viel Blödsinn in so kurzer Zeit reden konnte. Aber obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon er eigentlich sprach, machte es ihr ein seltsames, fast kitzelndes Vergnügen, John Gowers zuzuhören. Und immer, wenn er eine erwartungsvolle Pause machte und sie »Ja?«, »Wirklich?«, »Tatsächlich!«, »Aha!« oder einfach nur »Hmhm« sagen musste, fiel ihr an der Veränderung ihrer Gesichtsmuskulatur auf, dass sie die ganze Zeit lächelte, obwohl gar nichts lustig war.
Glücklicherweise saß er hinter ihr und konnte nur ihren Rücken, aber nicht dieses Lächeln sehen. Deborah war immer ein ernsthafter Mensch gewesen und fand es ungehörig, ohne Grund vor sich hin zu lächeln. Sie versuchte, es zu unterdrücken, aber wenn sie nicht scharf darauf achtgab, stellte sie beim nächsten fälligen »Hmhm« fest, dass sie schon wieder lächelte. Oder immer noch.
War es die Art, wie er sprach? Er kam nicht aus dem Süden, man hörte das. Kein »I reckon« statt »I guess«, nicht die gemütvollen Verschleifungen, die die Sprache der Südstaatler – zumindest für die Ohren der Südstaatler – so musikalisch machten. Kein überflüssiges, aber doch so melodisches »y« in Wörtern, die mit einem K-Laut begannen. Er sagte also tatsächlich »car« statt »cyah«, »going« statt »gwyne« oder »nothing« statt »nuff’n« und artikulierte gelegentlich sogar ein »r«, für das man im Süden überhaupt keine Verwendung hatte, außer vielleicht am Anfang einiger Wörter – deren Gebrauch man deshalb vermied.
Andererseits war in seiner Stimme nichts Großspuriges wie bei den Yankees und auch nichts Lächerliches oder Plumpes wie bei den Franzosen oder Deutschen, wenn sie glaubten, akzentfreies Englisch zu sprechen.
»Sind Sie Engländer?«, fragte Deborah spontan und bereute die Frage sofort, weil sie so offensichtlich nichts mit dem zu tun hatte, worüber er sprach, was immer es war.
Hatte er sie gelangweilt?
Er wusste, dass die Grundlagen der Ars Memorativa, der Gedächtniskunst, nicht gerade das Aufregendste waren, was die Menschheit ersonnen hatte. Man musste sich, wie bei so vielen Dingen, durch eine ziemlich harte Schale beißen, um an die Frucht zu gelangen, also die wirklich spannenden Möglichkeiten eines geschulten Gedächtnisses zu erkennen. Deshalb hatte er vorgehabt, nur das Nötigste zu erzählen, stellte aber irgendwann, wie jeder wirklich fähige Spezialist, besorgt fest, dass nicht er über sein Thema, sondern sein Thema durch ihn sprach. Seit mindestens einer Viertelstunde sagte er also Sachen, die er eigentlich gar nicht sagen wollte, überlegte »in den freien Winkeln« seines Gehirns angestrengt, wie er aus diesem Dilemma herauskommen könnte, und war froh über jede kleine Äußerung, mit der sie verriet, dass sie trotz allem bei ihm war.
Er kannte solche Verlegenheiten sonst nicht; die meisten Frauen in seinem Leben waren Huren gewesen, und bei Huren konnte er, ohne eine andere Konversation als kleine, aber deutliche Komplimente, seine Hände sprechen lassen. Dorothy Simpson hatte ihn anfangs einmal in ein Gespräch über Shelley und die englische Romantik verwickelt, von dem und der er so viel verstand wie Dorothy von der Takelung einer Dreimastbark. Damals war er frech genug gewesen, ein Gedicht von Shelley schlicht zu erfinden, und als sie arglos darauf einging und sagte, gerade dies sei eines ihrer Lieblingsgedichte und ob er es nicht rezitieren könne, hatte er gegrinst, sie ein böses Mädchen genannt und auf den Mund geküsst.
»Hört man das immer noch?«, fragte er, froh, dass er nun nicht mehr über Simonides von Keos, Cicero und die Gedächtnissysteme der Humanisten sprechen musste.
»Woher kommen Sie in England?«
Deborah wusste nichts über England, außer dass es dort Könige und Lords gab, die einst der Meinung gewesen waren, dass Amerika ihr Eigentum sei. Und dass es Krieg gegeben hatte, als die Amerikaner demgegenüber die viel einleuchtendere Ansicht vertraten, dass ein Land denen gehören sollte, die dort leben. Da sie noch immer nicht richtig lesen konnte, reichten gerade ihre historischen Kenntnisse ansonsten nur bis zur schmerzhaften Empfindung eines Mangels.
Sie verdankte ihr diesbezügliches Wissen im Wesentlichen den abolitionistischen Versammlungen, die sie im freien Norden regelmäßig besuchte, und an diesen störte sie das religiöse Gehabe stärker, als sie je sagen konnte. Im Namen des Herrn hatte man sie befreit respektive sie in ihrer Selbstbefreiung unterstützt; aber im Namen des Herrn war sie auch versklavt gewesen, und beides zusammen machte den Herrn, den Gott der Weißen, in ihren Augen zu einem Popanz, einer beliebig verfügbaren Puppe, bewegt von der Willkür seiner Prediger.
Mehrere Versuche, auf sich allein gestellt richtig lesen und schreiben zu lernen, waren nicht unbedingt fehlgeschlagen, aber im Sande verlaufen. Für einen regulären Unterricht fehlten ihr Zeit und Geld, aber vor allem, Deborah wusste es, hatte sie nach einem ganzen Leben in der Sklaverei einfach nicht mehr die Geduld, auf die zähen kleinen Fortschritte täglichen Lernens zu warten. Verwundert stellte sie jetzt fest, dass ihre Unwissenheit ihr zum ersten Mal, seit sie ihre Lebensaufgabe übernommen hatte, wieder peinlich war.
Ihre Strategie dagegen war denkbar einfach: Beinahe ehe er ihre erste Frage beantwortet hatte, stellte sie eine zweite. Immer der sein, der fragt. So bot sie keine Angriffsfläche, sie würde erfahren, was sie wissen wollte. Und sie würde wieder seine Stimme hören.
John erzählte.
Er erzählte so viel, dass er sich selbst darüber wunderte, was ihm plötzlich alles wieder einfiel. Ein Picknick am Tyne, ein Sonntagnachmittag. Er saß auf einer Wiese und sah sich die Kleeblätter an. Er hatte nie etwas so Grünes berührt, aber es schmeckte nicht. Ein freundlicher Riese, sein Vater, hob ihn auf und zeigte ihm den Fluss. Er glitzerte in der Sonne wie ein gewaltiges, vor Kraft zitterndes Tier.
Warm. Seine Mutter zog ihm das Kleid aus, die viel zu großen Socken von seinen Füßen, und der Riese stellte ihn nackt in das strömende Wasser. Es war kalt. Er sah seine kleinen weißen Zehen weit unter sich wie durch ein Zauberglas. Fühlte, wie der Sand unter seinen Füßen wegrutschte, gleich würde er fallen. Aber der Riese hielt ihn sicher unter den Achseln. So viel Wasser hatte er noch nie gesehen. Woher kam es? Wohin floss es? Warum bewegte es sich? Das fröhliche Lachen seiner Eltern, als er hineinpinkelte.
Er erzählte von dieser Erinnerung nichts, aber sie war da, ganz deutlich, während er sagte: »Benwell-upon-Tyne, in Nordengland, ein Bergbaugebiet. Kohle. Niedrige, eingeschossige Häuser, eher Hütten. Schwarzer Staub überall, knirschte zwischen den Zähnen. Ein Bergmann und eine Lehrerin.«
Anders als vorher unterbrachen ihn jetzt immer wieder ihre Fragen. Sie war mit ihm dort. In seiner Kindheit, in den Minen, den Straßen von London. Sie fuhr mit ihm auf all diesen Schiffen, den Ozeanen, durch Stürme und Eis und Nächte, die sechs Monate dauerten. Sie war bei ihm, als seine Mutter starb und der weiße Bär über ihn herfiel. Sie kam mit ihm nach Amerika, sie schwamm mit ihm auf dem großen Fluss.
»Woher kommen Sie?«, fragte John Gowers schließlich.
78.
Vielleicht waren sie ja nur so alt geworden, um einzusehen, dass das Leben keine mathematisch präzise Aufgabe ist; dass es Dinge gibt, die nur eine Zeit lang richtig sind, nur an einem bestimmten Ort, nur für einen einzigen Menschen. Das zu erkennen, das zu ertragen, das sein zu lassen hieß: glücklich sein.
Die Zeit, in der sie füreinander richtig waren, war kurz gewesen, kein Jahr, nur einige Monate des Jahres 1814. Eileens Ehrgeiz hatte sie auf die jämmerliche, aber einzig zuverlässige Weise, die den Frauen in ihrer Zeit offenstand, einen mächtigen, älteren Mann heiraten lassen, der weder ihre Seele noch ihren Körper ernsthaft berührte. Mit Schaudern dachte sie an die Hochzeitsnacht, eine hastige, lieblos erledigte Pflicht. William drang in sie ein, wie er einen Nagel in ein Brett geschlagen hätte, und als sie eben anfing, etwas zu empfinden, was über Schmerz hinausging, war es auch schon vorbei gewesen: »Gute Nacht, Madame!«
Das ging vier Jahre so, zwei Kinder wurden auf diese Weise gezeugt, und ein vorsichtiges, sehr kurzes Gespräch mit ihrer Mutter bestätigte sie in der Vermutung, dass dies normal sei. Dann, Eileen war vierundzwanzig Jahre alt, war der Seeräuber in ihrem Leben erschienen wie ein Komet. Er sah gut aus, war charmant, konnte glänzend erzählen, hatte die geheimnisvolle Gabe, immer so etwas wie Mondschein und Abenteuer um sich zu verbreiten – und er war der Todfeind ihres Mannes. Gouverneur William C. C. Clairborne ließ Jean Laffitte eine Zeit lang von sämtlichen Polizisten in allen Winkeln Louisianas suchen; nur eben nicht im Schlafzimmer seiner Frau, was die Romantik ihrer Begegnungen ins nahezu Unwirkliche, Literarische steigerte.
Zum ersten Mal empfand Eileen ihren Körper nicht mehr als eine unvollkommene, widerspenstige Maschine, die nur mit eiserner Disziplin und unter Schmerzen die Aufgaben erfüllte, die sie ihr Leben nannte. In Jeans Armen lernte sie fliegen, Schmerzen, Welt, sogar sich selbst zu vergessen. Sie glaubte sogar manchmal, für ein paar mörderisch romantische Augenblicke, dass mit seinem Pferd, das ein schwarzer Diener an der Hinterpforte gesattelt bereithielt, auch für sie selbst ein anderes Leben bereitstünde, auf das sie nur aufspringen müsste. Aber immer nur bis zum Morgengrauen.
Tagsüber pflegte Eileen Clairborne im Interesse ihrer Kinder, ihrer Familie, ihrer Klasse und auch ihren eigenen Vorstellungen von Sicherheit zuliebe nicht zu träumen. Und als ihr Mann nach der schweren, aber sinnlosen Schlacht von New Orleans, die Jean Laffitte – so sagte sie es sich jedenfalls gern – für sie geschlagen hatte, die Amnestie für die Piraten von Barataria zurückgenommen hatte, war ihr persönliches Märchen auserzählt.
Sie hatte es nie bereut, weder den Anfang noch das Ende bedauert, aber stets das Dokument verwahrt, das Jean Laffitte Straffreiheit für alle im Staat Louisiana verübten Verbrechen zusicherte. Nicht nur als schöne Erinnerung, auch weil er sie darum gebeten hatte, bevor er wieder ins Karibische Meer segelte.
»Darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Unterschrift lenken, lieber Mr. Duggan?!«
»Ich sehe, ich sehe«, antwortete Police Officer Duggan und versuchte verzweifelt, aus der bis zur Krakelei verschnörkelten Buchstabenfolge schlau zu werden.
»Andrew Jackson«, half Madame Clairborne ihm auf die Sprünge. »Zweifellos wissen Sie, wer das ist.«
»Natürlich!«
Natürlich. Jedes Kind in Amerika kannte die Geschichten von Old Hickory, dem siebten und nach George Washington wohl populärsten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Officer Duggan blieb nichts anderes mehr übrig, als die Daten der beiden museumsreifen Dokumente zu vergleichen, die ihm vorlagen, die Amnestie als das jüngere anzuerkennen – und John Lafflin alias Jean Laffitte freizulassen.
Ein wenig verlegen, ein wenig melancholisch suchten sie einander in den gealterten Gesichtern auf dem Weg in die Stadt, fanden aber nur in den Augen eine befriedigende Übereinstimmung mit ihren vierzig Jahre alten Erinnerungen.
»Sie haben sich kaum verändert«, log er.
»Sie sind ein charmanter Lügner geblieben«, lächelte sie. »Darf ich fragen, warum die Polizei noch immer Interesse an Ihnen hat?«
Er sagte es ihr, erklärte sich vollständig, sprach von der Wiedergutmachung, die er den Schwarzen, vielleicht auch der ganzen Menschheit schuldig sei, und bat noch einmal um ihre Hilfe.
»Was brauchen Sie?«
»Ein schnelles Pferd und jemanden, der meine Spuren verwischt!«
Noch einmal flackerte die Abenteuerlust in ihren alten Augen, und ohne die geringsten Bedenken verriet sie ihr bisheriges Leben, ihren verstorbenen Mann und die gesamte Aristokratie des Südens, deren ungekrönte Königin sie einmal gewesen war. Denn was sie tat, war in diesem Augenblick richtig.