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109.
Die Nachricht, dass weiße Männer getötet und verspeist worden waren, erreichte Wanganui Town am 10. Juni 1868, und damit hatte »Fighting Mac« McDonnell endlich den Krieg, auf den er seit sechs Monaten wartete. Es war wie ein Dammbruch, der all die lange aufgestauten Energien des ungewöhnlichen Mannes freisetzte.
Am Morgen des 11. war er in Camp Waihi, um sich persönlich über den ungeheuren Vorgang zu informieren, aber einen Tag später schon wieder in Wanganui; ein Wahnsinnsritt von hundertfünfzig Meilen in achtundvierzig Stunden. Am 14. traf er per Schiff in Wellington ein, im Handgepäck das Gerücht, dass Titokowaru mit zweihundert wilden Maorikriegern die gesamte Taranaki-Region wüst lege. Am 15. brachten die Zeitungen entsprechend stark verfälschte Berichte, und am 16. setzte in den weißen Städten und Siedlungen des Südens eine wahre Flut von Eheschließungen ein.
Frauen jeden Alters und aller Konstitutionen, jedweden Leumunds, selbst dreizehnjährige Mädchen und in Ehren ergraute Witwen sahen sich plötzlich den erotischen und finanziellen Lockungen stattlicher junger Herren ausgesetzt. Denn obwohl eine sinnreiche und noch immer nachdenkenswerte Verordnung über das Einberufungswesen festsetzte, dass die Dienstpflicht eines Mannes fünfundzwanzig Meilen jenseits seines Heimatorts automatisch endete, wurden doch bevorzugt die unverheirateten Herren der Schöpfung zur Miliz eingezogen; was jetzt auch die eingefleischtesten Junggesellen veranlasste, ihre Positionen hinsichtlich des Ehestands neu zu definieren.
Eine Vereinigung sitzen gebliebener alter Jungfern hätte also nichts Sinnvolleres tun können, als irgendwo einen Krieg anzuzetteln, um dem bärtigen Teil der Bevölkerung Beine beziehungsweise Freiersfüße zu machen. Es gab in der Männergesellschaft der jungen Kolonie aber ohnehin nur relativ wenig unverheiratete Frauen, und so hatte McDonnell am Ende des Monats rund zweitausend Mann, Konstabler, Milizen und Freiwilligenregimenter wie die Wellington Rifles, unter Waffen – gegen die maximal sechzig Krieger, die dem Häuptling der Ngaruahine in die offene Rebellion gefolgt waren.
Zwar bedurfte gut die Hälfte seiner Soldaten noch einer gründlichen Ausbildung, zwar mussten die Kupapa, die mit den Weißen verbündeten Maorikämpfer, noch rekrutiert werden, aber McDonnell konnte immerhin mit Nachschub an Männern und Material sicher rechnen und befahl Anfang Juli die Anabasis der Patea Field Force auf die Waimate Plains und nach Camp Waihi. Der Aufmarsch seiner Truppen vollzog sich jedoch nur langsam, da er kleine Garnisonen in jedes Dorf, jedes Fort auf seinem Weg legen ließ.
James Fagan oder Bradley, wie er sich selbst bereits manchmal nannte, hatte geglaubt, seine Versetzung zu von Tempskys Truppe sei eine vorübergehende Schikane aufgrund seiner Desertion. Obwohl weder lange noch gern Soldat, hatte er anfangs sogar ein widerwilliges Verständnis für diese Maßnahme gehabt. Er hatte Mist gebaut und musste nun eben eine Weile in die Schule des härtesten Hundes gehen, den es in den neuseeländischen Streitkräften gab. Er ertrug das, wie schlechte Soldaten und schlechte Schüler vergleichbare Situationen immer ertragen haben und ertragen werden: wie ein Gewitter, das irgendwann vorüber sein wird, wenn man den Kopf lange und tief genug einzieht.
Er versuchte sogar, durch Dienstbeflissenheit und peinlich genaue Befolgung aller Befehle wenn schon nicht das Wohlwollen, so doch die Gleichgültigkeit seines Vorgesetzten zu erringen. Aber von Tempsky war unnachgiebig. Seine eigenen Männer wunderten sich bereits, warum er den Jungen derart auf dem Kieker hatte. Dann aber nahmen sie die Sündenbockrolle des Rekruten Bradley dankbar in ihre eigenen Verhaltensmuster auf.
Von Tempsky konnte den Mann nicht leiden? Dann sollte man sich möglichst nicht neben den Mann stellen. Eine Proviantkiste war verschwunden? Hat die nicht Bradley getragen?! Eine Brotration war verschimmelt? Bradley hat sie im Regen liegen lassen. Bradley konnte tun, was er wollte – es war jedes Mal falsch, und allmählich bekamen seine Augen den Ausdruck eines gehetzten Kaninchens, das kein Loch mehr findet. James Fagan wäre jetzt gerne desertiert und dabei sogar größere Risiken eingegangen als beim ersten Mal, hätte es vielleicht sogar alleine versucht; aber seine Angst vor dem Land, durch das sie marschierten, war immer ein bisschen größer als die vor seinem Vorgesetzten und seinen Kameraden.
Sie bewegten sich auf einem manchmal nur wenige Meilen breiten Streifen offenen Geländes zwischen der rauen, regengepeitschten See und dem düsteren schwarzen Rand eines unheimlichen Waldes, der seine Feindschaft gegen Säge, Hacke und Pflug in schweren, lastenden Nebelschwaden auszuschwitzen schien. In diesem Wald steckten wilde Menschen, blutrünstige Ungeheuer, die jeden Weißen, der sich auch nur in den Schatten der Bäume wagte, auffressen würden. Die Botschaft in Titokowarus Brief war auch bei den einfachen Soldaten angekommen und wurde durch ständiges Nach-und Neuerzählen in den Zelten der Patea Field Force nicht weniger Furcht einflößend.
Und so schlotterten Männer wie James Fagan vor Angst, wenn sie dem Wald von Ahipaia auf dem täglichen Gang zu Balken und Graben auch nur nahe kamen. Für den Mörder stellte sich dabei jedoch irgendwann eine andere, beinahe beruhigende Überlegung ein: Sosehr ihn die Schikanen und die Nähe zu seinem Vorgesetzten auch quälten – wenn ein Mann den Weg durch diese Hölle kannte, wenn einer dem Teufel von der Schippe und den Kannibalen aus dem Kochtopf sprang, dann würde es der gefürchtete Manu-Rau, würde es wohl Gustav Ferdinand von Tempsky sein. Insofern war es natürlich von Vorteil, immer an seiner Seite zu sein.
110.
Die Rifleman war eine dreimastige Schonerbark mit Gaffel-und Gaffeltoppsegeln an Groß- und Besanmast, während der Fockmast rahgetakelt war. Sie vereinte damit die Vorteile der beiden Schiffstypen, war also einerseits schnell und andererseits für große Lasten gebaut und auch von einer relativ kleinen Besatzung leicht zu handhaben. Gowers fühlte sich auf dem Schiff an seine Zeit bei der Handelsmarine und seine Fahrten in die Karibik erinnert.
Die See indes hatte nichts südlich Mildes mehr, ging kalt und rau, je näher sie dem vierundvierzigsten Breitengrad kamen. Zwar schoben die Roaring Forties sie mit Gewalt in die richtige Richtung, nach Südost, und schon anderthalb Tage nach dem Auslaufen von Wellington wurden sie praktisch in die weite Petre Bay von Chatham Island hineingedrückt. Aber Gowers war Seemann genug, um zu wissen, dass der Rückweg nach Dunedin, nach Otago und zur Südinsel und das Kreuzen gegen diesen mächtigen Wind umso länger dauern würden.
Ein kalter Nieselregen durchdrang mit gefühlloser Allmählichkeit Segel, Taue und Kleidung. Erst auf der Haut bildete er wirkliche Tropfen, die aber dann an Rückgrat und Beinen hinunter bis in die Stiefel rannen. Es war Freitag, der 3. Juli und der Höhepunkt des südlichen Winters, als sie Tikitiki Point passierten und in die Bucht von Waitangi einliefen, wo die kleine Ketch Florence bereits vor Anker lag.
Das größere und das kleinere Schiff! Und die Wolken waren vom Himmel gestiegen, man atmete ihre feinen Tropfen ein. Die Hütten der Whakarau in der Otea-Niederung, nichts als schäbige Konstruktionen aus Baumfarn und Flachs, wurden so feucht, als würden sie schwitzen. Der Samstagmorgen fand die Gefangenen dennoch aufgekratzt und betriebsam, denn alle erinnerten sich an die Zeichen, die Te Kooti ihnen zwei Monate zuvor angekündigt hatte.
Anne Smith, die Frau des Landvermessers Percy Smith, der gerade auf Chatham beschäftigt war, bekam schon am frühen Samstagmorgen unerwarteten Besuch. Es war Kuare, ein junger Gefangener, der vor einigen Wochen für sie gearbeitet hatte. Damals hatte er nicht den Lohn verlangt, der, so klein er auch war, den Whakarau zustand. Er könne sich ohnehin nichts davon kaufen, hatte er gesagt; nun wollte er plötzlich doch sein Geld, und Anne zahlte ihn aus, ohne sich etwas dabei zu denken. Auch als sein Schwager Ohe, der ihr einmal mit der Wäsche geholfen hatte, kurze Zeit später auftauchte und sie um die Bezahlung seiner Dienste bat, schöpfte sie keinen Verdacht. Aber dann kam ein dritter Mann, der alte Tawake, der ihr gelegentlich Milch verkauft hatte, und bestand auf dem Ausgleich seiner Rechnung, die am Monatsende fällig gewesen war.
Anne, die inzwischen kein Bargeld mehr im Haus hatte, vertröstete ihn und sah dann zu ihrer Verblüffung, dass der alte Mann trotz seiner tiefen Betrübnis nach Otea zurückrannte, so schnell es einem schwindsüchtigen Fünfzigjährigen nur möglich war. Etwas musste im Gange sein, dachte sie, dass plötzlich alle ihr Geld haben wollten. Vielleicht war ein Versorgungsschiff eingetroffen, und es gab wieder etwas, das sie kaufen konnten.
Der Regen fiel jetzt schwer und so dicht aus dem grauen Himmel, dass sein Aufschlagen auf den Decksplanken klang wie in der Pfanne prasselndes Fett. Gowers hatte am frühen Morgen nur einen kurzen Blick auf die trostlose Insel geworfen und sich dann wieder unter Deck begeben, wo er so viel wie möglich von den trommelnden Regengüssen zu verschlafen versuchte.
Er war der einzige Passagier an Bord und hatte es nicht nötig, sich beim Entladen des Versorgungsschiffs so nass regnen zu lassen wie der Kapitän und die sechs Männer der Besatzung. Ein unaufschiebbares Bedürfnis trieb ihn am frühen Nachmittag nach oben, und während er es erledigte, sah er, dass zwei Boote mit Maori zwischen der Rifleman und dem rauen Kiesstrand der Waitangi Bay pendelten, um Lebensmittel, landwirtschaftliche Geräte und Handelsgut an Land zu schaffen.
In diesem Moment wurde am Fahnenmast des Gefangenenlagers über den dunklen Hütten eine seltsame Flagge aufgezogen: weiß, mit einem roten Saum, einem aufgestickten roten Kreuz und den Buchstaben WI. An Deck entstand daraufhin ein fröhlicher Lärm. Er hörte Frauenstimmen durch den niederrauschenden Regen und beschloss, sich das Treiben aus der Nähe anzusehen.
»Dies ist der Tag, den Gott für uns gemacht hat, und der Regen ist das Zeichen der Befreiung«, sagte Te Kooti und gab mit seiner selbst angefertigten Flagge das Signal, den lange vorbereiteten Fluchtplan in die Tat umzusetzen. Er selbst führte eine Gruppe von Whakarau mitten ins Fort der Konstabler; unter dem Vorwand, wie jeden Samstag das Feuerholz für die kommende Woche zu liefern.
Captain Thomas wunderte sich noch über die Bereitwilligkeit, mit der die Gefangenen dieser ihnen eigentlich verhassten Pflicht trotz des strömenden Regens nachkamen. Im nächsten Augenblick, und ehe sie ihre Waffen ziehen konnten, fanden er und vier seiner Wachen sich von den Kriegern umringt und wurden mit den Flachsseilen gefesselt, mit denen zuvor das Holz gebündelt gewesen war. Eine zweite Gruppe Gefangener drang unter Führung von Tekateka zur gleichen Zeit in die Waffenkammer der Garnison ein, und bevor jemand Alarm geben konnte, waren auch hier die Wachen überwältigt und gebunden.
Der gelungene Gefangenenaufstand wurde später selbst von den überrumpelten Konstablern als »präzise, rasch und vollständig durchdacht« bezeichnet, und nur ein Umstand trübte den kampflosen Sieg der Whakarau. Te Kooti hatte ausdrücklich befohlen, dass kein Pakeha getötet werden dürfe, aber als Tekateka auf den Sergeanten Michael Hartnett stieß, siegte ein älteres Recht als das des Propheten, und der verhasste Quälgeist und Vergewaltiger fiel tödlich getroffen unter den rasenden Axthieben von Hulana Tamatis Ehemann.
Tatsächlich waren auch Wahines junge Maorifrauen an Bord gekommen, deren nasse Kleider mehr von ihren üppigen Körpern zeigten als verhüllten. Während ihre Männer, wohl zur Unterhaltung der weißen Besatzung, den Haka, den neuseeländischen Kriegstanz, aufführten, begannen diese Frauen einen Tanz, der sehr viel weniger kriegerische Gedanken auslöste. Sie schwenkten vielmehr Brüste und Hinterteile so verführerisch vor den Augen der sexuell ausgehungerten Seeleute, dass uralte Greifreflexe nicht lange ausbleiben konnten.
Selbst John Gowers ließ sich von Maata Te Owai, der zweiten und jüngeren Frau des Propheten, zu einem Annäherungsversuch hinreißen und stellte lächelnd fest, dass sie offenbar nichts gegen seine Hände auf ihren zuckenden Hinterbacken einzuwenden hatte, denn sie hielt sie selbst in dieser Position fest. Sein Verstand rutschte bemerkenswert deutlich in seine Hose, sie drängte ihren Unterleib gegen die entstehende Erektion, und weder er noch ein anderer der so oder ähnlich abgelenkten Pakeha bemerkte, dass sie irgendwann von Gefangenen umringt waren und an Land, in der Garnison, plötzlich eine zweite Flagge gehisst wurde.
Augenblicklich zogen die Frauen sich zurück, und die weißen Männer blickten verdutzt in die Gewehrläufe, die die Whakarau auf ihre Köpfe richteten. Karanama Ngerengere, Anführer der Rifleman-Gruppe, erklärte ihnen in überraschend höflichen Worten, dass sie seine Gefangenen seien, dass ihnen aber nichts geschehen würde, wenn sie sich ohne Widerstand auf den Boden setzen und die Arme hinter dem Kopf verschränken würden.
Ihre aussichtslose Lage ließ ohnehin keinen nennenswerten Widerstand zu, und so setzten sie sich auf die nassen Planken und empfanden ihre eigene Dummheit nur noch ein Mal als bis zum Erröten unangenehm: als Maata Te Owai und die anderen Frauen ihnen lachend die Zunge herausstreckten.
111.
John Gowers war mit Commander Robert McClure gefahren, hatte die britischen Kapitäne Kellett, McClintock, den Admiral Belcher und viele andere kennengelernt. Im Bürgerkrieg hatte er die Ironclads, die gepanzerten Kanonenboote, von Admiral David Glasgow Farragut nach New Orleans gelotst, als Scout eine Zeit lang unter den Generälen Butler und Sherman gedient und mit dem großen Ulysses S. Grant ein halbes Jahr lang Vicksburg belagert. Aber nie hatte er bei einem Mann so viel natürliche Autorität gespürt wie in dem Moment, als Te Kooti Arikirangi Te Turuki das Deck der Rifleman betrat.
Sicher, Grant hatte bei seinen erbarmungslosen Angriffen auf die Truppen der Konföderierten das Leben Zehntausender Soldaten geopfert, Billy Sherman auf seinem berühmten Marsch zum Meer eine Schneise von Tod und Verwüstung durch die Südstaaten geschlagen. Aber stets war es die militärische Notwendigkeit gewesen, die sie antrieb, und der eine war darüber zum Alkoholiker, der andere schwer depressionskrank geworden. Te Kooti hingegen war der ernsthaften Überzeugung, als Abgesandter Gottes zu handeln, und betrachtete deshalb sowohl das Leben seiner Gefolgsleute als auch das seiner Feinde als ein ihm überlassenes, als sein persönliches Eigentum. Seine Kommandogewalt beruhte nicht auf einer zeitweise übernommenen militärischen oder politischen Pflicht, sondern war ein Recht, das er wahrnahm. Das machte ihn zum gefährlichsten Menschen, dem John Gowers bis dahin begegnet war.
Die Garnison überwältigt, das Schiff genommen, mit einem Schlag zur unbeschränkten Autorität geworden – obwohl Te Kooti in diesem Augenblick viel zu tun und noch mehr zu bedenken hatte, fiel ihm sofort auf, dass einer der durchnässten, auf dem Boden hockenden Gefangenen anders war. Höflich entschuldigte er sich bei den Männern für die erlittene Unbill und schickte sie unter Bewachung in ihre Quartiere, damit sie sich trockene Sachen anziehen konnten.
»Sie«, sagte Te Kooti, als Gowers sich erhob, und hielt ihn mit diesem einen Wort davon ab, den anderen unter Deck zu folgen. »Wer sind Sie?«
»John Gowers«, antwortete der Investigator militärisch knapp. »Amerikaner. Passagier nach Otago.«
Te Kooti musterte ihn, die trotz seiner nassen Kleider lässige, energiegeladene Haltung, die seltsame Soldatenmütze, das ein wenig abgezehrte Gesicht und vor allem die extrem wachen Augen. »Sie sind kein Goldsucher«, sagte er nach wenigen Sekunden. Er hatte genügend Goldsucher gesehen auf ihrem Weg zur Coromandel Range, und viele von ihnen waren ebenso drahtig und auf dem Sprung gewesen, von einem inneren Feuer getrieben. Aber etwas an dem Mann, der vor ihm stand, war dennoch anders, etwas Entscheidendes: Sein Blick, sein Verlangen, war nicht nach unten und auf die Erde gerichtet, sondern auf etwas am Horizont. Te Kooti spürte es, denn er war, auf ganze andere Weise, von ähnlicher Art.
»Was wollen Sie in Otago?«
Auch Gowers fühlte instinktiv, dass es keinen Sinn haben würde, diesen Mann anzulügen, und er antwortete ruhig: »Ich jage einen Mörder. Einen, der in Melbourne zwei Kinder und eine Frau getötet hat.«
»Ein langer Weg«, stellte Te Kooti respektvoll fest. »Aber Sie sind kein Polizist!« Einen Moment lang glaubte er, den Mann dieser Frau in Melbourne und den Vater jener Kinder vor sich zu haben. Aber dafür brannte die Rache in seinen Augen wiederum nicht hell genug. »Sind Sie ein Detektiv?«
»Investigator«, entgegnete Gowers. »In Amerika sagen wir: Investigator. Ich ermittle im Auftrag der Eltern.« Das stimmte schon lange nicht mehr, und Gowers fühlte, dass sein Gegenüber es spürte.
»Was werden Sie mit dem Mörder tun?«, fragte Te Kooti und setzte damit als selbstverständlich voraus, dass der Amerikaner seinen Mann früher oder später finden würde.
»Ich werde ihn töten«, erwiderte Gowers spontan, aber ohne Hass, sondern mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der auch Te Kooti sich zum Herrn über Leben und Tod machte. Es war dieser Punkt, in dem die beiden Männer einander als ebenbürtig erkannten.
»Tut mir leid, dass ich Ihre Pläne durchkreuzen muss, Mr. Gowers«, sagte Te Kooti aufrichtig. »Aber dieses Schiff fährt nicht mehr nach Otago.«
»Ich weiß«, erwiderte Gowers, trat jetzt ohne Angst und ohne von irgendjemandem daran gehindert zu werden an die Reling und sah zum regenverhangenen Ufer hinüber. Hinter dem grauen Kiesstrand erkannte man eben noch die an den feuchten Boden geduckten Hütten der Whakarau. Durchnässte Menschen, Männer, Frauen und Kinder eilten zwischen diesem trostlosen Lager und den unablässig pendelnden Booten hin und her, und durch das Gewimmel hindurch sah Gowers plötzlich ein anderes Lager, eine andere Ebene.
Die Gefangenen von Andersonville hatten keine Hütten gehabt. Manchmal kleine Bretterverschläge, bloße Kisten, in die man zumindest den Kopf stecken konnte. Auch ein Loch, mit bloßen Händen unter einem verrotteten Baumstumpf gegraben, war ein bereits hart umkämpfter Luxus gewesen. Drei, vier, fünf Männer teilten sich eine solche Behausung und bewahrten einander vor den gewaltsamen Übergriffen der anderen, der schwächeren Gefangenen, die unter dem schwülen, erbarmungslosen Himmel der Dougherty Plains in Georgia allmählich verhungerten.
Der Flint, in Andersonville noch ein träger, schlammiger Bach, überschwemmte regelmäßig die jämmerlichen Löcher der Gefangenen und war, von Menschenscheiße und Insektenlarven bedeckt, doch ihre einzige Trinkwasserquelle gewesen. Bis zu zweitausend Männer starben hier Monat für Monat an Fieber, Hunger und Entkräftung, und die Überlebenden schlugen sich um ihre dreckverkrusteten Kleider. Die Wachen der Konföderierten, abgestumpfte, geistlose Mörder, wagten sich auch bewaffnet nicht mehr in diese Hölle – aus Angst, die verzweifelten Gefangenen würden ihnen die Kehle durchbeißen.
Captain John Gowers hatte zu denen gehört, die die nackten Leichen einsammelten und an einem bestimmten Punkt der »Totenlinie«, dem niedrigen Zaun, von dem ab auf alles geschossen wurde, was sich bewegte, zu einem schaurigen Berg aufschichteten. Eine Insel im Südpazifik, so kalt und trostlos sie sein mochte, war dagegen ein Paradies. Aber das war es nicht, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging. Es war das sichere und sonderbar solidarische Wissen, dass die Flucht das natürliche Recht des Gefangenen, jedes Gefangenen, zu allen Zeiten und in allen Ländern ist; wer auch immer er ist und was auch immer er getan hat.
Gowers wandte sich deshalb zum Anführer des Gefangenenaufstands zurück, und der noch immer heftige Regen schlug ihm ins Gesicht, als er sagte: »Wenn dieser Wind anhält, werden Sie Schwierigkeiten haben, aus der Bucht zu kommen.«
Te Kooti, von dem gleichen Regen durchnässt, nickte langsam, erwiderte aber zuversichtlich: »Gott ist auf unserer Seite, Mr. Gowers!«
Etwas in dem fast hypnotischen Blick des ungewöhnlichen Maorikriegers sagte John Gowers, dass es nicht klug wäre, zu fragen, wie viele Generäle in wie vielen Kriegen diese Worte schon gesagt haben mochten.
112.
Das Delta des Mississippi führte die Kartografen des 19. Jahrhunderts an ihre Grenzen. Nicht nur hatte der Fluss etliche Millionen Jahre lang Sediment in den Golf von Mexiko geschoben, das zu Marschland und Mangrovenwäldern angewachsen war. Er hatte sein ursprüngliches Bett auch noch zwanzig, dreißig, vierzig Meilen nach Osten verlagert und dabei das größte Sumpfgebiet Nordamerikas, den Atchafalaya Swamp, hinterlassen; zweieinhalbtausend Quadratkilometer von Altarmen, Brackwasser, Schlickgras, Sumpfzypressen und Spanischem Moos, von Alligatoren, giftigen Reptilien, Moskitos und dem gelben Fieber.
Sumpf und Marsch aber waren in der Sprache der Kartografie nie besonders beliebte Begriffe, weil sie im geologischen Sinn etwas Unfertiges, zwischen den Aggregatzuständen »fest« und »flüssig« Wechselndes bezeichnen, kurz: etwas, das man nicht guten Gewissens mit klar umrissenen Grenzen auf einer Karte eintragen kann. Denn wo heute noch ein Fluss war, ein See, eine Bucht, mochte bis zum Erscheinen der Karte längst trockener Schlamm vor sich hin erodieren – und umgekehrt.
Die unbedarfteren Kartografen zeichneten an solchen Stellen ganz einfach Hunderte von Fantasieinselchen oder -wasserläufen, wie sie es noch im Zeitalter der Aufklärung mit ganzen Kontinenten getan hatten. Die nachdenklicheren aber sahen durch Dinge wie das Delta des Mississippi ihre gesamte Kunst ad absurdum geführt und rächten sich durch gestrichelte Linien und das verächtlich hingeworfene Wort »Schlammflächen«, als seien solche Regionen keine kartografische Mühe wert und gewissermaßen selbst daran schuld.
Die US-Regierung, naturgemäß daran interessiert, die Grenzen ihres Staatsgebietes so exakt wie möglich zu kennen, hatte in den späten 1840er-und frühen 1850er-Jahren verschiedene trostlose Vermessungsexpeditionen im Mündungsgebiet des Mississippi durchführen lassen, aber die dabei entstandenen Karten waren hinsichtlich einer auch nur kilometergenauen Orientierung schon nach Jahresfrist weitgehend Makulatur. Hochwasser, Hurrikans oder einfach die Kräfte von Ebbe und Flut, die mitunter bis nach Baton Rouge spürbar waren, schufen praktisch täglich, wöchentlich, monatlich neue Inseln, verschlangen alte und veränderten die zahllosen Wege, die die Kanus und Pirogen der Cajuns in diesem Chaos einschlagen konnten.
Trotz dieser permanenten Erneuerung war die wuchernde Landschaft, die üppige Vegetation doch seit Millionen von Jahren merkwürdig gleich geblieben, und die ersten Ichthyostegen, die in den Sumpfwäldern des Karbons beschlossen hatten, ihr Jagdglück auch an Land zu versuchen, hätten keine großartigen Veränderungen wahrgenommen, wenn sie ihr aussichtsreiches Experiment in der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederholt hätten. Nur weil sie inzwischen zu Säugetieren, Primaten und Kartografen geworden waren, die sich ihre Futterplätze merken mussten, hatten sie auch die Angst, sich zu verlaufen, und den daraus resultierenden Wunsch nach Orientierung entwickelt.
Die beiden Männer in Bug und Heck des Kanus loteten fast ununterbrochen, während der dritte, ein bärtiger, urzeitlicher Riese, das zerbrechliche Gefährt im Zickzack durch einen trüben Wasserlauf westlich des Lake Laurier steuerte. An den Stellen, die eine mögliche Fahrrinne nach Nordwesten, in Richtung auf die kleine Hackberry Bay und den Little Lake, darstellten, bohrten die Männer lange hölzerne Stangen in den Schlammgrund der schmalen Durchlässe. In einer offenbar genau abgemessenen Höhe waren Fetzen von Stoff daran befestigt, die sich beim Ausstecken jedoch sämtlich unterhalb der Wasseroberfläche befanden.
Wortlos fuhren sie zwei, drei, fünf Meilen durch das weit verzweigte Labyrinth kleiner Kanäle beinahe stehenden Brackwassers. Nur einmal knurrte der Ältere, ein weißhaariger, lederhäutiger Greis, auf Französisch: »Vipère!«, und deutete auf ein Knäuel verschlungener Wasserschlangen, die sich im Gerippe eines nur noch mit viel Fantasie erkennbaren, von weiß Gott woher angeschwemmten Eselkadavers häuslich eingerichtet hatten. Eine der Schlangen, anscheinend ein Wächter, schwamm mit eleganten Bewegungen, den Kopf eine Handbreit über der Wasseroberfläche, eine Weile hinter dem Boot her. Entsprechend unangenehm war es, die Arme immer wieder bis zu den Ellenbogen in das undurchsichtige braune Wasser zu tauchen, aber die Männer beendeten ihre Arbeit erst, als ihnen schmale Streifen trockenfallenden Marschlands und die hier und da auftauchenden Wurzelknie niedriger Mangrovengewächse anzeigten, dass die Ebbe eingesetzt hatte.
Wieder hatten sie nicht all ihre Stangen verbraucht und waren offenbar nicht so weit vorangekommen, wie sie wollten. Während der Riese zurückpaddelte, setzte der jüngere Mann eine blaue Brille ab und eine kurze Tonpfeife in Brand und versuchte, sich möglichst viel von der eintönigen Landschaft einzuprägen, falls die Flut einige ihrer Stangen wegreißen würde. Zuf rieden stellte er fest, dass jetzt alle Markierungen zu sehen waren. Über dem Mangrovendickicht wurde irgendwann eine hohe, rechtwinklige Form sichtbar, die in dieser amphibischen Welt merkwürdig deplatziert wirkte – und deplatziert war noch der harmloseste Ausdruck für den kleinen Flussdampfer, der sich in diese tückischen Gewässer, halb Sumpf, halb Meer, gewagt hatte.
Im Süden, zwei Meilen entfernt, wo das Schwemmland so fest geworden war, dass die Mangroven zu einem mehrere Meter hohen Wald heranwachsen konnten, hörten sie die Brandung der Karibischen See leiser werden, als die Ebbe das Wasser in den Golf von Mexiko hinauszog, und der junge Mann dachte jetzt nur noch daran, dass er nun fast drei Stunden würde schlafen können. John Gowers hatte seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen; seit die Deep South oberhalb von Port Sulphur den eigentlichen Fluss verlassen hatte und in das riesige Mündungsgebiet eingedrungen war.
Er wusste, dass er das offene Wasser der großen Buchten meiden musste, denn der Raddampfer, also eigentlich nur ein Floß mit Aufbauten, wäre in Seegang und Wind so hilflos wie eine Hutschachtel und würde bei der ersten Gelegenheit kentern. Immer wieder suchte er deshalb den Schutz niedriger kleiner Inseln und tastete sich an endlosen Schlammbänken entlang, ständig in der zweiten großen Gefahr: stecken zu bleiben und nicht mehr vor-und zurückzukönnen. Glücklicherweise war nur wenigen Leuten an Bord wirklich klar, welches Risiko ihr Lotse einging, gerade weil bisher alles glimpflich verlaufen war.
Klempnerarbeit, dachte er manchmal zynisch. Wenn man alles richtig macht, merkt es kein Mensch. Aber macht man nur einen einzigen Fehler, ist alles voller Scheiße!
John Lafflin weckte ihn eine halbe Stunde vor Einsetzen der Flut mit einem beinahe zärtlichen Griff an die Schulter, und nach einer Tasse starken Kaffees legte Mr. Phineas Dampf vor. Die Mark ierun – gen an den ausgesteckten Stangen waren jetzt nicht mehr zu sehen und der schmale Kanal wieder passierbar. Dennoch kam es dem Lotsen manchmal so vor, als würde er den weichen Schlick an den Hüften spüren, so eng ging es zu. Nur eine Stunde später hatten sie die ausgekundschaftete Strecke hinter sich, und das gleiche mühsame, gefährliche Spiel begann von Neuem. Die Stangen, von Jason und Gringoire im Kielwasser eingesammelt, wurden in zäher Handarbeit erneut ausgebracht, und nach einem weiteren Gezeitenwechsel hatten sie den Little Lake und den natürlichen Kanal zur Timbalier Bay erreicht.
Der Weg durch die weite Bucht war weniger schwierig, aber dafür umso gefährlicher. Die hier praktisch offene See, eine einzige größere Welle konnte sie jederzeit umwerfen und ersäufen, und John, so dicht wie möglich am ausgefransten Rand des amerikanischen Kontinents entlangkriechend, war froh, als sie am nächsten Morgen die Bay Sainte Elaine und die relative Sicherheit der Sumpfgewässer wieder erreicht hatten. Hier kannte er sich halbwegs aus, seit er drei Jahre zuvor unverzollte Waren nach Morgan City und den Atchafalaya River hinaufgeschmuggelt hatte.
Dieser Fluss, an der Westseite des großen Sumpfs, war sein Ziel. Er würde ihn nach Norden bringen, bei Simmesport in den Red River und von dort wieder auf den Mississippi; fünfzig Meilen oberhalb von Baton Rouge und allen Postenketten, die ihre Verfolger ausgestellt haben mochten.
113.
Es war einer der erfolgreichsten Gefangenenausbrüche aller Zeiten: Hundertdreiundsechzig Männer, vierundsechzig Frauen und einundsiebzig Kinder gingen schließlich an Bord der Rifleman. Sie nahmen deren gesamtes Frachtgut mit sich, dazu vierhundert Pfund Bargeld aus dem Safe der Garnison, einunddreißig Gewehre, fünf Revolver, an die zehntausend Schuss Munition, außerdem Äxte, Messer, verschiedene Werkzeuge, Eimer als Transportbehälter sowie eine gehörige Menge Wein und Tabak. Auch die Ladung Schweine, die die Ketch Florence gebracht hatte, wurde selbstverständlich von den Aufständischen übernommen. Dann durchschnitt man ihr Ankertau und ließ das kleine Schiff auf den Klippen zerschellen, um eine Verfolgung zu verhindern.
Nur vier der Maorigefangenen blieben auf eigenen Wunsch zurück, unter ihnen der alte Keke, der die weitere Inhaftierung auf Chatham der Fahrt auf einem von Te Kooti Arikirangi kommandierten Schiff vorzog und das auch jedem sagte, der es hören wollte. Te Warihi, der Onkel des Propheten und der Mann, der behauptet hatte, sie könnten keine Steine essen, war weniger klug.
Da der Kapitän der Rifleman sich kategorisch weigerte, das Schiff in die Poverty Bay, also zur neuseeländischen Nordinsel und zum Ziel der Ausbrecher zu bringen, wurde er an Land gesetzt, und Te Kooti selbst übernahm das Steuer. Die weißen Seeleute gehorchten notgedrungen seinen Befehlen, setzten die Segel, und am Abend des vierten Juli machte das Schiff einen ersten Versuch gegen den heftigen westlichen Wind.
Captain Thomas und seine Konstabler, inzwischen befreit von einem der weißen Siedler, die die Geschehnisse aus sicherer Entfernung beobachtet hatten, sahen den Schoner in der Mündung des Hafens wenig durchdacht hin und her kreuzen. Sie hätten ihm mit den wenigen verbliebenen Waffen gern eine Salve hinterhergejagt, aber erstens wäre das auf diese Entfernung nicht mehr als ein symbolischer Akt gewesen, und zweitens hatten sie inzwischen Michael Hartnetts übel zugerichtete Leiche gefunden. Das Schiff war wesentlich besser bewaffnet als die Garnison, und die Whakarau zu reizen hätte sich, wenn es gelänge, womöglich als verhängnisvoll erwiesen. Man gratulierte sich lieber dazu, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Der Rest war Sache der Regierung.
Am Sonntagmorgen war die Rifleman noch immer in der Bucht von Waitangi, kreuzte immer wieder, blieb auch den ganzen Tag in Sicht und gewann den stürmischen Gegenwinden ihren Weg nach Nordwesten nur Meter um Meter ab. Selbst in der Dämmerung waren ihre Segel gegen den dunklen Horizont der Petre Bay noch deutlich zu erkennen. Das Schiff rollte, schlingerte, stampfte zum Gotterbarmen in der rauen See, den unberechenbaren Wellen, die scheinbar von allen Seiten darauf einschlugen. An Deck herrschte ein infernalisches Gekotze, und die am Vortag so sehr düpierten Seeleute grinsten angesichts der sich überall zusammenkrümmenden wilden Maorikrieger und der Frauen, die ihre Zungen nun aus ganz anderen Gründen und wenig verführerisch herausstreckten. Gott machte es seinem auserwählten Volk und seinem Propheten nicht leicht!
Te Kooti hatte die weiße Crew im Verdacht, ihre Fahrt absichtlich zu sabotieren, und wollte die Männer schon unter Deck schicken. Es war John Gowers, der ihm klarmachte, dass dies so nahe an den westlichen Riffen am Ausgang der Petre Bay tödlich für das Schiff und die über dreihundert Menschen an Bord sein würde. Dann übernahm der Investigator das Ruder, brüllte die immer noch feixende Mannschaft in einer Lautstärke zusammen, die die Roaring Forties zeitweise übertönte, und steuerte die Rifleman um Somes Point herum endlich in die offene See.
Als das Land außer Sicht war, verloren die Whakarau praktisch jedes Gefühl dafür, wo sie sich befanden. Selbst Te Kooti und ein Dutzend anderer Männer, die Erfahrung in der Küstenschifffahrt hatten, hätten nicht einmal die Himmelsrichtung angeben können, in der sie sich bewegten, denn die Sonne zeigte sich nicht an dem rattengrauen Tag, der dem Sturm folgte, und die Nacht war ohne Sterne. Gowers, dem Wind und Strömung eine ungefähre Orientierung gaben, hatte das Ruder in der Hand behalten und einen Nordwestkurs gesteuert, ohne zu wissen, wohin die Fahrt eigentlich gehen sollte. Mehrfach hatte er an diesem dritten Morgen nach Ablösung verlangt, aber als Te Kooti endlich auf ihn zukam, sah er, dass der Anführer der Flüchtlinge in Verlegenheit war.
»Kann ich Sie sprechen, Mr. Gowers?«
»Gerne«, antwortete Gowers, gereizt durch Schlafmangel und Erschöpfung. »Aber irgendwer wird dieses Schiff steuern müssen, Sir!«
»Maat«, befahl Te Kooti, und John Payne, der Steuermannsmaat der Rifleman, übernahm das Ruder.
»Recht so, wie’s geht«, sagte Gowers bestimmt, und Payne, der genau wie der Rest der Crew inzwischen gemerkt hatte, dass dieser sonderbare Passagier ein geübter Seemann war, antwortete ebenso selbstverständlich: »Aye, Sir!«
Unter Deck, in der Kapitänskajüte, die Te Kooti gemeinsam mit vier anderen Rädelsführern bewohnte, waren alle Seekarten ausgebreitet, die die Küsten Neuseelands zeigten, und der Prophet hatte den Punkt markiert, an den er gelangen wollte: Whareongaonga Beach, in der Poverty Bay, einen steinigen kleinen Strand, fast ganz eingeschlossen von zerklüfteten, bewaldeten Hügeln, eine gut verborgene, sowohl von Land als auch von See her nur schwer einsehbare Fischerbucht.
»Können Sie uns zu dieser Stelle bringen, Mr. Gowers?«
Te Kooti hatte lange über den Mann nachgedacht, den Gott ihm gesandt hatte, um die Whakarau sicher über das Meer zu führen. Es wurde ihm offenbart, als Gowers im Sturm aus freien Stücken das Steuer übernommen hatte, und war immer klarer und klarer geworden, als er den Mann dort zwei Nächte und einen Tag lang stehen sah, ruhig und fest, wie verwachsen mit Schiff und Ruder, nichts verlangend als jemanden, der regelmäßig seine Pfeife stopfte und in Brand setzte. Das hatte, auf einen Wink ihres Mannes, Maata Te Owai getan, obwohl der bei-ßende, schwere Rauch ihren geschwächten Eingeweiden nicht guttat. Schließlich war sie zu Füßen des unermüdlichen Steuermanns eingeschlafen und erwachte nur, wenn die Pfeife erloschen war und Gowers sie daraufhin jedes Mal leicht mit dem Fuß anstieß.
Der Prophet hatte überlegt, wie er den Amerikaner dazu bringen könnte, ihr Navigator zu sein. Er hatte an die vierhundert Pfund gedacht, die er ihm für seine Dienste anbieten könnte, Drohungen und Geschenke erwogen und endlich beschlossen, ihm seinen göttlichen Auftrag zu offenbaren. Aber ehe er auch nur eines dieser Dinge ansprechen konnte, sagte Gowers, nach einem kurzen Blick auf die Karten, schlicht: »Ja.«
Hatte Gott auch zu ihm gesprochen?
Nachdem er die Versetzung durch Seegang und Sturm überschlagen, den Schiffsort durch Koppeln halbwegs ermittelt und einen entsprechenden Kurs abgesetzt hatte, schlief Gowers einige Stunden lang, ehe er wieder das Deck betrat. Was Te Kooti den Whakarau in dieser Zeit über ihn gesagt hatte, wusste er nicht, aber er traf nun überall auf strahlende, freundliche Gesichter, und die Kinder folgten ihm lachend, wenn auch in schüchterner Entfernung, auf seinem Weg nach achtern.
»Sir«, flüsterte der Steuermannsmaat, als er Gowers mit den üblichen knappen Ansagen über Kurs und Fahrt des Schiffes das Steuer übergeben hatte. »Wir haben uns was überlegt, ich und die anderen.«
»Ja?«, fragte der Investigator.
»Wir haben uns überlegt – Buuh!« Payne verscheuchte mit einer freundlichen Grimasse eines der Kinder, ein kleines Mädchen, das nahe genug herangekommen war, um womöglich zu verstehen, was er sagte.
»Diese Affen haben doch keine Ahnung, wohin wir fahren«, fuhr er fort. »Ich meine, wohin wir tatsächlich fahren. Wir könnten es so einrichten, dass wir Palliser Bay bei Nacht passieren und das Schiff bei Baring Head auf den Strand setzen, ehe die überhaupt mitkriegen, was vorgeht. Mit ein bisschen Glück sind wir alle von Bord, bevor sie uns schnappen, und dann sollen sie mal sehen, wie sie da wieder wegkommen. Die Regierung braucht sie dann nur noch einzusammeln!«
Das war ein guter Plan, um die Ausbrecher hinters Licht zu führen, und wenn die Sonne weiter hinter den niedrigen dichten Wolken versteckt bliebe, würde vielleicht wirklich niemand bemerken, dass die Rifleman nach Westen und auf Wellington zuhielt. Aber das kleine Mädchen, das kreischend vor dem Maat geflohen war, hatte sich inzwischen wieder umgedreht und lachte Gowers mit leuchtenden Augen ins Gesicht, während die übrigen Kinder ihn mit offenen Mündern anstarrten wie ein Meereswunder.
»Recht so, wie’s geht, Mr. Payne«, erwiderte der Investigator trocken, und der Maat ging nach vorn, durchpflügte achselzuckend das Kindergewühl, um der Crew mitzuteilen, dass Gowers seinen Kurs halten würde.
114.
Sie waren in die Flaute geraten, die dem Sturm und seinem Nachkommen, einem degenerierten Westwind, folgte. Die Sonne zeigte sich endlich wieder, wenn auch nur als ein trüber Fleck, eine Nuance heller als der graue Himmel. Die Frauen nutzten die Stille und Reglosigkeit der See unter ihren Füßen, um ihre Kleider, ihre Kinder und schließlich sich selbst zu waschen. Sie sangen, und alle freuten sich darauf, ihre Heimat nun bald wiederzusehen.
Gowers wusste nicht, dass der Prophet genau das seit ihrer gelungenen Flucht befürchtet hatte: Innehalten, Nachdenken, individuelle Zukunftspläne. Die Whakarau waren keine homogene Gruppe im Sinne einer Familie, eines Clans, eines Stammes. Die dreihundert Menschen gehörten den unterschiedlichsten Völkern und Stämmen der Nordinsel an, und nur zwei Dinge hatten sie bisher zu einer Gemeinschaft gemacht – die Gefangenschaft und das Ringatu.
Te Kooti musste befürchten, dass seine Anhänger auf Aotearoa auseinanderlaufen würden, so groß ihr Respekt vor dem Propheten und seinen Visionen auch sein mochte. Sicher, sie hatten ihm und ihrer neuen Religion Treue geschworen, aber schloss diese Treue ein, dass sie bei ihm bleiben würden, wenn sie die Chance bekamen, in ihre alten Dörfer zurückzukehren?
Er war ein vorausschauender Mann. Seine Macht beruhte auf seinem Einfluss auf Glauben und Denken dieser Menschen. Gingen die Menschen fort, waren sie seinem Einfluss nicht länger ausgesetzt, war auch seine Macht dahin. Aber nicht derlei persönliche Eitelkeiten beschäftigten ihn. Auch ihrer aller Sicherheit hing wesentlich davon ab, dass sie zusammenblieben. Ginge jeder wieder zu seinem Stamm, in sein Gebiet, seine alte Hütte, würde die Regierung der Pakeha sie rasch und leicht wieder einfangen können.
Ein anderes Problem war, dass die Whakarau als sozusagen auf Chatham entstandene Gruppe logischerweise kein eigenes Stammesgebiet auf Aotearoa besaßen. Nur in ihrer relativ großen Zahl lag die Chance, sich irgendwann vielleicht eines zu erobern. Er musste sie zusammenhalten, er musste sie zusammenschweißen. Und was Menschen nach verwandtschaftlichen Beziehungen, einer gemeinsamen Kultur, einem gemeinsamen Glauben am stärksten zusammenschweißt, ist ein gemeinsam begangenes Verbrechen.
Eingesperrt auf der fernen Insel, zusammengepfercht im Lager waren die Offenbarungen des Propheten nicht nur das Band zwischen ihnen gewesen, sondern auch die Richtschnur, an der sie ihr Handeln orientierten. Te Kooti hatte recht behalten, seine Vorhersagen waren eingetroffen, er war offensichtlich gesegnet. Niemand bezweifelte deshalb seine Worte, als er am Nachmittag dieses stillen Tages verkündete, er habe eine neue Botschaft, einen neuen Befehl erhalten. Gott verlange ein Opfer von ihnen, sonst würde kein Wind mehr wehen und das Schiff den Strand von Whareongaonga niemals erreichen. Zwar empfand niemand einen halben Tag Windstille als sonderlich dramatisch, zumal die Leute mit den besten Augen von der Mastspitze aus das Land bereits sehen konnten. Aber wenn andererseits dies ihr Schicksal wäre: in ewiger Reglosigkeit so kurz vor dem ersehnten Ziel dahinzutreiben, ohne es je zu erreichen, wie der Prophet sagte und sie ihm glaubten, war eben ein Opfer nötig.
Te Kooti ließ zunächst ihr Taonga einsammeln, ihre wertvollsten Besitztümer. Talismane, Amulette, meist aus Jade und uralt, seit Generationen von den Vätern an die Söhne weitergegebene Erbstücke ihrer Familien, Symbole ihres Whakapapa, die sie an ihre Vergangenheit und ihre Vergangenheit an sie banden. Viele dieser Männer hätten sich noch vor zwei Jahren lieber das Herz herausreißen lassen, als diese abgegriffenen grünen Steine herzugeben. Warum sie es jetzt widerstandslos taten, würde eine psychologische Untersuchung über Gruppe und Individuum, Suggestion und Gehorsam vielleicht erklären können. Die Enge des Schiffs, ihr gemeinsames Schicksal, Te Kootis konkrete Macht, die auf den Waffen beruhte, die nur an seine engsten Gefolgsleute verteilt worden waren, und schließlich ihr unbegrenztes Vertrauen in sein Tapu, seine Auserwähltheit vor Gott, sowie die Schnelligkeit, mit der er handelte, spielten dabei die größte Rolle.
Als die Taonga in einer einfachen Decke gesammelt waren, warf der Prophet sie ohne ein weiteres Wort oder Zögern ins Meer. Sie hatten nun keine Familie, keinen Stamm mehr, aber anstatt zu begreifen, was sie getan hatten, sahen die Whakarau nach oben und waren ernsthaft erstaunt, dass der Atem Gottes auf sich warten ließ und noch immer kein Wind wehte. Te Kooti aber verhüllte sein Haupt und sagte leise, dass eingetreten sei, was er befürchtet habe: dass ihr Opfer noch nicht genüge. Auf seinen Befehl hin wurde der Zweifler Te Warihi mit gebundenen Händen vor ihn gebracht.
Wieder ging alles schneller, als die Menschen begreifen konnten. Kaum hatte der Prophet die Worte »Blut von meinem Blut, Herr!« in den Himmel gerufen, kaum noch hatte der alte Mann Zeit gehabt zu erwidern, dass er Gott nie untreu geworden sei und sein Tod nur der Rachsucht eines unverbesserlichen Lügners geschuldet — da stand er schon nicht mehr unter ihnen. Mit harten, schnellen Griffen hatten Maaka Ritai, Te Kootis auserwählter Henker, und einige andere Männer seiner Leibwache Te Warihi über Bord geworfen, und selbst die wenigen Whakarau, die nicht wie versteinert zugeschaut hatten und an die Reling stürzten, sahen nichts mehr von ihm als einen Wirbel kleiner Luftblasen, die an der Wasseroberfläche zerplatzten.
»Der Wind wird zurückkommen!«, sagte der Prophet laut und beendete mit diesen düsteren Worten das Schauspiel, das vor allem durch seine grausige Schnelligkeit allen tief in die Knochen gefahren war, wo sie es seiner Unumkehrbarkeit wegen noch bis an ihr Lebensende spürten.
John Gowers stand an Deck der Rifleman, als all das geschah. Aber da er die Sprache der Maori nicht verstand, wusste er auch nicht, was vorging. Er hielt es für eine Art Gottesdienst, und das Versenken der grünen Steine bestätigte ihn in dieser Ansicht. Derlei religiöser Unsinn interessierte ihn nicht. Den Mord an dem alten Mann hatte er nicht gesehen, weil er im gleichen Moment mit dem nautischen Besteck und dem fernen Küstenstreifen vor Augen versuchte, die genaue Position des Schiffs zu bestimmen. Als das entsetzte Schweigen der dreihundert Menschen das unverständliche Stimmengewirr ganz plötzlich beendete, wanderte sein Blick instinktiv nach mittschiffs, wo die Menge jetzt wie erstarrt stand. Aber da Te Warihi untergegangen war wie ein Stein, wusste Gowers nicht, was die Ausbrecher so in den Bann geschlagen hatte.
Erst das sonderbare Verhalten der weißen Crew zeigte ihm, dass etwas Gravierendes vorgefallen sein musste. Die Seeleute genossen auf Te Kootis ausdrücklichen Befehl hin eine bevorzugte Behandlung. Sie bekamen besser und stets als Erste zu essen, außerdem ein Glas Porter zu jeder Mahlzeit und das Doppelte ihrer Heuer, unglaubliche sechs Pfund pro Mann waren ihnen für ihre Dienste in Aussicht gestellt worden. Jetzt drängten sie sich verängstigt am Fockmast zusammen, weil sie glaubten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Wenn diese Leute einen der ihren über Bord warfen wie ein Fass mit verdorbenem Zwieback, was würde dann erst mit ihnen geschehen?
Gowers legte den Sextanten weg und kam dazu, als Te Kooti ruhig und eindringlich mit den Seeleuten sprach. Er verstand noch immer nicht, warum dabei plötzlich von Jonah die Rede war. Dieser sonderbare Maoriführer schien die Bibel auswendig zu kennen: »Kommt, wir wollen losen, dass wir erfahren, um wessentwillen es uns so übel ergeht. Und als sie losten, traf’s Jonah.«
Natürlich wusste Gowers um den alten Aberglauben der Seefahrer aller Zeiten; dass bisweilen ein einziger Schuldiger für all die unverständlichen Gefahren und unerwarteten Schwierigkeiten, auf die ein Schiff nun einmal treffen konnte, verantwortlich gemacht und getötet wurde. Aber erst bei diesem Zitat wurde ihm klar, dass dieser Unsinn im Grunde vorbiblisch war, ein heidnisches Opferritual, das die christliche Seefahrt lediglich übernommen hatte. Wieso jedoch in diesem Augenblick die Rede davon war, ahnte er noch immer nicht. Sollte jemand über Bord geworfen werden? Aber wer? Und warum?
Erst als Te Kooti unter Deck verschwunden war, erfuhr er von dem zu Tode erschrockenen Matrosen John Martin, dass das Ungeheuerliche bereits geschehen war und einen der Maori getroffen hatte. Der Investigator brauchte eine Weile, um seinen Abscheu zu unterdrücken, aber als ihn einer der Seeleute irgendwann nach dem genauen Kurs fragte, begab er sich wortlos unter Deck. Anstatt anzuklopfen, trat er mit der Stiefelspitze gegen die Tür der Kapitänskajüte und wartete auch nicht darauf, dass er hereingerufen würde, sondern stieß sie kurzerhand auf. Te Kooti lag schweißgebadet und vor Erschöpfung zitternd auf seiner Koje, und dieser Anblick nahm Gowers’ Zorn ein wenig von seiner Schärfe.
»Ich arbeite nicht mehr für Sie«, sagte er dennoch, wandte sich abrupt wieder um und wollte hinausgehen.
»Mr. Gowers«, antwortete erschreckend leise der Prophet. »Glauben Sie an Gott?«
»Nein«, sagte Gowers hart, blieb dabei aber widerwillig stehen und drehte dem Mann schweigend den Rücken zu.
»Ich war lange wie Sie, Mr. Gowers«, fuhr Te Kooti nach einer Weile fort. Seine Stimme schwankte jetzt zwischen Schwäche und Milde. »Selbstbewusst, stark und allein unter einem leeren Himmel. Aber dann hat sich etwas in mir verändert. Mir werden Dinge offenbart, die ich nicht immer verstehe und die ich nicht immer will.«
»Sie haben eben einen Menschen ermordet!« Noch immer von Verachtung erfüllt, drehte sich Gowers zu dem selbst ernannten Propheten um.
»Getötet, Mr. Gowers, getötet.« Te Kooti betonte diesen wesentlichen Unterschied, erhob sich auf den Ellenbogen und warf dem Investigator einen durchdringenden Blick zu. »Haben Sie nicht genau dasselbe im Sinn?!«
»Das Gleiche, Sir, das Gleiche«, erwiderte nun Gowers, fragte sich aber in diesem Moment, ob der Unterschied wirklich so groß war, und fügte schließlich mehr für sich selbst hinzu: »Ich bestrafe einen Mörder.«
Te Kooti sank auf sein Lager zurück.
»Nun, vielleicht habe auch ich das getan: einen Schuldigen bestraft. Ich weiß es nicht, Mr. Gowers. Gott weiß es!« Er seufzte tief und sagte dann: »Der Mann war mein Onkel, Mr. Gowers. Ein Bruder meines Vaters. Blut von meinem Blut!« Aus den Augenwinkeln sah der Prophet, dass er die Selbstgewissheit des Investigators ein wenig erschüttert hatte.
Gowers wusste natürlich nicht, dass der Zweifler Te Warihi der natürliche Feind jedes Propheten gewesen wäre, und ihm fiel in diesem Zusammenhang auch nicht die Binsenweisheit ein, die jeder Ermittler kannte: dass Morde in nahezu zwei Dritteln aller Fälle Beziehungstaten sind. Stattdessen ging er nach oben und gab die nötigen Ruderbefehle für den Kurs auf Whareongaonga.
115.
John Lafflin war praktisch in diesen Sümpfen aufgewachsen. Sein Bruder Pierre, acht Jahre älter, hatte ihn nach Amerika gebracht, nachdem ihre Eltern in den Sklavenaufständen von 1791 in Port-au-Prince getötet worden waren. Noch immer hörte er in seinen schlechteren Träumen den Kriegsschrei der Aufständischen: »Toyé blan, toyé blan!«8, und bis weit in seine Mannesjahre hinein hatte er die Schwarzen für die blutigen Schrecken gehasst, in denen seine Kindheit untergegangen war.
Obwohl die Brüder Laffitte gern von sich behaupteten, der kreolischen Oberschicht von Hispaniola, Saint Domingue oder Santo Domingo – wie Haiti in seiner wechselvollen Geschichte genannt wurde – zu entstammen, war ihr Vater lediglich ein wohlhabender Kaufmann gewesen. Sie hatten nicht nur ein gewisses Startkapital, sondern auch die entsprechenden Talente von ihm geerbt und machten in den Wirren der zahllosen Kriege, die die Insel zwischen Spaniern, Franzosen, Engländern und diversen Sklavenkönigen hin und her warfen, gute Geschäfte mit allen Beteiligten. Ihre Rückzugsbasis war dabei die Gegend um New Orleans, waren die amerikanischen Cajuns und Kreolen, bei denen sie sich wechselweise als das eine oder das andere ausgaben.
Die Karibik jener Jahre war das El Dorado der Entwurzelten, und als kühne Männer, die eine solide Staatlichkeit nie kennengelernt hatten, brachen die Laffittes ohne schlechtes Gewissen alle Gesetze und machten ein Vermögen mit Schmuggelwaren und dem Handel mit allem und jedem. Lafflin schauderte bisweilen, wenn er an die Dinge dachte, die er getan hatte. Es war in einem brodelnden Kessel zerrissener Gesellschaften und Völker, gärender Nationen, ausgehöhlter Kolonien und ihrer völlig korrupten Mutterländer geschehen, sagte er sich dann. Aber er wusste, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
Die zerfressenen Kolonialinstitutionen der untergegangenen Königreiche Frankreich und Spanien hatten seiner Abenteuerlust und seiner räuberischen Geschicklichkeit lediglich den nötigen Raum zur Entfaltung gegeben. Er hatte gestohlen, betrogen, übervorteilt und mit Menschen gehandelt, nicht weil es unumgänglich, sondern weil es möglich gewesen war. Gewiss, er war nie grausam gewesen – aber eben nur in dem Sinne, in dem auch ein Raubtier nicht grausam ist, wenn es seine Beute zerreißt.
Die Frage, warum er ein Raubtier war und ob er eines sein musste, hatte ihn schon früh beschäftigt, zur Philosophie Rousseaus und schließlich zu den Schriften Claude Henry de Rouvroys, des Grafen von Saint-Simon, geführt. Die Zukunft der zivilisierten Völker hatte er daraufhin in den aufstrebenden Industrien Nordamerikas gesehen, und erst als sich deren kapitalistisches Grundprinzip als ebenso menschenverachtend, seine Repräsentanten als ebenso sinnlos machtgierig erwiesen wie die französische oder spanische Aristokratie – allerdings ohne deren adlige Generosität zu besitzen –, hatte John Lafflin sich dem Sozialismus zugewandt.
Seine Arbeit für die nicht ideelle, sondern durch und durch praktische Sklavenbefreiung betrachtete er als Wiedergutmachung sowohl seiner Untaten als auch seiner Irrtümer. Schon Anfang der 1840er-Jahre besuchte er abolitionistische Veranstaltungen, spendete, agitierte sogar ein wenig, aber erst als er in der Hütte seines alten Kampfgenossen Gringoire die ungewöhnliche junge Frau kennenlernte, hatte er das handfeste Ziel gefunden, das sein Leben und sein Denken in Einklang brachte.
Er bewunderte Deborah vorbehaltlos, ja fast ein wenig schwärmerisch. Eine entlaufene Sklavin, die den Mut besaß, in die feindliche Welt der Sklavenhalterstaaten zurückzukehren, um auch anderen Menschen ein Leben in Freiheit zu ermöglichen, war in seinen Augen eine mythische Gestalt. Moses war ein noch viel zu unbedeutender Name für eine solche Frau, denn Moses hatte Gott auf seiner Seite gehabt – und Gott war inzwischen tot. Deborah handelte aus eigenem Antrieb, aber nicht zum eigenen Nutzen und war damit der autonome, moderne Mensch, der Lafflin und seinen bevorzugten Philosophen als Ideal vorschwebte.
Vielleicht fiel es ihm gerade deswegen so schwer, die junge Frau auch als wirklichen, normalen Menschen zu betrachten. Wer war sie? Was wollte sie?, fragte er sich, als er die schwärmerische Phase ihrer Zusammenarbeit schon nach der zweiten oder dritten gemeinsamen Befreiungsaktion hinter sich gelassen hatte. Er kannte nur wenig von ihrer Geschichte. Sie hatte selten davon geredet, nur auf Nachfrage, und das Thema jedes Mal schnell wieder fallen lassen. Lafflin drängte sie nicht. Was sie tat, was sie gemeinsam taten, war ihm zu wichtig, um es in einer auch persönlichen Beziehung zu zerfragen.
Dennoch stimmte es ihn seltsam glücklich, als Deborah ihn an ihrem dritten Abend im Delta schüchtern fragte, wer eigentlich der junge Mann war, der ihr Schiff durch die tückischen Sumpfgewässer steuerte. Woher kannte er ihn? Warum half er ihnen? Wo war seine Familie? Deborah war nicht sehr geübt in der uralten Kunst der Verliebten: Antworten zu erhalten, ohne Fragen zu stellen, und verstand sich auch nicht auf langwierige Plaudereien mit gespitzten Ohren. Also ging sie die Sache so direkt an, wie es gerade noch möglich war, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Schon bei der Frage nach John Gowers’ Familie kam sie sich allerdings albern und unehrlich vor, weil sie ja bereits wusste, dass er eine Waise war. Verstand der alte Mann, was sie wissen wollte? Und war die Frage trotzdem harmlos genug, um ihre Absichten dahinter zu verbergen?
John Lafflin verstand beides, behielt aber sein Lächeln für sich, um es ihr leichter zu machen, weitere Fragen zu stellen. Als er geantwortet hatte, dass er von einer Familie nichts wisse, dass John Gowers als Lotse eine Koryphäe und für diese Fahrt von ihm angeheuert worden sei, wechselte Deborah jedoch bereits wieder das Thema.
In dieser Nacht dachte der alte Mann lange darüber nach, was er wirklich über John Gowers wusste, von seinen Ansichten, seiner Vorstellung vom Leben. Er sah wieder das vertrauliche Lächeln, mit dem die Huren in jenem Etablissement in New Orleans seinen Lotsen begrüßt hatten, und auch Dorothy Simpson fiel ihm ein. Deborah war ihm zu wichtig, als dass er einfach vergessen konnte, dass Gowers die junge Dame geküsst hatte, heftig, entschlossen geküsst. Und nur ein einziger Umstand veranlasste ihn, zu tun, was er am nächsten Morgen tat. Denn auch John Gowers hatte ihn gefragt, schüchtern, vorsichtig, wer Deborah war. Woher er sie kenne. Wo ihre Familie sei.
116.
Als der Morgen noch grau war, weckte John Lafflin Deborah unter einem Vorwand und nahm sie mit in die Kombüse, wo er dann hingebungsvoll versuchte, den besten Kaffee seines Lebens zu kochen. Dabei redete er in einem fort, beglückwünschte sie dazu, so viele Menschen auf einen Schlag befreit zu haben, fragte hier eine Kleinigkeit, erläuterte dort einen Zusammenhang, sprach von seiner Festnahme und Entlassung und wie er ihrem Lotsen beinahe die Kohlenschaufel über den Kopf geschlagen hatte. Ach übrigens, er sei hier unten noch eine Weile beschäftigt. Ob sie so freundlich sein könne, John Gowers eine Kanne Kaffee ins Steuerhaus zu bringen?
Sie befanden sich in den nordwestlichen Ausläufern des Pelican Lake, und Hunderte der riesigen Vögel erwachten mit heiserem Schnarren, als die Sonne über der Bay Blanc aufging. John hatte eine erste Runde an Deck schon hinter sich, die Flutmarkierungen kontrolliert und festgestellt, dass noch etwa eine Stunde vergehen musste, ehe sie einen Versuch machen konnten. Er weckte Mr. Phineas, damit er im Kesselraum die nötigen Vorbereitungen treffen konnte, und ging dann wieder ins »Texas«, um seinerseits auf dem Posten zu sein.
Er liebte diese Stunde, eigentlich nur diese Minuten, in denen das triste kleine Steuerhaus als höchster Teil des Schiffs die ersten Sonnenstrahlen einfing und plötzlich ein frisches, warmes Licht durch den Raum flutete und alles so neu aussah, als hätte es nie einen vergangenen Tag gegeben. Er suchte eben den Himmel ab, um Anzeichen für das Wetter zu entdecken, das vor ihm lag, als er Schritte hörte. Stirnrunzelnd schaute er zur Tür, denn es waren nicht Lafflins Schritte, die er, bedächtig, sicher, aber auch ein wenig langsam, inzwischen von denen der anderen unterscheiden konnte. Dieser Schritt war leichter, ein Frauenschritt, und als Deborah in der Tür auftauchte, lächelte er, gleichermaßen überrascht und erfreut.
»Ich bringe Ihnen heute den Kaffee«, sagte sie ohne einen Gruß. »Der Kapitän hat noch zu tun.«
»Guten Morgen«, sagte er, als hätte er den kleinen Raum nie so hell gesehen, und für einen kurzen Moment erwiderte sie sein Lächeln.
»Guten Morgen!« Sie stellte die Kanne auf das schmale Kartenpult und wartete, bis er sich eine Tasse eingeschenkt hatte. Es ist schön hier, dachte sie, als sie die Wärme der Sonne in ihrem Gesicht fühlte, und überlegte, ob sie das sagen sollte. Dann ließ sie es bleiben und wandte sich um.
John, der noch ganz ihre unerwartete Anwesenheit genoss, fragte sich, was er tun oder sagen konnte, damit sie noch bliebe, aber sein Kopf war plötzlich völlig leer, und ein eigenartiges Gefühl rund um den Solarplexus raubte ihm fast den Atem. Erst als sie schon wieder in der Tür stand, fragte er verzweifelt: »Möchten Sie auch einen Schluck?« O Gott, er hatte diese verdammte Tasse seit Beginn der Reise nie ausgespült!
»Ja«, sagte sie, bereute es aber sofort, weil sie keinen Kaffee mochte. »Gerne«, fügte sie noch hinzu. Er reichte ihr die Tasse, als sie wieder neben ihn trat, und in Erwartung eines fürchterlichen Geschmackserlebnisses biss sie kurz auf die Lippen.
»Ich habe leider nur eine Tasse«, sagte er. Ich hätte sie vielleicht mal ausspülen sollen, dachte er nur, als sie ein wenig den Mund verzog.
»Das macht nichts«, sagte sie, schluckte tapfer und war froh, dass er anscheinend endlich ein anderes Thema gefunden hatte.
»Die Flut kommt«, sagte er.
»Woran sehen Sie das?«, fragte sie.
»Jaaaa«, antwortete er gedehnt. Die Flut kommt seit einigen Jahren immer recht zuverlässig nach jeder Ebbe. Sagte er nicht. Stattdessen deutete er auf den endlosen Horizont im Osten.
»Sehen Sie die Stelle, wo die Wasserlinie fast silbern ist?« Er brachte seinen ausgestreckten Arm so dicht vor ihr Gesicht, als sei das Phänomen nur an einem ganz bestimmten Punkt zu beobachten. Ihre Haare berührten sich und – glaubten sie jedenfalls – auch ihre Ohren ein wenig.
»Die Fläche davor ist viel dunkler. Das bedeutet, dass das Wasser steigt.«
Lügner, dachte er, völliger Schwachsinn!
Konnte es sein, dass ihr Kopf so warm war? Oder war es die Sonne?
»Ja«, entgegnete sie und sah nur, wie einige Dutzend Pelikane plötzlich ihre drei Meter langen Flügel ausbreiteten und aufflogen. Für einen Moment sah es so aus, als habe sich die Horizontlinie selbst aufgehoben. »Es ist schön hier«, sagte sie nun doch, als die Pause zu lang wurde.
»Ja.« John nahm den Arm herunter und rückte wieder ein Stückchen ab, weil er nicht mehr wusste, wie er so viel Nähe rechtfertigen sollte. »Und Ihr Kaffee ist viel besser als das Zeug, das der Kapitän macht!«
»Danke.« Deborah lächelte und sagte nicht, dachte nicht einmal daran, dass sie in ihrem ganzen Leben noch keinen Kaffee gekocht hatte. »Werden wir heute den Fluss erreichen?«, fragte sie lediglich, um weiteren Bemerkungen über das unangenehme Getränk vorzubeugen, dessen Wirkung sie in Magen und Kniekehlen fühlte. Oder war es etwas anderes?
»Nein«, antwortete John. »Aber mit etwas Glück werden wir heute bis in die Fourleague Bay kommen. Dann ist zumindest dieses Herumkriechen im Sumpf vorbei.« Er sagte nicht, dass er sich vor der Fahrt entlang der Küste fürchtete. Verwundert stellte er jedoch fest, dass sie seine Gefühle zu spüren schien.
»Und ist das gut oder schlecht?«, fragte sie.
John überlegte, ob er sie anlügen sollte, wie er es bei besorgten Passagieren schon häufig getan hatte, aber noch während er darüber nachdachte, sagte er bereits: »Das ist gut, aber auch sehr gefährlich. Wir haben zu wenig Tiefgang. Auf dem Fluss und in seichten Gewässern ist das natürlich ein Vorteil, aber Wind und Wellen im offenen Wasser könnten uns leicht umwerfen.«
»Warum?«
»Zu wenig Tiefgang, wie gesagt. Und im Verhältnis zur geringen Breite sehr hohe Aufbauten. Der Wind hat viel Angriffsfläche.« Er versuchte, mit den Händen zu demonstrieren, was er meinte, indem er mit drei Fingern der rechten einen schmalen Schiffsrumpf und mit der Handfläche der linken die Aufbauten skizzierte und das Ganze umschlagen ließ.
Deborah überlegte nur kurz. »Können wir uns schwerer machen?«, fragte sie dann. »Oder breiter? Oder die Wände wegnehmen und den Wind durch das Schiff durchwehen lassen?«
John stutzte. Das waren gute Ideen. Er wollte es gerade sagen, als die Maschinenglocke anschlug.
»Was bedeutet das?«, fragte Deborah, als sie beinahe schlagartig die Spannung fühlte, in die das Geräusch Körper und Geist des jungen Mannes versetzte.
»Der Kessel steht unter Dampf«, sagte er. »Wir können losfahren. Ich werde Jason und Gringoire wecken.«
»Das kann ich machen«, antwortete sie resolut und verließ das Steuerhaus, ehe er protestieren konnte.
Jason! John Gowers hätte sich am liebsten die Faust an die Stirn geschlagen. Wieso hatte er bloß diesen Namen erwähnt? Und warum hatte sie so schnell darauf reagiert? Missmutig hob er die Tasse und beruhigte sich erst wieder, als er sie drehte und mit seinem Mund die Stelle berührte, an der ihre Lippen gewesen waren.
117.
Sie waren ein wenig zu weit nach Norden geraten und erkannten am späten Nachmittag, dass der schmale dunkle Streifen, den sie für die Küstenlinie gehalten hatten, in Wirklichkeit die Raukumara Range war, mit dem Hikurangi, dem heiligen Berg der Ngati Porou, als ihrem höchsten Gipfel. Diejenigen unter ihnen, die zu den Ngati Porou gehört hatten, konnten nicht verhindern, dass ihnen bei diesem Anblick die Tränen kamen, und die übrigen Whakarau umarmten ihre vom Heimweh übermannten Fluchtgenossen und weinten vor Freude. Sie waren zu Hause!
Die Poverty Bay zu erreichen war relativ einfach, als im Laufe der Nacht wieder Wind einsetzte, aber die steinige kleine Whareongaonga-Bucht anzusteuern, mitten in der von keinem Stern erhellten Finsternis, war eine Meisterleistung ihres Navigators, die sich auch Te Kooti nicht anders erklären konnte als durch die Gnade Gottes. Warum hatte Gott ihm diesen Mann geschickt?, fragte er sich wieder und wusste, dass er ihn nicht gehen lassen konnte, ohne eine Antwort auf seine Frage zu bekommen.
In dieser Nacht konnte niemand schlafen, und als Gowers die Rifleman gegenüber einer Landungsstelle, die nur er sehen konnte, vor Anker gelegt hatte, warteten sie ungeduldig auf den Aufgang der Sonne, die ihnen das Gelobte Land zeigen würde. Als sich dann Mount Moriah und die anderen steilen Hügel aus der Dunkelheit schälten, war die Bewunderung für den Propheten und seinen Navigator grenzenlos. Mit dem Beiboot der Rifleman ging eine erste Gruppe an Land, um in dem kleinen, halb zerstörten Fischerdörfchen Whareongaonga die Kanus zu requirieren, die sie zum Entladen des Schiffs brauchen würden.
Te Kooti gab den Befehl, dass niemand essen, trinken oder rauchen dürfe, bevor nicht der letzte Nagel ihrer Ausrüstung auf Aotearoa sei. Das dauerte bis weit in den Abend hinein und führte insofern zu einem Eklat, als John Gowers sich nicht an diesen Befehl hielt und bald mit einer entzündeten Pfeife und einem Buch auf den Knien am Besanmast saß. Als der erboste Prophet ihn zur Rede stellte und den Befehl wiederholte, den er seinen Leuten gegeben hatte, erwiderte der Investigator trocken: »Ich gehöre nicht zu Ihren Leuten, Sir.«
Das brachte Te Kooti offensichtlich auf einen Gedanken, und er fragte moderater: »Warum eigentlich nicht?«
Gowers musste nicht lange überlegen.
»Weil ich gern selbst entscheide, wann ich rauche und wann nicht.«
Das war für den Propheten nicht hinnehmbar, zumal viele der Whakarau die schlagfertige Antwort gehört hatten, und er befahl seinem Henker, Maaka Ritai, dem Amerikaner die Pfeife und das Buch wegzunehmen. Ein halbes Dutzend Gewehrläufe richtete sich auf den Mann, der sie über das Meer gebracht hatte, und Sekunden später flog seine Pfeife über Bord. Das Buch ließ Te Kooti sich bringen.
»Sie wissen«, sagte er, »dass alle von Menschen geschriebenen Bücher nur menschliche Irrtümer verbreiten, Mr. Gowers?!« Er hatte diese Worte, die ihm in einer seiner ersten Visionen offenbart worden waren, unter seinen Anhängern früh zum Gesetz gemacht, hatte konsequenterweise sogar die Bibel verworfen und seine eigene Autorität als »Gottes Mund« an ihre Stelle gesetzt.
»Ich bin Amerikaner, Sir. Ich ziehe menschliche Irrtümer unmenschlichen Wahrheiten vor«, sagte Gowers, der noch immer auf dem Boden saß und noch immer in herausfordernd lässiger Weise am Mast lehnte.
Te Kooti wollte auch Byrons Cain ins Meer werfen, aber dann las er die ersten Verse: »Ewiger Gott! Unendlicher! Allwissender! Der du aus dem Dunkel und der Tiefe mit einem Wort das Licht erschaffen hast …«
Er schlug das Buch zu, behielt es aber in der Hand und sah prüfend den Mann an, der so fest und selbstverständlich von sich behauptet hatte, nicht an Gott zu glauben. Warum war dieser Mann hier? Was sollte er mit ihm und seiner Insubordination tun? Er brauchte Zeit, um das herauszufinden, und befahl, John Gowers zu fesseln und an Land zu bringen, was auch sofort geschah.
Der Mannschaft der Rifleman wurden ihre sechs Pfund ausgezahlt und angeboten, sich den Whakarau und ihrer neuen Religionsgemeinschaft anzuschließen, aber der Prophet wunderte sich nicht, als die Männer verlegen und ängstlich ablehnten. Nur der raue Maat John Payne wagte einen Scherz; er würde lieber das Schiff nehmen und es in Valparaíso verkaufen.
»Eine gute Idee«, sagte Te Kooti, lächelte und stellte den Seeleuten einen kurzen Brief aus, in dem er erklärte, dass er sie gezwungen habe, ihm bei seiner Flucht behilflich zu sein. In diesem Schreiben sagte er auch zum ersten Mal, dass er nicht nach Neuseeland gekommen sei, um Krieg zu führen. Er wolle in Frieden in seinem eigenen Land leben und werde nur kämpfen, wenn er und seine Leute verfolgt oder angegriffen würden.
Als Letzter von allen verließ er das Schiff, in einem perfekten europäischen Anzug und Lederschuhen; betrat den Strand und ein Leben, das nun fünfzehn Jahre lang fast ausschließlich aus Jagd, Flucht, Verfolgung und Kampf bestehen würde. Die wenigen Maori, die in dem kleinen Dorf gelebt hatten, waren bei ihrer Ankunft geflohen, und noch bevor dieser 10. Juli 1868 vorüber war, hatte das Gerücht von der Landung der Whakarau auch die weißen Siedler und ihren Militärkommandeur in Matawhero erreicht.
Nach zwei Tagen, in denen Te Kooti die Lasten gerecht verteilte und den Treck in die nahezu undurchdringliche Wildnis des Urewera-Distrikts vorbereitete, kamen die ersten Abgesandten des Provinzkommandanten Reginald Biggs: Kupapa, unter ihnen Paora Katete, der den Weißen schon auf Chatham einige Zeit lang als Wärter gedient hatte. Sie machten den Whakarau keinerlei Angebote, sie führten keine Verhandlungen, sondern befahlen ihnen, ihre Waffen abzulegen und sich den weiteren Entscheidungen der Regierung zu unterwerfen.
Te Kooti würdigte die Emissäre keiner Antwort, befahl aber einer großen Gruppe bewaffneter Ausbrecher unter Karanama Ngerengere, ihnen auf ihrem Rückweg nach Matawhero in Sichtweite zu folgen. Der Anblick dieser finsteren, schweigenden und sehr gut bewaffneten Männer war eine deutlichere Entgegnung an die Pakeha, als tausend wohlgesetzte Worte hätten sein können. Unter den Bewohnern der Maorisiedlungen in der ganzen Poverty Bay ließ der Prophet hingegen das Angebot verbreiten, dass jeder von ihnen, gleich welchen Alters oder Geschlechts, sich seinem Treck anschließen könne. Er biete ihnen Mühsal, Tränen und harte Arbeit; aber auch einen Platz im Gelobten Land, das er in der Wildnis errichten würde. Und einem Mann machte er dieses Angebot persönlich.
118.
Nachdem die Rifleman fortgesegelt war, hatte man John Gowers die Fesseln abgenommen und ihm erlaubt, sich frei unter den Whakarau zu bewegen. Maaka Ritai, ein düsterer, Furcht einflößender Maori vom fernen Stamm der Wanganui, schenkte ihm mit Worten aufrichtigen Bedauerns seine eigene Pfeife und allen Tabak, den er besaß. Aber erst kurz vor ihrem Aufbruch in die Koraha, die Wildnis, wandte sich ihm der Prophet selbst noch einmal zu.
»Ich möchte, dass Sie uns begleiten, Mr. Gowers«, sagte Te Kooti.
»Warum?«, fragte Gowers.
»Ich glaube, dass unsere Begegnung ein Zeichen ist.« Der Prophet sprach schlicht und ernsthaft. »Ich weiß nicht, wofür, aber ich würde es gerne herausfinden.«
»Ich habe noch immer eine Aufgabe zu erfüllen, Sir.«
»Das denke ich auch. Aber ich glaube, dass Sie nicht wirklich wissen, welche Aufgabe das ist.«
»Ich weiß es leider sehr gut.« Gowers seufzte.
»Dann kann vielleicht unser Weg eine Zeit lang der gleiche sein, bis Sie sicher sind, ob Sie Ihr altes, unglückliches Leben weiterführen oder ein neues beginnen wollen. Eine Frau. Kinder.« Te Kooti wiederholte mit Bedacht das Versprechen, das er schon dem alten Moriori auf Chatham gegeben hatte.
Gowers überlegte. Mit jedem Tag wurde die Verfolgung James Fagans schwerer; andererseits gab es das Gold auf der Otago-Halbinsel schon sehr lange, und es bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder auch eine Weile danach suchen würde.
»Eine Zeit lang, vielleicht«, sagte er schließlich vorsichtig und die Allmacht des Mannes bedenkend, der vor ihm saß. »Aber vergessen Sie nicht, dass ich noch kein Zeichen erhalten habe!«
Das kann man ändern, dachte der Prophet.
Der Treck in den Urwald von Urewera war nicht so gewaltig wie der Exodus der Mormonen durch die großen Prärien und Wüsten des amerikanischen Westens zwanzig Jahre zuvor, aber er war von der gleichen Kraft beseelt. Auch die Whakarau betrachteten sich als das auserwählte Volk Gottes, aber sie hatten zudem einen Propheten, der das unbestreitbare Charisma des Hochstaplers Joseph Smith mit dem Organisationsgenie und der Durchsetzungskraft seines Nachfolgers Brigham Young verband.
Te Kooti war überall, kümmerte sich um Großes und Kleines, zügelte die Starken, half den Schwachen und trieb die Unentschlossenen an. Auf ihrem Zug durch die unwegsame, gebirgige Wildnis, die so viele Wasserläufe durchzogen, wie sich Nervenbahnen im menschlichen Körper finden, hielt er seine Leute nicht nur zusammen, sondern er brachte sie auch dazu, trotz ihrer Erschöpfung fröhliche Lieder zur Ehre Gottes zu singen. Gowers registrierte zu seiner Verblüffung, dass sie trotz der Frauen und Kinder und ihres überschweren Marschgepäcks, das schlicht aus allem bestand, was sie auf der Welt besaßen, schneller vorankamen als von Tempskys wesentlich kleinere Truppe einige Monate zuvor, was vermutlich daran lag, dass die Maori Pfade fanden, wo niemand sonst auch nur einen Weg gesucht hätte.
Der Wald von Te Wera war dicht und drückend, als sei er seit Erschaffung der Welt von niemandem betreten worden, und die riesigen bemoosten Bäume wirkten so düster, als würden sie um alles trauern, was in ihrem Schatten lag. Die Pässe, die sie überschritten, stiegen bisweilen über tausend Meter hoch, und entsprechend tief waren die Schluchten, die der Ruakituri River, dessen Lauf sie zu folgen versuchten, in das uralte Vulkangestein geschnitten hatte. An vielen Stellen wurden die Pfade so eng, dass die Frauen nicht einmal ihre Kinder an der Hand führen konnten; sie schlangen Seile um ihre Hüften, an denen sie die Kleinen, die eben laufen konnten, in ihrer Spur nachzogen. Dadurch dehnte sich ihre Kolonne mitunter auf mehr als einen Kilometer aus, und das war gefährlich, denn ihre Späher meldeten, dass Reginald Biggs ihnen gegen jede Logik und trotz ihrer Warnungen Kupapa-Milizen hinterhergeschickt hatte.
Te Kooti, nicht mehr nur organisatorischer und religiöser, sondern nun auch noch militärischer Führer, ließ Hinterhalte anlegen, und zehn Tage nach ihrem Aufbruch vom Meer kam es zu ersten tödlichen Gefechten, in denen die Whakarau Sieger blieben. Ihre Verwundeten erschwerten jedoch ihr weiteres Vorwärtskommen. Die Nachrichten, die ihre Aufklärer von vorn, aus dem Taupo-Distrikt und der Kaingaroa-Ebene, brachten, erwiesen sich indes als noch schlimmer. Die Tuhoe, Te Arawa, Huri und Tuwharetoa, Stämme, auf deren Duldung, wenn nicht gar Wohlwollen sie gerechnet hatten, erwiesen sich als ihnen feindlich gesinnt und wollten den Durchzug durch ihre Gebiete nicht gestatten.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich nach Nordosten zu wenden, tiefer hinein in den ungeheuren Wald von Te Wera, und hier erreichten sie, auf einem Bergkamm, zu Tode erschöpft, ein schon vor Hunderten von Jahren aufgegebenes Pa, von dem die Wildnis wenig mehr als die Umrisse der einstigen Befestigung übrig gelassen hatte. Sie rodeten, bauten Hütten, legten Felder an und hoben Verteidigungsgräben aus, denn sie brauchten einen Platz für Aussaat und Ernte, wenn sie nicht auf dem langen Marsch ins Gelobte Land verhungern wollten.
Ihr Prophet und Anführer aber fällte in dieser Zeit eine folgenschwere Entscheidung, die seinen Namen tief ins Gedächtnis des weißen Neuseeland und seiner Geschichte einbrennen sollte. Er sah nur eine Möglichkeit, die ständige Verfolgung und Bedrohung seines Volkes mit einem Schlag zu beenden: Er beschloss, die Pakeha und ihre Verbündeten anzugreifen!
Te Kooti reinigte sich für diese fast unlösbare Aufgabe, fastete, betete, opferte, und in einer der Visionen, die er im Zuge dieses mehrtägigen Rituals hatte, wurden ihm die Zeichen offenbart, die dem Amerikaner gegeben werden sollten. Gowers hatte sich in den vergangenen beiden Wochen als loyaler, aber zurückhaltender Begleiter gezeigt. Die Schnelligkeit und die Umsicht, mit der die Whakarau vorgingen, sei es auf dem Marsch, im Gefecht oder bei der Urbarmachung des Waldes, hatten ihn offensichtlich beeindruckt. Dennoch konnte der Prophet nicht von diesem Mann verlangen, gegen seine eigene Rasse zu kämpfen — es sei denn, er würde zuvor einer von ihnen.
Zunächst sah alles nach einem weiteren Opfer aus: Te Kooti ließ für den Amerikaner eine separate Hütte errichten und führte ihm dann seine eigene Frau, Maata Te Owai, zu. Gowers hatte zu seiner Überraschung bereits auf dem Schiff festgestellt, dass der Prophet mehrere Frauen hatte, wusste aber nicht, dass schon der alte Te Ua Huamene die Monogamie verworfen hatte. Anders als der Islam oder die amerikanischen Mormonen betrachteten das Pai Marire und das Ringatu jedoch nicht mehrere Frauen als das eifersüchtig gehütete Eigentum eines Mannes, sondern pflegten eine Polygamie, in der die Fruchtbarkeit der Gemeinschaft und nicht die eines Patriarchen im Mittelpunkt stand. Schlicht gesagt stand es also auch jeder Frau frei, mit mehreren Männern zu schlafen, und wenn auch der Partnertausch nur relativ selten vorkam, weil er so vielen so alten Traditionen widersprach, so war er doch weder unerwünscht noch geächtet.
Das alles wusste der Investigator nicht; er sah nur einen Mann vor sich, der ihm aufgrund einer göttlichen Offenbarung seine Pfeife und ein Buch weggenommen hatte — und ihm aus dem gleichen Grund jetzt seine Frau überließ. Das überzeugte ihn zwar nicht vom Glauben des Propheten, aber doch von der Ernsthaftigkeit dieses Glaubens, zumindest in diesem Moment.
Maata Te Owai war Anfang zwanzig und eine weniger üppige Schönheit als die meisten Wahine, die er bisher gesehen hatte. Ihr Gesicht, ihr Körper waren, sei es durch die Entbehrungen ihrer Gefangenschaft und des Marsches oder durch die Tatsache, dass ihr Großvater ein französischer Robbenfänger gewesen war, schmaler, drahtiger, europäischer als unter den Maori üblich. Das zu einem federgeschmückten Koukou oder Scheitelknoten hochgesteckte Haar erhöhte diesen Eindruck noch, und nur ihr weicher, großer Mund, der gern lachte, vertrieb die Anmutung von Härte und Strenge aus ihren Zügen.
Gowers hatte sie gern angesehen in den letzten beiden Wochen und sich dabei jedes Mal an die reizvolle Bewegung ihrer Hinterbacken in seinen Händen erinnert. Als sie nackt vor ihm stand, als er sie tatsächlich anfasste, als sie lächelte, seufzte, kam es ihm deshalb vor, als würden sie eine lediglich unterbrochene Handlung fortsetzen. Es war schön, einmal wieder mit einer Frau zu schlafen, die keine Hure war, und das tiefe Stöhnen, mit dem sie auch seinen Körper genoss, tat ihm gut.
Nachdem sie es zweimal getan hatten, lagen sie einige Minuten satt und selig nebeneinander, ehe sie ihm aus einer offenen Schale ein undefinierbares Getränk anbot. Gowers wollte nichts trinken. Seine Hände begannen stattdessen eine neue Wanderung über ihren Körper, als sie sich auf ihn hockte. Da nahm sie selbst einen tiefen Zug und beugte sich über ihn, ihre Brüste in seinen Händen. Ihre Lippen waren warm und feucht, und die seltsame Flüssigkeit tropfte von ihnen in seinen Mund. Er fand rasch Geschmack an beidem, dem Getränk und dem Spiel, und leckte schließlich den bittersüßen, ein wenig klebrigen Saft von ihrer Zunge, bis er, immer noch tief in ihrem Leib, von einer Sekunde zur anderen einschlief.
Te Kooti, von seiner jungen Frau herbeigerufen, betrat die Hütte und betrachtete den Amerikaner, dessen Glied auch in seinem totenähnlichen Schlaf nicht kleiner wurde. Dann befahl er den alten Mann zu sich, der ebenfalls draußen gewartet hatte, während Maata Te Owai ihre Kleider wieder anzog.
»Er will es?«, fragte der Alte zögernd, während er verschiedene Werkzeuge vor sich ausbreitete: klassische Tatauierkämme mit scharfen Perlmuttklingen, aber auch eiserne Nadeln unterschiedlicher Dicke, einen schmalen Holzschlegel und eine hölzerne Schale, die durch die in ihr immer wieder angesetzten Rußfarben tiefschwarz und hart wie Stein geworden war.
»Ja«, sagte der Prophet. »Er weiß es nur nicht.«
119.
Das seltsame Gefährt, das sich gegen eine träge, aber starke Strömung die vier Meilen breite Mündung des Atchafalaya River hinauf nach Norden kämpfte, sah eigentlich nur noch wie das Gerippe eines Raddampfers und nicht mehr wie der Dampfer selbst aus. Man hatte alle Türen und Wände der Aufbauten bis auf die tragenden Teile herausgerissen, und was übrig geblieben war, hatte nun Ähnlichkeit mit einem zweistöckigen Leiterwagen, der eine Dampfmaschine transportiert. Nur war es selbstverständlich ihre Maschine, welche die Deep South antrieb.
Die ästhetisch wenig ansprechende Selbstverstümmelung hatte ihren Zweck jedoch voll und ganz erfüllt: Der kräftige Seewind in der Atchafalaya Bay konnte sie nicht packen und beiseitedrücken, sondern wehte, wie Deborah es geplant hatte, gewissermaßen durch das Schiff hindurch. John spürte es an allen Bewegungen der Deep South beziehungsweise an der Übertragung dieser Bewegungen auf das Ruder in seinen Händen. Der kleine Dampfer bockte nicht, machte auch auf bisweilen beängstigend hohen Wellen keine Ausbruchsversuche, hielt seinen Kurs und ließ sich sogar leichter steuern als auf dem Mississip – pi, weil die Flut ihn in die richtige Richtung schob.
Wider Erwarten gut war man also durch das offene Wasser gekommen, und nur der Verbrauch an Brennstoff wurde allmählich zu einem Problem, denn natürlich brauchte John so viel wie möglich von der Kraft der Maschine, um leichter auf Wind und Wellen reagieren zu können. Mr. Phineas hatte über die Maschinenglocke schon mehrfach angefragt, ob man den Dampf drosseln könne, war sogar einmal persönlich im Steuerhaus erschienen – aber der Lotse hielt es für sicherer, damit zu warten, bis der Fluss aufhörte, eine Meeresbucht zu sein.
Er kannte den Atchafalaya bis hinauf nach Morgan City, aber als sie gegen Mitternacht die Stelle erreichten, die er im Sinn hatte, mussten sie über ihr weiteres Vorgehen beraten. Der Brennstoff war für die Strecke St. Louis – New Orleans und zurück berechnet gewesen, großzügig berechnet gewesen, aber ihre »Kreuzfahrt« durch das Delta hatte diese Berechnungen über den Haufen geworfen. Sie brauchten Kohle, wenn auch nicht sofort. Vermutlich würden sie noch bis zum Mississippi kommen. Aber dort, immer noch tief im Süden der Sklavenhalterstaaten, mit ihrem Gerippe von Schiff eine Anlegestation anzulaufen, um Kohle zu bunkern, würde unmöglich sein. Denn nach wie vor transportierten sie ja so etwas wie Diebesgut, auch wenn sich die »Ware« selbst gestohlen hatte, immer öfter das Lächeln freier Menschen in den Gesichtern trug und sogar angefangen hatte, Pläne für eine eigene Zukunft zu entwickeln.
Von dem Gedanken, noch einmal Sklaven zu sein, waren die Flüchtlinge deshalb nur schwer zu überzeugen. Erst als Deborah ihnen erklärte, dass diese Tarnung notwendig sei und nur wenige Stunden dauern würde, als allen klar wurde, dass sie die Rolle der Sklaven nur spielen würden, um an Kohle zu kommen, hatte John Lafflin genügend Freiwillige, um die entsprechende Scharade wirkungsvoll aufführen zu können. Sie würden Morgan City umgehen, um von Norden her in die Stadt zu kommen, sich als Sklavenhändler ausgeben, deren Schiff im Sumpf stecken geblieben sei, und die nötige Kohlemenge erwerben, um es wieder flottzubekommen.
Die Deep South anschließend ungesehen durch Morgan City zu bringen würde wieder John Gowers’ Aufgabe sein – der für die Zeit, in der der Kapitän, Mr. Phineas, Gringoire und vor allem Jason nicht an Bord sein würden, seine eigenen Pläne schmiedete. Er hatte von John Lafflin erfahren, dass Deborah nicht besonders gut lesen konnte. Schon als sie ihm zum zweiten Mal den Morgenkaffee ins Steuerhaus brachte, hatte er deshalb angeboten, es ihr beizubringen, und zu ihrer eigenen Überraschung hatte Deborah Ja gesagt. Sie würden also einen ganzen Tag, eine Nacht vielleicht, die die Deep South versteckt in einem Winkel des Sweetbay Lake verbringen musste, zusammensitzen und lesen. Und erst als seine Euphorie über diese Entwicklung der Dinge ein wenig abklang, fiel dem jungen Lotsen siedend heiß ein, dass es überhaupt keine Bücher an Bord gab.
Glücklicherweise hatte er seinem Gedächtnis zwar einen nicht unbedeutenden Leseschatz einverleibt, aber was davon konnte er in so kurzer Zeit in möglichst deutlichen Druckbuchstaben zu Papier bringen? Mit Gedichten hatte er nie viel anfangen können, und wenn ihn jemand gefragt hätte, warum ihm plötzlich so viele davon einfielen, hätte er wahrscheinlich geantwortet, dass sie eben kurz seien, sehr geeignet, um lesen zu lernen. Leider hatte er sich bei Lyrik immer am wenigsten konzentriert und wusste – bis auf die Reime – entsprechend wenig davon wörtlich; sodass Shakespeares Sonett Nr. 18 ihm am Ende vorkam, als hätte er das meiste davon selbst geschrieben.
Soll ich Dich mit dem Sommertag vergleichen,
die Du doch lieblicher und schöner bist?
Der milde Mai muss rauen Winden weichen,
und allzu kurz ist eines Sommers Frist.
Bisweilen scheint die Sonne bis zum Brennen,
dann wieder ist des Himmels Auge matt.
Und alles Schöne kann ein Zufall trennen;
der Wechsel schleift und hobelt alles glatt.
Du wirst nicht wie ein Sommertag verschwinden,
solange eine Zeile von mir lebt.
Die Todesschatten werden Dich nicht finden,
ist Deine Schönheit ins Gedicht gewebt!
So lange Menschen atmen, Augen sehen,
wird dieses Lied – und Du darin – bestehen.
Nun, dachte er zufrieden, das würde ja vielleicht den doppelten Zweck erfüllen, der ihm vorschwebte. Das Herz fiel ihm aber schlagartig in die Kniekehlen, als Deborah am frühen Abend ins »Texas« kam, er ihr den Zettel schon gegeben hatte – und sie ihn bat, den Unterricht doch im Vorschiff abzuhalten, wo die anderen seien.
»Welche anderen?«, fragte er entgeistert.
»Die anderen Frauen und die älteren Kinder«, antwortete sie, erstaunt über seine Bestürzung. »Es wäre doch sinnlos, wenn nur ich richtig lesen lerne.«
Verzweifelt überlegte er, wie er wieder in den Besitz des Zettels kommen könnte, und sagte auf dem Weg nach unten irgendwann stotternd: »Nun, dann … Dann ist es wohl besser, wir fangen mit dem Alphabet an. Das da«, er machte eine fast wegwerfende Handbewegung, »ist sozusagen für Fortgeschrittene, für später!« Er wurde tatsächlich rot und war froh, dass sie vor ihm ging und es nicht sah.
»Gut, für später also«, antwortete sie, faltete den Zettel zusammen, gab ihn aber nicht wieder her.
Im Vorschiff saß ein gutes Dutzend der Flüchtlinge auf dem Boden und wartete aufgeregt darauf, das erste Wort lesen zu lernen, vor allem, weil der Erwerb solcher Kenntnisse für einen Schwarzen im Süden ein Verbrechen darstellte, das mit dem Tod bestraft wurde. Gowers sah, wie sich ihm alle Gesichter erwartungsvoll zuwandten, sah ihren Ernst, aber auch ihre Freude und überlegte nur kurz. Dann holte er eine der alten Kabinentüren, die sie ausgebaut hatten und die mit einer Menge anderer Holzteile noch an Deck aufgestapelt lag. Ein handliches Stück Kohle musste die Kreide ersetzen.
»Ich werde ein paar Buchstaben auf diese Tür schreiben«, sagte er, während er es bereits tat, »und euch sagen, welches Wort sie ergeben. Danach wird jeder von euch das Wort genau nachmalen. Wir werden dann gemeinsam nach anderen Wörtern suchen, die mit dem gleichen Buchstaben anfangen.« Er trat zur Seite.
»Und was heißt es, Sir?«, fragte ein etwa elfjähriger Junge, der spindeldürr und halb verhungert aussah, und dessen Kleider ihm am Leib zu Lumpen zerfallen waren.
»Freiheit«, antwortete Gowers und wunderte sich nicht, dass die nächsten Wörter »Freundschaft«, »Familie«, »Farm« und »Feld« waren. Aber auch »Feuer«, »Fehler« und »Furcht«. Er war nicht umsonst der Sohn einer Lehrerin.
120.
Es war ein strahlend schöner Sonntag in der kleinen Siedlung Matawhero, die eigentlich nur aus einem Dutzend weit verstreut liegender Farmen bestand. Der Waipaoa River umfloss in einer weiten Schleife das ungewöhnlich fruchtbare Land, den fetten schwarzen Ackerboden, der ursprünglich sein altes Flussbett gewesen war, bis der Rongowhakaata-Stamm es ein Vierteljahrhundert zuvor in harter Arbeit trockengelegt hatte. Die jetzigen Besitzer, Reginald Biggs, James Wilson, George Goldsmith, William Green und ein halbes Dutzend anderer Pakeha trafen sich wie jeden Sonntag beim Kirchgang, dankten Gott einmal mehr für seine Güte, beteten aber seit knapp vier Wochen inbrünstiger für den Erhalt dieses ihres Glücks. Denn sie waren Diebe, und sie wussten es.
Sie hatten den großen Hauhau-Aufstand zwei Jahre zuvor ungewöhnlich schamlos für sich ausgenutzt und die rechtmäßigen Maorieigentümer des fruchtbaren Landes als angebliche Rebellen enteignen und deportieren lassen. Die übrigen Parzellen hatten sie willigeren Eingeborenen abgekauft, die sich ihrerseits widerrechtlich das Land der Verschleppten angeeignet hatten. Die Gerüchte von der Rückkehr der Betrogenen hatten die Siedler von Matawhero deshalb persönlicher getroffen als das übrige weiße Neuseeland, das in der Flucht der Whakarau bislang nur einen Akt der Insubordination, aber keine ernsthafte Bedrohung sah. Glücklicherweise hatten die Farmer Reginald Biggs auf ihrer Seite, der Militärkommandeur der Poverty Bay und der Turanga-Region war und durch seine sofortige Verfolgung die Ausbrecher in die unzugänglichen Urwälder gedrängt hatte. Mochten sie dort verrotten, solange nur keine offizielle Untersuchung der illegalen Landnahme den Besitz der Siedler infrage stellte!
Die letzten Nachrichten, die Biggs von seinen Kupapa-Milizen über die Aktivitäten der geflohenen Rebellen erhalten hatte, waren zwar beunruhigend – nächtliche Feuer auf den Hügeln im Norden, die auf eine heranrückende Truppe schließen lassen könnten –, aber ein offener Angriff auf Matawhero schien den Weißen, die im Schatten ihrer Kirche über diese Möglichkeit diskutierten, doch weitgehend ausgeschlossen zu sein. Sie tranken, sie rauchten, sie holten ihre Kinder aus der Sonntagsschule ab und begaben sich dann auf ihre Farmen, um den Tag des Herrn auf ihre Weise zu heiligen: ein gutes Essen, ein wenig Zeitungslektüre, ein Nachmittagsschläfchen und gegen Abend vielleicht die wöchentliche Annäherung an ihre Frauen, für die an den übrigen arbeitsreichen Tagen zu wenig Zeit blieb. Aber etwas an diesem Sonntag war anders; er war stiller.
George Goldsmith kam auf einem kleinen Spazierritt durch das Eingeborenendorf Patutahi und fand es von seinen Bewohnern verlassen. Er wandte sich in das benachbarte Pukeamionga, und auch diese kleine Maorisiedlung war leer. Goldsmith traf lediglich auf den loyalen alten Häuptling Paratene Pototoi, der ihm etwas Absonderliches berichtete: Der alte Mann hatte nördlich von Patutahi eine frisch geschlagene Schneise im dichten Urwald entdeckt, die er für den heimlich angelegten Weg einer Taua, also einer größeren Gruppe feindlicher Krieger, hielt. Aber da Paratene ihm außerdem erzählte, er habe schwere Träume in letzter Zeit, in denen die ganze Region Turanga menschenleer sei und ein Mann auf einem weißen Pferd die Landschaft durchstreife, brachte Goldsmith außer einer leichten Gänsehaut nichts von seinem Ausritt nach Matawhero zurück.
Erst auf Drängen seiner Frau ritt er gegen Abend noch kurz zu Biggs’s Hollow hinüber und teilte dem Major diese düsteren Gerüchte mit. Biggs beruhigte ihn und schickte ihn nach einem gemeinsamen Schlummertrunk auf seine unmittelbar am Waipaoa gelegene Farm zurück. Der Kommandant selbst aber setzte sich noch am späten Abend hin und schrieb einen Brief an den Provinzgouverneur McLean in Napier, in dem er um Verstärkung seiner Truppen bat. Er war noch nicht damit zu Ende, als draußen die Hunde anschlugen und nach einigen Sekunden wütenden Gebells und einem lauten Jaulen jäh wieder verstummten.
Biggs’ Frau und sein kleiner Sohn, die über dem Lärm erwacht waren, sahen noch, dass ihr Gatte und Vater seinen Revolver in der Hand hielt, ehe er sämtliche Lichter löschte. In der fast völligen Dunkelheit der mondlosen Nacht war durch die kleinen Fenster nichts zu erkennen. Sie hörten auch keinen Laut, und doch war die Annäherung einer tödlichen Bedrohung so deutlich spürbar, dass Biggs schließlich durch die geschlossene Tür rief: »Wer ist da draußen?«
Jemand, der schon in unmittelbarer Nähe des Hauses sein musste, antwortete mit ruhiger Stimme: »Öffne die Tür und sieh nach!«
Der Major glaubte, einen Schatten zu sehen, und schoss durch das Fenster, aber im gleichen Moment wurde die Tür aufgebrochen, und er erkannte nur noch das Mündungsfeuer der Gewehre, das ihn und seine kleine Familie tötete. Eine Fackel wurde entzündet, und Te Kooti sah sich die Leichen genau an, ehe er die Farm an allen vier Ecken in Brand stecken ließ. Dann stieg er wieder auf das weiße Pferd, das Maaka Ritai für ihn festgehalten hatte.
Der Angriff auf Matawhero war ein gut durchdachtes und kaltherzig durchgeführtes Massaker. Neunundzwanzig Europäer jeden Alters und Geschlechts wurden in dieser Nacht getötet, ein Dutzend Farmen im Lauf der nächsten achtundvierzig Stunden dem Erdboden gleichgemacht und über zweihundert Kupapa, regierungstreue Maori, gefangen genommen. Für vier Tage war Te Kooti der unumschränkte Herr in der Region Turanga und über das Land, das einmal ihm und seiner Familie gehört hatte. Die Pakeha in Napier, Gisborne, im fernen Wellington und im noch ferneren England sahen in ihm jetzt nur mehr einen Schlächter und schrien Wehe! über das Blut der mit Äxten und Bajonetten hingemetzelten Weißen.
Erst ein Jahrhundert später erkannten Historiker, dass nicht alle seine Opfer unschuldig gewesen waren, dass sie Te Kooti bestohlen, enteignet und ohne die Möglichkeit juristischer Gegenwehr in eine unbegrenzte Gefangenschaft geschickt hatten. Aber diese richtige Feststellung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine so erfolgreich erworbene Machtstellung die dunklen Seiten dieses seltsamen und großen Charakters endgültig zum Vorschein brachte.
Unter den Gefangenen waren viele seiner persönlichen Feinde: Piripi Taketake und seine Frau Tarapoharu, die sein Land besetzt hatten, als er gefangen genommen wurde, und es später an Biggs und Wilson verkauften. Tutere Konoi, der ebenfalls Land verkauft hatte, auf das Te Kootis Familie Ansprüche hatte, und noch viele andere Häuptlinge, die zur Partei der Landseller gehörten und von jeher Todfeinde der Landholder gewesen waren, zu denen Te Kooti sich zählte. Unter ihnen befand sich auch der alte Paratene Pototoi, und seine Hinrichtung wurde zu einem festen Bestandteil in den mündlichen Traditionen des Ringatu und der Region Turanga.
Normalerweise berührte der Prophet die Gefangenen, deren Tod er beschlossen hatte, nur wortlos mit seiner Jagdpeitsche, und das Opfer wurde abgeführt. So geschah es Piripi, seiner Frau und all ihren Kindern. Als jedoch der alte Häuptling vor ihn gebracht wurde, wiederholte Te Kooti höhnisch vor der versammelten Menge die Worte, die dieser einst an ihn gerichtet hatte.
»Ich grüße meinen Vater, der gesagt hat: Geh auf das Boot, das Boot wartet auf dich! Nun, mein Sohn: Auf dich wartet die Axt!«
Aber auch Paratene wusste seine Rolle in dem Spiel, das er verloren hatte, gut zu Ende zu spielen. »Eine letzte Gnade erbitte ich, Rikirangi te Hianga9: Dein Henker soll mir die Axt ins Gesicht schlagen und nicht in den Nacken, damit ich sehe, wenn der Tod kommt!«
Te Kooti nickte, Maaka Ritai nahm Maß und spaltete dann dem Alten das Gesicht bis auf den Unterkiefer, aus dem die Streitaxt sich nur mit Mühe wieder lösen ließ. Die anderen Todeskandidaten wurden erschossen und erst danach mit Beilen, Schwertern und Bajonetten bearbeitet, denn Te Kooti ließ seine Krieger in diesen blutigen Tagen immer wieder den Psalm 63, 11 singen: »Sie werden dem Schwert hingegeben und den Schakalen zur Beute werden.« Und damit auch der zweite Teil dieses grausamen Verses wahr würde, befahl er, die Leichen unbestattet zu lassen, obwohl es auf Aotearoa keine Schakale, sondern nur ein paar verwilderte Haushunde gab.
Insgesamt siebzig Tote lagen so schließlich auf seinem Weg durch Turanga und in die Geschichte, und so berechtigt seine Ansprüche auf das Land am Waipaoa sein mochten, so ungerecht und grausam war etwa die Ermordung der sechzehnjährigen Maria Goldsmith, deren einziges Verbrechen es war, Tochter von George Goldsmith zu sein, der einst als Konstabler mitgeholfen hatte, Te Kooti zu verhaften. Maria wurde in den Rücken geschossen, als sie zu fliehen versuchte, und wer einem flüchtenden Kind in den Rücken schießt, der ist, bevor er irgendetwas anderes, ein Prophet, ein Rächer, ein Krieger, ein Freiheitsheld ist – ein wertloser Feigling.
121.
Gowers erwachte mit dem Gefühl, dass sein Gesicht brannte, und tastete instinktiv nach Schläfen, Kiefer und Kinn, fand sie aber mit dicken, in Leinöl getränkten Binden bedeckt. Sie abzuziehen vergrößerte die Schmerzen, und er zuckte vor seinen eigenen Fingern zurück, die ihm jedoch nach einer Weile verrieten, dass sein Gesicht offenbar voller Schnittwunden war. Ihr feiner, über Nacht ausgebildeter Schorf zerriss an den Stellen, an denen er sich berührte, und an seinen Fingerspitzen war frisches Blut, als er sie ansah.
»Was, zum Teufel …«, sagte er laut, bereute es aber sofort,weil die Bewegung seines Mundes einen so scharfen Schmerz auslöste, als hätte er sich beim Rasieren geschnitten. Er biss die Zähne zusammen, aber auch das Anspannen der Kiefermuskulatur verursachte das Gefühl, die Haut darüber würde zerreißen. Wasser! Kühlung!, dachte er, fand aber in der ganzen Hütte keinen Tropfen Flüssigkeit und presste schließlich widerwillig die schon zur Seite geworfenen Leinverbände auf die schmerzenden Stellen. Was zur Hölle war mit ihm geschehen?
Die Hand auf Kinn und Kiefer gelegt wie ein schwer Zahnwehkranker taumelte er ins Freie, fand aber niemanden, der ihm eine Erklärung für seinen Zustand geben konnte. Das Lager war nahezu leer. Nur ein paar kleine, teilweise nackte Kinder spielten neben der neu errichteten Palisade, deren zugespitzte Stämme noch den Geruch frisch geschlagenen Holzes ausströmten. Da er zum Glück für alle Beteiligten sonst keinen Menschen sah, ging er zu ihnen hinüber und unterbrach ihr Spiel mit der kleinen, halb toten Eidechse, die sie im Kreis herumscheuchten, und sie lachten ihn an.
Gowers erwiderte ihr Lächeln, besann sich aber rasch eines Besseren: Hölle und alle Teufel! Was war mit seinem Gesicht los? Als er für einen Moment Hand und Verband von seinem Kinn nahm, sah er, wie die Augen der Kinder sich weiteten und ihre kleinen schmutzigen Münder aufklappten. Gottverfluchte, alberne Geschichte: Diese Rotznasen wussten mehr über ihn als er selbst! Er erkannte das kleine Mädchen, das ihn an Bord der Rifleman angestrahlt hatte, und beugte sich zu ihr hinunter.
»Du«, flüsterte er hinter wieder vorgehaltener Hand und versuchte dabei, seine Lippen so wenig wie möglich zu bewegen. »Ein Spiegel! Ich brauche einen Spiegel!« Ob sie ihn verstanden hatte, ob man ihn überhaupt verstehen konnte, wusste er nicht, jedenfalls wich ihr lachendes Unverständnis einem sehr ernsthaften Stirnrunzeln, sie erhob sich und ging ein paar Schritte in Richtung der Hütten. Ihr Kleid war schmutzig vom Staub, in dem sie gesessen hatte, und Gowers fragte sich, ob sie aus Angst wegging oder wusste, was er wollte.
Heni blieb stehen, weil der große weiße Moana-poutikanga oder Seeführer ihr nicht folgte. Sie war sechs Jahre alt und hatte immer noch ein wenig Angst vor ihm, wie sie Angst vor allen Pakeha hatte. Sie war noch zu klein, um sich an das Leben in ihrem Heimatdorf zu erinnern; sie kannte nur die Gefangenschaft auf der fernen kalten Insel, und die Pakeha dort waren böse Männer gewesen, die sogar ihrer Mutter Angst gemacht hatten. Dieser Weiße war anders. Der Arikirangi hatte es gesagt, sie selbst hatte es gespürt, gehofft, als sie ihn ganz allein mit dem Meer, mit dem Wind und dem großen Schiff kämpfen sah. Fasziniert hatte sie irgendwann festgestellt, dass das Schiff tat, was er wollte, und – glaubte sie – das Meer und der Wind auch ein bisschen.
Jetzt wollte er einen Spiegel, um sein Moko zu sehen, das noch frisch und sehr hässlich war. Heni hatte einen kleinen Spiegel, ein sehr kostbarer Besitz, den sie vor den anderen Kindern und sogar jungen Mädchen verbarg, weil sie nur Unsinn damit machten. Dem Poutikanga würde sie ihn geben, denn dass er auch für sie gekämpft hatte, mit dem Meer, mit dem Wind, wusste sie. Aber er folgte ihr nicht. Ihn anzusprechen hätte sie sich nicht getraut, aber irgendwann kam sie zurück und nahm ihn bei der Hand. Er ist ganz anders an Land, dachte sie, entzückt darüber, dass nun sie ihn führen konnte.
Die Kleine zog ihn wortlos durch das halbe Dorf bis zu der Hütte, in der die unverheirateten Mädchen lebten. Als sie am Wharenui, dem Versammlungshaus, vorüberkamen und Gowers die an seinem Giebel angebrachte Figur mit den tief eingeschnittenen Gesichtslinien sah, dämmerte ihm zum ersten Mal etwas, und Heni merkte am plötzlich schmerzhaften Druck seiner Hand, dass eine gewaltige, kaum noch zurückzuhaltende Wut in ihm aufstieg.
In der schattigen Kühle des Mädchenhauses schien sein Zorn sich jedoch zu legen. Rasch suchte Heni den kleinen Spiegel hervor, eigentlich nur eine handtellergroße Spiegelscherbe, die dennoch einen Ehrenplatz unter ihren Schätzen, ein paar ausgesucht schönen Muscheln, einer zerrissenen Glasperlenkette, einem glänzenden Sixpence und ähnlichen Dingen, einnahm.
Gowers nahm die Binden von seinem Gesicht und hätte sich fast übergeben, als er sich in der Spiegelscherbe sah. Sein Magen zog sich zusammen, er zitterte und wurde blass – was die dünnen schwarzblauen, noch blutigen Linien, Kreise und Punkte, die sich auf beiden Seiten seines Gesichts von den Schläfen über die Kieferknochen herunterzogen, um sich auf seinem Kinn zu vereinigen, noch deutlicher hervortreten ließ. Das Gewebe daneben war wund und rot, und er murmelte, trotz der Schmerzen, die das verursachte: »Ich bringe ihn um! Ich bringe ihn um!«
Heni spürte seine Wut, hörte seine Worte, aber anstatt davonzulaufen, begann sie vor Schreck zu weinen und klammerte sich an seinem Bein fest, als er hinausstürzen wollte. Sein Moko tat ihm weh, aber wen wollte er deshalb töten? Und warum? Das Moko war nichts Schlimmes. Es war ein Schmuck und ein Zeichen dafür, wer und was man in der Welt war. Gewiss, es sollte furchtbar wehtun, wenn es ins Fleisch geschlagen wurde. Heni hatte die älteren Mädchen oft davon sprechen hören und schauderte bei dem Gedanken, dass eines Tages vielleicht auch sie selbst unter dem Hammer und den scharfen Muschelklingen des Tatauiermeisters liegen würde.
Gowers hatte Tätowierungen schon immer verabscheut. Unter britischen und amerikanischen Seeleuten war diese Unsitte weit verbreitet, wurde aber ohne große Kunstfertigkeit geübt, und er fand die Ergebnisse nicht nur hässlich, sondern auch lächerlich. Ihm selbst, der in seinem Leben schon so vieles gewesen war, war es zudem immer dumm und anmaßend vorgekommen, wenn ein Mensch sich selbst durch die Endgültigkeit einer Tätowierung sozusagen als »fertig« deklarierte. Sollte man nicht immer die Möglichkeit wahren, noch einmal ein anderer zu werden?
Die ganze Lächerlichkeit seiner unsäglichen, gemeinen Verstümmelung kam ihm erst bei diesen Überlegungen richtig zu Bewusstsein, und er kochte vor Wut, konnte aber den wüsten Schwall überschäumender Seemannsflüche nicht einmal aus seiner Kehle hervorwürgen, weil das seine Wunden wieder aufgerissen hätte. Es gelang John Gowers nicht mehr, was er sein Leben lang halbwegs beherrscht hatte: sein Spiegelbild mit seiner Vorstellung von sich selbst in Einklang zu bringen, und Gott weiß, was geschehen wäre, wenn sich in diesem ebenso furchtbaren wie albernen Moment kein weinendes kleines Mädchen an ihn geklammert hätte.
Heni zog seine Hände herunter und streichelte sie, zog ihn zu dem nächstbesten aus Farnkraut und bunten Decken gebildeten Lager, als wüsste sie, dass es Momente gibt, in denen ein Mann entweder explodiert oder sich hinlegen muss. Gowers legte sich, langsam und seufzend, wie ein großer Baum fällt. Er schämte sich vor dem Mädchen und vor sich selbst, weil aus seiner Erschütterung so deutlich hervorging, dass sein glattes Gesicht ihm mehr bedeutet hatte, als er sich zugestand. Es war eine peinliche Erkenntnis. Das Mädchen weinte noch immer, aber sie beruhigte sich schneller als der Mann.
Sie legte sich neben ihn, ihren kleinen Kopf auf seine zitternde Brust, hörte den wilden Schlag seines starken, unruhigen Herzens und begann, leise zu singen. Es war eines der religiösen Lieder, die der Arikirangi ihnen beigebracht hatte, und wenn Gowers die Worte verstanden hätte, hätte er vor Lachen wieder zu bluten begonnen, so absurd war die Situation. Heni merkte, dass er immer wieder nach seinem Gesicht tastete, und um ihn daran zu hindern, sich auf diese Weise wehzutun, legte sie irgendwann seine Hände auf ihren Körper, als sei sie bereits erwachsen, und fing an, seine Wunden zu lecken.
Gowers hatte noch nie ein Kind auf diese Weise im Arm gehalten und wusste nicht, was ihn stärker irritierte, was ihn sanfter, zärtlicher stimmte: ihr schmaler Rücken in seiner Hand oder die weiche kleine Zunge, die ihm den Schmerz aus Gesicht und Seele leckte. Als Heni kein Blut mehr schmeckte, hörte sie auf, sah sich die Tätowierung aufmerksam an und sagte dann zum ersten Mal etwas, das Gowers verstand: »Sterne und Strömungen, die Wolken und den Wind kenne ich.«
Waren das die Zeichen, die man in sein Gesicht geschnitten hatte?
122.
Deborahs Erfahrungen mit Männern waren kurz und brutal. Ihr Herr hatte sie vergewaltigt, einige Driver, weiße und schwarze Sklavenjäger, hatten sie vergewaltigt. Der etwa fünfzigjährige Haussklave, den ihre Herrin in Vicksburg zu ihrem Mann bestimmt hatte, hatte sie geküsst und angefasst, war aber, betrunken von Maisschnaps und Glück über seine schöne junge Frau, in der Hochzeitsnacht eingeschlafen, ehe er sie vergewaltigen konnte. Einige Male hatte sie weiße Männer wie Dean Stanton verführt und teilnahmslos zugesehen, wie sie auf ihr, in ihr einschliefen, wenn das Betäubungsmittel zu wirken begann.
Einmal hatte ein freigelassener Schwarzer, den sie auf einer Abolitionistenversammlung kennengelernt hatte, ein Mann in einem feinen Anzug, der lesen und schreiben konnte, versucht, sie zu verführen, betrunken zu machen, und war grob geworden, als seine schönen Worte bei Deborah nicht verfingen. Er hatte sie geschlagen, und sie hatte zurückgeschlagen, und seine Verblüffung darüber, vielleicht auch ein wenig das Messer, das sie plötzlich in der Hand hielt, hatte die peinliche Situation beendet. Jason hatte sie einmal geküsst, rau, unbeholfen geküsst, und sie hatte ihn gewähren lassen, bis sie die Gier in seinen Augen sah. Das waren Deborahs Erfahrungen.
Egal, was sie sagten und taten, irgendwann wurden Männer zu Tieren, die sich auf sie werfen, ihr wehtun, sie wehrlos machen wollten. Manchmal, selten, träumte sie von zärtlichen Berührungen und erwachte beschämt, verwirrt, in seltsamen Stellungen. Sie glaubte, dass solche Träume sie schwach machten, und lernte, ihr Fleisch zu befriedigen, um die Träume fernzuhalten. Denn niemals, nie wieder wollte Deborah schwach oder wehrlos sein.
Der Zettel, den John Gowers ihr gegeben hatte, lag deshalb schwer auf ihrer Seele, denn sie hatte natürlich gespürt, an seinem Stutzen, an seinem Stottern, dass diese Worte für sie bestimmt waren. Sie entzifferte auch genug davon, um zu verstehen, was er ihr sagen wollte, aber sie verbot sich, diesen Worten zuzuhören. Es machte sie beinahe wütend, dass er es aufgeschrieben und nicht einfach gesagt hatte. Denn was gesagt wurde, war Wind, verklang, konnte überhört werden. Der Zettel aber verlangte eine Entscheidung von ihr. Einmal hatte sie ihn sogar schon zusammengeknüllt, um ihn in den Fluss zu werfen, das Papier aber dann wieder glatt gestrichen, zusammengefaltet und aufbewahrt.
Noch immer, den ganzen langsamen Weg den Atchafalaya River hinauf, an riesigen Wäldern von Sumpfzypressen, überwucherten kleinen Bayous vorüber, brachte sie John Gowers seinen Morgenkaffee ins Steuerhaus. Sie sprachen nicht viel, und dafür lächelten sie eigentlich zu oft. Er machte sie auf Alligatoren, Flamingos und einmal auf einen Baum aufmerksam, der, mit einem langen Bart aus Spanischem Moos überwachsen, tatsächlich aussah wie Mr. Phineas »oder ein naher Verwandter«. Und irgendwann merkte Deborah zu ihrer Bestürzung, dass sie die Antwort auf seine Verse gar nicht mehr finden, sondern nur noch geben musste. Das aber fiel ihr entsetzlich schwer, denn er war weiß, und in ihrer Welt war weiß schlecht.
»Guten Morgen, Mr. Gowers!«
»Guten Morgen, Miss!«
Sie hatte sich angewöhnt, ihm den Kaffee einzuschenken, und er versuchte seitdem, die Tasse so aus ihren Händen zu nehmen, dass sich ihre Finger dabei berührten. An diesem Morgen gelang es ihm, aber nur, weil sie es nicht mehr verhinderte.
»Würden Sie steuern, während ich trinke?«, fragte er plötzlich. »Der Fluss ist zu unruhig hier, um das Ruder mit einer Hand zu halten.« Der Fluss war so ruhig und träge wie an jedem Morgen.
Deborah nahm das Steuer, sagte aber: »Ich weiß nicht, ob ich das kann, Mr. Gowers.«
»Ich weiß, dass Sie es können, Miss«, antwortete er ruhig und sah nach vorn, den Fluss hinauf. »Snag«, sagte er nach einer Weile, als ein Baumstamm auftauchte, dessen Standort nur an einer leichten Verwirbelung des Wassers erkennbar war. »Ein Strich steuerbord – ein wenig nach rechts«, fügte er lächelnd hinzu und sah jetzt nicht mehr auf den Fluss und das Hindernis, sondern nur noch auf Deborah, der heiß und kalt wurde, als sie fühlte, wie das große Schiff – und alles und alle, die darauf waren – einem leichten Druck ihrer Hand gehorchte. Sie passierten die gefährliche Stelle in sicherem Abstand, und sie lächelte nicht ohne Stolz.
»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie wieder steuern«, sagte sie dennoch.
»Das glaube ich nicht«, antwortete er.
Ihr Mund klappte auf, und für einen Moment verlor sie den Fluss aus den Augen und schaute den jungen Mann stirnrunzelnd an. Das Schiff fuhr eine leichte Schlangenlinie.
»Sehen Sie nach vorn«, sagte er prompt, trat hinter sie und küsste sie sacht auf die linke Schläfe, als sie es tat. Eine heiße Welle sehr widersprüchlicher Gefühle stieg ihr bis über beide Ohren, und die Schlangenlinien verstärkten sich.
»Nehmen Sie das Steuer!«, befahl sie ärgerlich. »Sofort!«
»Nein«, antwortete er leise und strich dabei mit den Lippen über ihre Wange, ohne sie an irgendeiner anderen Stelle zu berühren.
»Ich lasse das Steuer los!«, warnte sie und fühlte, dass sie zu schwitzen begann.
»Dann sind wir alle tot«, meinte er achselzuckend und küsste jetzt ihren Hals, ihren Nacken.
»Bitte«, sagte sie, überwältigt von dem Gefühl, ihn ohrfeigen zu müssen, zu wollen. »Nehmen Sie das verdammte Steuer!« Vielleicht war es die Verblüffung über diesen Fluch, die ihn dazu brachte, nun doch von ihr abzulassen.
»Sagen Sie meinen Namen!«, forderte er enttäuscht.
»Mr. Gowers«, sagte sie stirnrunzelnd, verständnislos, wütend.
»Nur ein Mal«, bat er leise, und sie begriff jetzt. Dennoch brauchte sie eine Weile und verging eine endlose Minute auf dem aufgewühlten Fluss ihrer Gefühle, ehe sie ebenso leise sagte: »John!«
Er nahm das Steuer aus ihrer Hand, und sie vergaß ihn zu ohrfeigen, so groß war ihr Bestreben, aus dem stickigen kleinen Raum herauszukommen. Auf dem Niedergang hätte sie beinahe Jason überrannt, der im Auftrag des Kapitäns dem Lotsen die Frage überbrachte, ob er hoffe, für die Karussellfahrt extra bezahlt zu werden.
123.
Von Gott einmal abgesehen konnte niemand genau wissen, wie viel rote Erde der Red River jedes Jahr aus den weiten Ebenen von Texas nach Louisiana spülte, deshalb war seine Einmündung in den Mississippi eine heikle Stelle ihrer Reise. So heikel, dass selbst John Gowers keine Lust verspürte, sie bei Nacht und Dunkelheit zu bewältigen. Er wählte die Stunde vor Sonnenaufgang für seinen Versuch, wenn der Tag nahe genug war, damit er sehen, aber auch hoffen konnte, nicht gesehen zu werden. Als die Sonne kam und die Stromschnellen in Hunderte gleißende, einander verschlingende Wasserarme verwandelte, die an seinem Schiff zogen und zerrten, hatten sie deshalb die gefährlichsten Untiefen bereits hinter sich.
Ein paar Meilen oberhalb von Red River Landing kannte Gowers eine Stelle, den Eingang zu einem versandeten Altarm, wo sie den Tag über liegen konnten. Zwar würden Dutzende andere Boote, Flöße, Fährschiffe sie dort entdecken, aber in Absprache mit John Lafflin hatte Gowers befohlen, die herausgerissenen Wände und Verkleidungen der Aufbauten wieder einzusetzen, sodass sie mit einiger Wahrscheinlichkeit für ein gestrandetes Wrack gehalten werden würden, das ein paar Schlauköpfe wieder reparierten. Kurz bevor sie diese Stelle erreichten, kam nicht Deborah, kam nicht der Kapitän, sondern der verwitterte alte Pirat Gringoire ins Steuerhaus und setzte die Kaffeekanne so heftig auf das Kartenpult, dass der Kaffee den unteren Mississippi glatt überschwemmte.
»Gute Arbeit, Engländer«, knurrte er und stellte sich mit einem Gesicht, das dem ungewöhnlich wortreichen Lob diametral widersprach, neben den jungen Lotsen.
»Danke«, sagte Gowers verwirrt und wachsam. Gringoire aber räusperte sich so ausgiebig, als stünde ihm das längste Gespräch seines Lebens bevor.
»Haben Sie irgendwas getan, wofür Sie sich entschuldigen sollten?« , fragte er dann beinahe drohend.
»Wie kommen Sie darauf?«, entgegnete Gowers.
»Weil ich Ihnen den Kaffee bringe, komme ich darauf, Engländer!« Noch immer sah er so aus, als sei er willens, seinen Lotsen bei einer auch nur geringfügig falschen Antwort umstandslos zu verprügeln.
»Ich weiß es nicht«, antwortete der junge Mann wahrheitsgemäß, und nur um anzudeuten, dass er zurückschlagen würde, fügte er hinzu: »Ich weiß es nicht, alter Mann!«
»Warum zum Teufel gehen Sie dann nicht runter zu ihr und finden es heraus?!«
»Sie haben recht«, sagte John Gowers, überließ dem Piraten ohne weitere Worte das Steuer und ging hinunter, um Deborah zu suchen. Sein Mut reichte allerdings nur aus, um sie auch zu finden. Als er vor ihr stand, als ihr reservierter, wütender, verletzter Blick seine Entschlossenheit erst gefrieren ließ und dann in tausend eisige Scherben zersplitterte, konnte er wieder nur stottern.
»Kann ich Sie sprechen, Miss? Bitte? Unter vier Augen sprechen?«
»Wo?«, fragte sie, und die kühle Nüchternheit dieser Frage kam ihm ein bisschen so vor, als hätte sie ein Duell auf Leben und Tod angenommen. Er hätte, ewiger Spötter, der er war, beinahe eine entsprechend spitze Bemerkung gemacht, aber zum ersten Mal seit langer Zeit war ihm wieder etwas zu wichtig, um Witze darüber zu machen.
»Nun«, er räusperte sich länger als nötig, um ein wenig Zeit zu gewinnen. »In der Kombüse wäre vielleicht ein Platz.«
»Gut.« Sie nickte, und wortlos gingen die beiden jungen Leute in Richtung Kombüse, um es hinter sich zu bringen. John Lafflin war mit den kräftigsten der Flüchtlinge dabei, sein Schiff wieder aufzubauen, und so blieben sie tatsächlich ungestört.
»Ich möchte mich entschuldigen, Miss«, sagte John Gowers schüchtern, »falls ich etwas getan habe, was Sie gekränkt hat.«
»Das haben Sie nicht, Mr. Gowers«, antwortete Deborah ruhig und sicher.
»Ich meine, wenn ich etwas getan habe, was Sie nicht wollten.«
Deborah biss sich auf die Lippen, hatte aber lange genug über das gestrige Erlebnis nachgedacht und sagte nach kurzem Zögern langsam, aber nicht weniger sicher: »Ich glaube, auch das haben Sie nicht.«
Es dauerte ein bisschen, ehe er die richtige Wurzel aus seinen Fragen und ihren Antworten gezogen hatte und zu lächeln begann.
»Dann freue ich mich, dass ich getan habe, was ich getan habe.«
Deborah seufzte. »Ich bin leider nicht sicher, ob ich mich freuen soll, Mr. Gowers.«
Er runzelte die Stirn, denn er fühlte zum ersten Mal etwas von der Schwere, die auf ihrem Leben lag. »Sie meinen, wenn etwas nicht falsch ist, heißt das noch nicht, dass es richtig ist.«
»So ungefähr.« Sie schaute zu Boden und schämte sich dafür, dass sie alles so kompliziert machte und dass man das so einfach ausdrücken konnte. »Ich bin zu tief verletzt worden, Mr. Gowers, um diese Dinge leichtzunehmen«, versuchte sie zu erklären, aber er lächelte immer noch.
»Ich verstehe es ja«, sagte nun er sehr ruhig und sehr sicher. »Die Sache ist nur die …«, er fing ihren Blick mit den Augen ein und ließ ihn nicht wieder los. »Ich liebe Sie, Miss. Und mir ist egal, ob das richtig oder falsch ist, denn weder das eine noch das andere kann dieses Gefühl ändern.«
Sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern, als mit diesen Worten zum ersten Mal etwas von seiner Leichtigkeit auf sie überging. »Sagen Sie meinen Namen!«, forderte sie nach einer Weile, mitten durch das Lächeln hindurch.
»Deborah«, sagte John.
»John«, sagte Deborah, und zu seiner Überraschung kam sie jetzt auf ihn zu, hielt ganz leicht seine Handgelenke und küsste ihn fest und trocken auf den Mund, ehe sie hinausging.
Er war andere Küsse gewohnt, länger, wilder, tiefer, aber er vergaß diese erste Berührung ihrer Lippen sein Leben lang nicht. Er schmeckte ihr noch nach und fragte sich gerade, was sich alle jungen Männer in so einer Situation fragen – ob wirklich stattgefunden hat, was stattgefunden hat –, als Deborah noch einmal den Kopf durch die Tür steckte und ihn fragte: »Kannst du mir beibringen, wie man navigiert?«
»Äh …« Sie hatte ihn schon mehrfach sprachlos gemacht, aber vielleicht nie so sehr wie in diesem Moment. Es waren einfach nicht die Worte, die man von einem Mädchen bei diesem Stand der Dinge erwarten konnte. »Natürlich«, sagte er mechanisch. »Gerne.«
»Schön«, entgegnete sie trocken und verschwand sofort wieder.
Es war ein sehr orientierungsloser Lotse, der kopfschüttelnd, grübelnd, verwirrt zurück auf das Steuerdeck kletterte, und erst der Anblick Gringoires brachte ihn gewissermaßen wieder zu sich.
»Und?«, knurrte der alte Pirat, als der junge Mann wieder neben ihn trat.
»Nein«, sagte John Gowers.
»Was?« Gringoire hatte anscheinend seine eigene Frage vergessen. Der Lotse fand dadurch seine Selbstsicherheit wieder und hatte das deutliche Gefühl, sie sei um etwa drei Meter gewachsen.
»Ich habe nichts getan, wofür ich mich entschuldigen sollte.« Das Grinsen, das bei diesen Worten auf sein Gesicht trat, hätte den größten Alligator Louisianas in die Flucht geschlagen.
Aber Gringoire sagte nur: »Gut. Sorgen Sie dafür, dass das so bleibt, Engländer!«
124.
Als Te Kooti Arikirangi nach Nga Tapa, wie man die alte Urwaldfestung nannte, zurückkehrte, befand er sich auf dem Höhepunkt aller Macht, die er in seinem unsteten Leben besitzen würde, und eine Veränderung war mit ihm vorgegangen. Fünfhundert Leben hielt er in seiner Hand, und täglich wurden es mehr, da ihm, nach seinem großen Sieg, neue Anhänger von den Stämmen der Turanga-Region und rund um die Hawke Bay zuströmten. Vielleicht würde er die gesamte Ostküste von den Pakeha befreien können, um unter dem Zeichen der erhobenen Hand eine Art Priesterkönigreich zu errichten.
Tatsächlich erreichten Nachrichten das Kings Country, in denen der neue Prophet damit drohte, seine Leute nach Waikato zu führen, den König Tawhiao zu entthronen und an seine Stelle den einen Starken und Mächtigen, den von Gott erwählten Herrscher einzusetzen. Da Te Kooti sich selbst in seinen Predigten nur noch als »Gottes Mund« bezeichnete, war klar, wer dieser Starke und Mächtige sein würde. Was die Weißen auf der gesamten Nordinsel, ihre Regierung in Wellington und ihre militärischen Führer am meisten fürchteten, nämlich ein Bündnis der Kingites im Waikato-Becken mit den Rebellen Titokowarus im Süden und dem neu aufgetauchten furchtbaren Ausbrecherkönig im Osten, stand deshalb nie ernsthaft im Raum. Zu unterschiedlich waren ihre politischen Interessen, zu widersprüchlich ihre religiösen Anschauungen.
Auch die Whakarau bekamen die Veränderung, die mit Te Kooti vorgegangen war, zu spüren. Gewiss, er hatte sie schon vorher nicht nur mit gütigen Prophezeiungen und weisen Entschlüssen, sondern auch mit Drohungen und offener Gewalt zusammengehalten. Aber jetzt war er endgültig nicht länger einer von ihnen, nicht mehr Erster unter Gleichen. Eine öde alte Geschichte in der Geschichte, die sich zuvor und seither tausendfach wiederholt hat. Mit dem Herrschaftsanspruch des Propheten wurden seine Anhänger zu Untertanen, und auch die bereits bestehende Unterscheidung zwischen Gefolgsleuten und Gegnern, Freunden und Feinden verschärfte sich. Nun war jeder Te Kootis Feind, der nicht sein Untertan sein wollte.
John Gowers hatte seinen Entschluss gefasst. Er hatte einem Gefangenen geholfen, sich zu befreien, und war dabei selbst zu einem Gefangenen geworden. Die Fesseln, die der Prophet ihm angelegt hatte, waren die Zeichen in seinem Gesicht, und er zitterte noch immer vor Wut, nicht nur über die Gemeinheit dieser Verstümmelung, sondern auch über die Selbstherrlichkeit, mit der Te Kooti in sein Leben eingegriffen hatte.
Die Entscheidung, ihn zum Maori ehrenhalber zu machen, erwies sich jedoch als nicht so endgültig, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Als die Schwellungen abklangen, die Wunden verheilten, stellte Gowers fest, dass sein Bartwuchs intakt geblieben war, und das linderte seinen Hass ein wenig. Zumindest verschwand sein Wunsch, Te Kooti bei der ersten Gelegenheit zu töten. Er würde einfach seiner Wege gehen und sah darin auch kein besonderes Problem, denn er fühlte sich dem Propheten jetzt in keiner Weise mehr verpflichtet. Lediglich dass der Mann vom charismatischen Religionsstifter so offensichtlich zu einem Warlord geworden war, mahnte ihn zur Vorsicht, und unter erheblichen Schmerzen rasierte er sich, ehe er ihm seine Entscheidung mitteilte.
Der Investigator gehörte zu den wenigen Menschen im Lager, die allein, ohne Leibwache, Frauen, Henker und deshalb auch ohne Zeugen mit Te Kooti sprechen konnten, und nur dieser Umstand rettete ihm vermutlich das Leben. Lächelnd und ein wenig zu überlegen betrachtete der Prophet die gelungene Arbeit des Tätowiermeisters in Gowers’ Gesicht.
»Haben Sie noch Schmerzen?«, fragte er.
»Es geht«, antwortete Gowers.
»Wissen Sie, was diese Zeichen bedeuten?«
»Ja, Sir.«
Te Kootis Freude trübte sich ein wenig. Er hatte sich bereits überlegt, mit welcher Betonung er die bedeutsamen Worte sprechen wollte, und war für einige Sekunden nichts anderes als ein Schauspieler, den man um seinen Auftritt gebracht hatte.
»Sie wollten mich sprechen?«, fragte er ernüchtert.
»Ich werde Sie verlassen, Sir«, sagte Gowers ruhig. »Sie wissen, warum. Ich habe etwas im Süden zu tun.«
Der Prophet schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Sie irren sich. Das war ein anderer Mann!«
»Ich denke nicht, Sir. Trotz Ihrer …« Gowers musste eine erste heiße Aufwallung seines Zorns hinunterschlucken, »… Ihrer Zeichen bin ich derselbe Mann geblieben.«
»Das ist traurig für Sie, mein Freund.« Te Kooti versuchte, seinen Worten den milden Klang auf richtigen Bedauerns zu geben. »Denn die Augen dieses Mannes sind blind und seine Ohren verstopft. Er kann die Zeichen Gottes nicht sehen und Gottes Stimme nicht hören und muss im Dunkeln wandern.«
Die Selbstgewissheit des Propheten reizte Gowers so sehr, dass er ihm am liebsten verraten hätte, wie gut er auch im Dunkeln seine Wege sehen konnte. Stattdessen sagte er so ruhig wie möglich: »Bei allem Respekt, Sir, aber ich sehe Ihre Zeichen und höre nur Ihre Stimme!«
Das war zu viel. Niemand durfte so mit dem Sieger von Matawhero sprechen.
»Ich bin Gottes Mund, Mr. Gowers«, sagte Te Kooti finster. »Seine Stimme, sein Werkzeug. Und ich tue, was seine göttliche Offenbarung mir befiehlt!«
Auch das war zu viel. Einem Mann das Gesicht zu zerschneiden war eine Sache. Frech zu behaupten, dass das der Wille Gottes, gut und richtig sei und der Mann im Unrecht, wenn er sein Leben zurückverlangte, eine ganz andere.
»Wie«, fragte Gowers und kämpfte dabei seinen Zorn immerhin zu einem derben Sarkasmus nieder, »wie unterscheidet man eigentlich eine göttliche Offenbarung von einem Furz im Hirn?«
Nach den wenigen Sekunden, die er brauchte, um diese Ungeheuerlichkeit zu begreifen, verwandelten sich Te Kootis gespieltes Bedauern und seine ehrliche Enttäuschung in Abscheu, Verachtung und Hass.
»Sie wollen uns verlassen – und Sie werden uns verlassen!«, drohte er mit funkelnden Augen und rief dann mit lauter Stimme nach draußen: »Maaka Ritai!«
125.
Seine Zunge hatte ihm ja schon manchen Streich gespielt, aber dieser war wirklich hundsdumm, und er hielt ihn für seinen letzten. Je länger die Beratung dauerte, die der Prophet mit seinen zwölf Aposteln, Leibwächtern und Henkern abhielt, desto unangenehmer wurde vermutlich die Art und Weise, auf die sie ihn umbringen würden, dachte John Gowers – an Händen und Füßen gefesselt unter freiem Himmel liegend, von den Hunden beschnüffelt, von den alten Frauen bewacht. Obwohl er sich immer für einen harten Burschen gehalten hatte und dem Tod schon häufig begegnet war, zermürbte ihn dieses Warten, und die Angst kroch allmählich an seinen Beinen, in seinem Körper hoch.
Er rieb sein noch immer wundes Gesicht im Staub, um die Angst durch den Schmerz zu vertreiben und sich erneut zu bestätigen, dass er im Recht war. Zumindest würde er ihnen noch ein paar Worte über ihre schwachsinnige Religion hinknallen, die sie nicht so bald vergessen würden. Er arbeitete bereits an Formulierungen, die die letzte an Gemeinheit noch übertreffen sollten, und schaffte es dadurch immerhin, dass Furcht und Zorn sich in seinem Innern einigermaßen die Waage hielten.
Dann war es endlich so weit: Der Prophet rief seine Anhänger zum Wharenui, dem Versammlungshaus, und der Henker, Maaka Ritai, schleifte Gowers an den Füßen zum Niue, dem heiligen Pfahl, der an diesem Ort aufgerichtet war. Er sah dabei nur noch einen Wald schmutziger nackter Beine, und die frechen, freien Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, konnten den Knebel der Angst in seiner Kehle nicht mehr durchdringen. Dann war es der schwere Fuß des Henkers in seinem Nacken, der ihn am Reden hinderte. Hören konnte er zu seiner Überraschung umso besser. Seiner fast schmerzhaft geschärften Aufmerksamkeit entging kein Rascheln, kein Raunen in der Menge der Gläubigen, und er hörte sogar den Wind in den großen dunklen Bäumen jenseits der Palisade.
»Dieser Mann«, sagte Te Kooti feierlich, »hat uns über das Meer geführt.«
Richtig, dachte Gowers bitter und: Trottel! Und: Auf dem Meer würde euer Prophet seinen Schwanz nicht finden, wenn er pinkeln geht! Aber er war nicht auf dem Meer.
»Wir haben diesen Mann geehrt, und ich habe ihm meine eigene Frau gegeben. Wir haben ihn zu unserem Bruder gemacht!«
Ja, gegen seinen Willen und ohne sein Wissen, dachte Gowers: Ihr habt ihn schanghait!10
»Aber er hat über uns gelacht und unseren Glauben mit Füßen getreten.«
Wer tritt hier wen?, dachte Gowers, während er die knorrige Hornhaut an den Fußsohlen des Henkers im Nacken fühlte. Macht die Augen auf!
»Er will nicht zu uns gehören. Er will überhaupt nicht zu etwas oder jemandem gehören, nicht einmal zu Gott!« Die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens ließ die Whakarau aufheulen, und selbst Gowers, der Delinquent, konnte nicht umhin, diese Formulierung irgendwie eindrucksvoll zu finden.
»Darum soll er nackt in die Wildnis gehen! Mögen alle Flüche des Lebens auf ihn fallen, mögen Todesängste ihn durch die Wälder treiben und Schlangen aufspringen in seinem Weg! Die Früchte der Erde sollen zu Asche werden in seinem Mund und klares Wasser sich in Blut verwandeln auf seinen Lippen!«
Die Gläubigen erzitterten unter diesem wundervollen Fluch, und Gowers, das Gesicht in den Staub getreten, schaffte es nicht, dem Propheten einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Denn für jemanden, der angeblich nur mit Gott sprach, hatte sich der Mann recht ungeniert bei Lord Byron bedient. Leider war dies nicht der Moment für philologische Spitzfindigkeiten.
Maaka Ritai zerrte ihn hoch und zerschnitt seine Fesseln. Andere, junge Männer, rissen ihm die Kleider vom Leib, die Stiefel von den Füßen, waren aber immerhin religiös genug, ihm die Hosen zu lassen. Te Kooti ließ die Sachen des Investigators holen und vor ihm ausbreiten.
»Wählen Sie, Mr. Gowers«, sagte er. »Wählen Sie einen Gegenstand, denn einen Gegenstand dürfen Sie mitnehmen.«
»Und alles Übrige nehmen Sie«, murmelte Gowers verächtlich.
»Gott wird über Sie richten«, erwiderte der Prophet bestimmt. »Dort draußen. Und schon Ihre Wahl wird ein Teil seines Urteils sein. Der Rest fällt denen zu, die es besser verwenden werden als Sie.«
Gowers war klar, dass damit vor allem sein Revolver gemeint war, und er ging davon aus, dass ihm die Munition vorenthalten würde, wenn er ihn wählte. Sein Bündel war nie groß gewesen, aber als er jetzt die schäbigen Reste seines Lebens vor sich ausgebreitet sah, dachte er unwillkürlich, dass er es in der Welt nicht zu sonderlich viel gebracht hatte. Blechgeschirr, Feldflasche, sein eiserner Totschläger, die blaue Brille, eine alte Offiziersmütze, ein Bleistift, ein wenig Papier? Seine Vergangenheit nützte ihm nichts. Er überlegte, nur um des dramatischen Effekts willen, Byrons Cain zurückzuverlangen, aber er überlegte nur kurz. Was würde er brauchen? Kleider? Stiefel? Te Kooti würde es fertigbringen, ihm nur einen zu geben. Sein Kompass wäre ihm zweifellos nützlich in der Wildnis, aber es gab die Sterne, und so dicht waren die Wälder, so groß war diese Insel auch wieder nicht. Er würde immer irgendeinen Strand erreichen und das Meer finden, wie noch der kleinste, schäbigste Bach irgendwann zum Meer fand.
Der Prophet wartete gespannt auf die Wahl des verfemten Mannes und beglückwünschte sich insgeheim zu seiner Voraussicht, als es das Messer des Mörders war, das Gowers ergriff. Nun lag wahrhaftig alles in Gottes Hand. Das große Tor in der Palisade von Nga Tapa wurde knarrend geöffnet.
»Fort!«, sagte Te Kooti und deutete mit dem Arm auf den undurchdringlichen Wald jenseits des Gelobten Landes, das er zu schaffen versuchte mit allen Mitteln.
126.
Sie war fort. Am frühen Morgen, nur drei Tage nach ihrem ersten Kuss, hatte die Deep South die Flüchtlinge am Illinois-Ufer sicher an Land und in die Freiheit gebracht. Deborah war mit ihnen von Bord und in Gringoires Hütte gegangen, von wo aus die kleine Underground Railroad sie weiter nach Kanada bringen würde. Der wüste alte Pirat hatte Gowers beim Abschied umarmt, denn in den Nächten zuvor war es noch einige Male sehr haarig zugegangen. Aber der junge Lotse hatte alle Schwierigkeiten von Schiff und Passagieren ferngehalten. Sie waren an einigen Wracks vorübergekommen, die weniger Glück gehabt hatten, und ihr Anblick hatte auch den letzten und ahnungslosesten der Flüchtlinge klargemacht, was John Gowers für sie getan hatte. Und John Lafflin. Und Jason. Und der riesige, furchterregende Mr. Phineas.
Fast alle weinten, als das kleine Schiff wieder auf den gewaltigen dunklen Strom hinaussteuerte, aber es waren nicht mehr die bitteren Tränen der Sklaverei, die in ihren Augen glänzten. In Hochstimmung befahl der Kapitän Kurs auf St. Louis, laut lachend warf Mr. Phineas Schaufel um Schaufel ihrer letzten Kohlereserven ins Feuer seiner unerschütterlichen Maschine. Alles war gut gegangen – aber sie war fort! Selten war John Gowers sein Leben so leer erschienen wie an diesem Morgen, leer wie der endlos vor ihm ausgebreitete Fluss. Er sah auf das Vorschiff, wo am Tag zuvor noch singende, tanzende Menschen einer ungewissen, aber selbstbestimmten Zukunft entgegengeschwommen waren. Sie war fort.
Sein Blick wanderte ungläubig durch das Steuerhaus, über Karten, Ruder hinweg, zu dem leeren Haken an der Wand, wo normalerweise seine Lotsenjacke aufgehängt war. Er hatte sie Deborah zum Abschied geschenkt, aber Deborah war fort. Als die Sonne aufging, wurde der Mississippi zu einer schimmernden Fläche aus flüssigem Licht, auf die seine Träume hinauszuwachsen begannen. Er sah ihre Augen, ihr Gesicht, er hörte ihre Worte da draußen. Und allmählich begriff er, dass die Leere in seinem Leben nicht vor ihm, sondern hinter ihm lag. Sie war fort. Aber John Gowers war jetzt nicht mehr allein.
»Versponnen«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm. »Ja, das ist der richtige Ausdruck: versponnen!« Es war John Lafflin, der ins »Texas« gekommen war, ohne dass der Lotse es bemerkt hatte. »Ich weiß ja nicht, ob das von Interesse für Sie ist«, fuhr er spöttisch fort, »aber wir haben eben ein Floß versenkt.« Wie ein Schlag in die Kniekehle kehrte die Wirklichkeit zu John Gowers zurück, und er sah den Mann mit großen Augen an.
»Na ja, beinahe«, lächelte der Kapitän. »Um ein Haar sozusagen. Aber ein paar der Ausdrücke, die die Kerle darauf für unseren Lotsen gebraucht haben, kannte selbst ich noch nicht.«
Gowers lachte ein wenig zu laut.
»Ich dachte nur, ich sag Ihnen das«, setzte Lafflin seine Rede fort, »denn ehrlich gesagt fände ich es schön blöd, wenn Sie nach all dem Theater mein Schiff in Sichtweite von St. Louis in den Grund bohren. Nennen Sie mich einen alten Pedanten!«
Sie erreichten St. Louis am Nachmittag, und der Lotse nahm die Einladung seines Kapitäns zu einem späten Mittagessen oder einem frühen Abendessen in der Collins Avenue 24 dankend an. Lafflin machte dem jungen Mann sogar das Angebot, fest für ihn zu arbeiten; aber da Deborah ihn einmal offen vor den Augen des Kapitäns geküsst hatte, kannte John nur ein Thema und war froh, dass er seine vielen Fragen nicht mehr hinter Andeutungen verstecken musste. Und obwohl vernünftige Menschen den Umgang mit Verliebten nach Möglichkeit meiden sollten, stand John Lafflin seinem Lotsen, so gut er konnte, Rede und Antwort, denn er hatte seine Freude an dem, was da zusammenwachsen wollte.
Nein, obwohl er sie seit vier Jahren kannte, wusste er nicht, wo und wie die junge Frau lebte. Das war Teil ihrer Absicherung. Nur Gringoire, nein, Gringoires Frau kannte Deborahs festen Aufenthaltsort, und nur über sie konnte man mit ihr in Verbindung treten. Blumen? Schmuck? Nun ja, er an Johns Stelle würde dieser Frau nichts schenken, was man auch jeder anderen Frau schenken könne.
An dieser Stelle räusperte sich Mrs. Emma Lafflin vielsagend und klärte die beiden Männer darüber auf, dass die Frau noch nicht geboren sei, die ein Blumengeschenk verschmähe. Schmuck sei natürlich immer ein wenig heikel, weil Geschmacksache. Wenn er diesbezügliche Fragen habe, könne er sich jederzeit an sie … Ein Chronometer und einen Sextanten? Nun … Das sei immerhin originell. Kaum zu befürchten, dass ein Mädchen da die Augen verdrehte und sagte: »O Gott, schon wieder ein Sextant!« Ein Astronomielehrbuch? Ja. Auch nicht schlecht. Aber natürlich mit einer Menge Blumen.
Im Verlauf dieses heiteren Abends machte Mrs. Lafflin ihrem Mann auch Mitteilung über die in seiner Abwesenheit vorgekommenen Ereignisse, die in den spannenden Berichten über die Fahrt der Deep South, die Schlacht von Barataria und den Weg durch die Sümpfe leider ein wenig untergingen. Später, als sie nackt in seinen Armen lag, wiederholte sie noch einmal die Geschichte von dem nächtlichen Einbrecher, den sie den städtischen Behörden übergeben hatte. Aber unglücklicherweise nahm John Lafflin diese Information auch jetzt nicht sonderlich ernst.
127.
Als John Gowers kurz vor Mitternacht das kleine Hotel aufsuchte, in dem er in St. Louis abzusteigen pflegte, überraschte ihn die Mitteilung des Empfangschefs – der auch Hausdiener, Koch, Portier, Zimmerkellner und Besitzer des Etablissements war –, dass am späten Nachmittag eine junge Dame ein Doppelzimmer auf den Namen Gowers angemietet hatte. John, dem nur eine junge Dame einfiel, die auf eine solche Idee kommen könnte, flog die windschiefe Treppe hinauf, indem er bis zu vier Stufen auf einmal nahm. Er war verwirrt und geschmeichelt über das eindeutige Angebot, das sie ihm damit machte. Gleichzeitig fragte er sich, wie Deborah in so kurzer Zeit über den Fluss gekommen sein konnte und woher sie überhaupt wusste, wo er wohnen würde. Hatte er das ihr gegenüber erwähnt? Er konnte sich nicht daran erinnern. Aber er konnte sich ohnehin nur an wenig von dem erinnern, was er zu ihr gesagt hatte.
Vor der Tür schloss er die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus, ohne dadurch jedoch den heftigen Schlag seines Herzens beruhigen zu können. Ohne anzuklopfen, trat er ein – und war einigermaßen konsterniert, Dorothy Simpson auf dem Bett liegend vorzufinden; mit offenen Haaren und nur mit einem Nachthemd bekleidet. Das Mädchen war eingeschlafen, während sie auf ihn gewartet hatte, erwachte aber jetzt, setzte sich auf und zog sowohl ihre Beine als auch die dünne Bettdecke hoch.
»Guten Abend«, sagte sie und versuchte zu lächeln, aber ihre Stimme zitterte vor Auf regung, und ihr Gesicht wurde brandrot.
»Was tun Sie hier?«, fragte John Gowers, noch immer enttäuscht, verwirrt, aber auch schon eine Spur ärgerlich.
»Ich bin fortgelaufen«, sagte Dorothy, der man anmerkte, dass sie diese Worte in der großen Szene ihres Lebens mehrmals geprobt hatte, ohne dass sie ihr jetzt allerdings besonders gut gelangen. »Und ich gehe nie, nie wieder zurück!«
»Woher wissen Sie, dass ich in St. Louis bin?«
Diese Frage immerhin hatte sie vorausgesehen, wenn sie auch auf eine andere, empathischere Reaktion gehofft hatte: Dorothy, Liebste! Was um Himmels willen ist geschehen?! Oder etwas in der Art.
»Ich habe die Deep South im Hafen gesehen, und ich wusste ja …«
Dass Sie ihr Lotse sind, sollte der Satz lauten. Aber John durchschnitt ihn mit einem kühlen: »Vorher oder nachher?«
»Was?« Diese Frage war in dem von ihr geplanten oder zumindest erhofften Szenario nicht nur nicht vorgesehen, sie verstand auch nicht, was er damit sagen wollte.
»Sind Sie schon vorher zu Hause ausgerissen und haben heute zufällig die Deep South gesehen, oder haben Sie sie gesehen und sind danach fortgelaufen?«
»Danach«, antwortete sie kleinlaut, denn instinktiv spürte sie, dass ein so genau kalkulierter Ausbruch aus dem bürgerlichen Alltag der großen Tat viel von ihrer dramatischen Wucht nahm. »Aber ich gehe nie, nie wieder zurück!«, fügte sie ein wenig schmollend hinzu. Damit konnte die Szene eigentlich noch immer den erwünschten Verlauf nehmen: Dorothy, Liebste! Was um Himmels willen ist geschehen?!
»Dorothy«, sagte John Gowers, »Sie sind ein nettes Mädchen, aber Sie bringen mich in große Schwierigkeiten.«
Die Röte stieg ihr nun bis über die Augenbrauen. Sie brachte ihn in Schwierigkeiten? Wer hatte denn wen geküsst? Mehrmals? Auf den Mund? Wo war der herrlich aufregende Mann, der ihr angeboten hatte, sie mitzunehmen? In sein Zimmer? In sein Leben? Und warum fragte er nicht endlich, was Furchtbares vorgefallen war?
»Das Beste wird sein, wenn Sie sich anziehen und sofort wieder gehen«, sagte er. Da platzte das ganze Elend der Menschheit aus Dorothy Simpson heraus, Tränen, Tragik, Trauer. Ihre Mutter hatte ihr Tagebuch gefunden, die rosafarbenen, parfümierten Blätter, denen sie mit blassblauer Tinte all ihre Geheimnisse, Träume, ihre innersten Gefühle anvertraut hatte. Unter anderem eben die Sache mit John Gowers.
Als pflichtschuldige Herdhüterin hatte Dorothys Mutter ihrem Vater Mitteilung davon gemacht, und ihr Vater hatte sie geschlagen, wahrhaftig geschlagen, mit seinem Gürtel! Auf Hüften und Gesäß! Sie zitterte vor Empörung, als sie an die entsetzliche Szene dachte, spürte auch noch ein wenig das Beißen des Riemens an den entsprechenden Körperteilen; jedenfalls, wenn sie sich sehr darauf konzentrierte, denn das Ganze lag nun schon fast zwei Wochen zurück. Seitdem war sie jeden Tag, jedenfalls jeden Tag nach Aufhebung des selbstverständlichen Hausarrestes, zum Hafen gegangen und hatte nach der Deep South Ausschau gehalten.
Sie würde nun mit ihm gehen! Auf und davon, den Fluss hinunter, aufs Meer hinaus! Eine Flößerfrau, eine Piratenbraut, entehrt, aber glücklich! Sie hätte nun ohnehin nichts mehr zu verlieren, und es gäbe für sie kein Zurück mehr!
Als er auf diese Flut von Ausbruch, Aufbruch und Abenteuer nicht anders reagierte als mit einem leichten Stirnrunzeln, sogar manchmal mitleidig zu lächeln schien, tat sie mit fliegenden Händen das Äußerste: warf die Bettdecke von sich und zog ihr Nachthemd über den Kopf, was nicht ganz einfach war, da sie ja darauf saß. Nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, jung, schön, wenn auch nicht mehr in vollster Jugendblüte, warf sie sich auf das Bett zurück, und als der steinharte Mann noch immer nicht reagierte, öffnete sie mit einem leisen Seufzen, das wie ein Schluchzen klang, sogar ihre Beine.
John sah unter den kurzen schwarzen Haaren, die ihr beinahe bis zum Bauchnabel reichten, ihr jungfräuliches Geschlecht, leuchtend wie eine Rose in der Dämmerung. Er wusste, dass sie ihm ein Geschenk machte, das sie nie wieder einem Mann machen würde, wusste auch, dass dies die Sünde war, die Gott einem Mann nicht vergibt. Kurz ging ihm durch den Sinn, was er noch vor einem Monat in dieser Situation getan hätte, ja was zu tun er gelegentlich heftig herbeigewünscht hatte. Dann deckte er das Nachthemd über diesen zu allem entschlossenen Körper und sagte: »Es tut mir sehr leid. Aber ich werde Sie jetzt nach Hause bringen!«
Es war eine zu Tode beschämte junge Dame, die mit sehr finsteren Blicken immer wieder auf den nächtlichen Straßen von St. Louis stehen blieb und mit dem Gedanken spielte, »Hilfe! Vergewaltigung!« zu schreien. Denn John Gowers hatte sie vergewaltigt; ihren Körper mit seinen Augen, ihren Geist mit seinen unromantischen Worten und ihre Seele mit seinem unmännlichen Nichtstun. Was sollte sie ihren Eltern sagen? Was ihren Freundinnen? Dorothy Simpson wurde allmählich wieder ganz die Tochter des besten Anwalts der Stadt.
Konnte er sie entführt haben? »Hilfe! Vergewaltigung! Entführung?« Aber dieser Mann am Empfang würde bestätigen, dass sie selbst das Zimmer gemietet hatte, als John Gowers noch gar nicht da war. Könnte man diesen Zeugen kaufen? Wütend blickte sie auf den jungen Mann, der vor ihr ging. Konnte sie ihm etwas über den Schädel schlagen, seine Leiche beseitigen, allen erzählen, er hätte sie vergewaltigt? Nein. Nein, ihr fiel etwas Besseres ein.
»Kommen Sie bitte endlich!?«, fragte John Gowers mit inzwischen erhobener Stimme, als Dorothy zum dritten Mal vor einem Saloon stehen blieb, aus dem noch Licht auf die Straße fiel. Einem Vater weit nach Mitternacht die entlaufene Tochter zurückzubringen war schon schwer genug. Sie würde doch wohl nicht auch noch etwas trinken wollen?!
»Helfen Sie mir, Sir«, sagte Dorothy in diesem Moment zu dem Mann, auf den sie gewartet hatte: einen angetrunkenen, aber gut gekleideten, vor allem aber jungen und kräftigen Vertreter für Düngemittel. »Dieser Mann belästigt mich!«
Das darf nicht wahr sein, dachte Gowers, als der Bursche – »Nehmen Sie die Finger von der Dame!« – auf ihn zukam und ihn von Dorothy wegstieß. Zuerst wollte er sich zur Wehr setzen, als der andere ihm eine schallende, aber ansonsten harmlose Ohrfeige verpasste. Dann bemerkte er jedoch den gierigen Blick, der dabei in Dorothy Simpsons Augen trat, und zog es vor, umstandslos zu Boden zu gehen und liegen zu bleiben. Er rollte lediglich rasch zur Seite, um dem gefürchteten Tritt in den Unterleib zu entgehen, der solche Auseinandersetzungen in seinen Kreisen zu beenden pflegte. Aber sein Gegner war diesmal ein Gentleman.
Verblüfft starrte der junge Vertreter auf seine Hand, die noch nie mit einem einzigen Schlag so viel verändert hatte, dann nahm er bereits den Hut vom Kopf und hörte irgendwo in seinem leicht benebelten Kopf seine eigene Stimme sagen: »Jeremiah Elderton, Gnädigste! Darf ich Ihnen meine Begleitung und meinen Schutz anbieten?!«
»Danke, Mr. Elderton«, erwiderte die Gnädigste, in deren Kopf sich bereits eine neue Geschichte entwickelte; plausibler als die erste und mit weitreichenden Folgen sowohl für sie selbst als auch für den ahnungslosen Jeremiah Elderton.
John Gowers blickte ihnen nach, klopfte den Staub aus seinen Kleidern und rieb sich die lange nicht mehr rasierte Wange. Verdient, dachte er im Gedanken an das, was er an diesem Abend gesehen hatte. Verdient, einer wie der andere!
128.
August Petermann hatte erst zweimal in seinem Leben ein Schiff bestiegen, und die weiteste Reise dieses Lebens hatte ihn nach Schottland, von dort nach London und schließlich zurück auf den Kontinent, in das kleine thüringische Landstädtchen Gotha, geführt. Dennoch kannte der Mann die ganze Welt, hatte sie aufgezeichnet in seiner engen Gelehrtenstube und den Produktionsräumen der Verlagsbuchhandlung & geographischen Anstalt Justus Perthes. Petermann war der beste Kartenzeichner seiner Generation und mit den Geographischen Mittheilungen oder einfach Petermanns Monatsheften, die er seit 1855 herausgab, brachte er die Welt oder was er dafür hielt, in alle Klassenzimmer, Salons und Bibliotheken des bürgerlichen Zeitalters.
Expeditionstagebücher, flüchtige Bleistiftskizzen, Höhenmessungen und andere Daten von Forschungsreisenden aus aller Welt landeten irgendwann in der deutschen Provinz, auf Petermanns Schreibtisch, der sie mit seltener Kunstfertigkeit in Karten umwandelte, die die Vorstellung von der Erde für mehrere Generationen, ja eigentlich bis zur Einführung von Satellitenbildern prägten. Als der junge Geologe Ferdinand von Hochstetter 1859 von seiner zweijährigen Forschungsreise nach Neuseeland zurückkam und noch ehe er aufgrund dieser Leistung Vorsitzender der Wiener Geographischen Gesellschaft und schließlich Direktor des Naturhistorischen Museums in Wien wurde, schickte er deshalb seine Aufzeichnungen an den ebenso weltfremden wie weltkundigen kleinen Professor in Gotha, der sie mit den englischen Küstenaufnahmen von Stokes und Drury kombinierte und so die – nach Cook – erste im europäischen Bewusstsein »gültige« Karte der neuseeländischen Nordinsel erstellte.
Sogar von Tempsky hatte sich an dieser Karte orientiert, sie hier und da handschriftlich korrigiert, aber im Wesentlichen verlässlicher gefunden als alles, was englische Missionare über das Landesinnere zu Papier gebracht hatten. Leider hatte der Investigator Petermanns Karte nur ein einziges Mal gesehen, aber sie hätte ihm auch wenig genützt, denn die meisten Gebiete, die er auf seinem Weg nach Norden durchqueren musste, hatte Hochstetter nie gesehen und Petermann nur als weiße Flecken mit dem Vermerk »völlig unerforscht« eingezeichnet.
Immerhin wusste er, dass jenseits der Te Whaiti Range und der Kaingaroa-Ebene eine Gruppe vulkanischer Seen lag, von denen gut ausgetretene Pfade in die Bay of Plenty führten. Er hatte über sein Ziel nachgedacht, solange er noch über etwas anderes als Hunger und Kälte nachdenken konnte. Das Naheliegendste, nämlich von Nga Tapa in den Süden zu gehen, hätte bedeutet, mitten in den Aufmarsch der Pakeha-und Kupapa-Milizen zu geraten, die gegen den »Schlächter von Matawhero« zusammengezogen wurden. Es war ihm bewusst, dass ein einzelner Mann in seiner Aufmachung, mit seinem Gesicht hier nur wenig Hilfe zu erwarten hatte.
Der Weg nach Nordwesten war beschwerlicher, führte in den Urwald von Te Wera hinein statt hinaus, aber dort lag ein von Krieg und Aufstand noch unberührtes Gebiet, in dem er auf Unterstützung zumindest hoffen konnte. Es war seine Absicht, die Coromandel-Halbinsel zu erreichen und sich bei von Tempskys Familie, so gut es ging, in einen Menschen zurückzuverwandeln, ehe er einen weiteren Versuch machte, Otago und die Südinsel zu erreichen. Dass er aus der Patea Field Force mehr oder weniger desertiert war, dass er Te Kooti bei seiner Flucht von Chatham geholfen hatte, würde seine Jagd nicht eben erleichtern, ja er würde wahrscheinlich aufpassen müssen, dass er nicht selbst als Verräter gejagt wurde.
Aber als er nach drei Tagen die Wasserscheide zwischen südöstlicher und nordöstlicher Küste noch immer nicht erreicht hatte, als Flüsse und Bäche ihm noch immer entgegenstürzten auf seinem Weg die dicht bewaldeten, fast überwucherten Berge hinauf, als er den Hunger zu spüren begann und die Schlammschichten, mit denen er sich gegen die Kälte zu schützen versuchte, immer wieder von jähen Regengüssen weggespült wurden, zweifelte er an all seinen Zielen und ging es plötzlich nur noch darum, am Leben zu bleiben. Das war schwer genug. Er kaute Baumrinde, um das Hungergefühl zu betäuben, hütete sich aber, sie hinunterzuschlucken, denn Durchfall oder Übelkeit hätten ihn nur noch schwächer und langsamer gemacht. Als er endlich den ungeheuren Wald hinter sich hatte, den Mount Tarawera und den Weg in die Bucht des Reichtums und der Fülle vor sich, glich er eher einem wilden Tier, einem Urzeitmenschen als einem Pakeha oder Maori.
In der Kaingaroa-Ebene fand er endlich die Nester bodenbrütender Vögel und verhinderte das Nachwachsen einer neuen Generation, indem er ihre Eier roh hinunterschlang und sie trotz seines Widerwillens auch bei sich behielt. Am sechsten Tag roch er Schwefelwasserstoff in der Luft und wusste, dass die Vulkanseen mit ihren Geysiren, Fumarolen und Solfataren jetzt nicht mehr weit sein konnten. Er bewegte sich inzwischen wie durch einen üblen Traum, und die überall der Erde entströmenden Gas-und Dampfausbrüche vermittelten ihm das intensive Gefühl, nicht mehr auf einer von Menschen bewohnten Welt zu sein. Seine Füße schmerzten, waren blutig und schartig, aber dennoch erlag er nicht der Versuchung, sich in einer der zahllosen Puias, der heißen Quellen, zu erholen und zu säubern, denn er wusste, dass das seinen Körper nur weich und verletzlicher machen würde.
Das Land war von einer unwirklichen Schönheit. Blaue, grüne, türkisfarbene Kraterseen lagen auf seinem Weg, gelbe Schwefelablagerungen und weite,weiße Sinterterrassen von Kieselerde glänzten selbst unter der matten Wintersonne. Aber alles, was er erreichen wollte, war das kleine Kreuz, das auf Petermanns Karte eine Missions-und Wetterstation mitten in diesem alten Vulkangebiet bezeichnet hatte und an das er sich deutlich erinnerte. An der Ostseite des großen Sees Tarawera fand er schließlich einen Pfad, den ersten seit einer Woche, der ihn direkt zu einem niedrigen, aus Basaltblöcken errichteten Gebäude brachte, das indes von seinen Bewohnern verlassen war.
Auf einem Müllhaufen in der Nähe entdeckte er einige alte, aber noch nicht zu alte Konservendosen, deren Bodensatz er zusammenkratzte und in einer hundertfünfzehn Grad heißen Schlammquelle zu einer nahr-, wenn auch nicht allzu schmackhaften Mahlzeit verkochte. Die Missionare konnten noch nicht lange fort sein; vermutlich waren sie vor den schlimmen Gerüchten über Matawhero und die Turanga-Region an die Küste geflüchtet und bei der Mitführung ihrer Vorräte und sonstigen Habe leider sehr gründlich gewesen. Der halb nackte Wanderer hatte auf einige alte Lumpen, vielleicht sogar ein Paar zerrissene Schuhe gehofft, fand aber nichts dergleichen, sondern nur ein kleines, leckendes Kanu ohne Paddel, das er noch zwei weitere Tage durch diesen Alptraum aus Stein, Schlamm und Vulkanasche schleppte.
Nördlich von Roto-rua und Roto-iti erreichte er endlich einen Fluss, den kleinen, aber reißenden Kaituna River, dessen Strömung er sich anvertraute. Einen Tag später stand er am Papamoa Beach und am Meer, ohne dass er auf seinem langen Weg bisher auch nur einen einzigen Menschen gesehen hatte. Er wusste, dass er nun der europäischen Zivilisation zwischen Okura und Tauranga Harbour gefährlich nahe war und man ihn zweifellos aufhalten würde, wenn man ihn entdeckte. Also schlief er bei Tag in den mit Farn bedeckten Hügeln und marschierte bei Nacht, wobei er seinen Weg nur unterbrach, um auf den vereinzelt liegenden Farmen Kartoffeln und rohes Gemüse zu stehlen. Einmal kam ihm dabei ein Hund in die Quere, der aber rasch den Schwanz einzog und dessen Fell sich sträubte, als er sah, wer oder was da vor ihm stand. Gowers lachte. Er musste fürchterlich aussehen.
Um nicht jede Bucht von Cooks County mühsam und langwierig zu umrunden, marschierte er über die meilenweiten, bei Ebbe trockenfallenden Schlammflächen zwischen dem Festland und der lang gestreckten Matakana-Insel und stieß dabei an einem kalten, nebligen Morgen auf das Unheimlichste, was ihm bisher auf all seinen Wanderungen begegnet war. Er hielt es zunächst für eine Gruppe länglicher grauer Felsen, vom Meer zu merkwürdig symmetrischen Formen geschliffen. Eine große Wolke von Seevögeln kreiste mit aufgeregtem Geschrei dicht darüber, stieß immer wieder darauf herab, und Gowers, noch rund dreihundert Meter entfernt, registrierte verwundert, dass die Möwen, die kreischend auf ihn anflogen, um ihn zu vertreiben, blutige Schnäbel hatten. Ungeachtet ihrer wütenden Angriffe ging er weiter und stellte fest, dass sich die vermeintlichen Felsen noch schwach bewegten.
Eine Schule unerfahrener Pottwale war offenbar mit der Flut in die flache Bucht geschwommen und hatte dann bei rasch fallendem Wasser keinen Ausgang mehr aus der tödlichen Falle gefunden. Aufgelaufen im weichen Schlick hatten die riesigen Tiere panisch um sich geschlagen, gezappelt und dabei tiefe Furchen im Schlamm hinterlassen, in denen sie lagen wie in halb ausgehobenen Gräbern. Immer hilfloser auf dem sich verfestigenden Grund, wurden die Wale nun langsam von ihrem eigenen Körpergewicht erstickt. Schon lange, bevor die Sonne kam, hatten die Möwen diese reiche Beute entdeckt und begonnen, ihre ebenso großen wie wehrlosen Opfer bei lebendigem Leib aufzuf ressen.
Im Meer Könige, unumschränkte Beherrscher ihres Elements, die tausend Meter tief tauchen konnten, um den Kraken und andere Fabelwesen der Tiefsee zu jagen, waren die Pottwale jetzt nur noch Strandgut. Einige waren in ihrem aussichtslosen Kampf auf die Seite gerollt, und ihre Augen und zuckenden Seitenflossen boten den Schnäbeln der Vögel eine besonders gute Angriffsfläche, aber alle lebten noch, man sah es am verzweifelten, sinnlosen Zuschnappen ihrer bis zu drei Meter langen Unterkiefer.
Gowers hütete sich, in den Bereich dieser letzten Waffen der sterbenden Tiere zu kommen, mied auch die riesigen Schwanzflossen und brauchte etwa eine halbe Stunde, um eine schmale Rampe aufzuschütten, über die er auf den Rücken eines etwa vierzehn Meter langen Bullen gelangen konnte. So gut es mit Fagans Messer gehen wollte, schnitt er sich rings um das empfindliche Blasloch, wo die zähe Haut etwas weicher war, in die Speckschicht des noch atmenden Tiers. Bis zu den Schultern in der Wunde versinkend, die er dem jetzt Blut blasenden Wal schlug, schaffte er es schließlich, mehrere Streifen des weißen, feinfaserigen Specks herauszulösen.
Seine glitschige Beute zu transportieren erwies sich als beinahe noch schwieriger, als sie zu gewinnen, und schließlich zog er seine Hose aus, knotete die Beine zusammen und füllte sie wie einen Sack mit blutigen Speckstreifen, die sein Auskommen auf Tage hinaus sichern würden. Völlig nackt und durchgef roren im schneidenden Wind, den Tran schwitzenden Stoff auf den Rücken geladen, setzte er dann seinen Weg fort, um Katikati Heads, eine Landzunge, die der große August Petermann fälschlich zu einem Fluss erklärt hatte, noch vor der jetzt rasch einsetzenden Flut zu erreichen.