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79.
Puarauranga war sechzehn Jahre alt gewesen, als Hone Waitere, Häuptling der Ngati Maniapoto, um sie geworben hatte, und die Ehre, die er ihrer Familie damit erwies, war zu groß gewesen, um sie ablehnen zu können. Es war eine uralte Geschichte, zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten, in allen Völkern schon da gewesen: Ein mächtiger alter Mann wird Witwer und glaubt, seine Jugend kehrt wieder zurück, wenn er eine schöne junge Frau in sein Bett holt. Bei Hone Waitere kam hinzu, dass seine beiden Söhne gleich zu Beginn der Waikato-Kriege gefallen waren. Er brauchte einen Erben, konnte mit seiner Frau, die ebenfalls schon über sechzig war, keinen mehr zeugen und betrachtete ihren kurz darauf erfolgten Tod als eine Art Gottesbeweis.
Hone Waitere war Christ. Und mit dem Segen der weißen Priester wurde Puarauranga ihm angetraut, um ihm zu dienen mit ihrem Leib. Aber was Gott dem alten Häuptling beweisen wollte, war offenbar das Gegenteil dessen, was der erhofft hatte; das Mädchen wurde nicht schwanger, seit drei Jahren nicht. Es lag nicht an ihm, denn obwohl er seine Jugend wilder und härter in Erinnerung hatte, reichte seine Kraft noch zur Penetration und zum Samenerguss, wenn auch nicht allzu häufig. Die Bemühungen ihrer Mutter, Tanten und anderer weiser Frauen, die Puarauranga erklärten, wie sie die Lust ihres fünfzig Jahre älteren Ehemannes anstacheln könnte, waren deshalb nicht nur unnötig, sie zielten auch in eine zwar naheliegende, aber falsche Richtung.
Es war ihre Lust, die sich nicht einstellen wollte, und obwohl weder sie noch ihre Umgebung noch ihr ganzes in dieser Hinsicht so finsteres Jahrhundert ahnten, welche Rolle der weibliche Höhepunkt beim Vorgang der Befruchtung spielt, wusste Puarauranga, dass es an ihr lag. Ihr Gatte war ein freundlicher alter Mann, der ihr Großvater hätte sein können, der sie höflich und zuvorkommend behandelte, sogar manchmal witzig war – aber nichts an ihm oder dem, was er mit ihr tat, erregte sie auch nur im Geringsten. Dabei war sie nicht kalt, und genau das war auch ihr Problem. Sie war neunzehn Jahre alt, auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit, Kraft, Neugier, und ihr unbefriedigtes Verlangen tötete allmählich etwas in ihr, so wie manche Vögel sterben, wenn man sie in zu enge Käfige sperrt.
Hone Waitere hatte ihr zur Hochzeit einen zahmen Papagei geschenkt, den sie sehr liebte. Er hatte dem noch sehr jungen, gelehrigen Tier sogar das Sprechen beibringen wollen, aber zur allgemeinen Erheiterung konnte der Vogel nie mehr als ein einziges Wort sagen: »Whakarongo – Hört mir zu!«
So pflegte der Häuptling sehr oft seine Rede zu beginnen, und die Stille, die dieser Äußerung regelmäßig folgte, musste das kleine Tier wohl so beeindruckt haben, dass es sich gerade dieses Wort einprägte. Puarauranga spielte sehr gern mit dem Papagei und trug ihn fast ständig an einem kurzen Lederriemen auf ihrer Schulter herum. Aber als ihre Ehe immer unglücklicher wurde, fing sie auch an, ihn schlecht zu behandeln. Ihre Liebe zum Leben war dabei, zu verschwinden, und sie reagierte darauf, wie es starken Naturen eigen ist: Puarauranga wurde böse.
Als sie ihn an diesem Tag zum dritten Mal wegen irgendeiner Nichtigkeit ausgezankt hatte, fragte sich Hone Waitere, wo das sanfte Wesen geblieben war, das er geheiratet hatte. Er überlegte sogar, sie zu schlagen, wozu ihm auch die wenigen Männer rieten, denen er sich anvertrauen konnte. Aber nicht nur liebte er das Mädchen, er hatte insgeheim auch ein wenig Angst, dass sie zurückschlagen könnte und er sein Gesicht verlieren würde. Ein paar Tage bei ihrer Mutter, die diese Hemmungen nicht kannte, würden vielleicht den gleichen Zweck erfüllen und ließen sich seinen Leuten gegenüber viel besser erklären: als die Sehnsucht einer jungen Frau nach der sorglosen Unmündigkeit ihrer Kindheit. Dafür würden alle ein mitleidiges, lächelndes Verständnis aufbringen, Puarauranga bekäme endlich einmal wieder den Hintern versohlt und würde reumütig zu ihm zurückkehren. Der alte Mann freute sich noch an seinem Entschluss, als ihm ein sehr unerwarteter Besucher gemeldet wurde.
Riwha Titokowaru hatte auch auf seiner Traumwanderung keine Antworten auf seine Fragen gefunden und nicht das Zeichen erhalten, auf das er schon so lange wartete. Aber da er nun einmal in der Gegend des Tapirimoko war, wo die alten Feinde seines Volkes, die Ngati Maniapoto, lebten, beschloss er, sein Schicksal auf die Probe zu stellen. Gewiss, die Musketenkriege waren schon lange vorüber, und im Waikato hatte man sogar auf der gleichen Seite gestanden, wenn auch nicht gemeinsam gekämpft. Aber fünf Jahrhunderte feindlicher Nachbarschaft ließen sich in nur einer Generation nicht vergessen; immer hatten die beiden Stämme einander überfallen, beraubt, versklavt, und Titokowarus Ruf zum Aufstand gegen die Pakeha, die Einladung zur Versammlung der Häuptlinge, hatte Hone Waitere wie selbstverständlich ausgeschlagen. Dass der Häuptling der Ngaruahine plötzlich in seinem Dorf auftauchte, allein, unangekündigt, inoffiziell, hielt er zunächst für irgendeinen politischen Winkelzug, den er nicht verstand. Ein fast widerwilliger Respekt stellte sich erst ein, als er im Verlauf ihrer mehrstündigen Unterredung den Mut, die Ehrlichkeit – und die Verwirrung seines Gegenübers bemerkte.
Titokowaru erzählte ganz offen von seinen Fragen, von seiner Suche; tatsächlich erschien es Hone Waitere, als würde der Mann immer noch träumen, und ganz kurz durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass ein Kind den gefürchteten Krieger in diesem Moment töten könnte. Natürlich verstärkte das nur den Sinn für seine Gastgeberpflichten, und er war froh, dass er Puarauranga noch nicht zu ihrer Mutter geschickt hatte, denn so konnte sie die beiden Häuptlinge bei ihrem inoffiziellen Treffen bewirten.
Ihr Mann stieg jedes Mal nicht wenig in ihrer Achtung, wenn er sich als wahrer Führer seines Stammes erwies. Er strahlte dann die Würde und Autorität, aber auch die Weisheit und Güte aus, die Puarauranga immer an ihm bewundert hatte. Sie war in solchen Momenten stolz, seine Frau zu sein, den Gesprächen über Frieden und Krieg beiwohnen zu dürfen und die fremden Häuptlinge, Krieger, Gesandten persönlich kennenzulernen.
Von Riwha Titokowaru hatte sie schon als Kind gehört. Er war unter den Maniapoto zeitweise das gewesen, was man in Europa den schwarzen Mann nennt. Mütter drohten ihren ungebärdigen Kindern damit, die Ngaruahine und ihr schrecklicher Häuptling Titoko würden sie holen, wenn sie nicht gehorchten. Und nun saß er vor ihr: ein düsterer, ernster Mann auf dem Scheitelpunkt seines Lebens, an dem indes im Moment nur die entsetzliche Narbe in seinem Gesicht furchterregend wirkte. Zu Anfang kam es Puarauranga sogar so vor, als hätte er Angst vor ihr, aber das war natürlich lächerlich. Er sprach freundlich mit ihr und schien lediglich immer ein wenig abwesend, wenn er sie ansah.
Als er sich nach mehreren Stunden verabschiedete, ohne vom Häuptling der Ngati Maniapoto etwas anderes als ein wohlwollendes Abwarten erreicht zu haben, geschah es. Nach dem Hongi mit Hone Waitere lehnte er seine entstellte Stirn auch an Puaraurangas Kopf, und für wenige Sekunden atmeten sie einander ein. Sein Geist, sein Verlangen, seine Kraft durchschlugen sie wie ein Blitz, entzündeten ihren Körper zu so hellen Flammen, dass sie sich rasch abwandte, weil sie befürchtete, dass jeder es sehen könnte. Aber niemand schöpfte Verdacht, auch nicht, als sie ihm nach etwa einer Stunde in den Wald hinterherlief.
Sie wusste nur, dass er nach Süden gegangen war, kannte aber weder seinen Weg noch sein Ziel. Außerdem bewegte er sich in der Wildnis sicher schneller und geübter als sie. Im Grunde war es also sinnlos, ihm nachzulaufen, aber trotzdem rannte Puarauranga, so schnell sie konnte, und der Papagei hatte Mühe, sich dabei auf ihrer Schulter zu halten. Und als sie nach einer erstaunlich langen Zeit zum ersten Mal stehen blieb, ratlos, schweißgebadet auf einer kleinen Lichtung stand, sah sie, dass Titokowaru auf sie gewartet hatte. Augenblicklich wurde ihr Geschlecht feucht, und die Lust brannte in ihren Augen, als sie zu ihm ging.
Mit seinem Messer durchschnitt er den Lederriemen, der den Vogel an die Frau fesselte, und mit einem missmutigen Krächzen flog der Papagei ins Geäst eines nahen Baums. »Whakarongo!«, rief er auf die Lichtung hinunter. »Hört mir zu!« Und die beiden Menschen lachten jedes Mal laut, wenn er das Wort wiederholte, während er ihnen verständnislos zuschaute. Sehr ruhig, sehr bewusst fanden sie zueinander; streifte er das feuchte Kleid von ihrem erhitzten Körper, sah die Muttermale, die er schon kannte, und drang wieder und wieder in sie ein, wie er es schon viele Male in seinen Träumen getan hatte.
Titokowaru hatte sein Zeichen erhalten – und trug an diesem Abend einen kleinen Papagei auf seiner Schulter nach Süden, in den Krieg hinein, der nun bald kommen würde. Puarauranga aber sagte ihrem Mann, sie habe den Vogel freigelassen, nachdem er sie mehrmals gebissen hätte. Das erklärte auch die roten Spuren an ihrem Hals.
80.
Der Sturm hatte sie weit nach Norden versetzt, und statt in Wanganui und der südlichen Taranaki Bay landeten sie in Whaingaroa Harbour, Rutland County in der Provinz Auckland. Man hätte dieses Problem durch eine drei-oder viertägige Fahrt entlang der Küste beheben können, aber von Tempsky fragte sich, ob die Landung im Norden nicht in Wahrheit ein Glücksfall war. Ein Marsch über die Nordinsel, mitten durch das Kernland der aufgewühlten Stämme würde zwar viel länger dauern und eine Frechheit, vielleicht auch eine Provokation sein, ganz sicher aber eine Demonstration von Stärke und Furchtlosigkeit, die die Maori nicht unbeeindruckt lassen konnte.
Er war Manu-Rau, der »Vogel, der überall fliegt«, der geht, wohin er will, wann er will, solange er will. Die Waikato-Kriege hatten ihn gelehrt, dass ein solcher Ruf militärisch gesehen Gold wert war. Zumindest die noch unentschiedenen Stämme würde er damit gründlich von einer möglichen Rebellion abschrecken. Ohne die Zustimmung seiner Vorgesetzten abzuwarten, machte er sich daran, seine Leute auszuschiffen, was bereits ein erhebliches Problem darstellte, da Whaingaroa für Schiffe dieser Größe kein geeigneter Hafen war.
Im Grunde nur ein schmaler, aber vielarmiger, sechs bis sieben Meilen langer Meereseinlass, fiel Whaingaroa Harbour bei Ebbe fast völlig trocken und legte weite Schlammbänke frei. Obwohl die verfügbaren Boote unablässig pendelten, mussten doch immer wieder schwer beladene Trupps meilenweit durch diese wattähnliche Landschaft marschieren, und als drei Tage später alles an Land geschafft war, waren Männer und Material völlig verdreckt. Von Tempsky ordnete ein Großreinemachen an und durchdachte seinen Plan noch einmal.
Es war inzwischen Mitte März geworden, und der südliche Sommer würde bald völlig vorbei, die Ernten eingebracht sein. Der Herbst, traditionell die Zeit der Reisen und Kämpfe, stand bevor, und das Jahr der Töchter und des Lammes, dem die Eingeborenen so viel Beachtung schenkten, neigte sich dem Ende zu. Warum dem alten Titokowaru nicht noch ein paar Verbündete abspenstig machen, indem man sich »in voller Schönheit«, wie von Tempsky es in seinem Schreiben an McDonnell ausdrückte, im wilden Binnenland zeigte? Die Ausbildung seiner Männer im Buschkrieg würde er zudem nirgendwo besser betreiben können als im Busch, und auch der Gedanke an Desertion, mit dem zweifellos die meisten hergekommen waren, würde ihnen, mitten im Feindesland, von wilden Eingeborenenstämmen umgeben, gründlich vergehen.
Proviant war in genügender Menge vorhanden, nur sein Transport würde schwierig werden. Die Maoripfade, auf denen man sich durch die dichten Urwälder bewegen musste, waren so schmal, dass ein ungeübtes Auge sie bisweilen überhaupt nicht erkannte. Sie verliefen im Normalfall auch nicht in den Tälern, sondern auf den Kämmen der Berge und Hügel, was ein ständiges Auf und Ab bedeutete. In diesem schwierigen Terrain war es für einen einzelnen Mann unmöglich, mehr als dreißig oder vierzig Pfund auf dem Rücken zu tragen; ein Gewicht, das durch Waffen und Ausrüstung aber bereits annähernd erreicht war. Jagdbares Wild gab es in den neuseeländischen Wäldern nicht, auch essbare Pflanzen waren rar, wenn man nicht gerade hungrig genug war, um sich mit den Wurzeln des überall wachsenden Farnkrauts oder dem Innern des Mamaku-Baumfarns zufriedenzugeben.
Die herkömmliche Art, sich auf einem Marsch durch Neuseeland zu verpflegen, bestand darin, von Maorisiedlung zu Maorisiedlung zu ziehen und dort Schweine, Kartoffeln, Obst und nach Möglichkeit auch Gemüse einzutauschen. Von Tempsky beschloss deshalb, anstelle des Proviants lieber die üblichen Tauschwaren mitzuschleppen, die es im Land nicht gab, also Salz, Zucker, Tee und die universale Tauschwährung auf dem Naturalienmarkt des 19. Jahrhunderts: Tabak. Unter all diesen Umständen wäre ein Marschdurchschnitt von zehn oder zwölf Meilen pro Tag bereits ein großer Erfolg.
Von Tempsky befahl den Männern, die an sie ausgegebenen Decken zu Schlafsäcken zusammenzunähen, und zwar so, dass eine Seite doppellagig war; was sich für die in derartigen Handarbeiten herzlich ungeübten Rekruten zu einem ernsthaften Problem auswuchs. Ihr Kommandant erlaubte ihnen schließlich, die Eingeborenenfrauen des kleinen Dorfs Horea am Whaingaroa und die weißen Frauen der benachbarten, noch kleineren Siedlung Raglan mit dieser Arbeit zu beauftragen. Er selbst bestellte beim örtlichen Schmied dreißig Bowiemesser nach seinem persönlichen Entwurf, für viele Jahre der größte Auftrag für Industrie und Handel im nur acht Häuser umfassenden Raglan, und ließ – noch weit seltsamer – den ganzen Ort nach Pinseln, Wasserfarben und möglichst großformatigem Papier durchforsten. Eine tragbare Staffelei tischlerte er sich selbst.
81.
Der Investigator war durch die gesamte Nordinsel und den gewagten Plan seines Vorgesetzten von dem Ort getrennt, an dem James Fagan an Land gegangen sein musste. Wahrscheinlich wäre er desertiert, wenn er von Tempsky in den vergangenen Wochen nicht näher kennengelernt und sich ihm verpflichtet gefühlt hätte. An einem dieser Tage der Marschvorbereitungen wanderten die beiden Männer zum Kariori, einem auf einer Halbinsel weit in die See hinausragenden Berg. Von Tempsky hatte in der an seinem Fuß liegenden Missionsstation der wesleyanischen Kirche einige Malutensilien und vor allem etwas Kobaltblau aufgetrieben und war so guter Laune, dass er Joseph B. Williams vorschlug, einen knapp achthundert Meter hohen Ausläufer des viel gezackten Gipfels zu besteigen, was etwa drei Stunden in Anspruch nahm.
Weit im Südwesten sahen sie in fast hundert Meilen Entfernung die eindrucksvolle Silhouette des schneebedeckten Taranaki, den die Pakeha Mount Egmont nannten; ein einzeln aus dem grünen Hügelland aufragender Vulkan von zweitausendfünfhundert Metern Höhe, über dem fast ständig eine dünne weiße Rauchwolke stand. Im Osten und damit in ihrer Marschrichtung, näher, aber niedriger, erhoben sich die von vielen Schluchten zerrissene, vielgipflige Bergmasse des Pirongia und die kleineren Kegelberge, die um ihn herumstanden wie Küken um eine Henne. Das waren die Berge, die ihren Weg markierten, an denen sie sich entlangtasten würden zum Taupo Lake.
»Sie waren einmal verheiratet«, sagte von Tempsky unvermittelt.
»Sir?« Gowers sah den Deutschen verständnislos an.
»Kariori und Pirongia waren einmal ein Paar, sagen die Maori. Aber sie haben sich zerstritten und stehen deshalb heute getrennt. Die Kinder«, er wies auf die kleinen Kegelberge im Osten, »sind mit der Mutter gegangen.«
»Schönes Bild«, murmelte Gowers uninteressiert und blickte wieder nach Süden, wo sein Ziel lag: ein einzelner Mann jenseits der Wildnis.
»Die Sagen der Maori sind überhaupt sehr bildlich«, fuhr von Tempsky ungerührt fort. »Genau wie die der Griechen, da gibt es wirklich erstaunliche Ähnlichkeiten. Haben Sie Homer gelesen? Oder Ovid?«
»Hab mal reingeschaut«, antwortete Gowers, immer noch unwillig, sich ein mythologisches Gespräch aufzwingen zu lassen.
»Am Anfang waren Rangi, das ist der Himmel, und Papa, die Erde, so eng verbunden, dass kein Raum zwischen ihnen war. Lagen zu dicht aufeinander, wenn Sie verstehen.«
»Soll vorkommen«, knurrte Gowers einsilbig.
»So dicht, dass ihre Kinder, die Götter, kein Licht und keine Luft mehr bekamen.«
»Tragisch.«
»Also beratschlagten sie und beschlossen, ihre Eltern zu trennen. Nur Tawhiri-matea, der Gott des Windes und der Stürme, war dagegen. Die anderen muckten auf, stemmten sich mit den Füßen gegen die Erde, den Händen gegen den Himmel, aber sie schafften es nicht. Nur Tane-mahuta, der Gott der Wälder und des Landes, war stark genug, Himmel und Erde schließlich auseinanderzuschieben.«
»Schön für ihn.«
»Schön für uns, Mr. Williams, denn seither gibt es die Welt, wie wir sie kennen. Aber seitdem herrscht auch Krieg zwischen dem Wind und den Wäldern. Tawhiri-matea, der Sturmgott, ist nämlich im Gegensatz zu seinen Geschwistern bei seinem Vater im Himmel geblieben, und unablässig peitscht er seitdem das Meer gegen das Land, reißt die Bäume aus und trägt den fruchtbaren Boden davon, wo immer er ihn erwischen kann. Nur die Seufzer der Erde und die Tränen Rangis, also Nebel und Tau, besänftigen ihn manchmal ein wenig.«
Von Tempsky lächelte, als er bemerkte, dass Joseph B. Williams ihm jetzt überhaupt nicht mehr zuhörte.
»He aorere kakika, he hautau e kore e kitea«, sagte er nach einer Weile.
»Sir?«, fragte Gowers, als ihm klar wurde, dass diese Worte an ihn gerichtet waren.
»Man kann die Wolken sehen, die am Himmel ziehen, aber nicht die Gedanken am Horizont des Geistes«, übersetzte von Tempsky.
Auch der Investigator lächelte jetzt über die versponnene Figur, die er zweifellos im Moment abgab. Dann zeigte er nach Süden.
»Entschuldigen Sie, Sir, aber ich muss einen Mann finden, der dort unten ist, irgendwo in Wanganui.«
»Und wenn Sie ihn gefunden haben?«, fragte von Tempsky ernst.
»Das ist es, worüber ich nachdenke.« Wieder verlor sich sein Blick in dem dünnen Schleier, der aus dem Taranaki und den düsteren Kämpfen im Innern der Erde aufstieg.
»Nun«, sagte Manu-Rau nach einer Weile. »Nach Wanganui werden wir beide kommen. Es wird etwas länger dauern, aber finden werden Sie Ihren Mann jedenfalls.«
Gowers sah seinen Vorgesetzten stirnrunzelnd an. Hatte er etwa daran gezweifelt?
82.
Natürlich kannte er Deborah noch nicht, nach nur einem Vormittag – aber doch gut genug, um die Veränderung wahrzunehmen, die mit ihr vorging, als gegen Mittag die Deep South in Sicht kam. Ihre Schultern strafften sich, sie hielt sich gerader, und die Distanz zwischen ihnen, die sich in den letzten Stunden so deutlich verringert hatte, wuchs schlagartig wieder zu einem unüberbrückbaren Abgrund.
Und da war noch etwas. Es hatte mit Jason zu tun, der die Mittagswache hielt, aufgesprungen war, sobald er Deborah erkannt hatte, und entgegen seiner Gewohnheit geschäftig an Deck auf und ab ging, ohne sie aus den Augen zu lassen. Gowers spürte, dass seine Blicke ausschließlich auf das Mädchen gerichtet waren, und fühlte wie einen Stich, dass auch Deborahs Aufmerksamkeit anscheinend verstärkt dem jungen Mulatten galt. Er sah ihr Gesicht nicht, aber die Vorstellung, dass sie lächelte, machte ihn mit einer Plötzlichkeit eifersüchtig, die ihm mehr über seine Gefühle verriet, als er sich in den letzten Stunden klar gemacht hatte.
Als sie längsseits kamen und Jason seine Hand ausstreckte, um Deborah an Bord zu helfen, rief Gowers jedenfalls ungehaltener, als er wollte: »Erst festholen, Mann!«
Deborah wandte sich verwundert zu ihm um, glaubte, der scharfe Befehl habe ihr gegolten, und fragte sich offensichtlich, was er bedeutete. Gowers, der das Kanu mit kräftigen Rückwärtsschlägen neben dem Dampfschiff hielt, zeigte daraufhin wieder weit schüchterner zum Bug. »Die Leine. Werfen Sie ihm die Leine zu.«
Es war eindeutig eines der ungeschicktesten Anlegemanöver, die der alte Mississippi je gesehen hatte, denn die beiden jungen Männer setzten ihren ganzen Ehrgeiz darein, den jeweils anderen so zu beschäftigen, dass er der jungen Frau unmöglich an Deck helfen konnte. Gowers zog dabei den Kürzeren und hatte sogar das Unglück, ins Wasser zu fallen, als er aufsprang und ihr seine zusammengelegten Hände als Tritthilfe anbot. Um ein Haar hätte er dabei das Kanu samt dem Mädchen versenkt.
Er fluchte wie ein Türke, als er wieder auftauchte, sah aber zu seiner Befriedigung, dass es Mr. Phineas war, der Deborah unter den Armen fasste und an Bord hob. Ihr war das alles sichtlich unangenehm, und sie war überzeugt, sich ohne fremde Hilfe besser aus der Affäre gezogen zu haben. Dennoch begrüßte sie Mr. Phineas mit einem dankbaren Nicken und hatte das Ganze anscheinend bereits vergessen, als jetzt auch Gringoire auftauchte und mit einer kurzen Berührung seiner Mütze vor ihr salutierte.
»He!«, rief Gowers, der sich an der Leine zumindest halb aus dem Wasser gezogen hatte, aber aus eigener Kraft nicht viel weiter kam. Die Männer lachten, als sie ihn tropfnass dort hängen sahen, und er fühlte, dass er rot wurde, als auch Deborah bei diesem Anblick lächeln musste. Im nächsten Moment kniete sie jedoch schon auf Deck und streckte eine Hand nach ihm aus, die er nur deshalb nicht ergriff, weil er fürchtete, sie vom Schiff zu reißen. Dabei hätte er sie sehr gerne berührt. Wieder war es Mr. Phineas, der ihn zuerst mitsamt der Leine ein Stück einholte und ihn dann an den Handgelenken an Bord zog. Zehn Minuten später waren sie alle unter Deck und beratschlagten, was als Nächstes zu tun sei.
Deborah war davon überzeugt, dass ein Angriff der Miliz auf Barataria bevorstand; vielleicht schon in den nächsten Stunden, vielleicht erst am nächsten Tag, je nachdem, wie lange Gandalod der Folter widerstehen konnte. Sie war die Einz ige, die die verworrene Lage ganz überblickte, alle Beteiligten kannte und eine klare Vorstellung davon hatte, welche Schritte getan werden mussten. Die anderen sahen nur Teile eines Mosaiks und waren schwer davon abzubringen, diese bereits für das Ganze zu halten.
Wer zum Teufel war Gandalod? Wo war John Lafflin? Warum hatte man ihn verhaftet? Wie war man auf ihre Spur gekommen? War man auf ihre Spur gekommen? Angenommen, sie gingen nach Barataria, wie Deborah es verlangte, wie John Lafflin es geraten hatte – wer garantierte ihnen, dass das Schiff bei ihrer Rückkehr nicht von der Miliz besetzt war? Wäre es nicht sinnvoller, nach New Orleans zu gehen und den Kapitän zu befreien, ehe sie etwas anderes taten? Und wie sollten sie, gesetzt den Fall, alles ginge gut, jemals wieder unbemerkt den Mississippi hinaufkommen?
Es war Deborah, die die Sache entschied, und Gringoire, der den Ausschlag gab. Sie sagte, dass sie notfalls allein nach Barataria aufbrechen würde, noch in dieser Stunde; und er nahm die von Gowers überbrachten Worte des Kapitäns als Befehl an. Jason würde überall hingehen, wo Deborah hinging, Mr. Phineas war überstimmt, und Gowers könnte an Bord bleiben, wenn er das für richtig hielt. Aber er setzte stattdessen die gelbe Flagge, die jedem, der das Schiff sehen würde, anzeigte, dass es unter Quarantäne stand.
83.
Bereits eine Stunde später verließen sie die Deep South schwer bepackt, um bis zum Einbruch der Dunkelheit so viel wie möglich von dem Zwanzigmeilenmarsch nach Barataria hinter sich zu bringen. Deborah und Gringoire trugen den Proviant für Deborahs Leute, die ohne eine solche Notversorgung den Rückweg zum Schiff kaum schaffen würden; Gowers und Jason die Waffen, eine Schrotbüchse und drei Vogelflinten sowie alle Äxte und Messer, die sich an Bord auffinden ließen. Was sie dam it gegen einen ernsthaften Angriff ausrichten könnten, war fraglich, und Gowers schloss bei der ersten Gelegenheit zu Gringoire auf, der als ihr Führer der Gruppe stets einige Dutzend Schritte voraus war.
»Ich soll Ihnen noch etwas von Kapitän Laffitte ausrichten«, sagte er und beobachtete den alten Mann, der mit einem Knüppel auf das wuchernde Unterholz einschlug, um einen schmalen Weg zu bahnen und etwaige Schlangen zu verscheuchen.
»So?«, erwiderte Gringoire gleichmütig, als sei die Erwähnung des Namens Laffitte das Selbstverständlichste der Welt.
»Sie sollen an Monbars denken. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Ja.«
Die Einsilbigkeit des Alten, die Gowers auf der bisherigen Reise lediglich als Kuriosität betrachtet hatte, begann jetzt, ihm auf die Nerven zu gehen. »Und würden Sie es mir vielleicht erklären?«, fragte er gereizt.
»Es bedeutet, dass wir graben müssen, wenn wir in Barataria sind.«
»Graben?« Gowers verstand logischerweise noch immer nicht.
»Es gibt ein verstecktes Arsenal, Engländer. Munition, Waffen, sogar eine Kanone. Und die Flagge Monbars’.«
»Wer zum Teufel ist Monbars?«
Gringoire schien zumindest kurz über diese Frage nachzudenken, fiel aber dann in seine gewohnte Einsilbigkeit zurück. »Unwichtig«, sagte er und schlug wortlos ihren weiteren Weg durch den großen Sumpf frei.
Gowers jedoch sagte nach einer Weile leise und mehr zu sich als zu ihm: »Sie wollen also eine Kanone abfeuern, die vierzig Jahre in diesem Boden gelegen hat? Sagen Sie mir, wann es so weit ist, damit ich möglichst weit weg bin!«
Er ließ sich zurückfallen und Jason und Deborah passieren. Der Mulatte bot der jungen Frau immer wieder schüchtern die Hand, um ihr über schwierige Stellen hinwegzuhelfen, und gelegentlich, wenn auch nicht häufig, nahm sie diese Hilfe tatsächlich in Anspruch. Sie hatte wieder Männerkleidung angelegt, Hose, Jacke und vor allem Schuhe, die sie in Lafflins Kabine gefunden hatte, da ein Kleid in dieser Wildnis mehr als unpraktisch war. Gowers hatte ihr zugelächelt, als sie vorüberging, aber da sie nicht reagierte, beschloss er, ohne schlechtes Gewissen die Vorteile zu genießen, die ihre Kleidung seinen Blicken bot.
Hinter ihm ging, mit schweren, ruhigen Schritten, Mr. Phineas, der ganz allein das von Gowers gestohlene Kanu auf den Schultern trug, mit dem sie über die kleineren Wasserläufe und Teiche des Sumpfs hinwegsetzen konnten. Obwohl sie dabei jede Überfahrt mehrmals machen mussten, kamen sie doch insgesamt schneller voran und bewegten sich geradliniger auf ihr Ziel zu, als wenn sie diese Hindernisse umgangen hätten. Als die Nacht mit der in diesen Breiten üblichen Plötzlichkeit hereinbrach, hatten sie deshalb schon zwei Drittel ihres Wegs zurückgelegt und erreichten Barataria in den f rühen Morgenstunden des nächsten Tages.
Für zwei der Flüchtlinge kam jede Hilfe zu spät: Eine junge Frau und ihr Säugling waren zu Deborahs Verzweiflung erst in der vergangenen Nacht an Hunger und Entkräftung gestorben. Die Übrigen konnten mithilfe der herbeigeschleppten Lebensmittel gerettet werden, waren dadurch aber noch nicht in der Lage, den sofortigen Rückmarsch anzutreten. Sie würden noch mindestens einen Tag bleiben müssen, und das hieß: Falls die Miliz käme, wie Deborah erwartete, würde es zu einem Kampf kommen.
Ohne eine Beratung über ihr weiteres Vorgehen abzuwarten, machte Gringoire sich auf die Suche nach dem verborgenen Arsenal Monbars’. Der Ort, der einmal die Schmugglerrepublik Barataria gewesen war, hatte sich in den vergangenen vier Jahrzehnten völlig verändert. Die fast krankhaft üppige Vegetation und ein gutes Dutzend Überflutungen hatten die verkohlten Reste ehemaliger Lagerund gemauerter Wohnstätten fast vollständig verschlungen. Nur ein großer Felsen behauptete noch immer seinen Platz, und von diesem Orientierungspunkt ausgehend, hatte der alte Mann sehr bald gefunden, was er suchte.
Er rief nach Händen, die beim Ausgraben helfen sollten, aber außer Gowers hörte niemand auf ihn. Kopfschüttelnd ging der Lotse zu dem alten Mann, während alle anderen damit beschäftigt waren, das Essen zu verteilen oder zu verschlingen.
»Hören Sie, Gringoire«, sagte Gowers, »so wird es nicht gehen. Wenn dieser Ort verteidigt werden soll, muss jemand das Kommando haben.«
Wortlos zeigte Gringoire auf Deborah und zog mit dem Absatz seines Stiefels eine Linie in den weichen Boden, entlang der er mit Händen und einem Messer zu graben begann.
Zuerst wollte Gowers sich wieder über so viel wortlose Gleichgültigkeit aufregen, aber dann durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass der Gleichmut des alten Mannes vielleicht nur eine andere Art war, seiner Gereiztheit Herr zu werden. Das machte auch ihn selbst seltsam kalt und ruhig. Er ging zu Deborah, die seit ihrer Ankunft noch keinen Moment gesessen hatte, und sagte freundlich, aber bestimmt: »Entschuldigung, aber wir brauchen einen Plan.« Als sie lediglich nickte und fortfahren wollte, sich um ihre Leute zu kümmern, hielt er sie am Arm fest und flüsterte: »Jetzt. Sofort!«
»Was schlagen Sie vor?«, fragte Deborah, die diesem Moment mit Unruhe entgegengesehen hatte, seit sie wusste, dass John Lafflin nicht an ihrer Seite sein würde.
»Erstens«, antwortete Gowers, »wenn Ihre Leute nicht aufhören, sich den Bauch vollzustopfen, werden sie weder fliehen noch kämpfen können. Zweitens: Jeder, der halbwegs dazu in der Lage ist, begibt sich zu Mr. Gringoire und hilft ihm, seine verdammte Kanone auszugraben. Drittens: Wir brauchen eine Voraussicherung, also jemanden, der den Weg nach New Orleans überwacht und feststellt, ob und vor allem wann Gefahr droht.«
»Wir haben eine Kanone?«, fragte sie ungläubig.
»Nicht, wenn wir hier nur herumstehen! Mit Ihrer Erlaubnis sehe ich mir die Straße an. Passen Sie auf, dass sich niemand den Magen verdirbt, und schicken Sie jeden graben, der graben kann.« Er nahm sich eine der leichten Flinten und schlug den schmalen Weg ein, der am Rande der jämmerlichen kleinen Pfahlsiedlung nach Nordosten führte.
84.
Henry Hunters Telegramme hatten sämtliche Milizionäre des Regiments Denham Parish von den Anlegestellen nördlich von Baton Rouge abgezogen und nach New Orleans beordert, und die meisten von ihnen reisten ebenfalls auf der Big Missourie. Allerdings hatten viele dieser Männer inzwischen ihre dreiwöchige Dienstverpflichtung für das laufende Jahr erfüllt und zogen es vor, auf ihre Farmen zurückzukehren. In jedem der kleinen Orte, die sie anliefen, verloren Schiff und Regiment also Männer; von den neu Zusteigenden, vor allem dem alten General Willoughby, der in Baton Rouge an Bord kam, als Feiglinge und Verräter beschimpft, von den übrigen bereits »Ausgedienten« allerdings beneidet und immer wieder nachgeahmt.
Feigheit und Verrat waren schlimme Vorwürfe, aber eine schlechte Ernte war weit schlimmer. Was gingen sie überhaupt die Nigger der Großgrundbesitzer an? In dieser Weise litt die Moral der Truppe in einem fort, und so kam es, dass eine halbe Stunde vor Mitternacht weniger als ein Dutzend von ihnen New Orleans erreichten. Hunter, der mit dreimal so vielen gerechnet hatte, klagte ausgerechnet die an, die gekommen waren, bis ihm die Sinnlosigkeit dieses Verhaltens zu Bewusstsein kam. Prompt spendierte er den Männern ein spätes Bier und sorgte persönlich dafür, dass in dem Stall, in dem sie untergebracht waren, frisches Stroh für sie aufgeschüttet wurde. Dennoch verbrachten sie keine ruhige Nacht.
Gandalod hatte trotz seines tödlichen Hungers den ganzen Tag über jede Nahrung, selbst Delikatessen wie gebratene Hühnchen, verweigert. Er hoffte, dass er sterben würde, ehe die Folter begann. Andererseits, dachte er grimmig, was gab es schon noch, das sie ihm antun konnten? Seine Freiheit und seine Männlichkeit hatte er schon verloren, an Schmerzen glaubte er gewöhnt zu sein, und Schläge würden ihn früher oder später umbringen.
Es war gegen zwei Uhr morgens, als er sah, wie gründlich er sich getäuscht hatte. Die alte Misses kam in den Stall, und hinter ihr, sehr verwirrt, ängstlich und übernächtigt, erkannte er Darioleta. Sie trug zwei große Körbe mit verschiedenen Lebensmitteln, Wein, Käse, Brot, kaltem Braten, als würde ein Picknick veranstaltet. Tatsächlich ging sie von einem zum anderen, dem General Willoughby, Henry Hunter, den jungen Männern, den einfachen Mitgliedern der Miliz, und jeder bediente sich.
Allerlei Sitzgelegenheiten wurden aufgestellt und Gandalod auf einem Stuhl in der Mitte festgebunden, als sei das ein Ehrenplatz. Desmond Bonneterre zog einen weiteren Stuhl heran und setzte sich sehr ruhig, sehr gelassen, aber auch sehr ernst direkt vor ihn.
»Darry«, befahl er. »Komm her und gib ihm zu essen!«
Gandalod schwitzte vor Angst, als das Mädchen unschlüssig näher kam.
»Haben wir ein feuchtes Tuch hier?«, fragte Bonneterre. Dann tauchte er sein eigenes Taschentuch in einen Eimer mit Wasser und reichte es Darioleta. »Wisch ihm mal das Gesicht ab. Der arme Kerl schwitzt sich ja zu Tode.«
»Tu es nicht«, sagte Gandalod leise und erkannte seine eigene Stimme nicht mehr. Als sie zögerte, sauste plötzlich Bonneterres Spazierstock durch die Luft und landete pfeifend auf Darioletas Rücken.
»Tu, was ich sage, Mädchen, oder du wirst es bereuen!«
Darioleta, die vor Schmerz und Schreck aufgeschrien hatte, beeilte sich zu gehorchen. Ihre Hände zitterten, und Gandalod begann zur Befriedigung der mitleidlosen Zuschauer zu weinen.
»Jetzt gib ihm zu essen«, sagte Bonneterre noch einmal, und obwohl Gandalod immer wieder den Kopf wegdrehte, schaffte sie es schließlich, ein Stück Brot in seinen Mund zu stecken. Er spuckte es aus, und ein zweiter, womöglich noch härterer Schlag traf Darioletas Rücken. Nun schossen auch ihr die Tränen in die Augen, und Gandalod aß irgendwann, aß und trank aus den Händen des unglücklichen Mädchens, und Bonneterre wusste bereits, dass er gewonnen hatte, noch ehe er ihr die Kleider vom Leib schnitt.
Zwei Stunden später war Desmond Bonneterres Reputation als Niggerbreaker vollständig wiederhergestellt. Sie wussten jetzt, dass Moses eine Frau war, wussten, wie sie ihre Nigger gestohlen und wohin sie sie geführt hatte, wussten auch, dass sie auf ein Schiff warteten. Ein ortskundiger Nigger oder Cajun, der sie nach Barataria führen konnte, würde sich rasch finden lassen. Das einzige Problem waren die Beschwerden der Nachbarn und der übrigen Hotelgäste, die sich durch die entsetzlichen Schreie in ihrer Nachtruhe gestört fühlten.
»Selbstverständlich können Sie mit Ihren Niggern tun, was Sie wollen, Gentlemen«, sagte der erregte Hauswirt nach einem angewiderten Blick auf das nackte, blutende Mädchen. »Nur nicht um diese Zeit, bitte sehr!«
Aber eine rasch durchgeführte Kollekte, die eine Summe von beinahe vierzig Dollar ergab, brachte auch diesen vehementen Protest zum Verstummen.
85.
Die Überquerung des Waitetuna, eines kleinen, aber reißenden Flusses mit steilen Uferböschungen, war eine erste Herausforderung, doch glich der weitere Aufstieg der Forest Ranger in die westlichen Ausläufer der Hakarimata Range eher einem Sonntagsausflug. Der Pfad führte durch einen lichten Bergwald, die Luft war angenehm warm und erfüllt vom Blütenduft einer Orchideenart, die sich überall an die Bäume klammerte. Schon am Nachmittag hatten sie Te kapa ama hanga, eine große Freifläche auf der Passhöhe, erreicht, und von Tempsky gab mithilfe eines Spiegels dem weit unten in der Whaingaroa-Bucht ankernden Schiff das vereinbarte Signal zur Abfahrt. Es war der 19. März 1868, er war nun auf dem Weg, und McDonnell würde in wenigen Tagen wissen, dass er von jetzt an in drei bis vier Wochen nach Norden, den Wanganui River hinauf, blicken musste, um die Verstärkung seiner Armee heranmarschieren zu sehen.
Ostwärts, die Wasserscheide hinab, war ihr Weg nun einer der besten und gangbarsten Fußpfade Neuseelands, führte Hügelkamm nach Hügelkamm über offenes Farnland. Vor ihnen lag das Tiefland des mittleren Waikato-Beckens, so fruchtbar und grün, dass von Tempsky es nur mit den weiten Ebenen Ungarns vergleichen konnte, die er als Junge gesehen hatte. Sie gingen noch ein, zwei Meilen weiter, und die Männer waren so gut gelaunt, dass sie sangen. Der Weg über Land, auf den ihr Anführer sie so gründlich vorbereitet und vor dem sie sich gegenseitig ob seiner Wildheit und Gefahren gewarnt hatten, schien ja eher eine Vergnügungsreise zu werden.
Am frühen Abend schlugen sie ein zwangloses Lager auf, das fast einem Picknick glich, denn das Wetter war gut, und von Tempsky verzichtete darauf, die Zelte aufbauen zu lassen. Der überall wachsende Farn bildete, ausgerissen und in einer bestimmten, leicht zu erlernenden Weise zusammengelegt, eine Matratze, die weit angenehmer war als die harten Schiffsplanken und sogar den Vergleich mit europäischen Hotelbetten nicht zu scheuen brauchte. Die Sandfliegen verschwanden mit der hereinbrechenden Dunkelheit spurlos, Moskitos gab es Mitte März überhaupt nicht mehr, in der Asche rasch entzündeter Lagerfeuer garten die »Damper«, flache Weizenkuchen, die man süß oder gesalzen essen konnte – das Leben im Feld war herrlich!
Getrübt wurden Freude und Nachtruhe lediglich durch die Ratten, die – ein Mysterium dieses Landes – nachts einfach überall waren: in den dichtesten Wäldern ebenso wie im offenen Hügelland, in den Dörfern wie an den einsamsten Stränden. Der Proviant war geschützt, da man ihn vorsorglich an Stangen aufgehängt hatte, aber selbst die Männer, die daran gewöhnt waren, dass die vorwitzigen Nager auf ihren Körpern herumspazierten, während sie schliefen, wurden durch die Flüche und Geräusche wach gehalten, die diejenigen von sich gaben, die das Gewimmel einfach nicht ertragen konnten. Einzelne wurden sogar gebissen.
Entsprechend ernüchtert und übernächtigt gingen sie am nächsten Morgen weiter und erreichten den Waipa River und Whatawhata, die erste Maorisiedlung auf ihrem Weg, erst am Nachmittag. Das natürliche Misstrauen der Maori gegen zweihundert bewaffnete Pakeha, die in ihr ureigenstes Gebiet eindrangen, suchte von Tempsky durch Freundschaftsbezeigungen und sehr gute Preise für die Tauschwaren zu beschwichtigen; ließ aber nicht unerwähnt, dass sein Name Manu-Rau sei, unterwegs, um einige aufsässige Rebellen im Süden zu bekriegen.
Er ließ dem großen König Tawhiao, der zehn Meilen flussabwärts in Ngaruawaiha residierte, seine freundlichsten Grüße übermitteln, dann aber das Lager flussaufwärts aufschlagen, was ein zumindest psychologischer Affront war, da es bedeutete, dass die Maori am nächsten Morgen das von den Fäkalien der Weißen verunreinigte Wasser trinken würden. Das Ganze war genau die höfliche Mischung aus Diplomatie und Provokation, Freundlichkeit und Frechheit, die er auf seinem gesamten Weg beibehalten wollte.
Die meisten der jungen Australier, und unter ihnen auch Gowers, sahen in Whatawhata zum ersten Mal die echte Wahine oder Maorifrau, denn die Damen, die ihnen ihre Schlafsäcke genäht hatten, waren christianisiert und europäisch bekleidet gewesen. Am seltsamsten an den üppigen dunklen Schönheiten, die ihnen jetzt begegneten, waren die rosigen kleinen Schweinchen, die von manchen der Frauen wie Schoßhündchen gehalten und gehätschelt wurden, die sie streichelten und bisweilen sogar an ihren zu ebendiesem Zweck entblößten Brüsten lecken ließen. Um zu verhindern, dass seine sexuell ausgehungerten Männer sich an die Stelle der Schweinchen setzten, ließ von Tempsky an diesem Abend eine doppelte Reihe von Wachtposten aufstellen – eine äußere, die das Lager gegen die Maori, und eine innere, die die Maori und insbesondere ihre Frauen vor den aufgereizten jungen Pakeha schützen sollte.
Am nächsten Morgen zogen sie zeitig weiter, den Waipa hinauf, einen trägen, braunen Fluss von Torfwasser, der trotz oder wegen seiner geringen Strömungsgeschwindigkeit eine Tiefe von acht bis zwölf Fuß aufwies und sehr fischreich war. Der Proviantsorgen damit fürs Erste enthoben, folgten sie seinem Lauf zwei Tage lang flussaufwärts, wobei sie meist auf der westlichen der beiden breiten Terrassen marschierten, die das Wasser in die umliegende Hügellandschaft gewaschen hatte. Sie bemerkten jetzt auch, dass sie rund um die Uhr beobachtet wurden, und als er sicher war, dass König Tawhiao durch seine Läuferketten pausenlos über ihr Tun und Lassen unterrichtet wurde, stellte von Tempsky zwischen Puke Houa und dem Einlass des Mangahoe zum ersten Mal seine Staffelei auf.
Der Pirongia bot von hier aus einen wahrhaft grandiosen Anblick, und man wurde in der Tat nicht müde, ihn zu betrachten, da seine vielen Gipfel von jedem Standpunkt aus neue Formen anzunehmen schienen. Von Tempsky war allerdings kein reiner Landschaftsmaler, und deshalb ließ er seine Männer durch den Vordergrund marschieren, was dazu führte, dass sie ihn in einem weiten, ununterbrochenen Zug umkreisten. Bei einigen inzwischen recht fußmüden Soldaten führte das zwar zu Unmut und einigen bissigen Bemerkungen, aber die Verwirrung, die die Meldung »Manu-Rau malt die Berge, und seine Männer marschieren um ihn herum« bei den Maori auslösen würde, war etwas Unmut und ein paar Witze wert.
Nach einer ruhigen Nacht, in der allerdings erstmals ein wenig Regen fiel, sodass sie die Kautschukdecken, die von Tempsky hatte ausgeben lassen, schätzen lernten, wandten sie sich geradewegs nach Osten und erreichten am Abend des folgenden Tages Rangiawhia. Diese vermutlich größte Maoriansiedlung inmitten des Waikato-Beckens war beinahe schon eine Stadt und entsprechend zivilisiert. Sie besaß in ihrem Umland ausgedehnte Weizen-, Mais-und Kartoffelfelder, zwischen denen breite Fahrwege verliefen. In Rangiawhia gab es einen Gerichtshof, einen Kaufladen, eine Mühle und gleich zwei Kirchen: eine katholische und eine protestantische, deren letztere sogar mit bunten Glasfenstern geschmückt war.
Da der nächste Tag ein Sonntag war, legten sie zum ersten Mal eine vierundzwanzigstündige Rast ein, denn der Sonntag war ra tapu, was bedeutete, dass niemand arbeiten durfte und insbesondere auch das Reisen verboten war. Von Tempsky befahl seinen Männern, mit Ausnahme einer kleinen Lagerwache, zu der sich prompt John Gowers einteilen ließ, den Gottesdienst zu besuchen, um seine Friedfertigkeit unter Beweis zu stellen. So kam es, dass die beiden kleinen Kirchen bis zum Bersten gefüllt waren und die Missionare beider Konfessionen noch lange von diesem glorreichen Tag sprachen.
Am Montag dehnte sich dieses Wohlwollen auch auf die einfache Bevölkerung aus, denn er begann mit einem regen Tauschhandel, bei dem die Pakeha auch die exorbitantesten Preise für Schweine, Kartoffeln, Obst und Weizenmehl anstandslos bezahlten. Die Schweine wurden sofort geschlachtet und eingesalzen, was erneut einige Zeit kostete und von Tempsky ein weiteres malerisches Motiv lieferte. Erst am Dienstag in aller Frühe zog die Truppe weiter, diesmal nach Süden, wo man nach der Überquerung des Mangahoe gegen Mittag auf den gut gangbaren Overland Mail Track stieß. Dieser Pfad würde sie auf direktem Weg nach Südosten und binnen einer knappen Woche an den Taupo Lake führen. Das gefährliche Kings Country lag hinter ihnen, den Weg in die Gebiete der nicht weniger Furcht einflößenden Bergstämme nahmen sie unter die Füße.
86.
Nach weniger als einem Meter stießen sie am äußersten Rand der von Gringoire bezeichneten Stelle auf mächtige, aber fast vollständig vermoderte Holzbohlen. Darunter lag eine Schicht aus Sand und Steinen, gefolgt von verrottetem Segeltuch, unter dem sich eine zweite Lage diesmal geteerter und darum etwas besser erhaltener Holzplanken befand. Ihr Scharren und Kratzen nahm auf diesem Grund einen anderen Ton an, der verriet, dass sich ein größerer Hohlraum darunter befinden musste, der sich in all den Jahren zumindest nicht vollständig mit Wasser und Schlamm gefüllt hatte.
Als die Erde so weit abgetragen war, dass er hinabsteigen konnte, schlug Gringoire mit der Axt die uralte Holzverschalung auf. Von allen Seiten und mit allen Händen wurden daraufhin die morschen Bohlen weggerissen, und neugierige Blicke richteten sich in einen zwei Meter tiefen, etwa zehn Quadratmeter großen gemauerten Kellerraum. Die Wände hatten den Jahren standgehalten, aber das Grundwasser musste das Arsenal mehrfach überschwemmt haben und hatte jedes Mal eine Schicht von Sedimenten darin zurückgelassen. Ein durchdringender Modergeruch schlug ihnen entgegen, und das Einzige, was – halb versunken in Sand und Schlamm – zu ihnen hinaufstarrte, war die grünlich schimmernde Mündung einer Kanone, die aus einer von Fäulnis zerf ressenen Umhüllung von Segeltuch und Guttapercha hervorragte.
Gringoire riss das Tuch weg, das in seinen Händen vollständig zerfiel, und befahl Mr. Phineas, einige Bäume zu fällen und eine Hebekonstruktion zu errichten.
»Wozu?«, fragte Mr. Phineas enttäuscht. »Der Rost hat dieses Ding längst erledigt.«
Vor allem der seltsame grünliche Belag irgendeines namenlosen Schimmels, mit dem das gesamte alte Geschütz überzogen war, ekelte alle, aber Gringoire schlug mit der stumpfen Seite seiner Axt darauf ein – und die mehrere Zentimeter dicke Wachsschicht, die das Rohr vierzig Jahre lang zuverlässig vor Feuchtigkeit und Korrosion geschützt hatte, platzte ab wie eine Eierschale.
Obwohl er sich freute, seine alte Geliebte so völlig unversehrt und funktionstüchtig wiederzusehen, machte Gringoire sich nicht die Mühe, seinen Triumph zu zeigen, sondern ging daran, die auf die gleiche Weise hermetisch versiegelte Lafette und die Munitionskisten aus dem Sand zu graben. Selbst das Pulver war so trocken geblieben, dass es knisterte, als er eine kleine Probe zwischen den Fingern zerrieb. Nur ganz zuletzt zeigte Gringoire doch so etwas wie wilde Freude und lachte über das Erschrecken der kleinen Flüchtlingsgemeinde: als er Monbars’ alte Flagge entfaltete und der grinsende Totenschädel auf schwarzem Grund noch einmal im Wind der Karibik wehte.
Mehr als zweihundert Jahre früher hatte ein Mann diese klassischste aller Piratenflaggen entworfen, von dem die Geschichte nicht einmal einen Vornamen überliefert: Monbars, den man den Würgeengel nannte. Herkunft und Ende dieses unheimlichen Piraten liegen im Dunkeln, nur sein pathologischer Hass auf die Spanier ist historisch. Er erschlug sie mit Vorliebe im Nahkampf, mit einer Enteraxt, und diese Art zu sterben war für seine Gegner besser, als von Monbars gefangen genommen zu werden. Denn seinen Gefangenen pflegte er den Bauch aufzuschlitzen, nur ein klein wenig, zog ein Stück Darm heraus und nagelte es an den Mastbaum. Anschließend hetzte er seine Opfer mit brennenden Fackeln so lange um den Mast herum, bis sie die sieben Meter ihrer Gedärme völlig herausgehaspelt hatten und zusammenbrachen. Unter der Flagge einer so pittoresken Gestalt ihren Geschäften nachzugehen verschaffte den weit harmloseren Schmugglern von Barataria den Vorteil eines Respekts, den niemand verdient sehen wollte.
Im Aufspüren und Auskundschaften einer gegnerischen Truppe hatte John Gowers noch nicht die Erfahrung, die er darin einmal entwickeln würde. Seine entsprechenden Fähigkeiten verdankte er im Wesentlichen einer guten Beobachtungsgabe und seinen Jagdzügen im hohen Norden; bei denen allerdings nie die Gefahr bestanden hatte, dass das aufgespürte Wild ihn unter Beschuss nehmen würde. Auch bei der Jagd auf Rentiere und Moschusochsen war es jedoch stets darauf angekommen, zu sehen, ohne gesehen, zu riechen, ohne gerochen zu werden, und so hielt er sich etwas abseits des breiten Cajunpfads, der nach New Orleans führte, und ging nach Möglichkeit mit dem Wind im Gesicht.
Schneller, als er gehofft, nein: befürchtet hatte, nämlich am Nachmittag und nur etwa acht Meilen von Barataria entfernt, wurde seine Wachsamkeit belohnt. Eine zwanglose Truppe von Berittenen und einigen Männern, die eine kleine Hundemeute führten, bewegte sich allerdings so lärmend und sorglos, dass er sie zunächst nicht für die Louisiana-Miliz, ja nicht einmal für eine Jagdpartie, sondern für eine Art Picknickgesellschaft hielt. Erst durch sein Fernglas erkannte er einige der jungen Gentlemen, deren Gesichter ihm zuerst bei ihrer Reaktion auf die »Retardierenden Erzählelemente in ihrem Bezug zum Spannungsbogen« als weitgehend geistlos aufgefallen waren.
Zunächst glaubte er, die Männer würden Barataria noch am gleichen Abend zu erreichen versuchen, was möglich und aus ihrer Sicht auch das Sinnvollste gewesen wäre. In diesem Fall hätte er versuchen müssen, sie zu überholen, um seine Warnung noch rechtzeitig überbringen zu können. Glücklicherweise stellte er aber kurz darauf fest, dass die Louisiana-Miliz nicht immer das Sinnvollste tat, sondern ihr Nachtlager bereits aufschlug, als die Nacht noch mindestens vier Stunden entfernt war. Er vergewisserte sich, dass keine Späher vorausgeschickt wurden, rekognostizierte das Gelände rings um das feindliche Lager, fand es für einen Überfall höchst geeignet und erreichte Barataria im Laufschritt bei Einbruch der Dunkelheit.
87.
Tiwha, tiwha te Po – schwarz, schwarz ist die Nacht; aber der Prophet war bei ihnen, betete, sang mit ihnen, obwohl das eigentlich nicht möglich war. Captain Thomas hatte Befehl gegeben, Te Kooti in strenger Einzelhaft zu halten, und das Gefängnis befand sich innerhalb des Konstablerstützpunkts, anderthalb Meilen entfernt von den Hütten des Gefangenenlagers. Dennoch war er in jeder Nacht bei ihnen, ohne dass die Wachen es merkten.
Die Whakarau glaubten, dass Te Kooti sich in eine Eidechse verwandeln konnte, wie es in alten Zeiten jenen Menschen möglich war, die sich nicht nur in der wirklichen Welt, sondern auch in der Taha wairua, auf der spirituellen Ebene des Lebens, bewegten. Nur so konnte er dem Gefängnis entkommen und dennoch am nächsten Morgen in seiner Zelle sitzen, als wäre er nie fort gewesen. Nur Einzelne, Ungläubige sprachen davon, dass auch die Bestechung der Wärter bei Te Kootis Verschwinden und Wiederauftauchen eine Rolle spiele.
Es waren Männer wie der alte Keke oder Te Warihi Potini, Te Kootis Onkel, die nicht an die Botschaften des Propheten glaubten, denn beide waren schon in der Heimat, auf Aotearoa, mit ihm zerstritten gewesen. Dass er, ein Emporkömmling, nach der Repatriierung ihrer Häuptlinge die Autorität unter den Whakarau an sich gerissen hatte, ärgerte sie. Die Ehre der Führerschaft hätte eher ihnen, den Alten, zugestanden. Ein grundsätzliches Problem war zudem, dass sie beide Te Kooti schon in seiner Jugend gekannt hatten; es ist schwer, an einen Propheten zu glauben, den man in kurzen Hosen und mit laufender Nase gesehen hat.
Te Warihi war sogar einmal Te Kootis Vormund gewesen und immer wieder mit seinem Neffen aneinandergeraten, der sich schon damals nicht unterordnen wollte. Ihm konnte er nichts vormachen! Mochte er Weiber und Kinder blenden mit seiner brennenden Hand, dem Phosphor und den dunklen Gesängen. Es gab unter den Whakarau sogar das Gerücht, dass Te Warihi ein Spion der Pakeha war, der Captain Thomas über die Vorgänge im Lager und die Aktivitäten seines Neffen auf dem Laufenden hielt.
Die Prophezeiungen Te Kootis waren nicht eingetroffen: Kein Schiff war gekommen, sie hatten auch keine Boote gebaut, und der Navigator, den der Prophet ihnen vorgeführt hatte – Sterne und Strömungen, die Wolken und den Wind kenne ich –, war zurück nach Owenga gegangen und spurlos von dieser Welt verschwunden. Die Whakarau wurden unruhig, ihre Sehnsucht, die kalte, grausame Insel zu verlassen und in ihre Heimat zurückzukehren, wurde langsam, aber stetig größer. Noch steigerte diese Sehnsucht ihren Glauben an die Visionen Te Kootis, aber wehe dem Propheten, wenn die Sehnsucht den Glauben überstieg!
»Anfang Juli«, sagte Te Kooti in einer nächtlichen Versammlung Ende April, »wird die Regierung ein Schiff schicken, das uns alle nach Aotearoa bringt. Wenn nicht«, er richtete sich hoch auf, »wird Gott mir den Stab des Moses senden. Ich werde auf das Wasser schlagen, das Wasser wird sich teilen, und wir werden auf trockenem Land in die Heimat gehen!«
Diese Verknüpfung eines biblischen Wunders mit einem konkreten Datum machte auf alle einen tiefen Eindruck – bis auf Te Warihi.
»Ich hoffe, es wird das Schiff sein, Neffe«, sagte er und lachte, »denn es sind, über Meer oder trockenen Boden, fünfhundert Meilen bis nach Aotearoa, und ich bin nicht mehr so gut zu Fuß.«
Der alte Mann hatte einige Lacher auf seiner Seite, und Te Kooti merkte sich ihre Namen, als er die Augen schloss und langsam den linken Arm hob. Zwei Finger zeigten auf Te Warihi.
»Ich sehe zwei Schiffe«, sagte der Prophet, und der Schweiß, der über sein Gesicht strömte, verriet die verzweifelte Kraft, mit der er sich in der Taha wairua festkrallte. »Ein kleineres und ein größeres Schiff in der Bucht von Waitangi. Die Wolken sinken tief auf das Meer herab. Nebel dringt in feinen Tropfen durch unsere Kleider. Wir zerschneiden die Taue. Das kleinere Schiff wird auf die Klippen geworfen und zerbricht. Der Nebel verdichtet sich zu einem schweren Regen. Unablässig strömender Regen, in dem das größere Schiff aufs Meer hinausfährt und uns alle mit fortnimmt.«
Er sprach in diesem Augenblick so überzeugend, dass in einer kleinen Pause sogar Te Warihi dieses Bild vor sich sah. Dann schüttelte sich der Alte wie ein nasser Hund.
»Dein Nebel macht meinen Kopf schwer, Neffe, und alle Gedanken darin. Wir werden«, er sah sich kurz entschlossen um, erblickte einen faustgroßen weißen Stein auf dem Boden und hob ihn auf, »wir werden diese Insel so wenig verlassen, wie wir diesen Stein essen können!«
Die Whakarau schauten jetzt verwirrt zwischen dem erhobenen Stein und Te Kootis ausgestrecktem Arm hin und her. Etwas stand bevor, und alle fühlten es. Die Kinder drückten sich verängstigt an ihre Mütter. Der Prophet öffnete wieder die Augen.
»Bring mir diesen Stein«, sagte er, und es klang wie eine Drohung.
Te Warihi zögerte kurz, zuckte dann verächtlich die Achseln und warf ihm den Stein zu. Te Kooti aber fing ihn auf, ohne dass man die Bewegung seiner Hand gesehen hätte.
»Wir werden also die Insel verlassen, wenn wir diesen Stein essen können«,wiederholte er, mit umgekehrten Vorzeichen, die Worte seines missgünstigen Onkels. »Nun«, er hielt den Stein dicht vor seinen Mund und sah ihn sich genau an. Dann blitzte etwas in seinen Augen: »Das ist nur eine Frage der Zubereitung!«
Er warf den Stein auf den Boden, und ehe einer der in schwer erträglicher Spannung dastehenden Gefangenen begriff, was er vorhatte, hatte er sich aus einem Winkel eine der eisernen Hacken geholt, die sie zur Feldarbeit brauchten, und fing an, mit wilden Schreien auf den großen Stein einzuschlagen. Binnen Sekunden hatten alle verstanden und feuerten ihn mit erhobenen Fäusten, lachend, schreiend und auch vor Freude weinend an.
Es war schwer. Er schaffte es nicht allein und sank bald erschöpft zu Boden. Aber die Männer lösten einander ab, die Frauen holten Hämmer und schwere Keulen, und in weniger als einer halben Stunde war der weiße Stein pulverisiert. Atemlos, aufgewühlt, aßen sie alle von dem entstandenen Pulver; bis auf Te Warihi, der beschämt abseitsstand. Eine der Frauen hielt ihm ihre kleine Tochter entgegen, drückte ihren Kopf gegen das Ohr des Alten, und er hörte, wie zwischen den winzigen weichen Zähnen die Reste des großen Steins knirschend zermahlen wurden.
Dann begann der Gesang von Neuem: Tiwha, tiwha te Po!
88.
Das zweitausend Fuß hohe vulkanische Tafelland, das die Forest Ranger vier Tage lang durchqueren mussten, bestand aus trachytischem Felsgestein ohne nennenswerte Erhebungen, war dicht bewaldet und praktisch noch unerforscht. Im Gegensatz zu der gleichartigen Landschaft auf der Nordseite des Waikato, die die Eingeborenen Patetere nannten, hatte dieses Gebiet nicht einmal einen Namen. Es regnete jetzt heftig, die lockere Tonerde auf den Hügelkämmen verwandelte sich in Schlamm, den die zweihundert Männer immer mehr talabwärts traten, sodass die Hinteren nur noch schwer vorankamen und die Vorderen immer öfter auf ihre Kameraden warten mussten. Dass sie ihrem Ziel überhaupt näher kamen, sahen sie an den wenigen Stellen, die einen freien Ausblick boten, nur daran, dass sich die Silhouetten der Berge im Süden hinter den dichten Regenschleiern langsam veränderten.
An offenes Feuer und entsprechend warme Mahlzeiten war im pausenlos strömenden Regen nicht zu denken, und zur Trostlosigkeit ihres Marsches kam die Untröstlichkeit ihrer Mägen, wenn die Männer an rohen Kartoffeln nagten wie Ratten. Nach dem Gefühl, das sich in ihren durchnässten Kleidern und Seelen einstellte, bewegten sie sich schon seit einer Ewigkeit ziellos durch eine Welt aus Regen, Schlamm und finsteren Wäldern. Je höher sie kamen, desto kälter wurde es auch, und die nassen Zeltbahnen und klammen Schlafsäcke boten nur noch einen geringen Schutz gegen die Frustration, die die niedrigen Temperaturen auslösten. Vereinzelt stellten sich Erkältungskrankheiten ein, und einige Männer hatten außerdem das Pech, in die tiefen Löcher zwischen den Baumwurzeln zu treten, die im schier wegfließenden Boden nicht zu erkennen waren. Verstauchte Fußgelenke waren die Folge und verlangsamten ihre Marschgeschwindigkeit weiter.
Erst als sie den Oruanui passiert hatten und die Mihi-Ebene überquerten, besserte sich das Wetter, und am fünften Nachmittag nach ihrem Abmarsch aus Rangiawhia riss die Wolkendecke binnen weniger Minuten auf. Kräftige breite Sonnenstrahlen brachen durch und beleuchteten die grandiose, aber düstere Szenerie des oberen Waikato-Beckens. Im Süden vor ihnen lag der Taupo Lake, fünfundzwanzig Meilen lang und zwanzig Meilen breit, schon beinahe ein Binnenmeer von unerforschter Tiefe.
Taupo bedeutet: wo die Dunkelheit herrscht. Und auch die einfachsten Gemüter unter ihnen verstanden sofort, woher der Ort seinen Namen hatte. Jenseits des Sees erhoben sich eine Reihe finsterer Berge, Kuharua, Kakaramea, Pihanga, und hinter ihnen, drohend wie die Finger Gottes, die großen Vulkane Tongariro, Ngauruhoe und Ruapehu, deren sämtlich über zweitausend Meter hohe Krater Aschewolken in den Himmel bliesen. Die Pässe dieser kahlen, majestätischen Berge würden sie überschreiten, und der Gedanke, in ihrem Schatten zu wandern, erfüllte ihre Herzen mit einem geradezu kindlichen Schrecken.
Glücklicherweise erreichten sie noch vor dem Dunkelwerden die Quellen von Karapiti, und von Tempsky befahl seinen erschöpften, verdreckten, durchgefrorenen Männern, in den natürlichen, vom Wasser ausgewaschenen Felsbassins, den sogenannten Puias, zu baden. Die weißen Leiber in den dunklen, bis zu sechsunddreißig Grad warmen Quellen schienen in der tief stehenden Abendsonne zu leuchten, die Wärme von Wasser und Steinen durchströmte ihr verzagtes Fleisch bis auf die Knochen, und beides, die sonderbare Erhitzung und das unwirkliche Schauspiel, das sie einander in ihrer strahlenden Nacktheit boten, ließ sie trotz ihrer Erschöpfung schlecht einschlafen und schwer träumen.
Am nächsten Morgen schien die Sonne, sie wuschen nach ihren malträtierten Körpern nun auch ihre schmutzigen Kleider und trockneten beides auf den warmen Felsen. Selbst der See schien im Morgenlicht nicht mehr ganz so düster zu sein. Ein Festessen mit »Dampern« und den Fischen, die sie im Waikaruru fingen, sowie die Ankündigung eines vollen Tages der Rast und Regeneration richteten auch die niedergedrückte Moral wieder auf.
Von Tempsky malte den ganzen Tag: das Lager, die weite Kaingaroa-Ebene im Osten, hinter der sich die noch weitgehend unbekannte Te Whaiti Range erhob, und immer wieder den Taupo Lake mit seiner malerischen Begrenzung aus Kegelbergen und himmelhohen Vulkanen. Er ließ seine Sergeanten unter den Männern nach Freiwilligen suchen, die ihm »für den Vordergrund« Modell stehen würden, fand aber niemanden, als das Gerücht aufkam, es ginge dabei um ein Aktgemälde. In Wirklichkeit hatte von Tempsky an einen Eingeborenen gedacht, der, auf einem Felsen sitzend und das Kinn in die Hand gestützt, über die Wechselfälle des Lebens oder Vergleichbares nachdenken sollte. Die Tätowierungen wollte er später hinzufügen.
Am späten Nachmittag pirschte er sich darum an John Gowers heran, der mit seiner Pfeife im Mund und Lord Byron auf den Knien seinen künstlerischen Vorstellungen am nächsten kam. Er hatte jedoch noch keine zwei Striche getan, als der Mann aufstand und sich demonstrativ auf einen Stein hinter der Staffelei setzte.
»Ich könnte Ihnen das auch befehlen, Soldat«, sagte von Tempsky enttäuscht.
»Ich könnte auch desertieren, Sir«, antwortete Gowers prompt.
Der Deutsche lachte. »So schlecht bin ich auch wieder nicht!«
Die implizite Aufforderung, etwas über seine Malkünste zu sagen, war so deutlich, dass es Gowers schwerfiel, sie zu ignorieren. Tatsächlich konnte er mit den Gemälden seines Vorgesetzten nicht allzu viel anfangen. Einzelne Dinge schienen ihm gut getroffen, aber insgesamt blieb ihm der Eindruck des Uneleganten, Schwerfälligen, Amateurhaften. Da ihm jedoch nähere Kenntnisse und auch ein wenig das Verständnis für die bildende Kunst fehlten, erlaubte er sich nicht, ein so unqualifiziertes Urteil zu äußern.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht«, meinte er vorsichtig, »warum die Leute immer noch malen, anstatt zu fotografieren.« Eine Kunst jenseits des Realismus konnte er sich offensichtlich nicht vorstellen, und zu seinem Glück ging es von Tempsky ähnlich, sodass eine grundsätzliche kunstkritische Debatte in Neuseeland wieder nicht in Gang kam.
»Sie können doch das, was in Auge und Geist eines Künstlers vorgeht, nicht mit den chemischen Reaktionen auf einer Fotoplatte vergleichen«, entrüstete sich der einsame Musenjünger immerhin. »Malerei ist keine bloß reproduzierende Leistung, sondern eine Überhöhung der Realität!«
Manchmal auch eine Erniedrigung, schoss es Gowers durch den Kopf, aber er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, als der Satz aus ihm herauswollte. Erst als von Tempsky fortfuhr, konnte er sich irgendwann nicht mehr beherrschen.
»Ein Künstler muss vor allem das malen, was er nicht sieht«, behauptete der Deutsche kategorisch.
»Nun, deshalb bin ich ja auch weggegangen, Sir«, erwiderte Gowers spöttisch.
Wortlos warf der Maler einen seiner Pinsel nach dem uniformierten Momus, allerdings ohne ihn zu treffen.
»Das nächste Mal nehme ich ein Messer«, drohte er.
Gowers lachte. »Zeigen Sie mir lieber, was Sie meinen«, sagte er dann und hatte sich auf diese genial einfache Weise endgültig vom Gegenstand zum Publikum der künstlerischen Bemühungen gemacht.
Von Tempsky schwitzte zunächst, weil er die kritischen Blicke seines Untergebenen bleischwer auf seiner Hand fühlte und genau wusste, dass er seinen eigenen Ansprüchen rein technisch nur selten gewachsen war. Aber dann nahm er die Herausforderung an, pfiff ganz einfach auf alles, was er über Malerei wusste oder zu wissen glaubte, und tat lange Zeit – nichts.
Von Tempsky fragte sich, was ihm dieser See, diese Berge, diese Landschaft sagte, und stellte sich vor, was der erste Maori, der bis hierher vorgedrungen war, bei diesem Anblick empfunden haben mochte. Um diesen Bezug herzustellen, setzte er zuerst eines der bis zu vier Fuß hohen geschnitzten Grabdenkmäler, an denen sie seit zwei Tagen vorübergekommen waren, »aus dem Gedächtnis« in den Vordergrund. Diese an ihrem Fuß meist nur roh behauenen Holzstatuen waren mit verrottenden Kleidern und Tüchern behängt, und ihre Gesichter wiesen, aufgrund der getreuen Nachahmung der tätowierten Gesichtslinien der Verstorbenen, so etwas wie menschliche Züge auf. Für einen Maori genügten allerdings diese Linien – die den Stamm, die Familie und schließlich die Person selbst bezeichneten –, um geradezu eine Porträtähnlichkeit herzustellen.
Bei der Statue blieb von Tempsky noch sehr gegenständlich, aber als er sich dem See und den Bergen zuwandte, griff er ganz bewusst nicht zu den Farben, die ihm die Wirklichkeit diktierte. Er verschob Perspektiven, zerrte hier und da wie wild an den Konturen, als wollte er etwas aus der Leinwand herausholen, anstatt etwas hineinzubringen, und hatte schlussendlich ein Gemälde angefertigt, das in seinen besseren Teilen an die magischen Landschaften eines El Greco erinnerte, ohne allerdings deren Qualität zu erreichen.
Etwas von seinem Wollen schien sich trotzdem auf Gowers zu übertragen, denn es waren jetzt keine spöttischen Bemerkungen mehr, die dem Investigator auf der Zunge lagen. Er verstand, was der Mann meinte. Insbesondere die Gestaltung des Sees, der – schwarz, blau, violett – fast wie ein Loch in der visionären Landschaft wirkte, faszinierte ihn mehr, als er zugeben wollte.
»Es ist lebendig, Sir«, lobte er den gespannt auf seine Kritik wartenden von Tempsky. »Ihr See ist lebendig und doch ohne Seele, wenn Sie verstehen, was ich meine. Fast wie das Auge eines Fisches!«
Von Tempsky starrte den Mann mit großen Augen an. War so etwas möglich? Konnte er etwas malen, an das er selbst gar nicht bewusst gedacht hatte?
»Te ika a Maui«, sagte er langsam. »Mauis Fisch. So nennen die Maori die gesamte Nordinsel. Maui ist einer ihrer antiken Götter, der große Fischer. Stand angeblich vor Urzeiten auf der Südinsel, hielt seine Angel ins Wasser und zog dann einen riesigen Fisch aus dem Meer; eben die Nordinsel. North Land bis rauf nach Cape Reinga ist der Schwanz des Fisches, und der Taupo Lake ist sein Auge!«
Gowers runzelte die Stirn.
»Ich verstehe, Sir«, sagte er, nur um irgendetwas zu sagen. Denn im Augenblick verstand er ganz und gar nichts mehr.
89.
Liebe den Damen! Tod dem Gegner! Ehre dem Edlen! Ruhm dem Tapferen!
Obwohl keine bunten Wimpel wehten oder Schilde glänzten und die Rosse nur mäßig schäumten, fühlte Dick Willoughby sich an diesem Morgen wie etwas aus einem Roman von Sir Walter Scott. Und wenn es auch nicht der edle und freie Waffengang zu Ashby de la Zouche war, zu dem die Louisiana-Miliz, Regiment Denham Parish, aufbrach – ein Dutzend Männer zu Pferd, weitere vier mit je zwei Bluthunden an der Leine –, so hatte ihr Aufbruch doch viel von der Fröhlichkeit einer englischen Fuchsjagd. Flaschen kreisten, muntere kleine Scherze flogen von Mann zu Mann, Pferd zu Pferd; sie fühlten sich prächtig, mutig, unbesiegbar stark, und das Klirren der Ketten und Halseisen, die sie mitnahmen, um sich ihre entlaufenen Nigger zurückzuholen, erinnerte immerhin von ferne an munteres Waffengetümmel und tapferen Strauß auf erzitternder Bahn.
Zwar ritten sie im Schritt, damit Hunde und Fußvolk folgen konnten, aber sie hatten nach Wochen der Ratlosigkeit endlich ein klares und einfaches Ziel – und klare, einfache Ziele sind von entscheidendem Wert für die Moral jeder auch nur paramilitärisch organisierten Gruppe von Männern. Der Cajun, der sie führte, hatte gesagt, dass man Barataria in einem scharfen Ritt schon am späten Nachmittag erreichen könnte, aber Henry Hunter hatte sich aus mehreren Gründen für ein gemächlicheres Vorgehen entschieden. Tier und Mann seien nach einer Übernachtung im Feld frischer, und man könne die Flüchtlinge am frühen Morgen überraschen, vielleicht sogar im Schlaf. Entscheidender für das Selbstbewusstsein seiner Milizionäre war noch, dass die Operation, wenn man sie in eine zwei-oder dreitägige Länge zog, eher den Charakter eines Feldzugs erhielt, was die zuletzt stark auseinanderfallende Truppe wieder stärker zusammenschweißen würde.
So zogen sie erst am fortgeschrittenen Vormittag aus, gerieten in die größte Mittagshitze und schier unglaubliche Mückenschwärme, gegen die auch die unausgesetzt tätigen Fliegenwedel der Gentlemen kaum etwas ausrichteten. Aber selbst das unablässige Klatschen, mit dem die Männer nach den Insekten schlugen, der Schweiß, der ihnen in die Stiefel lief, die stechende Sonne auf ihrem Rücken konnten ihre Stimmung nicht drücken, denn derlei gehörte nun mal zu den Entbehrungen einer Kriegsfahrt und würde sich auch in den späteren Erzählungen darüber gut machen.
Das Lächerliche daran war, dass sie einfach keine Soldaten waren. Sie missachteten die einfachsten Gebote militärischer Logik, kümmerten sich weder um Aufklärung noch um geeignete Sicherungsmaßnahmen und schlugen am späten Nachmittag ihr Lager auf der ersten halbwegs trockenen Lichtung auf, die ihnen begegnete. Ein einzelner Mann, der das Feuer in Gang hielt, schien ihnen als Wachtposten völlig ausreichend, und einige spülten die Last des Tages mit so viel Alkohol hinweg, dass sie nicht einmal erwachten, als eine Stunde nach Mitternacht eine Serie von Schüssen bis auf einen all ihre Hunde tötete oder so schwer verletzte, dass sie nicht mehr zu gebrauchen waren.
Die so jäh aufgeschreckten Milizionäre griffen reichlich kopflos zu ihren Waffen und feuerten auf alles, was sich in der sie umgebenden Dunkelheit bewegte oder zu bewegen schien – was eines ihrer eigenen Pferde das Leben kostete und die übrigen, die irgendjemand losgebunden haben musste, in eine panische Flucht schlug. Den Rest der Nacht verbrachten sie eng an den Boden gepresst, die Gewehre im Anschlag. Hier und da feuerte auch jemand, weil irgendwo ein Zweig knackte, und der Schreck darüber löste stets eine wilde Knallerei aus, sodass sie sich bis zum Morgengrauen in einem unausgesetzten Gefecht wähnten.
Übernächtigt, blass, zerschunden und zerstochen erwarteten sie den Tag, und nicht nur die Ängstlichen, sondern auch die Intelligenteren unter ihnen, denen klar war, dass der unsichtbare Feind nicht nur ihre Hunde, sondern bequem auch sie selbst hätte töten können, hatten jede Lust auf ein weiteres Vorrücken verloren. Dem war nur durch strenge Befehle und die lobende Feststellung beizukommen, dass sie ihre Feuerprobe mit Bravour bestanden hätten.
Henry Hunter teilte seine Truppe in solche, die die durchgegangenen Pferde suchen sollten, und solche, die wachsam und gereizt, aber als Infanteristen, weitermarschierten. Sie nahmen jetzt an, dass eine kleine Räuberbande umherstreunender Cajuns es auf ihre Pferde abgesehen hatte. Dass es der Feind gewesen sein könnte, der sich gewehrt hatte, wurde mehrheitlich noch immer bezweifelt, vereinzelt aber auch als besonders heimtückische Art von Verrat betrachtet. Zur Entschuldigung der Milizionäre muss allerdings gesagt werden, dass die bewaffnete und organisierte Gegenwehr von Sklaven gegen ihre rechtmäßigen Eigentümer noch immer außerhalb des Vorstellungsvermögens des weißen Amerika im Norden wie im Süden lag.
Es war eine ebenso dezimierte wie unterzuckerte Truppe von neun Mann, die gegen Mittag in der Nähe des ehemaligen Barataria eintraf, denn einer hatte sich unterwegs den Fuß verstaucht und war als nicht mehr voll einsatzfähig zurückgeschickt worden. Ihren Augen bot sich ein höchst merkwürdiges Schauspiel: Über einer kleinen Zahl von auf Pfählen errichteten Hütten wehte eine schwarze Flagge, die ihnen, als der Wind sie richtig entfaltete, einen grinsenden Totenschädel zeigte. Die Miliz, nicht wenig erschrocken über diese unerwartete Entdeckung, wollte gerade einmarschieren, als eine Kanone auf sie abgefeuert wurde. Deutlich hörten sie das Sausen der Kugel über ihren Köpfen, das Brechen der Bäume und das Knacken im Unterholz, als sie etwa dreißig Schritte hinter ihnen in die Erde einschlug.
Schneller, als sie es sich selbst zugetraut hatten, suchten die Männer Deckung;jeder dort, wo sie sich ihm bot, was ihre Truppe noch weiter zersplitterte. Hunter befahl ihnen brüllend, das Feuer zu erwidern, aber die einzelnen ungezielten Schüsse, die sie abgaben, wollten sich zu keiner Salve formieren. Wildes Geschrei stieg vonseiten der Hütten auf, und wer den Mut fand, über den Rand seiner Deckung zu spähen, sah mindestens zwanzig schwarze Gestalten, die blutrünstig alle möglichen Waffen gegen die Angreifer schwenkten. Eine weitere Kanonenkugel fiel zwischen sie, ohne Schaden anzurichten, steigerte aber das Erschrecken zur Panik, und als plötzlich Gewehrfeuer in ihrer linken Flanke ertönte, gab es kein Halten mehr.
Every man for himself! wurde weder gerufen noch befohlen, aber mit enormer Geschwindigkeit praktiziert. Einzelne warfen sogar Waffen und Ausrüstung von sich, um schneller laufen zu können, und Dick Willoughby schwor später Stein und Bein, er habe, flüchtig zurückblickend, einen weißhaarigen alten Mann über eine Kanonenmündung springen sehen, der ihnen, einen altertümlichen Säbel über dem Kopf schwenkend, mit entsetzlichen Schreien nachsetzte wie der Leibhaftige. Schlagartig wurden ihm da die wesentlichen Unterschiede zwischen der fröhlichen Jagd auf verängstigte, halb verhungerte Sklaven und dem Kampf gegen bewaffnete Piraten klar – und er rannte in einem Tempo davon, an das er in seinem ganzen Leben nicht mehr herankommen sollte.
Stunden später sammelten sich die zerschlagenen Reste der Louisiana-Miliz an ihrer ersten Lagerstelle, und ihr Kommandeur, Hunter, bewies nun zum ersten Mal so etwas wie militärische Umsicht, indem er wenigstens ihren Rückzug ordnete. Man hatte ein paar Pferde wieder einfangen können, auf die die Verletzten gesetzt wurden: der Fußkranke, ein noch immer Betrunkener und ein Mann, den eine verirrte Kugel, von welcher Seite auch immer, an der Schulter erwischt hatte. Die Tapfersten sicherten diesen Rückzug, und sie waren es auch, die noch zwei Versprengte aufgriffen, die kurzfristig in Gefangenschaft geraten waren. Man hatte ihnen die Hosen ausgezogen, sie gründlich verprügelt, und insbesondere die schwarzen Frauen hatten ihnen für den Fall ihrer Rückkehr allerhand unangenehme Manipulationen angedroht.
Dam it war klar, dass die aufständischen Schwarzen offen bar bleiben wollten, wo sie waren, und die ganze Sache von nun an ein Fall für die reguläre Armee sein würde.
90.
John hatte seine Zeit gut genutzt. Er stutzte zuerst ein wenig, als er über den Pfahlbauten Baratarias eine Piratenflagge aufgezogen sah, aber der Anblick einer offenbar einsatzfähigen Kanone entschädigte ihn für manchen trüben Gedanken, der ihm während seines mehrstündigen Laufes in den Sinn gekommen war. Die übrigen von Gringoire an die Flüchtlinge ausgegebenen Waffen: Entermesser, -beile, einige altertümliche Musketen und sogar ein paar Steinschlosspistolen – deren Griffe immerhin als Keulen verwendet werden konnten –, überzeugten ihn weniger.
Ohnehin kam jetzt alles darauf an, die Pferde des Gegners zu zerstreuen, damit die Gegenwehr der Flüchtlinge nicht einfach niedergeritten werden konnte, und nach Möglichkeit auch die Hunde zu töten, die sich weder von schwarzen Flaggen noch von Kanonen einschüchtern lassen würden. Jeder Verwundete, den sie durch Bisse oder Hufe haben würden, konnte ihren Rückzug infrage stellen, also mussten derartige Verletzungen ganz einfach vermieden werden.
John hatte sich außerdem überlegt, dass man um jeden Preis den Eindruck vermeiden musste, Barataria sei nur ein vorübergehendes Versteck; je stärker die Milizionäre davon überzeugt werden konnten, den dauerhaften Aufenthaltsort der Flüchtlinge gefunden zu haben, desto weniger würden sie den Fluss absuchen. Er schaffte es, Deborah und den anderen mit wenigen Worten seinen Plan zu vermitteln, und war mit Gringoire, Jason und Mr. Phineas schon auf dem Rückweg zum Lager der Miliz, während Deborah ihren verängstigten Leuten noch erklärte, was sie zu tun hätten.
Seine Nachtsichtigkeit ermöglichte ihnen ein rasches Vorwärtskommen, und eine halbe Stunde nach Mitternacht hatte er die Stricke durchschnitten, mit denen die Pferde der Miliz ohne weitere Bewachung an die Bäume geschirrt waren. Der Rest war beinahe ein Kinderspiel, auch wenn sie als ungeübte Schützen eine ganze Serie von Schüssen brauchten, um die Hunde zu erledigen.
Nachdem die Schlacht vorüber war, kam Gringoire, der der fliehenden Miliz nachgesetzt hatte, mit zwei Gefangenen zurück, die er durch Schläge mit der flachen Klinge vor sich hertrieb. Einen Moment lang bestand die ernsthafte Gefahr, dass diese Männer getötet würden, und Gowers brachte sie persönlich in eine der Hütten, wo er sie, mit den Händen im Nacken und auf dem Bauch liegend, von Mr. Phineas bewachen ließ.
Es galt, ihnen eine kleine Komödie vorzuspielen, und während sie wenig später unter Gringoires Aufsicht von den schwarzen Frauen jämmerlich durchgeprügelt wurden, gab Gowers den lauten Befehl, eine Palisade zu errichten, um vor weiteren Angriffen geschützt zu sein. Deborah ließ das Essen vorbereiten, die Wäsche waschen und einige Hütten ausbessern. Eine besonders gelungene Vorstellung bot Jason, der eine kleine Gruppe mit Angelruten an die Lagune führte und dort durch das Anfertigen von Fischreusen den Eindruck einer friedlichen, dauerhaften Ansiedlung erweckte. Mr. Phineas sammelte derweil die nach der Schlacht liegen gebliebenen Waffen der Miliz ein und sprach lauter als nötig davon, sie ins Arsenal zu schaffen.
Als feststand, dass die Gefangenen alles gesehen und gehört hatten, was sie sehen und hören sollten, wurden sie mit Fußtritten und höhnischen Bemerkungen aus dem Lager gejagt. Gowers folgte ihnen heimlich in einigem Abstand und vergewisserte sich, dass sie gefahrlos zur Nachhut der auf dem Rückzug befindlichen Miliz stießen, um von ihren unschönen Erlebnissen zu berichten. Als sicher war, dass niemand sie mehr beobachtete, eilte er zurück, denn nun ging es darum, das Lager möglichst schnell abzubrechen und die drei Dutzend Menschen ungesehen an Bord der Deep South zu bringen.
Obwohl kaum jemand von ihnen in der letzten Nacht geschlafen hatte, kamen sie erstaunlich gut voran, was zweifellos an der Hochstimmung lag, in die ihr überraschender Sieg die ehemaligen Sklaven versetzt hatte. Nur wenige hatten an diesem Nachmittag, diesem ersten Abend eine klare Vorstellung davon, wohin sie eigentlich gingen. Sie tauschten sich fröhlich über die ungläubigen, dummen Gesichter aus, die ihre Herren gemacht hatten, und gerade die jungen Männer schienen überzeugt, sich mit den erbeuteten Waffen den Weg nach Norden zur Not freischießen zu können, wie Gandalod es vorgeschlagen hatte.
Wo war Gandalod? Deborahs Antwort darauf ernüchterte sie, und wieder wurde ihnen bewusst, dass noch mehr als tausend Meilen Fluss zwischen ihnen und ihrer Freiheit lagen. Die Nacht verlief ruhig, der Morgen geordnet. Sie hatten ein gewisses Geschick und auch die nötige Geduld entwickelt, um Wasserläufe mithilfe des kleinen, an Seilen hin-und hergezogenen Kanus zu überschreiten und auf dem Marsch zusammenzubleiben. Ohne weitere Rast, im Gehen essend, trinkend, erreichten sie die Gegend um Myrtle Grove schon am zweiten Abend. Nun musste festgestellt werden, ob das Schiff sicher war, und wer war besser für diese Aufgabe geeignet als ihr Lotse?
Gowers wartete die völlige Dunkelheit der Mitternacht ab und ging erst los, als außer ihm selbst niemand mehr einen Pfad erkennen konnte. Geräusche und Gerüche wurden ihm allmählich vertrauter, als er sich dem großen Fluss näherte, und er sah bereits die beiden Schornsteine der Deep South schwarz gegen den sternklaren Himmel, als er hörte, wie sich ein schwerer, lastender Körper auf die Uferböschung zog und sich in kurzen, knackenden Schüben durchs Unterholz wälzte. Zu der Sorge, was ihn an Bord erwarten würde, kam die Frage, was sein Entermesser gegen die Alligatoren ausrichten könnte, wenn sie auf ihrer nächtlichen Jagd waren.
Dennoch konnte er weder warten noch auf einen der Bäume klettern und musste sogar an der dunklen Uferböschung nach der drei Meter langen Planke suchen, die man einige Hundert Yards neben dem Schiff versteckt hatte. Zum ersten Mal auf der gesamten Reise standen ihm die Haare zu Berge, als er sie, mit beiden Händen im feuchten Gestrüpp tastend, endlich gefunden hatte. Jeden Moment glaubte er, das Zuschnappen gewaltiger Kiefer zu hören, und atmete auf, als er, die Planke über der Schulter, wieder auf dem halbwegs freigeschlagenen Pfad stand, der zum Schiff führte.
So geräuschlos wie möglich legte er die Planke an und befand sich einen Moment später an Deck. Er inspizierte kurz das Schiff vom Bug bis zum Heck und fand alles unverändert. Erst als er das Innere betrat, verriet ihm ein schwacher, rötlicher Schimmer aus dem Kesselraum, dass er nicht allein an Bord sein konnte. Vorsichtig, das altertümliche Entermesser vorgestreckt, schlich er zu der entsprechenden Tür. Eine Sekunde lang überlegte er, ob er einfach mit einem Schrei hineinstürzen sollte, aber dann entschied er sich dafür, sie lieber mit dem Fuß aufzustoßen.
Die Wucht, mit der die eiserne Kohlenschaufel in Höhe seines Kopfs gegen die Türfüllung knallte, ließ das ganze Schiff erzittern, und Gowers beglückwünschte sich zur Richtigkeit seiner Entscheidung, während er sich auf den Mann stürzte, der den Griff der Schaufel in der Hand hielt und noch nicht zu einem zweiten Schlag ausholen konnte.
»Himmel, Mr. Gowers!«, rief der Mann, ehe es zu schwerer wiegenden Tätlichkeiten kommen konnte.
»Kapitän?!«, sagte Gowers erleichtert, und im gleichen Moment mussten beide laut lachen, weil sie sich noch immer gegenseitig am Kragen gefasst hielten.
»Das nenne ich eine Begrüßung«, sagte John Lafflin schließlich. »Zwanzig Jahre jünger, und Sie wären Matsch gewesen!«
Gowers konnte nicht umhin festzustellen, dass auch so nicht viel gefehlt hatte, und fügte hinzu: »Wenn dieses Messer kein Säbel wäre, würde es jetzt in Ihrem Bauch stecken, Sir.«
»Warum zum Teufel schleichen Sie sich an wie ein Wilder?« Lafflins Heiterkeit verwandelte sich in Ärger.
»Und Sie? Was treiben Sie hier im Dunkeln wie Hamlet in Helsingör?«
Aus Ärger wurde wieder Erleichterung.
»Ich bin heute Nachmittag hier angekommen und habe ein paar Stunden an Deck gewartet, aber dann hatte ich plötzlich die Idee, dass Sie vielleicht Verfolger am Hacken haben, wenn Sie kommen, und dachte, es könnte nicht schaden, den Kessel vorzuheizen. Dann hörte ich jemanden an Deck herumschleichen und glaubte, dass es meine Hacken wären, an denen die Verfolger kleben. Wo sind die anderen?«
»Warten auf mein Signal. Wir wussten ja nicht, wer sich hier inzwischen herumtreiben würde.«
»Alles glattgegangen?«
»Wir mussten uns ein wenig schlagen, aber es sind alle da, wenn Sie das meinen.«
»Erzählen Sie«, verlangte Lafflin und korrigierte sich sofort. »Oder nein. Holen wir erst die Leute an Bord, dann müssen wir nicht alles dreimal erzählen!«
91.
James Fagan schlief sehr friedlich, seit sein Schiff Australien verlassen hatte. Ihn hatte kein schlechtes Gewissen, hatten nicht die Erinnyen umgetrieben, sondern allein die Angst, ganz zuletzt doch noch erwischt zu werden. Diese Furcht war nun gebannt. Er konnte sogar wieder über seine Tat nachdenken.
Ja, es war falsch gewesen, die Kinder umzubringen; besser, er hätte sie irgendwo versteckt und die Erpressung fortgesetzt, Nell und die anderen aus dem Gefängnis geholt. Aber wie hätte er das machen sollen, allein und auf sich gestellt? Außerdem war da diese Frau gewesen, sie zumindest hatte er töten müssen, sagte er sich. Das Einzige, was er wirklich bedauerte, war die Tatsache, dass er sein Messer zurückgelassen hatte. Dachte er dagegen an Jonathans verzerrtes Gesicht, an Mairies weißen Körper, an die erstickten Laute aus ihrem Mund, bekam er fast immer eine Erektion und ging auf einen der Aborte dicht über der Wasserlinie, um sich Befriedigung zu verschaffen.
Fagan konnte natürlich weder lesen noch schreiben. Frank Sykes hatte ihm einiges berichtet, was in den Zeitungen stand, aber irgendwann aufgehört, mit ihm zu reden. Jamie wusste also, dass Nell tot war, hatte den Namen John Gowers gehört und sich zusammengereimt, dass dies der Mann war, dem sie den ganzen Schlamassel zu verdanken hatten. Aber Angst hatte er auch vor ihm nicht, nicht, seit er in der Armee und auf dem Weg nach Neuseeland war. Wer sollte ihn dort noch finden? Und gesetzt den Fall, jemand würde es versuchen, wer kannte den Namen James Bradley? Nur um ganz sicherzugehen und weil er absolut keine Lust verspürte, irgendwelchen idiotischen Befehlen länger zu gehorchen als unbedingt nötig, beschloss James Fagan, noch ehe er in Wanganui Town an Land ging, so bald wie möglich zu desertieren. Das allerdings war nicht ganz einfach.
Wanganui Town lag auf der Westseite des trägen, breiten Wanganui River. Die britischen Kolonialtruppen in Neuseeland, deren größter Teil zwanzig Jahre lang hier stationiert gewesen war, hatten einmal einen Versuch gemacht, eine Brücke über den Fluss zu bauen, aber aufgrund seiner Breite und der Unberechenbarkeit seiner Sandbänke hätte das Projekt mehr als die Hälfte ihres Jahresbudgets verschlungen, sodass sie sich schließlich mit einer Drahtfähre zufriedengaben. Im Oktober 1867, zur Verabschiedung der britischen Armee, hatte der französische Seiltänzer Monsieur Vertelli den Fluss auf diesem Drahtseil laufend überquert, aber sein Angebot, Passagiere in einer Schubkarre hinüberzubefördern, hatte niemand wahrgenommen.
Tatsächlich waren die vorgesetzten Offiziere sowohl der Briten als auch der neu geschaffenen neuseeländischen Armee insgeheim dankbar dafür, dass die Überquerung des Wanganui so viele Schwierigkeiten machte – denn auf seinem Ostufer begannen die Straße nach Wellington und der Weg in die Zivilisation. Die Westseite, auf der noch immer die beiden nun beinahe menschenleeren britischen Forts York und Rutland lagen, war für potenzielle Deserteure viel unattraktiver: Man konnte dort nur nach Westen oder Norden fliehen, jedenfalls in die Wildnis, den undurchdringlichen Busch oder den schmalen, mehrheitlich von loyalen Veteranen besiedelten Küstenstreifen.
James Fagan war nicht allein mit seinem Entschluss. Viele entwurzelte Existenzen nutzten die Gelegenheit der Anwerbung, um eine kostenlose Passage nach Neuseeland zu bekommen und dann dort, auf der friedlichen, kalten Südinsel, nach der Unmenge Gold zu suchen, von der man in jeder Hafenkneipe Australiens und der Südsee redete. Die Otago-Halbinsel war das neue El Dorado, dem einige dieser Männer bereits seit einem Menschenleben und um die ganze Welt nachgejagt waren. Es war also für Fagan verhältnismäßig leicht, Fluchtgenossen zu finden und sich einer kleinen, entschlossenen Gruppe von Deserteuren anzuschließen.
Krczynski war ein Pole, dessen Namen niemand aussprechen konnte und der deswegen von allen Bob genannt wurde. Wenn alles stimmte, was er erzählte – und er erzählte eine Menge –, hatte er sich als junger Mann in seiner Heimat mit allerhand Deutschen, Russen und Österreichern, Kaisern, Königen, Großfürsten herumgeschlagen, die einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt hatten. Er war erst nach Frankreich und dann zur See gegangen, war 1849 nach Sacramento gekommen, 1853 nach Ballarat und redete viel von den Goldgräberrepubliken, die er immerfort mitbegründet hätte.
Seit dem Mittelalter waren es Unruhige wie Krczynski gewesen, die am unteren sozialen Rand politischer und religiöser Bewegungen oder aus purer wirtschaftlicher Not die Fesseln der Stände-und Klassengesellschaften Europas zu sprengen versuchten und in Soldaten-, Seeräuber-oder eben Goldgräberrepubliken ihre kurzlebige Heimat fanden. Sie waren die revolutionäre Hefe, in der die großen Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit jahrhundertelang gärten, ehe sie das politische Licht der Welt erblickten. Die gescheiterten Revolutionen von 1848 hatten Männer wie ihn um den Globus getrieben, wie der Wind wilde, zähe Samenkörner über trockenen Boden treibt. Die meisten gingen elend zugrunde; verhungert, erschlagen, korrumpiert und zu Tode gesoffen, namenlos untergegangen im großen Sumpf der Geschichte. Aber einigen wenigen verdankte ebendiese Geschichte manches von dem, was wir heute Menschenrechte und Demokratie nennen.
James Fagan war das begreiflicherweise egal. Für ihn war Bob ganz einfach ein Macher, ein guter Organisator, unter dessen Fittichen ihm am wenigsten Gefahr drohte. Sie desertierten in bester militärischer Ordnung. Krczynski war noch auf dem Schiff aufgrund seiner Erfahrung, seines Einflusses auf die Männer und seiner Aufdringlichkeit zum Korporal avanciert, und niemand hatte etwas dagegen, dass er mit seiner Gruppe zu einer Geländeübung nach Norden aufbrach. Als er am nächsten Tag nicht zurück war, glaubte McDonnell sogar, die kleine Truppe hätte sich verirrt oder sei in Schwierigkeiten, und schickte ihnen ein paar Männer hinterher, die sie suchen und zurückbringen sollten.
Natürlich hatten die Deserteure da bereits die Stadt umgangen, den Wanganui schwimmend, an Seilen gesichert, überquert und sich nach Osten davongemacht. Krczynski war sogar so klug gewesen, seine Gruppe zu teilen, hatte dem dümmeren Teil den Auftrag gegeben, auf den umliegenden Farmen Zivilkleider zu stehlen, und diesen Männern gegenüber stets die Hawke Bay als sein Ziel angegeben. Die meisten von ihnen wurden erwartungsgemäß geschnappt, und die Übrigen fanden keinen Anschluss mehr an den Haupttrupp, der jetzt auf der Straße nach Süden unterwegs war, ganz offen, getarnt als Abteilung auf der Jagd nach Deserteuren. Noch ehe man das Ganze durchschaut und berittene Melder losgeschickt hatte, hatten die Deserteure das hundertfünfzig Meilen entfernte Wellington erreicht,wo sie sich zum zweiten Mal aufteilten.
Krczynski hatte sie Tag und Nacht so vorangetrieben, dass die meisten, unter ihnen James Fagan, nur noch an Schlafen, Trinken und Frauen dachten. Obwohl Wellington seit fünf Jahren Sitz des Parlaments und seit drei Jahren Hauptstadt von Neuseeland war, ging die Bevölkerungszahl doch noch nicht wesentlich über sechstausend Einwohner hinaus. So fiel es der Polizei relativ leicht, auch dieser Handvoll Desperados in der überschaubaren Zahl entsprechender Etablissements in Lambton Harbour habhaft zu werden. Nur der schlaue Pole und zwei oder drei andere hatten sich mit dem erstbesten Schiff auf die Südinsel abgesetzt. Krczynski hatte sich dabei, wohl um ganz sicherzugehen, den Namen James Bradley angeeignet.
92.
Sie umrundeten Taupo Lake auf dem gut ausgetretenen Fußpfad, der auf der Ostseite um den See herumführte. Die genossene Ruhe und die anhaltende Trockenheit begünstigten ihren Marsch so sehr, dass sie binnen zweier Tage das südliche Ufer erreichten, obwohl sie dabei nicht weniger als siebzehn kleinere Flüsse und Wasserläufe zu überqueren hatten. Am sandigen Ufer des Tokanui, der von den Hängen des Pihanga herabströmte, rasteten sie, fischten, und von Tempsky führte eine kleine, aber gut bewaffnete Truppe noch weiter um den See herum, um sich in der Maorisiedlung Pukawa »bekannt zu machen« und nach Möglichkeit frisches Fleisch einzutauschen. Man wies sie jedoch bereits an der Palisade des Pas ab, und Gowers musste sich eingestehen, dass er selten eine so eindrucksvolle Menge so grimmig dreinblickender Männer gesehen hatte, die sich in voller Bewaffnung auf der Palisade zeigte.
»Wer sind diese Burschen, Sir?«, fragte er von Tempsky, als sie sich auf den Rückweg der fruchtlosen Unternehmung machten.
»Sie gehören zu den Ngati Tuwharetoa«, antwortete der Kommandant. »Dieser Stamm ist noch heidnisch.« Er sagte nicht, wie sehr er die Hartnäckigkeit bewunderte, mit der die Tuwharetoa fünf Jahrzehnten christlicher Missionierungsversuche widerstanden hatten, noch erwähnte er, dass ihr Häuptling, Iwiako Te Heuheu, sich in geselliger Runde gern der Tatsache rühmte, einen der letzten weißen Missionare, denen dieses Schicksal in Neuseeland widerfuhr, persönlich verspeist zu haben. Dagegen äußerte er die sichere Vermutung, dass Gowers einige der Herren »vielleicht noch heute Abend, spätestens morgen früh« persönlich kennenlernen würde.
Zurück am Tokanui sammelte er seine Männer, was nicht einfach war, da sie sich an den über fünfhundert heißen Quellen, die die Erde zwischen Pihanga und Kakaramea auftat, schon weit verstreut hatten. Überall lagen sie nackt und unbewaffnet in den Puias und mieden nur die hier und da aufsteigenden kleinen Geysire, die ihnen unheimlich waren. Hätte von Tempsky durch seinen kleinen Abstecher die Tuwharetoa, die natürlich längst von der Ankunft der Pakeha wussten, nicht gewissermaßen in ihrem Dorf festgehalten, wäre seine Truppe vermutlich an diesem Tag aufgerieben worden.
Die folgende Nacht verging ohne einen Laut, und als die Sonne aufging, schwiegen sogar die Morgenvögel, Kokorimoko und Tui, die sie bisher zuverlässig geweckt hatten; ein sicheres Zeichen dafür, dass Menschen in dem sie umgebenden Wald steckten. Sie sahen allerdings niemanden, und von Tempsky hatte eben den Aufbruch befohlen, als sich jenseits einer felsigen Lichtung mit vielen Puias doch noch jemand zeigte.
Das vollkommen nackte Mädchen mochte dreizehn, höchstens vierzehn Jahre alt sein. Sie war, wie alle Maorimädchen, schon sehr weit entwickelt, besaß aber noch nicht die üppige Fraulichkeit der Wahine, sondern lange, schlanke Beine, wohlgeformte, aber kleine Brüste und einen Schoß, in dem eben der erste Flaum gewachsen war, sodass man ihre Schamhaare auf der braunen Haut noch kaum sehen konnte.
Sie stieg in eine der warmen Quellen, warf übermütig das Wasser über ihren Kopf, sodass die langen schwarzen Haare auf ihrem Rücken klebten, als sie wieder auftauchte und ihr schlanker Körper in der Morgensonne den zweihundert Männern entgegenblitzte. Von Aufbruch konnte jetzt keine Rede mehr sein, und selbst Gowers, der in den Bordellen der Welt schon manches gesehen hatte, konnte sich nicht erinnern, jemals so anmutigen Reizen so tatenlos gegenübergestanden zu haben. Denn dass dies ein Hinterhalt war, eine Verlockung nicht zur Liebe, sondern zum Tod, verstand jeder einzelne der zum Teil noch sehr unerfahrenen jungen Soldaten.
Dennoch konnten sie kein Auge von dem herrlichen Waldwesen lassen, das jetzt lächelte und sie sehr einladend zu sich auf die Lichtung winkte. Sie rief, sie reizte, sie sang – aber die Männer rührten sich erst, als von Tempsky befahl, die Waffen zu entsichern und den Wald hinter ihr ins Visier zu nehmen. Anscheinend verärgert über diese lieblose Reaktion rief das Mädchen etwas in den Wald hinein, und daraufhin kamen nach einer Weile noch mehr Frauen zum Vorschein, bis gut ein Dutzend Nymphen auf den Felsen und in den Puias sein Unwesen trieb, um die Pakeha aus der Deckung zu locken.
Über einen Mangel an Modellen konnte von Tempsky sich jetzt nicht mehr beklagen, und vielleicht brachte ihn gerade diese Tatsache auf die Idee, wie er den Rückzug seiner Männer auf die Passhöhe des Kakaramea bewerkstelligen könnte, ohne dass ihnen die Tuwharetoa auf dem Fuß folgten. Er gab die nötigen Befehle und trat dann dem unsichtbaren Feind mit nicht mehr als Pinsel und Palette bewaffnet entgegen. Seine Staffelei trug kein anderer als John Gowers auf die Lichtung, und zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine sehenswerte Pantomime über den richtigen Standort des Künstlers. Die Ngati Tuwharetoa waren zivilisiert genug, das stumme Spiel zu verstehen, war ihnen die Nacktheit ihrer Frauen doch schon peinlich gewesen, als Iwiako Te Heuheu diese uralte Kriegslist am Abend zuvor vorgeschlagen hatte.
Von Tempsky begann nun mit großen Gesten zu malen, während Gowers den Hang hinaufschlenderte, um zu sehen, wie weit der Rückzug schon vonstattengegangen sei. Die Frauen reagierten unterschiedlich auf die professionell geschärften Blicke, mit denen der Künstler Maß nahm. Die meisten zeigten ihm sehr gemeinverständlich, was er mit ihnen tun könne, aber einige dachten anscheinend wirklich, sie würden gemalt, und saßen, glitzernde Wassertropfen in den Haaren, so still wie nur je ein Modell in einem Pariser Atelier.
Vereinzeltes Gelächter im Wald hatte die Krieger so offensichtlich bereits verraten, dass Iwiako jetzt einen Kriegsgesang anstimmen ließ; um die Kampflust seiner Männer neu anzufachen und auch um zu verhindern, dass sie sich untereinander mehr als nötig über die seltsame Szene austauschen konnten.
»Ka whahai, ka whahai!
Kihai koe i mau atu, ki to kainga.
Ki Oropi, e. I te ainga mai a wharewhare.
Ki a Ihu Karaiti, me te pukapuka, ki taka ki tua,
Ki taekaukau o taku kumu kei raro. – i, i!«7
Von Tempsky verstand genug von diesem Text, um zu wissen, dass er erhebliche Provokationen enthielt, und wollte sich seinerseits nicht lumpen lassen, obwohl er um die mangelhafte Qualität seiner Stimme wusste. Leider fiel ihm kein geeignetes Lied ein, und so hielt er mit dem einzigen »Kriegsgesang« dagegen, der ihm aus seiner Kindheit und seiner preußischen Erziehung im Gedächtnis geblieben war.
»Die wilde Jagd und die deutsche Jagd
Auf Henkersbrut und Tyrannen!
Ihr, die ihr uns liebt: nicht geweint und geklagt,
Das Land ist ja frei und der Morgen tagt,
Auch wenn wir’s nur sterbend gewannen!«
»Lützows wilde verwegene Jagd« klang zwar höchst unangemessen, als es von den Hängen des Kakaramea widerhallte, aber es war ja ohnehin niemand da, der den Text verstand. Verblüfftes Schweigen aufseiten der Tuwharetoa blieb auch die einzige Antwort.
Nach weniger als fünfzehn gespannten Minuten kam John Gowers zurück und stutzte verwundert, als er sah, dass sein Vorgesetzter sich wieder ganz der gegenständlichen Malerei ergeben hatte. Diesmal hätte er es auch mit Fug und Recht eine Erniedrigung der doch eigentlich sehr ansprechenden Realität nennen können, aber während von Tempsky sein Werk mit ausgestreckten Armen begutachtete und er selbst die Staffelei zusammenklappte, meldete Gowers lediglich: »Alle oben, Sir. Weg ab einhundert Meter von hier durch Scharfschützen gesichert, keine Gegner auf dem Pass!«
»Dann sollten wir hier verschwinden«, erwiderte von Tempsky, und beide, der Gehilfe mit der Staffelei über der Schulter und der Künstler mit seinem Bild unter dem Arm, schlenderten seelenruhig zurück in den Schatten der Bäume. Erst ganz zuletzt hielt von Tempsky inne, als sei ihm noch etwas Wichtiges eingefallen. Dann lehnte er das Bild an einen Baumstamm und drehte es so, dass der Feind es sehen konnte. Eine Sekunde herrschte gebanntes Schweigen, denn es war nichts darauf zu erkennen als die formatfüllende Karikatur eines üppigen Hinterns, der so rund geraten war, dass er die Tuwharetoa mit beiden Backen anzugrinsen schien.
Da ihre Männer nichts gegen diese Beleidigung unternahmen, vereinzelt sogar wieder in Gelächter ausbrachen, warfen die düpierten Damen mit Steinen nach dem Künstler, und während Gowers die ersten Scharfschützenposten schon erreicht hatte, verbeugte sich von Tempsky noch mit lässiger Grandezza vor seinem Publikum. Das rettete ihm insofern das Leben, als die Gewehrsalve, die nun doch noch abgefeuert wurde, über ihm in die Bäume einschlug. Ein paar verirrte Kugeln hatten auch das provokante Gemälde getroffen. Länger zu bleiben wäre sinnloser Heroismus gewesen – Die Tat ist alles! –, und nun endlich nahm von Tempsky die Beine in die Hand und floh vor den zum Narren gehaltenen Feinden.
»Banausen!«, schrie er noch auf die Lichtung zurück, als die ersten Maorikrieger sie schon fast überquert hatten.
93.
»Dass ihr mir ja keinen trefft!«, mahnte von Tempsky die ersten seiner Scharfschützen und von da an alle, an denen er vorüberkam. »Schön hoch halten.«
»Sir?«, fragte einer der Männer stirnrunzelnd.
»Im Augenblick wollen sie uns nur vertreiben, Mann«, knurrte der Deutsche. »Jedenfalls, nachdem es mit dem Überfallen schon nicht geklappt hat. Aber wenn wir auch nur einen von ihnen erschießen, wird ein Fall von Blutrache daraus, und sie werden auch an den fernsten Grenzen ihres Gebiets nicht aufhören, uns zu jagen!«
Diese Vorstellung behagte niemandem, denn nun lag der schlimmere Teil ihres Wegs vor ihnen: die wüsten Lavaebenen rund um die großen Vulkane und danach der undurchdringliche Wald mit seinen tief eingeschnittenen Flusstälern, die sich zwischen den steilen grünen Hängen einer weglosen Wildnis hindurchwanden, die nicht einmal die Maori ohne Not zu betreten wagten. In dieser Gegend zu allem Überfluss noch nach Blut schreiende Feinde auf den Fersen zu haben wäre mehr als unangenehm. Gehorsam feuerten deshalb die Männer über die Köpfe der hier und da auftauchenden, sehr selbstbewussten Verfolger hinweg, während auch sie sich, einer immer in der Deckung des anderen, die Hänge des Kakaramea hinauf zurückzogen. Erst oben angekommen ließ von Tempsky eine Schützenlinie bilden, die Salve auf Salve in den tiefer liegenden Wald hinunterfeuerte, während das Gros der Truppe immer weiter auf das allmählich karger werdende vulkanische Hochplateau hinausmarschierte.
Am frühen Nachmittag sah Gowers, diesmal bei der Vorhut, aus einer Höhe von gut tausend Metern auf einen Kratersee hinab, dessen Wasser so unglaublich blau war, dass er es zunächst für eine bloße Spiegelung des darüberliegenden Himmels hielt. Die Verfolgung hatte noch immer nicht aufgehört, darum entschied von Tempsky, dass sie ohne weiteres Gefecht durch die baumlose Lavaebene auf den schneebedeckten Tongariro zuhalten würden. Dieser Berg war tabu, und so bestand die Hoffnung, dass ihnen die Tuwharetoa auf ihrem Weg nicht länger folgen würden.
Als sie aus der kahlen Ebene zurückschauten, sahen die Männer ihre Gegner jetzt zum ersten Mal; klein und schwarz gegen den hellen Himmel erhoben sich auf den scharfen Graten der Berge wilde, pittoreske Gestalten, und durch sein Fernrohr erkannte von Tempsky an einzelnen Gesten und Gebärden, dass sie noch immer unschöne Dinge mit Jesus Christus und der Bibel im Sinn hatten. Vereinzelt stiegen sogar Krieger die schartigen Hänge hinunter, ihnen nach, und der Kommandant wusste, dass dies die gefährlichsten waren: blutrünstige junge Männer, wild versessen auf ihren ersten Kampf und die menschlichen Trophäen, die sie daraus heimbringen würden. Er beschloss, die Nacht durchzumarschieren und Iwiako Te Heuheu damit Gelegenheit zu geben, seine Leute wieder unter Kontrolle zu bringen.
Die karge dunkle Ebene, die von oben so glatt ausgesehen hatte, erwies sich unter ihren Füßen als eine Wüste aus Stein und Geröll; Lavabrocken, von denen einige beinahe mannshoch waren. Glücklicherweise war aber der Tongariro zu groß, als dass sie seinen zerrissenen weißen Kratergipfel aus den Augen verlieren konnten. Bei Einbruch der Dunkelheit hielten sie jedoch kurz an, um sich über die Richtung klar zu werden, die sie während der Nachtstunden zumindest ungefähr einhalten mussten.
Bei dieser Gelegenheit erbot sich John Gowers, die Führung zu übernehmen. Obwohl einige seiner Offiziere, die die Gegend verhältnismäßig gut kannten, dagegen protestierten, einem Neuling, noch dazu einem einfachen Trooper zu folgen, ließ von Tempsky ihn bereitwillig vorangehen. Zwar wusste er nichts vom ungewöhnlichen Sehvermögen des Investigators, traute ihm nach den gemeinsam verbrachten Wochen und den Überraschungen, die er ihm auf See und zu Land schon bereitet hatte, aber allerhand zu.
Der Nachtmarsch verlief auch weitgehend ereignislos, wenn man von den vereinzelten Schüssen absah, die weit hinter ihnen nur mehr verrieten, dass auch die letzten Maori die Verfolgung endlich aufgegeben hatten. Wie in einem Traum, in dem die Wachsamkeit jederzeit in Alb und Bedrohung umschlagen kann, stolperten sie durch ein Labyrinth wirr gezackter, schwarzer Felsformationen und fragten sich, wie ihr Führer inmitten dieses erstarrten Schöpfungschaos seinen Weg finden konnte. Manchmal glaubten sie, auf der Spitze des Berges, der drohend erst vor und dann links neben ihnen in den sternlosen Nachthimmel ragte, ein schwaches rotes Leuchten wahrzunehmen, und der Gedanke an die vulkanische Aktivität unter ihren Füßen verbesserte ihre Stimmung nicht wesentlich.
Es begann zu schneien, sie mussten schon sehr hoch oben sein und würden bald den schneidenden Südwind in ihren Gesichtern spüren, der anzeigte, dass sie die große Scheide von Wasser-und Luftmassen überschritten hatten. Als der Mond einmal kurz durch die Wolken brach, sahen sie, dass das Land ringsum völlig weiß geworden war, während die kleinen scharfen Schneekristalle an ihrer Kleidung nicht zu haften schienen und um sie herumtorkelten wie Sandkörner. Einen Moment lang blinkte sogar der Gipfel des Tongariro, den sie jetzt schon fast hinter sich hatten, über diesem Gewimmel auf wie ein Leuchtfeuer. Keiner sprach, keiner wagte auch nur, sich zu räuspern, in der seltsamen Stimmung, die sie bei diesem Anblick überkam, und lautlos wie ein Gespensterheer zogen sie über das vulkanische Hochplateau weiter.
Von Tempsky, übermüdet wie alle anderen, hörte in seinem Kopf nicht mehr die wilde verwegene Jagd, sondern die Erinnerungen, die die Melodie ausgelöst hatte; Erinnerungen an Schlesien und die Mährische Pforte, an kleine dunkle Häuser, die sich an die Flanken von Odergebirge, Glaserberg und Altvater schmiegten – und an die Stimme seiner Großmutter, die ihm vor über drei Dezennien am Herdfeuer seiner ersten Behausung auf Erden ein Kinderlied sang, an das er all die Jahre und Länder hindurch nicht mehr gedacht hatte.
Und in dem Schneegebirge, da fließt ein Brünnlein kalt. Und wer des Brünnleins trinket, und wer des Brünnleins trinket, wird jung und niemals alt.
Er wusste, dass es noch mehr als diese eine Strophe gab, aber auch als er sein Gedächtnis so sehr strapazierte, dass er den Weg vor seinen Füßen kaum noch wahrnahm, wollte ihm kein einziger Vers mehr einfallen.
94.
Obwohl keine ihrer Verletzungen lebensbedrohlich war, hatte Darioleta den ganzen Tag über geweint und geschrien. Selbst als die alte Misses damit gedroht hatte, ihr nach den Ohren auch noch die Nase abzuschneiden, wenn sie nicht endlich still wäre, hatte sie keine Ruhe gegeben, sondern versucht, ihre Herrin anzuspucken – in der Hoffnung, diese würde sie daraufhin töten. Dem verstümmelten Mädchen war alles egal. Ohne Ohren und Schneidezähne würde kein Mann sie mehr ansehen, an ihren zerschnittenen Brüsten würde niemals ein Kind liegen, und ihr Gesäß hatten die grausamen Schläge in eine blutunterlaufene Masse verwandelt. Madame Bonneterre hatte schließlich ein Einsehen und flößte ihr gewaltsam eine mäßige Dosis Morphiumtinktur ein, die Darioleta endlich einige Stunden Frieden schenkte.
Desmond Bonneterre hatte sich nach den Anstrengungen der Nacht in sein Zimmer zurückgezogen und sogar den lautstarken Aufbruch der Miliz verschlafen. Seine Kämpfe und Verletzungen, aber auch seine Erfolge als Verhörspezialist enthoben ihn jeder weiteren Dienstpflicht, die ja ohnehin nur noch eine Art Aufräumen war. Er hatte den Männern den Weg gewiesen, die Informationen beschafft, die gebraucht wurden. Seine Arbeit war getan. Nach dem Aufwachen am frühen Nachmittag hatte er sich ein opulentes Mahl servieren lassen, dessen Reste noch auf dem Tisch standen. Anschließend hatte er die Tür abgeschlossen und den blutigen kleinen Leinenbeutel hervorgeholt, der Darioletas Ohren und Zähne enthielt. Neben dem feinen weißen Porzellan, zwischen Silberbesteck und Sauciere, breitete er diese Trophäen aus und genoss die erregenden Wogen des Machtgefühls, mit denen der Anblick sein krankes Gemüt überschwemmte.
Die Ohren, ausgeblutet bis auf die schwarz verkrusteten Schnittränder, waren grau geworden und schrumpften bereits ein. Er befingerte sie, zog daran, schob sie auf dem weißen Tischtuch hin und her und kicherte, als er kurzzeitig das linke nicht mehr vom rechten unterscheiden konnte. Dann versuchte er, die ausgeschlagenen Zähne in der richtigen Reihenfolge zwischen die Ohren zu legen. Aber einige waren abgebrochen, und er konnte nicht entscheiden, ob sie in den Ober-oder Unterkiefer gehört hatten. Der plötzlich auftauchende Gedanke, dieses makabre Spiel vor den Augen des unglücklichen Mädchens zu treiben, verschaffte ihm eine gewaltige Erektion. Er hatte gerade begonnen, seine Hose aufzuknöpfen, um sich die übliche Erleichterung zu verschaffen, als es klopfte.
»Sir!?«, fragte ein Hoteldiener schüchtern.
»Was, zum Teufel?!«, rief Bonneterre seiner Situation gemäß ungehalten.
»Madame Bonneterre wünscht, Sie zu sprechen, Sir!«
»Ich komme gleich.« Vielleicht wäre es auch möglich, aus den Zähnen eine Halskette zu machen.
»Entschuldigung, Sir, aber Madame Bonneterre besteht auf Ihrer sofortigen Anwesenheit!«, sagte der Quälgeist vor der geschlossenen Tür.
Er fühlte, wie seine Erektion schwächer wurde; weniger, weil von seiner Mutter die Rede war, sondern mehr wegen der bodenlosen Dreistigkeit dieses unnachgiebigen Störenfrieds. Zu Hause wäre das nicht passiert! Weder der alte Arban noch sonst einer der Hausnigger hätte es gewagt, ihn wegen einer solchen Sache zweimal anzusprechen. Ratlos zögerte er noch eine Sekunde, dann schob er Ohren und Zähne zusammen und wollte sie mit einer einzigen raschen Handbewegung in den Leinenbeutel wischen. Aber der Rand des Beutels bog sich um, und er verstreute sein grausiges Spielzeug stattdessen im ganzen Zimmer.
»Verdammt noch mal!«, fluchte Bonneterre.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«, fragte der Hoteldiener, der nur ein unidentifizierbares leises Klappern gehört hatte.
»Nein!«, brüllte der junge Kreole wütend und sammelte, mit offener Hose auf dem Boden kniend, Darioletas Zähne wieder ein. Dabei verschwand seine Erektion endgültig, aber er musste auch laut lachen, als er sich das Gesicht dieses Idioten vorstellte, wenn er ihn hereingebeten hätte: Da unterm Bett liegt noch ein Backenzahn!
95.
Marie-Therese Helisena Milisande Bonneterre war nach reiflicher Überlegung zu einem harten Entschluss gelangt. Zwar freute sie sich, dass Desmond den widerspenstigen Nigger zuletzt doch noch zum Sprechen gebracht hatte und die Wiederbeschaffung der flüchtigen Sklaven damit zu einer bloßen Formsache geworden war. Aber sie hatte auch in die Gesichter ihrer Nachbarn und Freunde geblickt – gestern Nacht, während Desmond das Mädchen folterte – und darin nur Abscheu und Verachtung für ihren Sohn gesehen. Sie teilte diese Gefühle nicht, vielleicht, weil er die Veranlagung zur Grausamkeit von ihr geerbt hatte. Es war ihr auch ziemlich gleichgültig, dass ihm diese Dinge mehr Spaß machten, als einem erwachsenen Mann zukam, aber der Gefahr, dass er mit seinen Neigungen dem Ansehen des Hauses Bonneterre schaden könnte, musste endlich und endgültig begegnet werden.
Sie würde tun, was sie schon nach der Geburt seines Sohnes, des Erben Bonneterre, hätte tun sollen: Sie würde Desmond nach Europa schicken. Eine ausgedehnte Reise, eine stattliche Apanage, ein, zwei, drei Jahre. Die Änderung ihres Testaments würde sie ihm dann schriftlich mitteilen. Am besten, er käme gar nicht erst wieder mit nach Baton Rouge. Für die Verwaltung der Plantage hatte er sich ja ohnehin nie sonderlich interessiert, nur für die Einnahmen, die sie für ihn abwarf. Und die würden ihm ja bleiben; wenn man sie auch nach und nach kürzen könnte.
Desmond Bonneterre nahm die honigsüß verpackte Aufforderung, sich gefälligst ein eigenes Königreich zu erobern, äußerlich gelassen auf. Seit er Vater geworden war, hatte er mit so etwas gerechnet. Seine Mutter und er waren einander zu ähnlich, um dauerhaft unter dem gleichen Dach leben zu können. Es gab nur eine Krone, und sie gehörte nicht ihm. Und hätte er zumindest in Amerika bleiben dürfen, gleich ob im Osten oder Westen, er hätte sich vermutlich ihren Wünschen gefügt. Da er aber auch ihre Intelligenz geerbt hatte, wusste er, dass ihre Aufforderung zu einer Kavaliersto ur durch das alte Europa nichts anderes als die Enterbung bedeutete. Das konnte er natürlich nicht hinnehmen, auch wenn er sehr überzeugend so tat. Er heuchelte eine Liebe zu Frau und Kind, die er nie empfunden hatte, und hoffte, dadurch zumindest Zeit zu gewinnen, die seine Mutter ihm schließlich auch zugestand. Erst zurück in seinem Zimmer kam ihm im Verlauf des trüben Abends ein anderer, größerer Gedanke.
Gandalod lebte noch, obwohl er alles versucht hatte, um sich zu töten. Das Mädchen, das er liebte, hatte man vor seinen Augen verstümmelt; die Menschen, denen er verpflichtet war, hatte er verraten und war nun in der Hölle, ohne gestorben zu sein. Unter den fürchterlichsten Verrenkungen war es ihm am frühen Morgen gelungen, trotz seiner auf den Rücken gefesselten Hände die Kette an seinen Füßen um seinen Hals zu schlingen, aber dann fehlte ihm die Kraft, sich selbst zu erwürgen. Er schrie in seinen fruchtlosen Bemühungen, und seine Bewacher feuerten ihn an, lachten ihn aus und steckten schließlich einen mit Jauche getränkten Knebel in seinen Mund. So lag er den ganzen Tag über, bis er zu schwach war, auch nur zu weinen.
Als Bonneterre am späten Abend in die Scheune kam und die Wachen wegschickte, hoffte Gandalod, er würde nun endlich umgebracht, und schloss erschöpft die Augen. Tatsächlich steckte der junge Mann zwei Finger der linken Hand in Gandalods gebrochene Nase, zog sie aber lachend wieder heraus, als er fühlte, wie die Natur die Oberhand gewann und der Gefangene nach Luft schnappte. Dann entfernte Bonneterre mühsam die um den Hals geschlungene Kette, brachte Gandalod in eine sitzende Position und lehnte ihn mit dem Rücken gegen den schlanken Stützpfeiler, an den seine Füße gekettet waren.
Fast sofort, nach wenigen Sekunden des Verschnaufens und der Überlegung, begann Gandalod, mit dem Kopf gegen das harte Holz zu schlagen, und drehte sich nach einigen fruchtlosen Versuchen sogar so, dass er dabei eine Kante erreichen konnte. Da hielt Bonneterre seinen Kopf an den Haaren fest.
»Hast du noch immer nicht kapiert, dass du erst stirbst, wenn ich es will?«, fragte er beinahe sanft, fast wie ein enttäuschter Lehrer. »Und keine Minute früher!« Er warf den Gefangenen auf den Rücken, ging zu einem großen Wassertrog hinüber und wusch seine Hände darin. Dabei sagte er beiläufig: »Die Misses will noch einmal mit dir sprechen.«
Als er sicher war, dass Gandalod ihn verstanden hatte, nahm Bonneterre sein Messer und durchschnitt die Handfesseln des Gefangenen.
»Sie wird natürlich glauben, dass du gefesselt bist.«
96.
Als sie an den südwestlichen Hängen des Tongariro allmählich wieder tiefer stiegen, verwandelte sich der feine Schnee in einen hässlich dünnen Regen, und ehe sie alle vollkommen durchnässt waren, befahl von Tempsky gegen drei Uhr nachts, die Zelte aufzuschlagen, und schickte seine Männer in einen unruhigen Schlaf. Sie waren hungrig, erschöpft und durchgefroren, dabei aber durch die ausgestandene Gefahr und die unheimlichen Eindrücke des Nachtmarschs so aufgekratzt, dass Streitigkeiten auszubrechen drohten. Auch die Frauen der Tuwharetoa hätten sich über die mangelnde Würdigung ihrer Reize nicht mehr beklagen können, als die zweihundert Männer in ihren Schlafsäcken lagen und der Tag noch einmal hinter ihren geschlossenen Lidern vorüberzog. Ruhig schlafen konnten eigentlich nur jene Verwegenen oder Verworfenen, die sich – wie der alte Diogenes – rechtzeitig der Handgriffe erinnerten, die einen Mann müde, warm und friedlich stimmen.
Von Tempsky kontrollierte die aufgestellten Wachen und blieb bei John Gowers stehen, der auf einer Erhöhung zusammengeschobener Vulkanschlacke saß und den Weg beobachtete, den sie gekommen waren.
»Niemand auf unserer Spur, Sir«, meldete er.
»Woher können Sie das?«, fragte von Tempsky, nachdem er seine Augen einige Minuten ergebnislos überanstrengt hatte, um die Dunkelheit zu durchdringen. »Ich meine: im Dunkeln sehen.«
Gowers sagte es ihm und stellte dabei fest, dass er schon sehr lange nicht mehr an seine Kindheit gedacht, geschweige denn darüber geredet hatte. Sein Vorgesetzter, dem die Nacht beim Gedanken an die Minen und die Kinder darin noch schwärzer vorkam, erteilte Joseph B. Williams die Erlaubnis zu rauchen.
»Ich habe leider keinen trockenen Tabak mehr, Sir«, sagte Gowers.
»Nehmen Sie meinen.« Von Tempsky nestelte an der Schnur, mit dem sein Tabaksbeutel an seinem Hals befestigt war. Seine Finger waren jedoch zu klamm, deshalb nahm er ihn mitsamt der Schnur ab und reichte ihn seinem Wachtposten.
John Gowers stopfte seine Pfeife und beobachtete dabei, wie sein Kommandeur, der seit fast zwanzig Tagen kaum eine ruhige Minute gehabt hatte, umständlich seine Hände rieb und in die Handflächen hauchte, um sie warm zu bekommen.
»Darf ich?«, fragte er und begann auf ein dankbares Kopfnicken hin auch von Tempskys Pfeife zu stopfen. Sie drängten sich eng zusammen, um im unablässig fallenden Regen den Tabak irgendwie in Brand zu setzen, und endlich wärmte die Glut in den Pfeifenköpfen zumindest ihre Hände.
»Wie Ngatiroirangi und Ngauruhoe«, sagte von Tempsky nach einer Weile versonnen.
»Genau«, erwiderte Gowers ironisch. »Das dachte ich auch gerade: genau wie Ngatiroirangi und Ngauruhoe!«
Von Tempsky lachte leise und lange. »Ngatiroirangi war einer …«
»… der mythischen alten Helden«, ergänzte Gowers und grinste.
»Er kam mit dem ersten Kanu, das Neuseeland erreichte«, fuhr von Tempsky ungerührt fort. »Und um das Land zu erkunden, stieg er mit seinem Diener Ngauruhoe auf diesen Berg da.« Er zeigte mit der Pfeife auf den im ersten Zwielicht allmählich auftauchenden, wolkenverhangenen Tongariro. »Aber leider verstiegen sie sich, saßen im Eisfall fest und begannen zu erfrieren. Da rief Ngatiroirangi die Winde an, seinen Schwestern Nachricht zu bringen, die am Strand auf seine Rückkehr warteten. Und seine Schwestern, große Zauberinnen, schickten Feuer durch die Erde auf den Berggipfel, um ihren Bruder zu retten.«
»Das war ja mal wieder haarscharf, Sir«, sagte Gowers mit Blick auf den Vulkan, der eigentlich eher ein vulkanisches System als ein einzelner Berg war.
»Und kam zu spät«, schloss nun von Tempsky seine Geschichte ironisch ab. »Ngauruhoe war leider schon erfroren. Aber dafür trägt der Krater heute seinen Namen!«
»Besser als nichts, Sir.« Gowers grinste und sah nun nach Westen, wo das Hochplateau endete und im ersten Morgenlicht den Blick auf ein endloses grünes Meer nebeldampfender Baumwipfel freigab. »Da hinein?«, fragte er.
Von Tempsky nickte und seufzte.
»Es wird schlimm werden«, sagte er.
Und es wurde schlimm. Tausend Höhenmeter hinab, steile Abbruchkanten, reißende kleine Wasserläufe, die sich so tief in den weichen Fels gegraben hatten, dass sie eher Schluchten als Täler bildeten. Die Hügelkämme so schmal, dass sie zu Graten wurden, zudem so dicht bewaldet, dass sie ihnen nicht immer folgen konnten, sondern hinab-und wieder hinaufmussten, jeden kleinen Bach ein Dutzend Mal überquerten, ein Dutzend Hügel überschritten, um eine Strecke von weniger als einer Meile in der Luftlinie hinter sich zu bringen. Die steilen, bis zu zweihundert Meter hohen Hänge verwandelten sich im strömenden Regen in schlammige Rutschbahnen, die sie nur mit Sicherungsseilen bewältigen konnten; was bedeutete, dass die kräftigsten Männer jeden einzelnen Hügel zwei-oder dreimal ersteigen mussten und ihre Kraft entsprechend schnell einbüßten.
Schon nach dem ersten Tag waren sie so verdreckt, dass man sie nur noch am Weiß der Augen vom Gelände unterscheiden konnte. Verzweifelt suchten sie nach einem Fluss namens Manganui a Te Ao, von dem von Tempsky behauptete, dass man ihn auf Flößen befahren könne. Aber der Mann, der ihn schließlich fand, hätte auf diese Ehre vermutlich gern verzichtet, denn er rutschte und stürzte fast zwölf Meter tief in die Klamm, die dieser Fluss an seinem Oberlauf gebildet hatte, und brach sich beide Beine. Von Tempskys Staffelei wurde in eine Trage verwandelt, und nun kamen sie noch langsamer vorwärts und brauchten einen weiteren, also dritten Tag in dieser Hölle, ehe der Manganui a Te Ao breit genug war, um einen Versuch mit den rasch hergestellten Flößen wagen zu können.
Wasserstürze von oben und unten. Der Fluss so eng, dass sich die Flöße immer wieder verkeilten und unter Aufbietung aller Kräfte freigestakt werden mussten. Weitere Verletzte, im reißenden Wasser zwischen den Felsen verrenkte Gliedmaßen, Prellungen, Quetschungen, Hunderte eingerissener Splitter und ein Mann, dem beim Holzfällen die Axt abgerutscht war und der seinen Fuß wohl verlieren würde. Jetzt gab es kein Zurück mehr, konnte von Marschieren keine Rede mehr sein. Kühne Schwimmer befestigten Seile an den gefährlichsten Engstellen, an denen die Flöße sich einzeln entlangtasteten, während die Übrigen, dicht aneinandergedrängt, im prasselnden fetten Urwaldregen auf ihre Weiterfahrt warten mussten.
Zu der zermürbenden körperlichen Anstrengung und der alles durchdringenden Nässe kam der Hunger, als ihre Vorräte jetzt endgültig zur Neige gingen. Zu einer Meuterei kam es nur deshalb nicht, weil sie nicht den geringsten Sinn gehabt hätte. Man musste zuerst aus der Wildnis heraus, ehe man sich der Frage widmen konnte, welcher Wahnsinn, welche Eitelkeit sie in dieses unwegsamste Gelände der Welt hineingeführt hatte.
Immerhin wurde es langsam wärmer, und auch der Manganui a Te Ao entschloss sich irgendwann, seinen Widerstand aufzugeben und sein Bett so zu verbreitern, dass das Vorwärtskommen allmählich leichter wurde. Dafür erging er sich nun in den verrücktesten Windungen, die ihre Geduld jedes Mal neu auf die Probe stellten. An einigen Stellen ahnten sie nicht nur, sondern wussten, dass sie auf ihrer eigentlichen Strecke wieder einige Hundert Meter zurückfuhren. Erst am fünften Tag nach ihrem Aufbruch vom Tongariro erreichten sie endlich die Einmündung in den trägen, breiten Wanganui River, der sie nun endlich nach Süden, zum Meer und an ihr eigentliches Ziel bringen würde.
Zu einer Rebellion reichten jetzt ihre Kräfte nicht mehr aus, und die letzten Funken Ärger verwandelte von Tempsky zwei Tage später, schon in Sichtweite von Wanganui Town, mit einer bemerkenswert kurzen Abschlussansprache in Stolz.
»Jetzt seid ihr Forest Ranger«, sagte er.
97.
Am schwierigsten war es, seine Mutter in den Stall zu bekommen.
Dass Gandalod ihr – und nur ihr – noch etwas sagen wollte, würde sie niemals glauben. Sie hätte einfach befohlen, ihn totzuschlagen, wenn er nicht redete. Konnte sie in der letzten Nacht etwas verloren haben, was man dort suchen müsste? Dann hätte sie ihn allein auf die Suche geschickt. Nein, er musste eine kleine Komödie inszenieren, und selbst das dürfte schwierig werden.
»Mutter?«
Sie saß in ihrem Zimmer und las zum tausendsten Mal, wie der Edelknabe des Meeres von seinem Vater König Perion und seiner Mutter Helisena erkannt ward.
»Ja?« Es war eines ihrer Lieblingskapitel.
»Können wir reden?«
Madame Bonneterre lächelte böse. Desmond hatte den Kampf also noch nicht aufgegeben. »Sicher.«
Bonneterre trat ins Zimmer und sah beinahe sofort aus dem Fenster. »Ein schöner Tag.«
»Desmond«, seufzte sie, ein wenig ärgerlich, ein wenig belustigt. »Was willst du?«
»Herrgott!« Er errötete wie ertappt. »Kann ein Sohn nicht mit seiner Mutter über das Wetter reden?!«
»Nein.« Madame Bonneterre lachte jetzt leise. »Jedenfalls nicht, wenn du der Sohn bist und ich die Mutter bin.«
Auch Bonneterre musste unwillkürlich über diese treffende Bemerkung lachen und setzte sich. »Warum eigentlich Desmond?«, fragte er unvermittelt und zeigte dabei auf ihr Buch. »Warum nicht Amadis? Oder Galaor?«
Sie stutzte über diese unerwartete Frage. »Dein Vater war kein sonderlich kultivierter Mensch«, antwortete sie dann, und sie hatte recht. François Bonneterre, geborener du Rausset, war trotz seiner vornehmen französischen Herkunft ein Bauer gewesen, und das Leben als Prinzgemahl auf der großen Plantage hatte seine primitivsten Eigenschaften zum Vorschein gebracht. Der Alkohol und die Syphilis beendeten glücklicherweise schon nach weniger als zehn Jahren eine Ehe, die lediglich in finanzieller Hinsicht ein Erfolg gewesen und auch nur ein einziges Mal vollzogen worden war. Nur bei der Zeugung und dem Vornamen seines Sohnes hatte sich du Rausset gegen sein übermächtiges Weib durchsetzen können.
»Gehen wir ein paar Schritte?«, fragte Desmond Bonneterre.
»Wozu?«, erwiderte seine Mutter.
»Einfach um der alten Zeiten willen«, sagte er mit seinem offensten Gesichtsausdruck. »Wir waren selten eine richtige Familie, aber woran ich mich erinnere, sind unsere Spaziergänge sonntagnachmittags!«
»Soweit ich mich erinnere, hast du sie gehasst. Sowohl die Spaziergänge als auch die Sonntagnachmittage. Und wahrscheinlich sogar die Familie.«
Er überhörte die letzte Bemerkung. »Damals vielleicht. Aber wenn ich zurückschaue, sind sie beinahe das Einzige, was ich mit meiner Kindheit verbinde.« Er stand auf und bot ihr die Hand.
»Du willst über deine Kindheit sprechen?« Madame Bonneterre kräuselte verächtlich die Lippen und dachte an die Übelkeit, die sie während der einzigen Schwangerschaft ihres Lebens fast neun Monate lang aus jeder besseren Gesellschaft ausgeschlossen hatte. Zeitweise hatte sie geglaubt, sie würde das Kind eines Morgens einfach aus sich herauswürgen.
»Nein, aber über meinen Jungen!« Noch immer hielt er die Hand ausgestreckt, ein vertriebener Königssohn, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hatte. »Da ich ihm nun schon kein Vater sein darf, denke ich, habe ich ein Recht darauf, über seine Erziehung zu reden!«
»Ich denke, es ist das Beste für seine Erziehung, wenn du ihm kein Vater bist«, sagte sie ironisch, stand aber nun immerhin auf und warf sich ein Tuch über die Schulter, um seinen seltsamen Bewegungsdrang zu befriedigen.
98.
Lucy Takiora Lord hatte in ihrem kurzen Leben bereits viele Namen getragen. Geboren als Tochter einer ehemaligen Maorisklavin und Witwe eines weißen Grobschmieds namens Alexander Grey, war sie am 9. Oktober 1842 auf den Namen Lucy Elizabeth Grey getauft worden, wurde aber schon sechs Monate später zu Lucy Lord, als ihre Mutter ihren vermutlichen Vater, den Metzger William Lord, heiratete.
Keine achtzehn Jahre später heiratete Lucy selbst den Wanganui-Krieger Te Mahuki und nannte sich jetzt Takiora. In den Taranaki-Kriegen diente sie gemeinsam mit ihrem Mann den Pakeha-Streitkräften als Scout, Übersetzerin und Spionin, denn sie hasste die aufständischen Maori. Vielleicht, weil ihre Mutter einst deren Sklavin gewesen war, und sicher, weil eine Gruppe rebellierender Krieger in den 1840er-Jahren Haus und Laden ihres Vaters, Stätte ihrer glücklichen Kindheit, niedergebrannt hatte. Wie weit ihr Hass reichte, zeigt der Spitzname, den die weißen Soldaten der hochgewachsenen, hübschen, vielleicht ein wenig strengen Maorirenegatin gaben: Bloody Mary.
In den Kämpfen um die Provinz Taranaki lernte sie auch Manu-Rau kennen, der sie gemeinsam mit ihrem Mann Te Mahuki auf einigen seiner Gemälde abbildete. Wann sie seine Geliebte wurde, ist ungewiss; spätestens wohl, nachdem Te Mahuki Anfang 1866 im Kampf getötet wurde. Verhasst und verachtet von ihrem eigenen Volk und von den Pakeha zumindest misstrauisch beäugt und nie wirklich akzeptiert, blieb der intelligenten jungen Frau kaum etwas anderes übrig, als die Mätresse eines anerkannten und gefürchteten Pakeha-Führers zu werden. Aber es war noch etwas anderes in dieser Verbindung. Takiora liebte Manu-Rau, und Manu-Rau liebte Takiora – oder zumindest die Verkörperung von Freiheit und Abenteuer, die sie für ihn darstellte.
Seit von Tempsky außer Dienst gestellt worden und als braver Ehemann in den Norden gegangen war, lebte Takiora in »The Rookery«, einem übel beleumundeten Viertel von Wanganui, ehemals Siedlung der verheirateten Soldaten und ihrer Frauen, jetzt Heimat von Prostituierten, Trunkenbolden und Schlägern. Wie weit sie in die entsprechenden Kreise eintauchte, ist nicht bekannt. Sie war jedenfalls einer der wenigen Menschen, die sich ehrlich freuten, als der neue Krieg seine Schatten vorauswarf. Sie hatte gehofft, dass sie »Von« wiedersehen würde, und war enttäuscht gewesen, als bekannt wurde, dass er sich zusammen mit McDonnell zunächst von Auckland aus nach Australien aufgemacht hatte.
Beinahe täglich wanderte Takiora nun nach Castlecliff, vier Meilen den Fluss hinunter bis zu seiner Mündung, und sah stundenlang auf das Meer hinaus,wo irgendwann Manu-Raus Segel auftauchen würde. Aber wieder wurde sie enttäuscht. »Von« war nicht auf dem Schiff, das sich langsam zu den Piers von Taupo Quay hocharbeitete, während Takiora zur Freude der Besatzung am Ufer entlanglief und lachte, winkte und rief. Aber an Bord war nur »Fighting Mac«, der ihr nie recht getraut hatte und sich lieber auf seinen persönlichen Scout Wiremu Katene Tuwhakaruru verließ; den berühmten Alkibiades der Maori, der im letzten Krieg Titokowarus Leutnant gewesen war, ehe er McDonnells Vertrauter wurde – und der bald noch ein letztes, entscheidendes Mal die Fronten wechseln würde.
Niemand konnte Takiora sagen, wo »Von« blieb, aber einige der Männer, die sie am Ufer gesehen hatten, fühlten sich stark genug für einen Versuch mit ihr und ließen sich erst durch eine gegen ihre Münder, Schläfen, Unterleiber gerichtete Tupara, die doppelläufige Muskete, eines Besseren belehren. Es dauerte noch beinahe vier Wochen, ehe McDonnell, der ein schlechtes Gewissen haben mochte, weil er von Tempsky in Melbourne abgehängt hatte, Takiora darüber informierte, dass »Von« oben im Norden gelandet sei und sich über Land durch den Busch zu ihnen durchschlagen würde.
Warten ist ein seltsamer Zustand, selbst wenn man weiß, worauf man wartet. Ist einmal ein Funken Hoffnung geschlagen, der einen sehnsüchtigen Wunsch erfüllbar erscheinen lässt und damit zu einer Erwartung macht, entzündet sich die gesamte Fantasie, und eine ganze Weile kann Warten das Herz erwärmen. Aber irgendwann, nach zu vielen Enttäuschungen, ist es nicht mehr die Hoffnung, nicht mehr die Fantasie, sondern das Herz selbst, das sich im Warten verzehrt. Starke Naturen fragen sich dann, ob sie überhaupt noch wollen, worauf sie warten. Feinere Gemüter verzweifeln an sich und ihren Wünschen, verkleinern sie bis zur Unkenntlichkeit und warten irgendwann nur noch, anstatt zu leben, ja vergessen sogar, worauf sie eigentlich warten.
Takiora gehörte zur ersten Kategorie. Nach dreimonatigem Aufenthalt in den verschiedensten Luftschlössern fluchte sie in dem Moment auf von Tempsky, als sie wusste, dass er wieder in Neuseeland, aber wieder nicht in Wanganui und bei ihr war. Sie erstickte ihre Erwartungen in den Armen einiger junger Soldaten, die nicht wussten, wie ihnen geschah – denn ihre erfolglosen Kameraden hatten sie vor dem schönen wilden Weib und ihren locker sitzenden Waffen gewarnt. Aber all das, Warten, Enttäuschungen, Illusionen und Ersatzbefriedigungen, war wie weggeblasen, als »Von« an der Spitze seiner erschöpften Männer den Fluss herunterkam und ein einziger, wortloser Blick seiner Augen in Takioras Herz drang, als sei er nie fort gewesen.
99.
Die Tatsache, dass an keiner Anlegestelle, die sein stolzes Schiff, die Praise of Digression, auf dem Weg nach New Orleans anlief, auch nur eine Spur von Hunters Milizionären zu sehen war, sagte Gabriel Beale, dass sein Fall eine Wendung genommen hatte. Es konnte eigentlich nur bedeuten, dass seine Auftraggeber dank seiner Informationen ihre Beute aufgespürt, also die Deep South und ihre Passagiere erwischt hatten. Leider waren die Haltezeiten der Praise of Digression zu kurz, um diese Vermutung durch ein paar klärende Telegramme zu bestätigen. Das war aber auch schon das Einzige, was an der Reise kurz und an seinem Schiff schnell war.
Als echter Yankee hatte er die primitive Vorstellung gehabt, dass zumindest die flussabwärts fahrenden Schiffe alle ungefähr gleich schnell sein müssten, wurde aber angesichts der packenden Wettrennen, die sich die Praise of Digression mit dem Treibholz lieferte, vom Gegenteil überzeugt. Er hatte das kleine Schiff ausgewählt, weil es laut Fahrplan weit weniger Zwischenhalte einlegte als die großen Passagierdampfer. Leider lagen diese aber fast immer wechselweise mal am Ost-, mal am Westufer des großen Stromes, sodass Gabriel Beale den Mississippi nicht eigentlich befuhr, sondern ihn mehrere Dutzend Male überquerte.
Wenn die Praise of Digression, was dabei gelegentlich vorkam, gegen die Strömung zu einer Anlegestelle zurückdampfen musste, glaubte er, das Gras am Ufer wachsen zu sehen, und als sie ein und dasselbe kleine Floß, mit einem Jungen und einem Nigger darauf, zum dritten Mal überholten, begab er sich unter Deck, um einen Schlaganfall zu vermeiden. Wie kamen diese Südstaatler nur auf den wahnwitzigen Gedanken, sie könnten je ernsthaft und auf Dauer mit den Eisenbahnen und der Industrie des Nordens konkurrieren?
Als er am Vormittag des fünften Tages in New Orleans ankam, hatte er es nicht mehr besonders eilig. Was immer geschehen war, war inzwischen Geschichte, ohne dass er etwas dazutun oder wegnehmen konnte. Dennoch begab er sich natürlich sofort in das Hotel, an dessen Adresse er seine Depeschen gerichtet hatte, und wurde nach kurzem Warten von General Willoughby persönlich empfangen. Der Mann saß noch immer in seinem Jammerstuhl beim Frühstück und hatte trotz einer seidenen Serviette etwas Eigelb auf seinen Kragen gekleckert; nur ein sehr kleiner Fleck, von dem der Detektiv jedoch kein Auge lassen konnte.
»Ah, Mr. Beale!« Der General war in bester Stimmung.
»Guten Morgen, Sir. Darf ich fragen …«
»Sie wollen sicher wissen, was sich hier unten getan hat. Nun, ich darf Sie beglückwünschen: Ihre Ermittlungen haben zur Verhaftung dieses Menschen geführt, dieses Laffin oder wie er sich nannte. Gute Arbeit, Mr. Beale!«
Das Lob des alten Mannes klang ironisch, und tatsächlich ging seine gute Laune wesentlich auf die Tatsache zurück, dass Beale seinen eigentlichen Auftrag, nämlich ihre Sklaven wiederzufinden, nicht ausgeführt hatte und also auch keine Bezahlung dafür erwarten durfte.
»Und sein Schiff?«, fragte der Detektiv, durch die hörbare Ironie misstrauisch geworden. »Die Deep South?«
»Ist hier leider nicht gesehen worden, Mr. Beale.« Der General strahlte. »Aber es wird Sie freuen, zu hören, dass wir unsere Nigger trotzdem geschnappt haben.« Umständlich zog er seine vergoldete Taschenuhr hervor und warf einen theatralischen Blick darauf. »In diesem Moment dürften sie schon auf dem Weg hierher sein.«
»Ich verstehe nicht ganz, Sir«, sagte Beale.
»Ein Zufall, Mr. Beale. Glück für uns, Pech für Sie, sozusagen.« Und er erzählte vom unerwarteten Auftauchen Gandalods, seinen Aussagen über Moses und Barataria und dem triumphalen Aufbruch der Miliz gestern Mittag. »Sie werden verstehen, dass sich bei aller Wertschätzung Ihrer Arbeit keine Verbindung zwischen Lafflin und unseren Sklaven herstellen lässt. Insofern noch einmal: Pech für Sie, Mr. Beale!«
»Ich verstehe, Sir. Wäre es möglich, dass ich diesen Gandalod einmal sehen könnte?«
»Aber jederzeit, mein Lieber. Soweit ich weiß, finden Sie ihn gegenwärtig noch immer im Stall.«
100.
Madame Bonneterre war fest davon überzeugt, dass sich ihr Leben in keiner ernsthaften Gefahr befand, selbst als sie schon auf dem Boden lag. Gewiss, der Nigger hatte sich losgerissen und sich auf sie gestürzt, aber das geschah ja am helllichten Tag, in einer weißen Stadt. Desmond war da, wenn er auch die Wache weggeschickt hatte. Gleich würde der entsetzliche Druck auf ihre Kehle aufhören, und es ärgerte sie bereits, dass sie im ersten Erschrecken einen kleinen Schrei ausgestoßen hatte.
Contenance! Sie wehrte sich nicht. Ihr Leben lang waren ja Männer, Peitschen, Ketten und Gesetze da gewesen, die sie vor den Händen ihrer Sklaven beschützten, und diesmal würde es nicht anders sein. Erst der Faustschlag, der sie mitten ins Gesicht traf, belehrte sie eines Besseren. Ihre aristokratische kleine Nase schwoll an, sie schmeckte Blut auf ihren Lippen, aber sie wurde nicht ohnmächtig, im Gegenteil.
Alles wurde ihr plötzlich enthüllt, kristallklar sah sie es vor sich: Sie war in die Falle gegangen! Und in tödlichem Hass blickte sie nicht auf das schwarze Tier, das auf ihrem Brustkorb kniete und ihre Rippen mit seinem Gewicht zerbrach, sondern auf ihren Sohn, der mit seltsam verzerrtem Gesicht dabei zusah.
Ihre Augen blitzten vor Wut, aber noch immer wehrte sie sich nicht, um Desmond nicht die Befriedigung zu geben, sie unter den Händen des Niggers zappeln zu sehen. Erst in der Agonie bäumte sich ihr kleiner Körper plötzlich mit erstaunlicher Gewalt auf und wehrte sich lange dagegen, dass ihm das Leben genommen wurde, dass die schweren, schwarzen Finger ihm den Atem raubten.
Marie-Therese Helisena Milisande Bonneterre bleckte die Zähne und versuchte, den Nigger zu beißen, traf aber nur ihre eigene Zunge, die sich unglaublich weit aus der Kehle geschoben hatte, ohne dass sie es wusste. Das Letzte, was sie auf der Welt fühlte, war das Versagen ihres Schließmuskels. Nein, die Scham darüber.
Ein Geräusch ließ Desmond Bonneterre herumfahren, und kaum hatte er den Mann gesehen, der hinter ihm stand, da ließ er den schweren Eichenholzknüppel, den er die ganze Zeit umklammert hielt, auf Gandalods Hinterkopf niedersausen. Er fühlte, wie die Hirnschale des Niggers zersprang, schlug aber trotzdem noch zweimal zu; um ganz sicherzugehen und auch weil er glaubte, dass dies von einem Mann in seiner Situation erwartet würde.
»Mutter! Mutter!«, rief er mit stark übertriebener Empathie und warf sich neben ihrer Leiche auf die Knie. Dabei überlegte er bereits fieberhaft, wie lange Gabriel Beale bereits zugeschaut hatte und wie viel er erraten würde.
101.
Die York-und die Rutland-Stockade, also die beiden palisadenbewehrten Forts, die die Engländer an beiden Seiten von Wanganui Town errichtet hatten, waren für Besatzungen von je zweitausend Mann ausgelegt. Entsprechend verloren kam sich die kleine neuseeländische Truppe auf dem vergleichsweise riesigen Posten vor. Dennoch fiel es John Gowers schwer, die Suche nach James Fagan auch nur zu beginnen, denn nach den schlechten Erfahrungen mit den Desertionen in McDonnells Abteilung hatte man von Tempskys Männer am entgegengesetzten Ende der Stadt, in der Rutland-Stockade, einquartiert. Eine Ausgangserlaubnis wurde nur ausnahmsweise erteilt, täglicher Drill sollte die Rekruten auf andere Gedanken bringen beziehungsweise jeden individuellen Gedanken in ihnen töten, und selbst wenn der Investigator seine Versetzung in die York-Stockade erreicht hätte: Unter welchem Vorwand sollte er die mit den neuseeländischen Freiwilligen über vierhundert Männer von McDonnells Truppe auf drei Monate alte, womöglich verborgene Narben absuchen? Dass James Fagan seinen Namen geändert hatte, setzte er als keiner weiteren Überlegung wert ohnehin voraus.
Seine vorzüglichste Hoffnung wurde sein Kommandeur; aber von Tempsky schien ihn vergessen zu haben oder hatte nach den Anstrengungen des Marsches in einem kleinen Haus in »The Rookery« Besseres zu tun, als sich der sehr speziellen Probleme eines einzelnen seiner Männer zu erinnern. Nach zwei Tagen trostlosen Garnisonsdienstes schickte Gowers seinem Vorgesetzten deswegen Byrons Cain, mit besten Grüßen und der Anmerkung: 3.3.3.
Es kostete von Tempsky fast eine halbe Stunde, herauszufinden, dass der dritte Auftritt in der dritten Szene des dritten Akts gemeint war, und erst dann las er:
Engel: Wo ist dein Bruder Abel?
Cain: Soll ich meines Bruders Hüter sein?
Engel: Was tatest du? Das Blut deines erschlagenen Bruders schreit zum Himmel. Ein Flüchtling sollst du sein von diesem Tag, ein Vagabund auf Erden!
Von Tempsky lächelte unwillkürlich und fragte sich, ob diese biblische Einlassung einem Kriegsgericht bereits Beweis genug für eine geplante Desertion wäre. Am nächsten Morgen hatte Joseph B. Williams jedenfalls einen unbef risteten Urlaubsschein und sein Vorgesetzter die Stammrolle von McDonnells Einheit auf dem Tisch. Hätte er aber gewusst, dass der Amerikaner derart früh auftauchen würde, hätte von Tempsky wohl doch eine zivilere Uhrzeit als Urlaubsbeginn festgesetzt. Die Morgendämmerung hatte noch nicht einmal begonnen, als es an der Tür klopfte.
Takioras Wohnung bestand leider nur aus einem einzigen Zimmer, und als das Klopfen nicht aufhörte, konnte Manu-Rau wenig mehr tun, als ihren nackten Körper mit einem Nachthemd, so gut es ging, zu bedecken, ehe er, lediglich mit einer Hose bekleidet und mit einem Messer in ihrem Bund, öffnete.
»Reißen Sie den Leuten immer gleich den Arm ab, wenn sie Ihnen den kleinen Finger hinhalten?!«, knurrte er ungehalten, als er den Investigator erkannte.
»Nur, wenn ich den Arm dringend brauche«, entgegnete Gowers und übersah angesichts des nackten Rückens und der langen schwarzen Haare der auf dem Bett liegenden Frau den Zorn seines Vorgesetzten. Er wusste nichts von Takiora, von Tempsky hatte sie nie erwähnt, und so hielt er sie für irgendein bezahltes Offiziersliebchen. »Können wir unter vier Augen reden?«, fragte er.
»Meine Augen sind zu«, sagte Takiora verschlafen, musste aber dann über ihren eigenen Witz kichern. Von Tempsky lachte laut, vor allem über Gowers’ dummes Gesicht.
»Es ist in Ordnung«, sagte er und reichte dem Investigator die Liste der in Melbourne auf McDonnells Schiff eingeschriebenen Freiwilligen. »Tut mir leid, kein James Fagan!«
»Hatten Sie etwas anderes erwartet?!« Es war nun an Gowers, sich zu ärgern. Trotzdem ging er die Namen durch. »Haben Sie eine Idee, wie ich die Männer sehen kann? Könnte ich etwa ein Arzt sein, der …«
»Wen suchen Sie denn?«, unterbrach ihn Takiora, drehte sich zu den Männern um und bedeckte dabei mit dem linken Arm ihre Brüste.
Gowers runzelte konsterniert die Stirn. Wusste er, wen er suchte? Er hatte James Fagan nie wirklich gesehen, kannte nur sein ungefähres Alter und ging davon aus, dass er die Spuren von Mairie Maguires Fingernägeln noch im Gesicht trug. Sein Plan war gewesen, Fagans Messer auf den Tisch zu legen und sich die vierhundert Männer einzeln vorzunehmen. Er war sicher, dass der Mörder sich dabei irgendwie verraten würde.
»Darf ich vorstellen«, sagte von Tempsky und lächelte über Gowers’ Verwirrung, »Lucy Takiora, mein bester Scout. Sie können ihr vertrauen.« Takiora war in den letzten Wochen beinahe jeden Tag in der York-Stockade gewesen und hatte viele Männer gesehen.
»Der Mann, den ich suche«, sagte Gowers und konzentrierte seine Aufmerksamkeit jetzt ganz auf die schöne, sehr hellhäutige Wahine, »ist etwa neunzehn Jahre alt und hat eine relativ frische Narbe im Gesicht. Seinen jetzigen Namen kenne ich nicht. In Melbourne hieß er James Fagan.«
Die erfahrene Spionin ließ die Gesichter Revue passieren, die sie unter McDonnells Männern gesehen hatte. »Jamie«, sagte sie dann. »Es gab da einen Jungen, den alle Jamie nannten. Sehr jung. Eine Narbe von hier bis da!« Sie zog mit dem Finger eine Linie von ihrem linken Ohr bis zur Kinnspitze. Dann winkte sie dem Investigator, ihr die Liste zu reichen, und vergaß, ihre Brüste zu bedecken, während sie konzentriert die Namen durchging.
Gowers’ Gedanken rasten. Hatte er sie beeinflusst, indem er den Namen James Fagan erwähnte? Andererseits änderten gesuchte Verbrecher selten ihre Vornamen, um sich nicht dadurch verdächtig zu machen, dass sie auf »Jim«, »Bill«, »Joe« und so weiter womöglich nicht sofort reagierten.
»Bradley«, sagte Takiora, noch weit oben im Verzeichnis. »James Bradley!« Sie nickte und war sich ihrer Sache sicher.
»Das war aber einfach«, murmelte John Gowers, verblüfft über diesen raschen Fahndungserfolg.
»Ich fürchte nicht, Sir«, erwiderte Takiora. »Dieser Junge gehört zu der Gruppe, die vor etwa zwei Wochen mit dem Polen desertiert ist.«
»Das wäre ja auch zu schön gewesen«, knurrte der Investigator.
102.
Mehr als die Hälfte der Deserteure waren relativ schnell wieder eingefangen worden, aber eben das machte die Nachrichten über die anderen so widersprüchlich. McDonnell hatte sich die Männer einzeln vorgenommen, sich ihnen von seiner unangenehmsten Seite gezeigt und war deshalb ziemlich sicher, dass sie die Wahrheit sagten. Aber gerade als er auf diese Weise herausgebracht hatte, dass die Hawke Bay, also die Ostküste Krczynskis Ziel war, traf per Schiff aus dem Süden die Meldung ein, dass man einige der entflohenen Männer in Wellington arretiert habe. »Fighting Mac« fluchte, gab den Befehl, den Gefangenen vierzehn Tage lang ins Essen zu spucken, und begab sich dann an Bord des Postschiffs, um den Dingen in Wellington auf den Grund zu gehen. Gnade Gott diesem Polen, wenn er ihn erwischen würde!
Dass der für die Dauer des Feldzugs kurzfristig zum Major beförderte von Tempsky die in der York-Stockade einsitzenden Deserteure noch einmal verhören wollte, schienen diese Männer als eine Art zweite Chance zu betrachten und baten zuallererst um die Rücknahme des entehrenden Befehls, der ihnen die Mahlzeiten verleidete.
»Kommt drauf an, was Sie zu sagen haben«, vertröstete sie der frischgebackene Major, der sehr genau wusste, dass es unterhalb von offizieller Kriegsgerichtsbarkeit und kodifiziertem Kasernenrecht eine Dunkelzone von Femejustiz unter Kameraden gab, die Armeen stärker zusammenhält als jeder äußere Druck.
Die einzigen Strafen, die diese ungeschriebenen Gesetze vorsahen, waren Schmerzen und Spott. Beides hatten die glücklosen Deserteure in den Augen ihrer Kameraden verdient; nicht weil sie desertiert waren, sondern weil sie dadurch die Verschärfung der Lebensbedingungen verursacht hatten, unter denen nun alle leiden mussten; die Ausgangssperren, den erhöhten Drill und sogar ein allgemeines Alkoholverbot von drei Tagen. Die Kriegsherren aller Zeiten hatten es verstanden, den Zorn ihrer Kampfsklaven von sich und den zu ihrem Vorteil aufgestellten Regeln abzulenken auf diejenigen, die diese Regeln brachen. Dass diese Idioten sich dann auch noch hatten einfangen lassen, machte ihr Vergehen in den Augen der Soldaten sozusagen unentschuldbar – und jeder einzelne Mann der Garnison hätte ihnen von Herzen gern ins Essen gespuckt.
Gowers, den die Delinquenten nur für eine Art Beisitzer hielten, der aber in Wirklichkeit das Verhör leitete, wusste schon bald, dass der Mörder, den er jagte, tatsächlich mit diesen Männern zusammen gewesen war, und ließ ihn sich wieder und wieder beschreiben. Die zweite Erkenntnis aus der Befragung war schwerer zu gewinnen und stellte sich erst ein, als er sich später die Aussagen der Gefangenen und vor allem ihre Gesichter noch einmal sozusagen im Zusammenhang vor Augen führte.
Die auffälligste Gemeinsamkeit dieser Männer bestand darin, dass sie alle nicht sonderlich helle waren. Der kluge Pole Krczynski, den Gowers gern kennengelernt hätte, hatte sich offenbar von den Trotteln in seiner Gruppe getrennt, damit sie wieder eingefangen wurden und genau das sagen würden, was sie sagten: Hawke Bay, Ostküste. Er musste also nach Wellington.
»Fighting Mac« war sehr übel gelaunt. Er hatte sich auf der drei-ßigstündigen Überfahrt von Wanganui eine Erkältung eingefangen, Krczynski war nicht unter den Gefangenen, und das Gefängnis von Wellington war für seine Begriffe überhaupt viel zu komfortabel, jedenfalls verglichen mit einem Armeezelt. Sein Blick verhieß den verbliebenen sieben Deserteuren nichts Gutes, aber was er eigentlich mit ihnen tun würde, hatte er selbst noch nicht überlegt.
Einmal in Wellington, hatte er ohnehin alle Hände voll zu tun, die Kriegsvorbereitungen überhaupt im Gang zu halten, denn Titokowaru hatte sich nach wie vor nicht gerührt. Verteidigungsminister Haultain lehnte deshalb McDonnells Forderung nach zweihundert weiteren Männern rundweg ab. Zweihundertmal mehr »drei Shilling und ein Sixpence« pro Tag plus Verpflegung plus Essgeschirr plus Marschgepäck, Decken, Zelte, Uniformen, Stiefel und natürlich Waffen und Munition – ihr erster eigenständiger Krieg nach Abzug der britischen Truppen begann der jungen Kolonie Neuseeland rein finanziell über den Kopf zu wachsen.
Premierminister Stafford hatte sogar schon davon gesprochen, die Provinz Taranaki und insbesondere den für Rebellionen offenbar anfälligen Patea-Distrikt den Maori einfach zu überlassen, wenn sie ihn denn unbedingt behalten wollten; »Fighting Mac« war es kalt den Rücken hinuntergelaufen. Glücklicherweise hatte am 12. März in Sydney, Australien, ein irischer Nationalist ein Attentat auf den Herzog von Edinburgh, immerhin einen Sohn Königin Victorias, verübt und ihn dabei leicht verwundet. Im ganzen australesischen Raum befürchtete man einen Aufstand der irischen Einwanderer, und die Regierung in Wellington hatte McDonnells Kommando zeitweise nur noch aufrechterhalten, um einen solchen Aufstand gegebenenfalls wirkungsvoll eindämmen zu können. Aber auch die Iren Neuseelands verhielten sich unnatürlich ruhig, sodass es jetzt, Anfang Juni, beinahe aussah, als gäbe es für »Fighting Mac« in absehbarer Zeit nichts zu kämpfen.
Nein, er musste zumindest die Männer zusammenhalten, die er schon hatte, und das hieß: Er musste ein Exempel statuieren. Die Deserteure deswegen gleich aufzuknüpfen wäre allerdings schwachsinnig gewesen und entbehrte, solange noch kein offener Krieg herrschte, auch jeder rechtlichen Grundlage. Sie monatelang einzusperren wäre ebenfalls kontraproduktiv und würde ihre ja weiterhin einen ungeliebten und harten Dienst ausübenden Kameraden nur auf dumme Gedanken hinsichtlich warmer und trockener Plätze bringen.
McDonnell beschloss deshalb, die Männer über Land zurück nach Wanganui zu bringen; mit schwerem Marschgepäck und unter seinem persönlichen Kommando, damit jeder sehen konnte, dass er sie eingefangen hatte. Die Tortur wäre also gleichzeitig eine Demonstration, mit der er jedem einzelnen Soldaten, der mit dem Gedanken an Desertion spielte, sozusagen ins Ohr flüstern konnte: »Es lohnt sich nicht!«
Und nur um die Deserteure dabei besonders lächerlich aussehen zu lassen, erteilte er ihnen als Erstes den Befehl, ihre Hosenböden herauszuschneiden; eine Sanktion, die in fast allen Armeen der Welt den Feiglingen vorbehalten war.
103.
Niemand bezweifelte, dass Desmond Bonneterre getan hatte, was er konnte, um das Leben seiner Mutter zu retten; vor allem, nachdem Gabriel Beale ausgesagt hatte, wie beherzt sich der junge Mann auf den Mörder gestürzt habe. Was Madame Bonneterre in den Stall geführt hatte, wurde überhaupt nicht gefragt. Zweifellos war es ihre bekannte Menschenliebe gewesen, die sie nachsehen ließ, ob es ihrem Nigger an nichts fehle.
Auch dass Bonneterre sich nur kurz, für vielleicht zwei Minuten, im hinteren Teil des Stalls aufgehalten habe, während der Nigger sich losgerissen und auf sein unglückliches Opfer geworfen haben musste, wurde ohne Weiteres akzeptiert. Warum er die Wache weggeschickt hatte, blieb die einzige unangenehme Frage, und die Antwort, er habe dem übernächtigten Posten wenn schon keine Ablösung, dann doch Zeit für ein Frühstück gönnen wollen, solange er selbst ohnehin im Stall gewesen sei, gereichte dem jungen Mann zur Ehre.
Im Übrigen trug Desmond Bonneterre den Verlust mit großer Seelenstärke und ließ es sich nicht nehmen, bei der Herrichtung der Leiche für ihren Transport nach Baton Rouge persönlich Hand anzulegen. Den eigentlich dazu bestellten Frauen war es sogar ein wenig peinlich, wie sorgfältig und gründlich der junge Mann den Körper seiner Mutter säuberte, aber ihre Gemüter waren zu schlicht, um etwas anderes als übertriebene Sohnesliebe darin zu erkennen. General Willoughby hätte dem grausigen Geschehen vielleicht etwas eindringlicher nachgeforscht als der mit dieser Aufgabe betraute und bekannt gründliche Police Officer Duggan, wenn er nicht durch ein anderes Ereignis davon abgelenkt worden wäre.
Am frühen Abend kehrte die Vorhut seiner geschlagenen Armee zurück, und Henry Hunter erstattete Bericht über das sonderbare und desaströse Scheitern der eigentlich ganz einfachen Unternehmung. Nach und nach trafen auch die übrigen Männer ein, und General Willoughby konnte immerhin mit einer gewissen Befriedigung feststellen, dass seine Söhne unter den Letzten waren; Michael, ruhig, aber ratlos, Richard nervlich stark angegriffen.
Seine Aufregung war aber nichts gegen die Panik des jungen Owen Cheever, der kurzzeitig in Gefangenschaft geraten war und ärztlicher Behandlung bedurfte. Kein anderer als Lemuel Willard erwirkte die Erlaubnis, ihn mit einer Dosis Betäubungsmittel in einen erholsamen Schlaf zu schicken – der aufgrund eines Berechnungsfehlers des unbedarften Mediziners allerdings beinahe der ewige geworden wäre. Von beidem, dem Trauma und seiner Behandlung, sollte der junge Mann sich nie wieder richtig erholen.
Willard war es auch, der den Frühstückssalon des Hotels in ein behelfsmäßiges Lazarett verwandelte, obgleich für die wenigen wirklich Verwundeten ein Zimmer vollkommen ausgereicht hätte. In dieser bei aller Bedrückung noch immer halbwegs romantisch-kriegerischen Atmosphäre fand dann am Vormittag des folgenden Tages wiederum eine Beratung der Pflanzer statt, zu welcher der General Willoughby noch in der Nacht und durch ein handgeschriebenes Billett auch Gabriel Beale einlud.
Zunächst versicherten sie einander, dass die Lage keineswegs so schlecht sei, wie sie aussähe. Durch den bewaffneten Angriff auf ihre legitimen Herren hätten sich die entlaufenen Nigger eines allseits und sogar im Norden anerkannten Offizialdelikts schuldig gemacht. Ihre weitere Verfolgung sei damit Sache der Polizei-und Militärbehörden geworden, die zu verständigen man sich bereits die Freiheit genommen hätte. Nach allem, was man aus den Berichten der Männer aus der vordersten Linie – wie die Veteranen des glücklosen Feldzugs von nun an genannt wurden – wisse, hätten die Sklaven in den Sümpfen ein festes Lager errichtet, sodass es für die Armee ein Leichtes sein müsse, sie aufzuspüren, zu vernichten und die Reste ihren Eigentümern zurückzugeben.
An dieser Stelle warf Gabriel Beale zum Ärger der Männer aus der vordersten Linie ein, dass es sich bei diesem sogenannten Lager auch um eine Finte handeln könne, und musste sich lautstark fragen lassen, ob er nicht zugehört habe: feste Hütten, Palisaden, Fischreusen, ein Arsenal und eine Kanone! Das spreche doch wohl für sich.
Er wolle nur geraten haben, den Fluss weiterhin im Auge zu behalten, sagte der Detektiv, da man sich über den Verbleib der Deep South noch immer nicht im Klaren sei. Man müsse sich auch in die Lage des Gegners versetzen, und dieser wisse so gut wie sie, dass ein fester und bekannt gewordener Stützpunkt im tiefen Süden auf die Dauer unhaltbar sei. Ihm wurde geantwortet, dass es sich immerhin nur um Nigger handele, deren geistige Fähigkeiten wohl kaum zu Überlegungen von solcher Komplexität hinreichten, und Beale fragte sich gerade, warum man ihn eigentlich hergebeten hatte, als General Willoughby sagte: »Ich denke, der Mann hat recht. Sie können auf Dauer nicht hierbleiben, sie müssen nach Norden. Und ich möchte Sie bitten, mein lieber Mr. Beale, herzlich bitten, für uns herauszufinden, wie sie das anstellen wollen.«
Die Männer aus der vordersten Linie sackten sichtlich in sich zusammen. Sie hatten gehofft, auf ihre Farmen und Plantagen zurückkehren zu können, und sahen nun mit Schrecken einem Wachdienst von unbegrenzter Dauer an Sumpf und Fluss entgegen. Aber Gabriel Beale beruhigte sie.
»Solange John Lafflin in Haft ist, können sie meiner Meinung nach überhaupt nichts tun, Gentlemen!«
Verlegenes Hüsteln vonseiten des Milizkommandeurs Henry Hunter weckte in dem Detektiv den massiven Verdacht, dass mit seiner Äußerung etwas nicht stimmte.
»Ich … Äh … Bedauerlicherweise habe ich von Police Officer Duggan die Mitteilung erhalten, dass John Lafflin vor zwei Tagen auf freien Fuß gesetzt wurde.«
»Wer zum Teufel hat das veranlasst?«, fuhr Willoughby ihn an.
»Andrew Jackson, Sir«, entgegnete Hunter und fügte auf das allgemeine Stirnrunzeln hin die notwendige Erklärung hinzu: »Jedenfalls wurde mir das berichtet.«
»Nun … nun, was soll’s?! Sie werden den Mann für uns wiederfinden, Mr. Beale«, versuchte der General, die endgültig am Boden liegende Moral durch seine Zuversicht noch einmal aufzurichten. »Und wir werden den Fluss abriegeln, Jungs. Von New Orleans bis Baton Rouge werden wir den Fluss so dicht machen, dass kein Katzenwels ungesehen durchkommt!«
In die entstehende, weniger begeisterte als erschöpfte Pause hinein räusperte sich Gabriel Beale vorsichtig und sagte: »Gentlemen, ich werde mein Bestes tun. Darf ich Sie diesmal jedoch um einen Vorschuss für meine Bemühungen bitten?!«
»Selbstverständlich«, mischte sich nun Desmond Bonneterre erstmals in das Strategiegespräch ein. »Wir haben großes Vertrauen zu Ihnen, Mr. Beale, und ich möchte Sie bitten, sich mit all Ihren Forderungen an mich persönlich zu wenden. Es wird mir ein Vergnügen sein, jeden Ihrer Ansprüche zu erfüllen!«
Das großherzige Angebot kam in dieser hauptsächlich knauserigen Runde so unerwartet, dass die Männer sich beinahe verständnislos ansahen. Dann jedoch löste es umso größere Erleichterung aus. »Hört, hört!«, rief jemand. Ein Zweiter klopfte mit den Handknöcheln Beifall neben seinem Frühstücksei, und niemand bemerkte in der allgemeinen Begeisterung das leichte Zögern, mit dem der Detektiv die ausgestreckte Hand des Erben Bonneterre entgegennahm.
»Vielen Dank, Sir«, sagte Beale. »Ich denke, ich werde Ihr Vertrauen in mich rechtfertigen können.«
104.
Gowers nahm das nächste Schiff nach Wellington, bedauerte aber beinahe sofort, die Strecke von hundertfünfzig Meilen nicht mit zwei guten Pferden in Angriff genommen zu haben. Der Weg zur und aus der Mündung des Wanganui River wurde ihm entsetzlich lang. Schon als der kleine Dampfer sich am Taupo Quay entlangkämpfte, hatte er es irgendwann aufgegeben, von Tempsky hinterherzuschauen.
Der Deutsche hatte ihm für alle Fälle einen Brief an McDonnell mitgegeben und ihn zum Pier begleitet. Sie hatten einander kurz die Hände geschüttelt, sich lakonisch zugenickt, verlegen auch zugewunken und an die Mützen getippt, sich dann eine Weile angesehen, die Stirn gerunzelt – und waren schließlich in Gelächter ausgebrochen, weil der Dampfer noch immer nicht außer Rufweite war. Gewisse Rituale von Freundschaft und Männlichkeit vertragen keine Ausdehnung über zwei, drei Minuten hinaus, und irgendwann hatte von Tempsky die Achseln gezuckt und sich umgedreht, um die arg retardierende Vorstellung abzubrechen, die sie einander gaben.
Es war ausgemacht, dass Gowers so bald wie möglich zurückkommen würde oder aber, für den Fall unvorhersehbarer Umstände, von Tempsky in seinem Haus auf der Coromandel Range aufsuchen sollte. Denn noch immer war keineswegs sicher, ob, wann und in welchem Umfang der Krieg tatsächlich stattfinden würde. Von Tempsky hatte außerdem das sichere Gefühl, dass »Fighting Mac« diesmal nicht nur den Ruhm, sondern auch die Taten für sich allein haben wollte. Untergeordnete Tätigkeiten aber würde er, Manu-Rau, nicht ausüben und in diesem Fall demissionieren. Dennoch hätte er gern gewusst, wie die Jagd des Investigators ausgehen würde.
Als Gowers in der Abenddämmerung und in Sichtweite des Festlands die Mündung des Rangitikei River passierte, hatte er keine Ahnung, dass im gleichen Augenblick wenige Meilen stromaufwärts eine erschöpfte Gruppe schwer beladener Soldaten unter dem Kommando eines grimmig, aber zufrieden dreinblickenden Colonels den Fluss von Süden nach Norden überquerte. Die Männer hatten in jeder Siedlung, die sie berührten, bei jedem Passanten, der ihnen hinterhersah, Hohn und Spott geerntet, denn ihre Hosen waren am Hintern ausgeschnitten, und so waren sie gezwungen, der Welt auf die lächerlichste Weise ihre schmutzige, bisweilen auch schon durchgesessene Unterwäsche zu präsentieren.
Als sie am nächsten Abend Wanganui Town erreichten, wurden sie in diesem jämmerlichen Zustand durch die Stadt und danach der gesamten Truppe vorgeführt, ehe sie in der Gefängnisbaracke ihre Hosen mit einem leuchtend roten Leinenstoff wieder zusammenflicken durften. Von da an nannte man sie, wenig geistreich, nur noch die Rotärsche, und zu seiner Verblüffung entdeckte von Tempsky unter ihnen einen schlaksigen jungen Mann mit einer rosigen Narbe im Gesicht.
»James Bradley?«, fragte er, wobei er ihn im Vorübergehen hart an der Schulter fasste.
»Jawohl, Sir!«, sagte der Junge, zitternd nach den ausgestandenen Schikanen und voller Angst vor weiteren.
Von Tempsky überlegte. Er hatte keine Beweise dafür, dass dieser Mann in Wirklichkeit James Fagan hieß und ein Mörder war, und der einzige Zeuge für diese Behauptung befand sich im Augenblick hundertfünfzig Meilen entfernt in Wellington. Er konnte den Mann also weder anklagen noch einsperren. Aber wenn der Amerikaner wirklich ein Detektiv war, würde er wohl bald herausfinden, dass Fagan wieder in Wanganui war. Bis dahin …
»Sie werden in meine Einheit versetzt!«, sagte von Tempsky barsch und wischte sich die Hand an der Hose ab, als hätte er etwas Schmutziges angefasst.
105.
In Wellington fluchte John Gowers zur gleichen Zeit auf die Langsamkeit seines Dampfers, auf die Sturheit des Gefängnispersonals und seine eigene Ungeduld. Er hatte das Nest sozusagen noch warm, aber leer vorgefunden; McDonnell hatte die Deserteure drei Tage zuvor aus dem Gefängnis geholt und die Gefangenenliste mitgenommen. Es ließ sich nicht feststellen, ob Fagan in dieser Gruppe war, denn niemand hatte sich die Mühe gemacht, ein Duplikat oder gar eine Personenbeschreibung anzufertigen.
Die Zivilverwaltung arbeitete auf untergeordneter Ebene noch alles andere als perfekt; aber als Gowers, offensichtlich ein einfacher Trooper, im ersten Ärger diese Vermutung – mit deutlich anderer Wortwahl – äußerte, war überhaupt niemand mehr bereit, ihm die Männer zu beschreiben oder auch nur vernünftig mit ihm zu reden.
»Zwei Arme, zwei Beine und ein Kopf mit Ohren dran, wenn ich mich recht erinnere«, sagte ein gnadenlos witziger Beamter. »Und was die besonderen Kennzeichen betrifft, da ist mir eins aufgefallen: Egal, wie sie sich gedreht haben, der Arsch war immer hinten!«
Gowers verzog den Mund zu einem säuerlichen Grinsen und legte eine Banknote auf den Tisch.
»Wollen Sie mich beleidigen?!«, fuhr ihn der Beamte an.
»Nein«, antwortete der Investigator. »Ich fand den Witz so gelungen. Und ich wüsste gern, wo sie sie geschnappt haben.«
Der Mann schaute zwischen Gowers und dem Geldschein hin und her. Dann siegte offenbar die Überzeugung, dass er kein Staatsgeheimnis verraten würde.
»Im Alpacha. Zwischen den Beinen hatten die nämlich auch noch was!«
Das Alpacha war ein Hafenbordell, wie Gowers schon Hunderte gesehen hatte: ein kleiner Schankraum mit vier Tischen, eine Theke, die nur aus einer Holzplanke und zwei Bierfässern bestand, und eine enge, wenig vertrauenerweckende Treppe, die in die Räume führte, in denen die eigentlichen Geschäfte abgewickelt wurden. Nur zwei Frauen, was an der Vormittagsstunde liegen mochte, zu der er hergekommen war. Eine jüngere, dralle Person, eine hagere ältere, die sich beide vor seinem Tisch aufbauten, als er sein Glas Gin getrunken hatte, und sich sehr bemühten, etwas Verführerisches in ihre Bewegungen zu legen.
»Können wir noch etwas für dich tun, Soldat?!« Die junge Frau beugte sich so zu ihm herunter, dass er um ein Haar ihre Brüste ins Gesicht bekam.
»Wer von euch arbeitet länger hier?«, wollte er wissen, und die Huren schauten sich fragend an.
»Das bin ich«, antwortete die Ältere.
»Dann kannst du etwas für mich tun«, sagte Gowers und ließ sich von ihr nach oben führen.
»Zehn Shilling, Sir!«, verlangte sie, aber er hielt ihr eine Pfundnote hin. Sofort wurde ihr Lächeln freundlicher, und sie wiegte sich in den Hüften, drückte sich mit spitzen Knochen an ihn. Es war, als hätte er ein Licht angezündet.
»Zieh dich aus«, sagte er. »Habt ihr hier Wasser?«
Sie zeigte auf eine gefüllte, aber offenbar auch schon mehrfach gebrauchte Waschschüssel auf einer wackligen Kommode und entkleidete sich, während er die Fensterläden öffnete.
»Ich mache es nicht gerne bei Licht«, sagte sie.
»Aber ich«, antwortete er bestimmt und kontrollierte ausführlich ihre Achselhöhlen und die Haare in ihrem Schoß. Keine Läuse. Nachdem er ihr lange in den Mund gesehen und sogar ihre Lippen hochgehoben hatte, feuchtete er ein Handtuch an und begann, sie zu waschen. Dabei dehnte er seine Inspektion auf ihre Geschlechtsteile aus, war mit dem Ergebnis zufrieden und fing an, seine Fragen zu stellen.
Ja, sie erinnerte sich an die Männer, die die Polizei verhaftet hatte. Namen kannte sie allerdings nicht. Nach Otago wollten sie alle. Ja, sie hatten erzählt, dass sich drei von ihnen schon auf den Weg gemacht hätten. Im Hafenbüro könnte man vielleicht ihre Namen erfahren, es gäbe da Passagierlisten und ähnliches Zeug.
Mehr musste Gowers nicht wissen. Als sie sauber war, streichelte er ihre hervorstehenden Hüften, den flachen, harten Bauch und die mageren Schenkel. Dann legte er sich zu ihr und stand bis zum nächsten Morgen nicht wieder auf.
»Bradley, Bradley«, murmelte der sehr junge Hafenbeamte und blätterte mit angefeuchtetem Finger in einer umfangreichen Liste. »Vor etwa drei Wochen, sagen Sie?«
Gowers nickte. Er hoffte beinahe, dass der Mann den Namen nicht finden würde, denn dann würde James Fagan inzwischen wieder in Wanganui Town sein, und er musste seine lange Jagd nicht auch noch auf der neuseeländischen Südinsel fortsetzen.
Der Finger hinterließ einen feuchten Fleck auf dem gelben Papier.
»James Bradley«, sagte der Beamte, als habe er eine erfreuliche Mitteilung weiterzugeben. »Auf der Proud Donkey nach Otago, vor zwanzig Tagen, Sie sagen es, Sir!«
Der Investigator seufzte tief. »Wie komme ich ihm möglichst schnell hinterher?«
Der junge Mann zog umständlich eine andere Liste aus einer großen Mappe aus angedunkeltem Leder. »Fähren nach Picton gehen natürlich alle zwei Tage, Sir. Aber von da bis Otago sind es noch gute vierhundert Meilen. Hmm!« Er blätterte vor und zurück, wobei er immer neue Speichelflecken auf Papier und Leder hinterließ.
»Eine Möglichkeit gäbe es noch, Sir«, sagte er nach einer Weile. Er drückte seinen weichen, feuchten Finger auf eine bestimmte Stelle in seinen Papieren. »Die Rifleman, Versorgungsschiff der Regierung. Geht in zehn Tagen nach Dunedin ab, hat aber einen Zwischenhalt auf den Chathams. Wird also alles in allem eine Woche unterwegs sein.«
Gowers überschlug kurz diese Zeitangaben. Über Land wäre er auch nicht wesentlich früher auf der Otago-Halbinsel und in den Goldgräberlagern.
»Mein Schiff«, sagte er knapp und zählte das Geld für die Passage auf den Schreibtisch.
106.
Obwohl er sich in seinen schwachen Stunden gelegentlich mit beiden Händen zum eigenen Verstand gratulierte, war der Detektiv hinsichtlich seiner äußeren Erscheinung Realist. Zwar konnte er das vertrauenerweckendste Gesicht der Welt machen, das besorgteste, ehrlichste, seriöseste, war also ein nicht untalentierter Schauspieler, aber die Rolle des ersten Liebhabers war nicht seine und nie seine gewesen. Gabriel Beale konnte sich nicht erinnern, dass in seinem Leben auch nur eine einzige Frau mit ihm geschlafen hatte, weil sie ihn attraktiv fand. Stets musste er Geld ausgeben oder zumindest den Eindruck erwecken, welches zu besitzen. Im Drang seiner Jugend hatte er sich in den verrufenen Straßen New Yorks sogar gelegentlich als Polizist ausgegeben und gefallene Mädchen verhaftet, sie aber gegen entsprechende Dienstleistungen wieder laufen lassen. Die hatten ihn einige Male sogar von sich aus geküsst.
Umso überraschter war er, dass sich jetzt, in seinen mittleren Jahren, hier, in New Orleans, eine verhältnismäßig junge Frau offensichtlich in ihn verliebt hatte. Molly war erst wenig über dreißig, nicht schön, aber für seine Begriffe hübsch, nicht unberührt, aber auch nicht sonderlich erfahren, und das Vergnügen, das er ihr im Bett offensichtlich bereitete, beeinflusste sein Selbstbewusstsein in einem Maß, das weder seinem Alter noch seiner Intelligenz angemessen war. Sicher, sie hielt ihn für einen Professor aus Harvard, Jacob Files: Andrew Jackson und seine Zeit, aber sie fragte weder nach Geld noch nach einer gemeinsamen Zukunft, sondern genoss anscheinend ganz einfach das Zusammensein mit ihm.
Madame Clairborne war so amüsiert, dass sie ihrem feisten kleinen Besucher, dem die wissenschaftliche Redlichkeit aus allen Knopflöchern drang, manchmal fast laut ins Gesicht gelacht hätte. Jean hatte ihr gesagt, dass man ihm nachspüren würde, aber sie hatte eher mit martialischen Verfolgern gerechnet, bärbeißigen Fragen, unterschwelligen Drohungen, vorgehaltenen Waffen. Dieser Kerl war zum Schießen, seine Fragen nach dem Krieg von 1815, der Schlacht von New Orleans, General Jackson, Gouverneur Clairborne und Barataria beinahe rührend, und sie genoss das Schauspiel, das er ihr bot, volle zwei Kannen Tee hindurch, ehe sie ihn durch ihr Dienstmädchen hinausexpedieren ließ. Selbstverständlich hatte sie nichts gesagt, aber durchblicken lassen, dass sie Verschiedenes wisse, freute sich bereits auf ein weiteres Zusammentreffen mit Professor Files, um noch weniger zu sagen und noch mehr durchblicken zu lassen – und wunderte sich dann, dass sie den Mann nie wiedersah.
Beale hatte schon nach weniger als einer halben Stunde gemerkt, dass Madame Clairborne ihn durchschaut, dass John Lafflin, der auf ihre Initiative hin freigelassen worden war, sein Auftauchen in irgendeiner Weise angekündigt haben musste. Er wahrte jedoch den Schein, beschloss erbittert, in seinem Leben nie wieder Tee zu trinken, und hielt sich dann an das Mädchen der Lady.
Molly war während des gesamten Gesprächs im Zimmer geblieben, und das wies auf eine Vertrautheit mit den Angelegenheiten ihrer Herrin hin, die ihn leichter und sicherer zum Ziel bringen würde. Zu seiner Erleichterung trank sie lieber Bier als Tee und war schon nach einem einzigen Abendessen so zutraulich geworden, dass es den Detektiv, wie gesagt, fast ein wenig aus der Bahn warf.
»Jack! Jack!«, keuchte sie in sein Ohr, als er in ihr war, und ihre Leidenschaft wurde so zügellos, dass Gabriel Beale einige Sekunden brauchte, um zu begreifen, dass sie ihn meinte. Ihr Höhepunkt überschwemmte ihn bis zu den Knien, und für ein paar selige Augenblicke, in denen sie ihre Fingernägel in seine fleischigen Lenden bohrte, wünschte er, er wäre tatsächlich Jacob Files, Professor für amerikanische Geschichte. Dann verging auch ihm Hören und Sehen.
Während ihre Köpfe und die schamlosen Gedanken darin allmählich abkühlten und die köstliche, träge Zufriedenheit der Körper sich einstellte, fand der Detektiv wieder zu sich selbst und überlegte müde, milde, wie er Molly die Informationen entlocken könnte, die er brauchte. Sollte er direkt nach John Lafflin alias Jean Laffitte fragen? Oder diesen heiklen Punkt langsam einkreisen, indem er die Bekanntschaften und Besucher Madame Clairbornes abklopfte? Und wie sollte er seine Neugier im Einzelnen begründen?
Die Lösung seiner Probleme kam aus einer gänzlich unerwarteten Richtung, als das Mädchen sich dankbar und zärtlich an seine Seite kuschelte und seine Hoden in die Hand nahm.
»Wann fährst du zurück nach Boston?«, fragte sie.
Was zum Teufel soll ich in Boston?, dachte er, sich seiner Rolle als Harvardprofessor noch immer nicht wieder völlig bewusst. Nur dass eigentlich er derjenige sein wollte, der die Fragen stellte, war ihm klar. »Warum? Willst du mich schon loswerden?«
Sie lächelte, auch weil sie fühlte, dass sein Geschlechtsteil auf ihr sanftes Streicheln bereits wieder zu reagieren begann. »Nein«, sagte sie, »weil wir vielleicht zusammen fahren können!«
Beale verstand nicht und befürchtete, dass es nun doch eine gemeinsame Zukunft sein könnte, deren Androhung irgendwo in diesem Satz schlummerte. »Willst du kündigen?«, fragte er besorgt.
»Nein, aber Madame zieht für ein Jahr in den Norden. Nach Baltimore. Sie hat schon einen ganzen Eisenbahnwaggon für ihre Sachen gemietet.«
Der Detektiv zuckte ein wenig zusammen, aber Molly dachte, das läge daran, dass sich ihre Finger inzwischen um sein Glied geschlossen hatten, und bewegte ihre Hand langsam auf und ab, bis es nicht mehr hineinpasste. In Wirklichkeit waren es die Worte »in den Norden« und »Eisenbahnwaggon«, die Gabriel Beale elektrisierten.
»Baltimore und Boston liegen näher zusammen als Boston und New Orleans!« Sie rutschte an seinem schweißnassen Körper nach unten. »Wir können das also ein ganzes Jahr hindurch tun«, sagte sie noch, ehe ihr Mund ihre Hand ersetzte. Der Detektiv verschränkte die Arme hinter dem Kopf, und ein erschreckend seliges Lächeln trat auf sein Bulldoggengesicht.
»Sie wollen sie per Zug nach Norden bringen«, konnte Gabriel Beale seinen Auftraggebern nach nur zwei Tagen mitteilen. Glücklicherweise fragte niemand, wie er an diese Information gekommen war.
107.
Als das heroische Zeitalter der amerikanischen Eisenbahn betrachtet man heute die 1860er-Jahre und den Bau der transkontinentalen Bahnlinien. Erst sie haben den Westen erschlossen, Atlantik und Pazifik miteinander verbunden, die Vereinigten Staaten auch geografisch zusammengeführt. Erst jetzt wurden die großen Ingenieurleistungen vollbracht, die sagenhaften Vermögen verdient, wurden staatlich organisierter Landraub und Aktienschwindel in bisher nicht gekanntem Ausmaß betrieben.
Dass die Union oder Kansas Pacific, die Great Northern und die Atchison, Topeka & Santa Fe Railroad Companies an ein bereits gut ausgebautes Schienennetz östlich des Mississippi angeschlossen werden konnten, war jedoch eine Leistung der beiden vorangegangenen Jahrzehnte. Dutzende kleiner Eisenbahngesellschaften hatten vor allem im Norden Städte und Fabriken bereits so engmaschig miteinander verbunden, dass Fahrpläne erforderlich waren. Lediglich der Süden war in dieser Hinsicht noch unterentwickelt, betrachtete die Eisenbahn aber ohnehin nur als verkehrs-und transporttechnische Notlösung überall dort, wo es keine schiffbaren Flüsse gab.
Nur eine einzige Bahnlinie führte beispielsweise im Jahr 1857 aus Louisiana heraus, von New Orleans nach Norden, zwischen Lake Pontchartrain und Lake Maurepas, den Tangipahoa hinauf bis nach Jackson/Mississippi. Hier teilte sich der Schienenstrang, führte nordwärts nach Memphis und östlich über die Jackson Prairie nach Meridian und weiter durch Alabama und Tennessee bis nach Virginia und schließlich nach Washington. Gabriel Beale kannte diese Strecke. Er war sie heruntergekommen, als General Willoughby ihn herbeitelegrafiert hatte, weil ihm der vieltausendfach befahrene Seeweg von New York nach New Orleans zu unsicher erschien.
In der Tat waren ihm Wasser und Wind unheimlich, und er bevorzugte die Dampfkraft, die Maschinen und alles, was Menschen produzierten, was Menschen taten. Das war sein Beruf. Auf seinem Weg in den Süden hatte er etwa einen allmählichen Wechsel im Charakter der Landesbewohner beobachtet: In den Alleghenies hatten die Bahnhofsvorsteher noch zuverlässig mit Trillerpfeifen und Signalkellen hantiert, aber schon in Tennessee hatten sie alle eine Hand in der Hosentasche, in Alabama meist sogar beide. Hatten die Herumlungerer am Bahnhof von Knoxville sich zumindest gelegentlich noch mit dem linken Fuß am rechten Schienbein gekratzt, so fehlten derlei Aktivitäten im Staat Mississippi nahezu völlig.
Es sah John Lafflin und der Frau, die man Moses nannte, sehr ähnlich, dass sie dreist genug waren, die gestohlenen Nigger quer durch die Südstaaten zu transportieren – vor allem diese Überlegung sorgte dafür, dass der Detektiv und seine Auftraggeber sich ihrer Sache sicher waren, als sie per Sonderzug und bis an die Zähne bewaffnet die Verfolgung der Flüchtigen aufnahmen.
Herauszufinden, was für einen Waggon Madame Clairborne gemietet hatte und wann er wohin abgefahren war, war sozusagen Routine. Telegramme an alle Bahnstationen bis nach Tuscaloosa hinauf würden den Transport aufhalten. Und schon in Pelahatchie/Mississippi wurden die Verfolger fündig. Der Sheriff des kleinen Orts hatte, durch die Telegramme alarmiert, den Waggon abkoppeln und auf dem einzigen Abstellgleis der Station stehen lassen. Aber zu mehr, als ihn eine Nacht hindurch von seinen zuverlässigsten Deputies bewachen zu lassen, reichten seine Befugnisse und sein Mut nicht aus, denn es war ein dicht geschlossener Viehwaggon, und die Botschaft aus New Orleans sprach davon, dass die Nigger darin möglicherweise bewaffnet waren. Sollten doch die Besitzer selbst durch die schmalen Ritzen ins Innere spähen!
Die Louisiana-Miliz, Regiment Denham Parish, traf, mit Ausnahme von gut einem Dutzend Wachen, die bei Baton Rouge den Fluss abriegelten, gegen Mittag in Pelahatchie ein. General Willoughby persönlich befehligte die vollständige Einkesselung des Waggons, die Attacke würde allerdings Henry Hunter anführen und sich so für die Katastrophe von Barataria rehabilitieren können. Dass die Flüchtigen auch diesmal eine Kanone bei sich hatten, war nicht zu befürchten.
»Ihr da drin«, rief Hunter mit seinem dröhnenden Bass, als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, »kommt freiwillig heraus, oder wir machen ein Sieb aus dem Wagen!«
Die Bevölkerung von Pelahatchie, in sicherer Entfernung hinter dem Stationsgebäude, nahm vor Erregung die Hände aus den Taschen, aber es geschah nur, was hier seit Jahren zuverlässig und immer wieder geschehen war: nichts.
»Wenn wir euch herausholen«, rief Hunter und betonte dieses Wort als besonders bedeutsam, »werden wir jeden dritten Mann aufhängen!«
Das nahm der Drohung mit dem Zersieben des Waggons zwar einiges an Glanz, versprach aber ein länger andauerndes Schauspiel zu werden, und auch die schläfrigsten Herumlungerer schoben jetzt ihre Hüte aus den Augen und kratzten sich mit dem linken Fuß am rechten Schienbein.
»Wir schießen in einer Minute«, brüllte Hunter nach einer Minute in die unerträgliche, brütende Stille des Pelahatchie-Mittags. Aber noch immer erfolgte kein Anzeichen für eine bevorstehende Kapitulation des Waggons.
Gabriel Beale, der sich neben General Willoughby und dem immer noch einen Arm in der Schlinge tragenden Desmond Bonneterre im Inneren des Stationsgebäudes aufhielt, versuchte einzuwenden, dass ein allgemeines Eröffnen des Feuers bei einer im Kreis angeordneten Truppe nicht ohne Risiko sei, aber da teilte Hunter seine Männer schon in entsprechende Schützengruppen ein. Nach einer weiteren letzten Warnung schlug schließlich fünf Minuten lang Salve auf Salve im Holz des Waggons ein, und die unglaubliche Präzision der Schützen, der ohrenbetäubende Lärm, die umherfliegenden Splitter und die entstehenden Löcher machten die Schlacht von Pelahatchie in der Tat zu einer sehenswerten Sache, über die in der Gegend noch lange geredet wurde. Nur irgendein Gegner zeigte und zeigte sich nicht.
Mit dem Mut der Verzweiflung und einer breiten Zimmermannsaxt schlug der tapfere Kommandeur, gedeckt von den Gewehren seiner Männer, schließlich eine Bresche in den bereits weitgehend demolierten Waggon, steckte seinen Kopf hinein – und befahl dann sehr ungehalten, die Kampfhandlungen einzustellen. Der Wagen war leer. Kein Vieh, keine Nigger, nicht einmal irgendwelche Möbel oder sonstiges Hab und Gut einer umzugswilligen alten Dame. Die Männer rangen mühsam um Fassung. Nur die Einwohner von Pelahatchie grinsten einander so fröhlich an, als hätten sie’s gleich gesagt.
»Sie sind entlassen, Mr. Beale«, zischte General Willoughby, weiß um die Nase angesichts dieser neuerlichen Blamage. Dann brachte er sich halb um bei dem Versuch, in seinem Rollstuhl ohne fremde Hilfe das Bahnhofsgebäude zu verlassen. Bonneterre sah ihm mit zunehmender Erheiterung hinterher. Dann wandte er sich tröstend an den brüskierten Detektiv.
»Im Gegenteil, Sir: Sie sind engagiert!«
»Ich verstehe nicht«, murmelte Gabriel Beale und runzelte die Stirn.
»Ich engagiere Sie, Mr. Beale. Ich biete Ihnen eine feste Anstellung. « Der junge Mann sagte das so amüsiert, begeistert von seiner eigenen Idee, dass der Detektiv es noch immer für einen Scherz hielt.
»Wie meinen Sie das, Sir?«, fragte er vorsichtig.
»Ich meine damit«, antwortete Bonneterre, in dessen Stimme nun allmählich eine unstillbare Rachsucht durchklang, »dass mir diese Nigger von vornherein ziemlich egal waren. Ich scheiße auf dreißig Nigger mehr oder weniger. Ich will die Leute kriegen, die sie uns weggeschnappt haben.« Und als Beale noch immer nicht reagierte, fügte er hinzu: »Ich meine: Wir wissen nicht, wie, aber wir wissen doch, wer ihnen geholfen hat: Lafflin, Gowers, Moses!«
Der Detektiv hatte jetzt verstanden und nickte, aber es war noch immer eine andere Frage, die er in seinem schweren Kopf bewegte: Wo waren Lafflin, Gowers und Moses in diesem Augenblick?
108.
Nahezu alle kolonialen Katastrophen des 19. Jahrhunderts, Kriege, Epidemien, Massaker, gingen auf das Unvermögen der Europäer zurück, die Denk-und Handlungsmuster der jeweiligen Ureinwohner auch nur ansatzweise zu verstehen oder verstehen zu wollen. Jenseits aller persönlichen, politischen, religiösen oder kulturellen Borniertheit, mit der die Weißen in ihren Schulen, Kirchen und sonstigen Institutionen vollgestopft wurden, war die Ursache dieses Unvermögens jedoch ihre eigene Ohnmacht gegenüber dem System, das sie geschaffen und perfektioniert hatten. Für den globalen Kapitalismus, dem sie sich so besinnungslos unterwarfen, als sei er ein Naturgesetz, war eine Kolonie nichts weiter als Rohstofflieferant oder Markt, günstigenfalls auch beides.
Formen des menschlichen Zusammenlebens, die nicht um den Nukleus des Kapitalismus – den Privatbesitz – herumgruppiert sind, waren für die Europäer nicht nur unbegreiflich, sondern so unvorstellbar wie eine Welt ohne Gravitation. Im Gegenzug war es für viele der kolonisierten Völker schlicht eine Form von Geisteskrankheit, wenn jemand mehr Land besaß, als er bearbeiten konnte, und sie betrachteten es als Irrsinn, andere am Gebrauch von Gegenständen oder der Nutzung von Gütern zu hindern, die man selbst gerade weder brauchte noch benutzte. Immer wieder waren es darum Fragen der Eigentumsverhältnisse, an denen sich die Katastrophen entzündeten, wobei stets die Weißen die Konflikte verursachten, schürten und durch sie zu profitieren verstanden.
Denn sie verweigerten den Eingeborenen ganz einfach die Gerechtigkeit, die sie ihnen doch zu bringen vorgaben. Es war schwer einzusehen, warum ein Zaun, eine Kette, eine verschlossene Tür ein geschütztes Heiligtum sein sollte, wenn sie den Besitz eines einzelnen Weißen um-und einschloss, während der Besitz eines ganzen Stammes, von Generation zu Generation weitergegeben, offiziell als herrenlos galt. Nichts anderes aber hatte der Native Land Court 1865 beschlossen – und zu keinem anderen Zweck war er eingerichtet worden; wodurch erstaunlich offensichtlich wird, dass der Kapitalismus, also der ungehemmte Erwerb von Privatbesitz, just auf dem Umstand basiert, den seine willfährigen Gesetzgeber, Gesetzeshüter und Rechtsprecher noch heute härter verurteilen und verfolgen als jede Körperverletzung: auf dem Diebstahl.
Von derlei Zusammenhängen wussten David Cahill, Thomas Squires und William Clarke wenig, als sie am 9. Juni 1868 den Waingongoro aufwärts wanderten, um Holz zu schlagen und zurechtzusägen. Alle drei waren sogenannte militärische Siedler, also Veteranen, denen man ein paar kleine Parzellen des Landes schenkte, das sie für den globalen Kapitalismus erobert hatten. Schon Julius Caesar hatte auf diese einfache Weise unterworfene Länder seinem Imperium einverleibt.
Der Waingongoro war ein nicht allzu breiter, aber sehr reißender Fluss, der von den Osthängen des Taranaki durch den nahezu weglosen Urwald von Ahipaia herunterströmte. Ohne Zwischenfall erreichten die Männer, die nur mit Äxten und einer zweieinhalb Meter langen Schrotsäge bewaffnet waren, eine Lichtung namens Te Rauna, zu der sie schon seit einem halben Jahr immer wieder gekommen waren, um ihren Landanspruch durch harte Arbeit zu untermauern. Die Ngaruahine, deren Eigentum dieses Gebiet seit achthundert Jahren gewesen war, hatten sie nie behelligt. Sie glaubten sich auch durch das nur wenige Meilen weiter südlich gelegene ständige Militärlager Camp Waihi, den äußersten Vorposten der Pakeha, ausreichend geschützt.
Verschiedene große, zum Teil dreihundert Jahre alte Bäume hatten sie bereits vor Monaten gefällt, und die Jahreszeit, der regenärmere Frühherbst, hatte die Stämme so weit getrocknet, dass sie jetzt bearbeitet werden konnten. Es war die mühseligste Arbeit beim Roden; die schweren Stämme mussten auf hölzernen Rollen oder Kufen über eine rasch ausgehobene Grube geschleppt werden, wo sie zersägt wurden. Selbst zu dritt bekamen sie manchen Stamm kaum von der Stelle, und das Ganze war genau die Sorte Anstrengung, die einem Mann das Kreuz brechen konnte. Sie hatten den ersten Stamm gerade über die Grube gehievt, Cahill und Squires begannen zu sägen, Clarke ging zum Waldrand, um ein paar kleinere Bäume zu fällen und zu Rollen zurechtzuschlagen …
Der erste Schuss traf niemanden. Die Männer unterbrachen nur ihre Arbeit und schauten auf, und vielleicht war gerade das die Absicht der Angreifer gewesen. Die darauffolgende Gewehrsalve warf Cahill tödlich und Squires schwer verwundet zu Boden, und Clarke, der sie fallen sah, wusste, dass er um sein Leben laufen musste. Aber alle Schnelligkeit nützte ihm nichts, denn acht oder neun Krieger der Ngaruahine schwärmten bereits mit wilden Schreien auf der Lichtung aus, und eine Kugel durchschlug Clarkes Arm, drang in seine Brust ein und durchbohrte sein Herz. Die beiden anderen Männer starben weniger leicht. Haowhenua, der fast siebzigjährige Anführer der kleinen Taua oder Kriegsabteilung, nahm den schweren Holzhammer auf, mit dem die Pakeha den Baumstamm verkeilt hatten, und zerschlug ihnen damit Schädel und Rückgrat.
Drei Tage später, das spurlose Verschwinden der Holzfäller und ihrer Leichen hatte Camp Waihi bereits in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, stellte Tom Smith, Mitglied der berittenen Konstabler, fest, dass sein Pferd sich in der Nacht auf wundersame Weise vom Pflock befreit hatte und nun irgendwo im Wald herumstreunte. Er hörte es wiehern. Entgegen allen Befehlen ging er allein in den Wald, um es zu suchen – und wurde dann am frühen Abend selbst dort gefunden. Allerdings konnte er nur noch anhand einer charakteristischen Verkrümmung seiner großen Zehe identifiziert werden, denn sein Oberkörper war abgetrennt worden und blieb verschwunden. Kurze Zeit später erreichte ein Brief die Siedlungen der Pakeha, dessen einfache Botschaft noch im fernen England gehört wurde und für Entsetzen in allen zivilisierten Ländern sorgte.
Reist nicht über die Straßen, befahrt nicht die Flüsse, bleibt fort aus den Wäldern, wenn ihr nicht Nahrung für die Vögel in der Luft und die Tiere auf dem Feld oder für mich werden wollt. Denn ich, Riwha Titokowaru, Häuptling der Ngaruahine vom Stamm der Ngati Ruanui, habe begonnen, das Fleisch der weißen Männer zu essen. Ich habe es ohne Widerwillen gegessen. Es wurde in einem Topf gekocht, und auch meine Frauen und Kinder aßen davon. Mein Rachen ist weit offen, um auch weiterhin Menschenfleisch zu essen, bei Tag und bei Nacht. Ich werde euch töten, wo ich euch finde, und euer Fleisch essen, um zu leben. Ich werde leben! Und wenn der Tod selbst getötet wird, werde ich leben!
Titokowaru kannte die Weißen gut genug, um zu wissen, dass er damit den innersten Kern all ihrer Ängste treffen würde. Nicht mehr politischer oder zumindest militärischer Gegner, sondern nur noch etwas zu essen zu sein hat ja auch zweifellos etwas schwer Erträgliches. Das Jahr der Töchter und des Lammes war vorüber.