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129.
Immer, wenn Gabriel Beale in seiner Mietkutsche die fast eine halbe Meile lange Platanenallee zum säulengeschmückten Herrenhaus der großen Plantage entlangfuhr, fröstelte er ein wenig. Madame Bonneterre war noch keine zwei Jahre tot, aber trotzdem atmete alles auf diesem Weg, diesem riesigen Anwesen eine seltsame Schäbigkeit, eine Art von Verfall. Es kam ihm vor wie eine glanzvolle Theaterkulisse, die er allerdings schon von hinten gesehen hatte und an die er deshalb nicht glauben konnte.
Beale verstand nicht viel von Plantagenwirtschaft, aber dass dieser Betrieb auf dem absteigenden Ast war, sah selbst er. Brachliegende Flächen, die sich das wuchernde Unkraut binnen kürzester Zeit zurückgeholt hatte, Dächer und Ställe, die anscheinend nicht mehr repariert wurden, Sklaven, die immer ausgemergelter schienen. Natürlich wusste er längst nicht alles über die finanziellen Verhältnisse seines Auftraggebers, außer dass er sich seine Rache mehr kosten ließ, als vernünftig war.
Seit anderthalb Jahren war der Detektiv mit fast nichts anderem mehr beschäftigt als der Suche nach »Moses« und ihren Helfershelfern. Desmond Bonneterre schien besessen von dieser Frau und erlitt eine Art Tobsuchtsanfall, als Gabriel Beale ihm das vage Gerücht überbrachte, sie habe den Lotsen John Gowers, den Engländer, geheiratet. Man erzählte sich viele üble Geschichten über Bonneterre, aber dass er an diesem Tag eine Sklavin totgeprügelt hatte, entsprach der Wahrheit. Beale war dabei gewesen, als er das Mädchen kommen ließ, hatte spät in der Nacht ihre verzweifelten Schreie gehört und sie am nächsten Morgen nicht wiedergesehen.
Desmond Bonneterre kannte sich aus mit Schreien. Er betrieb die Erforschung dieser menschlichen Lebensäußerung zeitweise mit fast wissenschaftlicher Akribie und einigen chirurgischen Instrumenten, die er durch Vermittlung Lemuel Willards erstanden hatte. Er unterschied etwa das spontane Aufschreien und Brüllen unter regelmäßig oder unregelmäßig fallenden Peitschenhieben vom lang gezogenen Heulen, wenn etwa ein Brandschmerz nicht endete. Besonders liebte er den Übergang zum schrillen, entsetzten Kreischen, wenn seine Opfer begriffen, dass sie nicht mehr wegzucken, dem Schmerz nicht mehr ausweichen konnten. Sie gerieten dann außer sich, waren nicht mehr Mann, Frau, Kind, sondern nur noch leidendes Fleisch und völlig in seiner Hand. Stöhnen, Schluchzen und Wimmern bildeten gemeinhin den Schlussakkord seiner Symphonien, wenn sowohl die Opfer als auch ihr Peiniger der Folter gewissermaßen nachschmeckten.
In wirtschaftlicher Hinsicht hatte sich der elegante Kreole ganz der Sklavenzucht zugewandt und hinter dem Herrenhaus ein langes, flaches Gebäude für die vielen jungen Frauen und Mädchen errichten lassen, die seine Aufkäufer in ganz Louisiana beschaffen mussten. Gelegentlich überließ er sie seinen Aufsehern und sogar verdienten schwarzen Vorarbeitern, aber meist besorgte er sein Geschäft selbst. Am liebsten hätte er, wie ein türkischer Sultan, in jeder Nacht mit einer anderen Frau geschlafen, und auch den egozentrischen Versuch, wie viele Kinder er in vierundzwanzig Stunden zeugen konnte, hatte Desmond Bonneterre nicht ausgelassen. Das körperliche Vergnügen erwies sich jedoch als der belangloseste Teil des Geschäfts, und die Aufzucht der zahlreichen bereits entstandenen Kinder verschlang sein Vermögen buchstäblich und so schnell, dass er bereits daran denken musste, sie zu lächerlichen Preisen zu verkaufen, sobald sie laufen konnten.
All das blieb nicht ohne Einfluss auf den Ruf des Hauses Bonneterre, und in dieser Hinsicht erfüllten sich die schlimmsten Befürchtungen seiner Mutter, noch ehe ihr Grab eingefallen war. Seit General Willoughby, der gekommen war, um dem jungen Mann ins Gewissen zu reden, bei Tisch angeblich von einer nackten Hure bedient worden war, hatte man den gesellschaftlichen Verkehr mit Desmond Bonneterre vollständig eingestellt. Keine Einladungen, Geselligkeiten, Geschenke; selbst aus der Louisiana-Miliz war ihr einstiger Verhörspezialist ausgeschieden. Seit die Dame des Hauses, Desmonds unglückliche Gattin Eleanor, an Leib und Seele gebrochen zu ihren Eltern zurückgekehrt war und die Scheidung wegen Unverträglichkeit beantragt hatte, dachte man sogar über juristische Schritte nach, um auch ihre beiden kleinen Kinder aus dem furchtbaren Haus zu bef reien.
Beale wurde wieder von der gespenstisch stillen Negerin empfangen, die eine Kette aus ihren eigenen Zähnen um den Hals trug und die er zuerst für stumm gehalten hatte. Schon bei einem seiner ersten Besuche war ihm der seltsame Schmuck aufgefallen, und er hatte, ganz unbedarfter Yankee, gef ragt, was das sei und solle. Anstatt ihm zu antworten, hatte sie einfach den Mund geöffnet und ihm ihre bis auf ein paar abgebrochene Zahnstümpfe leeren Kiefer gezeigt. Immerhin konnte er bei dieser Gelegenheit feststellen, dass sie noch eine Zunge hatte.
»Jesus!«, hatte der Detektiv gesagt, als sie dann, beinahe kokett, auch noch ihr Haar zurückstrich und ihn die kleinen vernarbten Löcher sehen ließ, die sie anstelle von Ohren besaß. Die Namen Gottes und all seiner Heiligen hätten jedoch nicht ausgereicht, wenn Darioleta dem bulligen kleinen Yankee erzählt hätte, worin ihre Aufgabe im Hause Bonneterre bestand. Nachdem sie zunächst einige Male versucht hatte, sich umzubringen, war der Lebensfunke in ihr wieder entflammt, und um nicht länger Opfer ihres Herrn zu sein, hatte sie sich ganz und gar zu seinem Werkzeug gemacht.
Desmond Bonneterre hatte Darioleta beigebracht, wie man Menschen Schmerzen zufügt, und sie hatte sich als gelehrige Schülerin erwiesen, die – insbesondere wenn es darum ging, Männer zu quälen – die Grausamkeit ihres Meisters noch übertraf. Die stärksten, widerspenstigsten Feldsklaven senkten zitternd den Blick, wenn die finstere junge Frau an ihnen vorüberging. Das allerdings kam relativ selten vor, denn im Wesentlichen unterstanden Darioleta das »Zuchtgebäude« und seine Insassinnen. Sie sorgte dafür, dass die Frauen sich selbst und ihre Umgebung sauber hielten, keinen Kontakt zu den übrigen Sklaven aufnehmen konnten und dass keine Kindstötungen oder Selbstmorde vorkamen. Ohne Peitsche, Feuer, Nadeln und Bonneterres Chirurgenmesser, die sie hier nicht anwenden konnte, um die Mädchen nicht für die Benutzung durch ihren Herrn unbrauchbar zu machen, hatte sie sich Respekt verschafft, indem jede, die ungefragt mit ihr sprach oder in ihrer Gegenwart auch nur ein Wort sagte, eine Nacht mit dem Kopf in der gemeinschaftlichen Latrine verbringen musste. Entsprechend still war es um Darioleta geworden.
130.
Sein Auftraggeber empfing den Detektiv in einem grünen Morgenmantel und ließ süßen türkischen Kaffee servieren, obwohl die Abenddämmerung bereits hereingebrochen war. Während er das für einen normalen amerikanischen Gaumen nahezu ungenießbare Getränk behaglich und in kleinen Schlucken einschlürfte, ließ Desmond Bonneterre sich auf den neuesten Stand von Gabriel Beales Ermittlungen bringen, ohne sich seinen Zorn über deren weitgehende Ergebnislosigkeit anmerken zu lassen.
Noch immer keine Spur von Moses oder John Gowers oder ihrem Aufenthaltsort. Es war anzunehmen, dass der Engländer seinen Namen geändert hatte und auch nicht mehr seinem Beruf als Lotse nachging. Von den Informanten aus Lafflins Fabrik hatte sich in den vergangenen Monaten vor allem ein junger Mulatte namens Jason als nützlich erwiesen, aber es war Beale erst ein Mal gelungen, den Mann persönlich auszuhorchen. Alles andere geschah über Zuträger, Mittelsmänner, denn leider konnte sich der Detektiv aufgrund seiner früheren Auftritte in St. Louis nicht allzu oft in Person sehen lassen.
Er wusste immerhin, dass ein Mann namens Gringoire das Bindeglied zwischen Lafflin und Moses sein musste, und die nähere Beschreibung dieses Mannes ließ beide, den Ermittler und seinen Auftraggeber, vermuten, dass er bei jener lächerlichen Schlacht von Barataria eine Rolle gespielt haben musste. Jedenfalls, wenn man den übertriebenen und fantastischen Bericht von Owen Cheever über seine kurzfristige Gefangenschaft bei den Aufständischen ernst nahm. Irgendwo auf dem Illinois-Ufer des Mississippi sollte dieser Gringoire mit mehreren Negerinnen zusammenleben, aber sosehr gerade dieser Umstand Bonneterres Neugier erweckte: Das Illinois-Ufer war nahezu sechshundert Meilen lang und ließ sich kaum und unter keinem Vorwand so gründlich absuchen, dass Hoffnung bestand, Gringoires Hütte zu finden.
Sklavenbefreiungen im gewohnt dreisten Umfang waren in den beiden vergangenen Jahren nicht mehr vorgekommen, es gab also keine neuen Spuren von Moses, und die Ermittlung musste sich nach wie vor in den ausgetretenen Pfaden der alten bewegen. Als die aussichtsreichste Möglichkeit, die geheimnisvolle Frau aus ihrer Deckung zu locken, war eine Zeit lang die Lungenentzündung erschienen, die den alten John Lafflin beinahe das Leben gekostet hätte. Wäre er gestorben, hätte man hoffen dürfen, dass zumindest der Engländer an seinem Begräbnis teilgenommen hätte; aber Lafflin war ein zäher Knochen, der, Beales aktuellem Bericht zufolge, bereits wieder seinen Geschäften nachging.
»Sehr schön, Mr. Beale. Ich bin mit Ihnen zufrieden«, sagte Desmond Bonneterre und verbarg seine Enttäuschung hinter einem Schlürfen. »Glauben Sie, dass die Möglichkeit besteht, diesen Jason irgendwie hierherzubringen, um ihn unter günstigeren Bedingungen zu befragen?«
»Das wäre wohl nur auf dem Wege einer Entführung möglich«, antwortete der Detektiv, der, wie jedes Mal nach einem seiner Berichte, seine sofortige Entlassung halb erhoffte und halb befürchtete. Er dachte mit Grausen an das, was er von Bonneterres Bef ragungstechniken wusste oder auch nur ahnte.
»Lafflin, Phineas, Jason, Gringoire, Gowers, Moses«, murmelte der blasse junge Kreole und konnte seinen Hass mit jedem der genannten Namen wachsen fühlen. »Phineas war der Riese, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
»Ja, ja. Ja«, sagte Bonneterre geistesabwesend, weil er sich in seiner kranken Fantasie gerade fragte, ob und wie wohl ein Riese schreien würde, wenn Darioleta ihm die Hoden abschnitt. Er schnaufte heftig. »Lafflin ist der Schlüssel«, sagte er dann schnell, um das quälend schöne Gedankenbild zu verscheuchen. »Wir müssen noch intensiver über John Lafflin nachdenken!«
Tatsächlich tat er ebendas bereits, seit er vor einigen Wochen von der Krankheit und dem möglichen Tod des Pulverfabrikanten erfahren hatte. Welche Folgen hätte John Lafflins Tod? Und wie könnte man ihn herbeiführen? Der Abend war noch nicht sehr weit fortgeschritten, als er dem Detektiv einen großzügig gefüllten Geldumschlag überreichte.
»Wollen Sie nicht hier übernachten, mein Lieber? Der nächste Dampfer nach Norden geht erst morgen Mittag ab. Wir könnten das Ganze noch einmal überschlafen und hätten das Vergnügen, zusammen zu frühstücken.« Er machte dieses Angebot tatsächlich nicht ganz uneigennützig. Auch Psychopathen haben ihre geselligen Momente, und seit kein Cheever, Huggins oder Dick Willoughby mehr in seinem intellektuellen Kielwasser schwamm, fehlte Bonneterre wenn nicht die geistige Auseinandersetzung, so doch das Publikum für seine entsprechenden Ergüsse. Der Detektiv wirkte deutlich reserviert.
»Außerdem«, Bonneterre versuchte sich am generösen Lächeln eines Cäsaren, der Geschenke an verdiente Prätorianer verteilt, brachte aber nur eine Art Grimasse zustande, »wartet im Gästezimmer wieder eine Überraschung auf Sie!«
»Nun, Sir«, sagte der Detektiv mit einer abwehrenden Handbewegung, »ich …«
»Genau genommen zwei Überraschungen«, setzte Bonneterre seinen tödlichen Stich ins Zentrum von Gabriel Beales moralischer Integrität und freute sich am eigenen psychologischen Geschick. Er hatte die schwache Stelle des klugen kleinen Mannes bereits bei einem seiner früheren Besuche erkannt und für sich ausgenutzt.
Beale schwitzte. Er wurde für diesen Unfug gut bezahlt, und sosehr ihm der junge Mann auch persönlich zuwider war, schätzte er doch die Extravaganzen, mit der dieser ihn anscheinend bei Laune halten wollte. Er nahm an, dass dies unter den Gentlemen des Südens ein völlig normaler Vorgang war. Es war dann aber vor allem die Tatsache, dass der nächste Dampfer wirklich erst am nächsten Tag fuhr und die Alternative in einer nächtlichen Kutschfahrt und einem einsamen Hotelzimmer in Baton Rouge bestanden hätte, die ihn das verlockende Angebot annehmen ließ.
Desmond Bonneterre ergötzte sich etwa eine Viertelstunde lang an der Vorstellung, die der feiste kleine Yankee und die beiden von ihm persönlich ausgesuchten, sehr großen Farbigen ihm durch das Schlüsselloch boten. So hatte er schon als Junge in den Fluren des Herrenhauses gekniet, wenn sein Vater sich mit den Zimmermädchen vergnügte. Erst als seine Erektion zu hart wurde, ging er hinüber in das flache, sehr heiße Gebäude, in dem seine Zuchtstuten untergebracht waren, und wählte seine eigene Gefährtin für die Nacht. Nachdem er sich unter anfänglichen Konzentrationsschwierigkeiten geradezu verschwenderisch in sie ergossen hatte und ehe er sie wieder aus dem Bett jagte – denn er schlief jetzt immer allein, bei sorgfältig verschlossener Tür und ließ sogar die Petroleumlampe brennen, in seiner Angst, im Schlaf ermordet zu werden –, sagte er laut zu dem völlig verwirrten Mädchen: »John Lafflin ist der Schlüssel!«
131.
Emilia war keine sechs Jahre alt gewesen, als ihr Vater eine gehobene Stellung in Blackpool antrat und sie ihr kleines Haus in den Glens von Argyll verlassen mussten, aber der Abschiedsschmerz ihrer Mutter hatte sich auf sie übertragen wie eine Infektionskrankheit. Das Mädchen schlug keine Wurzeln mehr, nicht in England, nicht in Mittelamerika, nicht in Australien, und das war auch gut so. Sie trug ihre Heimat bei sich, in sich, und wer das kann, ist nie einsam, auch wenn ihn Wüsten, Ozeane und Urwälder von denen trennen, die er liebt.
Aber immer, wenn sie zum letzten Mal den Schlüssel zu einer ihrer vorübergehenden kleinen Behausungen umdrehte, hörte sie ihre Mutter wieder von den bonny, bonny banks of Loch Lomond singen. Das war alles, was sie sich an Wehmut zugestand, und mit der Zeit zu ihrem geheimen Ritual geworden, von dem nicht einmal ihr Mann etwas wusste. Emilia von Tempsky, geborene Bell, sah ihr Leben lang lieber nach vorn als zurück.
Seine Briefe klangen diesmal anders. Ohne dass sie sagen konnte, welche Worte, Wendungen es ausdrückten, spürte sie eine Müdigkeit darin, die sie an ihrem Mann nicht kannte. Es glich ein wenig der Leere nach dem Geschlechtsakt, jenem kurzen Moment satter, tödlicher Gleichgültigkeit, die in jeder Art der Befriedigung wohnt und die man am sichersten überlebt, wenn man den warmen Körper eines geliebten Menschen neben sich fühlt.
Emilia wusste, dass ihr Mann nicht treu war, nie treu gewesen war, sie betrog; nicht unbedingt mit anderen Frauen, obwohl auch das im Feld sicher vorkam, sondern mit Wüsten, Urwäldern, mit dem Krieg selbst. Ein Teil seines Herzens war nie bei ihr gewesen, sondern immer da draußen, unter dem weiten Himmel. Sie konnte es in seinen Augen sehen, seinen Worten hören, sogar in den Händen fühlen, wenn er sie streichelte: Unruhe, Ungeduld, Aufbruch. Und es war dieser für sie unerreichbare Teil, den sie vielleicht am meisten liebte, wie Menschen ja oft das am meisten wollen, was sie am wenigsten bekommen können, um immer ein Ziel zu haben, auf das sie zugehen.
Das hatte sie um die Erde getrieben, aus den Tälern von Argyll, der engen Welt eines Robert Burns, from yone shady glen with the steep steep side of Ben Lomond, immer den unerreichbaren Horizonten nach, die sie in den Augen des Mannes sah, den sie liebte. Und weil sie von gleicher Art war, ohne sie als Frau in ihrer Zeit leben zu können, fühlte sie jetzt, dass er entweder gefunden hatte, was er suchte, oder des Suchens müde geworden war. Beides beendete etwas, und seine Aufforderung an Emilia, mit den Kindern nach Auckland zu gehen, war eine Art Kapitulation vor der Wildheit der Welt.
Das Problem dabei war, dass Emilia, wie ein Soldat, der die Entscheidungen seines Hauptmanns zwar trägt, aber nicht versteht, innerlich noch nicht bereit war, zu kapitulieren. Sie fühlte sich noch zu stark, wollte immer noch ein Stück weitergehen, und das Meer ihrer Sehnsucht hörte nicht die Stimme des Herrn oder des Schicksals, die sagte: »Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter, und hier sollen sich deine stolzen Wellen brechen!«
Wäre sie bei ihm gewesen, unten in Hawera, in Camp Waihi, in den Zelten der Patea Field Force, sie hätte ihm etwas von dieser Kraft, dieser Sehnsucht zurückgegeben, die sich seit zwölf Jahren zwischen ihnen spiegelte. Obwohl er so munter schrieb wie immer, erkannte sie in den Briefen seine Erschöpfung, vielleicht deutlicher als er selbst. Und weil er offensichtlich erschöpft war, ohne es zu wissen, hatte sie zum ersten Mal Angst um ihn. In dieser Not tat sie das Einzige, was sie tun konnte, um sich zu beruhigen: Sie handelte gegen ihren eigenen Willen und packte ihre Sachen, um die kleine Hütte auf der Coromandel Range, über dem Meer und dem Whangamata River zu verlassen.
Als sie an diesem bleichen Augustmorgen noch einmal hinausblickte über die See und das alte Lied wieder hörte in ihrem Kopf, sah sie, weit unten am Strand, eine schmale Gestalt näher kommen, die schwankte wie ein Betrunkener. Zunächst erschien sie ihr seltsam vertraut, aber das Fernrohr, mit dem sie so gut umzugehen verstand wie alle Pioniersf rauen, enthüllte ihr eine Art Gespenst, und sie rief nach Gewehr und Waffen. Der Mann war kein Maori, aber er war auch kein Weißer. Sein Oberkörper war nackt und unglaublich verdreckt, seine Hose blutig, zerrissen, und er ging barfuß über den kalten grauen Sand, aus dem die Ebbe gerade das letzte Wasser heraussog.
Emilia, die in ihrem unsteten Leben in den Wildnissen der Erde notgedrungen auch viel über Verteidigung gelernt hatte, wusste, dass sie ihn nicht aus den Augen lassen durfte. Sie befahl Louis und Randall, sich mit Little Lina in der Hütte zu verbarrikadieren und auf alles zu schießen, was sich bewegte, falls sie nicht zurückkommen würde. Dann stieg sie vorsichtig, das Gewehr im Anschlag, zum Strand hinunter, um dem unheimlichen Fremden und ihrer eigenen Angst entgegenzutreten.
Er hielt jetzt genau auf sie zu, denn er hatte offenbar den schwachen Rauch über der Hütte gesehen und blieb erst stehen, als er die Herrin des Hügels selbst sah, die ihm langsam entgegenging; unruhig, wachsam, wie eine Tigerin mal nach rechts, mal nach links ausschwenkend allmählich näher kam.
»Ich will Ihre Hände sehen!«, rief sie und musste nicht hinzufügen, dass sie in dem Moment schießen und wohl auch treffen würde, in dem sie sie nicht mehr sähe. Gehorsam hob der Mann beide Hände, streckte sie weit vom Körper ab, wobei er leicht taumelte, als würde ihn bereits das Stillstehen aus dem Gleichgewicht bringen. An den Schläfen, herauswachsend aus einem kurzen, schmutzigen Bart, erkannte sie Tätowierungen, wie nur Maori sie trugen.
»Emilia von Tempsky, nehme ich an!?«, sagte das Gespenst.
»Wer sind Sie?«, fragte Emilia und nahm immerhin zum ersten Mal den Finger vom Abzugshahn.
132.
Es hatte keinen Sinn, John Gowers in warme Decken oder neue Kleider zu stecken, solange er aussah wie ein Urwaldgeist. Emilia, die den furchterregenden Besucher erst in Sichtweite brachte, nachdem ihre Jungen die Waffen weggelegt und die Tür aufgemacht hatten, schleppte deshalb zuerst den hölzernen Waschzuber in den einen Raum, scheuchte die Kinder in den anderen und schloss sie dort ein. Das Wasser holte Gowers selbst vom Brunnen, aber um Feuerholz zu schlagen, waren seine Hände zu klamm – er konnte die Axt nicht halten. So dauerte es alles in allem noch eine gute Stunde, ehe er in einem zumindest lauwarmen Bad saß und versuchte, die fest angetrocknete Blut-und-Schmutz-Schicht von seiner Haut zu entfernen. Zeiten und Umstände sprachen gegen die viktorianischen Konventionen, und so half ihm Emilia an den Stellen, die er mit der harten Bürste nicht selbst erreichen konnte.
»Woher kommt all das Blut?«, fragte sie dabei lediglich.
»Pottwal«, sagte Gowers einsilbig, dem es doch ein wenig merkwürdig vorkam, von einer Frau berührt, gesehen und vermutlich auch gerochen zu werden, die er eben erst kennengelernt hatte. »Hat mich die letzten drei Tage am Leben gehalten.«
Nachdem sie einige Male mit der bloßen Hand über seine Schulterblätter, die Rückenmuskeln, die Wirbelsäule gestrichen hatte, spürte auch Emilia, dass es an der Zeit war, die Situation zu entkrampfen. Sie tat das auf die denkbar einfachste Weise. Sie begann, über das einzige Thema zu sprechen, das sie mit dem nackten fremden Menschen unter ihren Händen verband: über ihren Mann.
Schon in den ersten Briefen, die sie aus Raglan bekommen hatte, gleich nach von Tempskys Rückkehr aus Australien, hatte er von dem Amerikaner gesprochen und ihr aus Wanganui schließlich einen etwas ausführlicheren Bericht über ihn zukommen lassen. Sie war also darüber im Bilde, was der Investigator in Neuseeland suchte, ließ sich aber zunächst noch einmal aus seiner Sicht erzählen, was er gemeinsam mit ihrem Mann erlebt hatte – ehe sie ihm sagte, wo er es finden würde.
»In seinem letzten Brief steht übrigens etwas, das Sie angeht«, sagte sie und drehte sich um, als Gowers aufstand, um sich abzutrocknen. »Es geht um den Mann, den Sie suchen.«
Er stutzte und sah sie dann erwartungsvoll an, ohne in seiner Tätigkeit fortzufahren. Sie blickte über die Schulter zurück, musterte ihn eine Sekunde zu lange und errötete dabei.
»Ich werde Ihnen den Brief holen. Und ein paar Sachen von meinem Mann. Sie müssten Ihnen passen.« Sie lächelte ein wenig, als sie das sagte, aber weil sie schon auf dem Weg ins Schlafzimmer war, konnte er es nicht sehen.
Eine Viertelstunde später war er von Tempsky, trug seine Kleider, saß in seinem Schaukelstuhl und rauchte – nachdem er eine charakteristische Unruhe gezeigt und Emilia das entsprechend wortlose Verständnis entwickelt hatte – eine von seinen Pfeifen. Sogar von Tempskys Kinder hockten zu seinen Füßen, während er las.
Liebste Millie,
was ein Mann in der vielfach unterschätzten Kunst, sich zum Idioten zu machen, leisten kann, glaube ich vorgestern möglich gemacht zu haben. Vielleicht konnte ich die diesbezüglichen Maßstäbe sogar hier und da noch ein wenig erweitern, sodass man in der Zukunft wahrscheinlich dazu übergehen wird, den Grad militärischer Dummheit in »Tempsky« zu messen.
Turuturu Mokai, ein kleiner Vorposten mit zehn Mann Besatzung, liegt eigentlich nur einen Steinwurf von drei Meilen östlich von Camp Waihi entfernt, und man sollte nicht für möglich halten, dass man das eine angreifen kann, ohne das andere zu alarmieren. Ebendeshalb weckt mich am zwölften so gegen sechs Uhr mein Sergeant Bill Anderson und meldet Gewehrfeuer aus Turuturu. Stehe ich also da im Nachthemd im Wintermorgen herum, lausche, bis mir fast die Ohren abfallen, höre aber nichts als das Grummeln in meinem Bauch – hatte natürlich noch nicht gef rühstückt. Ich frage Bill, was er denn eigentlich gehört hat, aber er hat gar nichts gehört, nur immer wieder eine Art Aufblitzen gesehen. Um Gewehrfeuer auf Sicht ausmachen zu können, ist es aber inzwischen im Osten und über Turuturu zu hell. Ich sehe zwar gelegentlich irgendwas, aber das kann auch so was wie Wetterleuchten sein. Zu hören ist noch immer nichts, und mir fällt blöderweise nicht auf, dass der Wind ja auch gegen Turuturu steht und der alte Titoko ein schlauer Hund ist, der auf genau diesen Wind gewartet hat.
Ohne Eile und leicht verknurrt – Du kannst es Dir vorstellen? – beschließe ich, trotzdem mal nachzugucken, und lasse Leutnant Hunter von der Fünften Kavallerie wecken. Der Gute hat aber in der Nacht schwer gebechert, wünscht mich, Sergeant Anderson und seine Blitze zum Teufel und erklärt, sein warmes Bett nur zu verlassen, um wegen Befehlsverweigerung füsiliert zu werden. Da ich das Ganze noch immer nicht sonderlich ernst nehme, greife ich mir also dreißig meiner Infanteristen und mache mich auf zu einem kleinen Morgenspaziergang nach Turuturu – ohne Voraussicherung, ohne Späher, einfach so durch die Gegend! Schon dafür hätten sie mich damals in Preußen erschossen, aber es kommt noch besser.
Auf halber Strecke laufen uns zwei Gestalten in die Arme, die nichts als ihr Hemd auf dem Leib haben, und berichten, der Vorposten sei vom Feind überrannt und die Besatzung – bis auf sie beide – gefallen. Ich schicke also Anderson zurück, um Hunter und der Kavallerie Feuer unterm Hintern zu machen, setze mich dann auf den meinigen und überlege. Bei inzwischen vollem Tageslicht einen von einem Feind unbekannter Stärke besetzten, befestigten Posten mit nichts als ein paar Infanteristen anzugreifen ist nicht unbedingt das Klügste, was ein Kommandeur machen kann. Vernünftiger scheint es mir, die gottverdammten Halsabschneider auf ihrer Rückzugslinie abzufangen – immer und ausnahmsweise richtig vorausgesetzt, dass Hunter und seine Cowboys Titokos Jungs innerhalb der nächsten Stunde aus Turuturu herausjagen werden.
Ich führe also meine tapfere kleine Truppe in einem Neunziggradwinkel am Feind vorbei zum Waldrand; gut durchdacht und schwer bescheuert! Denn natürlich ist der alte Titoko nicht so dumm wie ich. Er hat Späher, er hat Voraus-und Rückzugssicherung und deshalb schnell spitzgekriegt, was ich vorhabe. Also lässt er mich mit meinen dreißig Trotteln als Obertrottel ganz einfach im Wald sitzen und schleicht sich nordöstlich an uns vorbei. Immerhin merke ich irgendwann, dass so recht kein Feind auftauchen will, und marschiere jetzt doch noch so schnell wie möglich nach Turuturu und kann Hunter immerhin noch beim Besichtigen der Ruinen unter die Arme greifen!
Eine scheußliche Sache: drei Mann tot, einer sterbend, zwei verwundet und nur zwei unversehrt; plus die beiden Idioten, die mir gesagt hatten, dass das Gemetzel schon vorüber wäre, und die vor ein Kriegsgericht zu stellen ich gute Lust hätte. Dem armen Freddie Ross – Du erinnerst Dich? Mac hat ihn uns in Wellington mal vorgestellt – hatten die Schweine das Herz herausgeschnitten. Whangai Hau; sie tun das immer mit dem Mata Ika, dem ersten Feind, den sie in der Schlacht töten. Idiotischerweise war er aber gar nicht der erste: Dick Lennon, der Magazinchef, hatte seinen Laden außerhalb der Palisade, und er war der erste, den es erwischte. Rannte nicht weg, als der Alarm kam, sondern zog sich erst mal in aller Ruhe an, korrekt bis auf den letzten Uniformknopf. Ihm haben sie das Herz übrigens auch rausgerissen, was dafür spricht, dass Titokos Jungs ein bisschen aufgeregt waren und anscheinend nicht mehr richtig zählen konnten. Über der Palisade lag noch ein armes Schwein namens Billy Holden, dem sie’s mit dem Tomahawk gegeben hatten – sein Gehirn hing in einem langen Faden bis auf den Boden runter. So weit, so blöd.
Ich bin ansonsten ganz gut beieinander und habe es sogar geschafft, Mac davon abzuhalten, blindlings mit dreihundert Mann in den Dschungel zu laufen, um unsere Leute so schnell wie möglich zu rächen. Genau darauf dürfte der alte Titoko nämlich gewartet haben. Im Übrigen ist Mac immer noch ein bisschen durcheinander, denn Wiremu Katene, sein Spezi und Scout, ist letzte Woche übergelaufen, kein Schwein weiß, wieso. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn Katene die Sache in Turuturu ausgeheckt hätte, denn er kennt unsere Stärken und Schwächen am besten; wenn er mit so viel entgegenkommender Blödheit meinerseits wohl auch kaum gerechnet haben dürfte!
Von dem verdammten Amerikaner habe ich noch nichts gehört – zweimal habe ich schon nach Wellington geschrieben, dass sein Mann wieder hier und, wenn kein Mörder, dann doch ein jämmerlicher Feigling ist. Ich habe diesen Bradley oder Fagan, oder wie immer er heißen mag, fast ständig bei mir, musste ihn aber praktisch am Hosenboden nach Turuturu schleifen, als er begriffen hatte, dass dort womöglich noch ein paar Kugeln herumfliegen. Wenn der Amerikaner nicht bald zurückkommt, werde ich das verdammte Narbengesicht am Ende noch selbst erschießen!
Liebste Millie, der Morgen ist kalt, der Kaffee lausig, meine Pfeife geht aus. Ich vermisse Dich und die Kinder und wünschte, der Schlamassel hier unten wäre schon vorbei. Ich habe ein ungutes Gefühl, was die Dinge im Norden betrifft. Tawhiao könnte so etwas wie sportlichen Ehrgeiz entwickeln, wenn er von Titokos »Erfolgen« hier unten erfährt, und ein gewisser Te Kooti, Hauhau aus der Hawke Bay, soviel man hört, ist irgendwo im Osten gelandet. Nun weiß jeder Mann auf dieser verdammten Insel, wer ich bin und wo ich zu finden bin. Es würde mich deshalb sehr beruhigen, wenn Du mit Lina und den Jungen nach Auckland gehst, denn es wäre doch schade, wenn ich demnächst heimkomme und nur noch rauchende Trümmer finde, bloß weil irgendein tätowierter Schlaumeier sich unbedingt einen Namen machen wollte. Im Ernst: Auckland werden sie sicher nicht angreifen, denn sie wissen, dass dann die Engländer zurückkommen und die ganze Insel in Blut ersäuft.
PS Damit sollte der Brief eigentlich nicht enden. Ich wollte noch einen Riemen schreiben, aber erst die Pfeife neu stopfen. Da kam Mac mit seinem neusten »Plan« dazwischen, aber davon beim nächsten Mal mehr, die Post geht jetzt ab. Grüß die Jungen und Little Lina. Ich liebe Dich. Ich küsse Dich. Von.
PPS Geh nach Auckland!
133.
Der Telegrafist war ein gesuchter Mann, seit er im Sommer 1858 sozusagen Geschichte geschrieben hatte. In sieben legendären Rededuellen in sieben Städten der Vereinigten Staaten war der gefürchtete Senator Stephen A. Douglas, den Freund und Feind eine Lokomotive in Hosen nannten, gegen seinen Konkurrenten um den Senatssitz von Illinois, Mr. Abraham Lincoln, angetreten und hatte die anschließende Wahl nur denkbar knapp gewonnen. Im verschlafenen Lawrenceville/Illinois, etwa auf halber Strecke der Bahnlinie Cincinnati – St. Louis, hatte ein junger Telegrafist das Kunststück fertiggebracht, sämtliche Reden und anschließend auch noch die verschiedenen Zeitungsberichte darüber nahezu zeitgleich mitzustenografieren.
Zu Beginn des Wahlkampfs erfreuten sich nur relativ wenige Eingeweihte an seiner Kunst, aber mit jeder neuen Redeschlacht sprach sich weiter herum, dass es zwei Möglichkeiten gab, das Spektakel hautnah mitzuerleben: indem man den Kontrahenten für teures Geld hinterherreiste – von Ottawa nach Freeport, über Jonesboro nach Charleston und Galesburg, von Quincy nach Alton – oder indem man sich vor den Stufen des Postamts von Lawrenceville versammelte. Zu den fast achtzigtausend Schaulustigen, die Senator Douglas und dem langen Abe in jenem Sommer insgesamt zusahen, kamen also noch einmal vier-oder fünftausend Wähler hinzu, die zumindest ihre Worte hörten – aus dem Mund des Telegrafisten Joseph B. Williams, der auf diese Weise, manchmal nur um wenige Minuten zeitversetzt und als vielleicht Erster nach ihrem Urheber, einige der erhabensten Sätze der amerikanischen Geschichte aussprach.
»Das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück, Ladys und Gentlemen – indem sie diese unveräußerlichen Rechte des Menschen festschrieben, bewiesen die Väter der Unabhängigkeitserklärung ein hehres, weises und edles Verständnis für die Gerechtigkeit des Schöpfers gegenüber seinen Geschöpfen. (Beifall) Gegenüber allen seinen Geschöpfen – denn sie meinten nicht nur die ganze Menschenrasse, die damals lebte, sondern sie bezogen dabei auch die entfernteste Nachwelt ein. Weise Staatsmänner, die sie waren, kannten sie die Tendenz der Welt, Tyrannei hervorzubringen, und so stellten sie jene selbstverständlichen Wahrheiten auf, damit, wenn in ferner Zukunft ein Mensch oder eine Gruppe die Doktrin schaffen sollte, es wäre außer reichen Menschen oder außer weißen Menschen niemand zum Leben, zur Freiheit und zum Streben nach Glück berechtigt, die Nachwelt wieder aufblicken könne zur Unabhängigkeitserklärung und Mut fassen möge, um den Kampf, den ihre Väter begannen, zu erneuern.«
Stärker als diese Worte wirkten auf die einfachen Zuhörer in Lawrenceville mitunter noch die ergänzenden Berichte über die Person des Redners, der gelegentlich von seinen Anhängern auf die Schultern gehoben wurde. »Die langen Arme schlang er um die Schultern seiner Träger, seine Füße baumelten knapp über dem Boden, und sein langes Gesicht war dauernd zu etwas verzerrt, was ein gewinnendes Lächeln sein sollte, sich aber schauderhaft ansah«, schrieb die gegnerische Presse. Unabhängige Augenzeugen, die gelegentlich ebenfalls zitiert wurden, bewahrten einen anderen Eindruck: Mr. Lincoln stand von seinem Sitz auf und streckte seine langen, knochigen Arme und Beine wie ein Mann, der eine schwere Arbeit beginnen will. Er stand da wie eine Pinie auf einsamer Bergeshöhe.
Der Telegrafist verdankte seine Fähigkeit, all das so wunderbar zeitnah aufzunehmen und wiederzugeben, nicht der Flinkheit seiner Hände. Das Senden und Empfangen von Botschaften durch elektrischen Strom war eine Hochtechnologie, der sich der menschliche Organismus nur begrenzt anpassen konnte. Niemand vermochte es, mehr als fünfundvierzig, vielleicht fünfzig Zeichen pro Minute zu hören und niederzuschreiben, und auch das nur für kurze Zeit. Die Zukunft gehörte deshalb dem vor vier Jahren erfundenen Drucktelegrafen, der es indes noch nicht bis zur Serienreife und damit zum allgemeinen Gebrauch geschafft hatte. Vorläufig waren es noch Menschen, die die Stromkreise öffneten und schlossen und ihre Signale interpretierten; in Amerika, der Heimat dieser neuen Art der Kommunikation, waren es meist seltsame junge Männer, die an den überall emporwachsenden Telegrafenleitungen entlang das ganze weite Land durchwanderten, immer den elektrischen Funken nach, die ihre Apparate über dem jüngsten aller Kontinente entfachten.
Abenteuerlustig, erfinderisch und unstet wie ihre Väter blieben sie selten länger als ein Jahr am gleichen Ort und zogen lachend weiter, wenn wieder einmal herausgekommen war, dass sie »Signal sechs« – das einmal pro Stunde abzugebende Zeichen, dass ein Telegrafist wach und auf seinem Posten war – nicht selbst, sondern mithilfe eines an den Telegrafen angeschlossenen Weckers gesendet hatten. So wurden die wandernden Telegrafisten die ersten wahren Erben Daniel Boones; Pioniere und Visionäre gleichzeitig, die das ihnen anvertraute Vermächtnis der Frontier in eine neue Zeit noch unvorstellbarer Geschwindigkeiten und Distanzen trugen.
Es war, wie gesagt, nicht seine Geschicklichkeit, die J. B. Williams zu seinen Leistungen befähigte, sondern sein außergewöhnliches Gedächtnis. Schneller, als er die Zeichen niederschrieb, prägte er sie seinem Erinnerungsvermögen ein und hatte offenbar ein System entwickelt, mit dem er all das gleichzeitig tun konnte: neue Nachrichten empfangen, etwas ältere behalten, noch etwas ältere aufschreiben. Für die einfachen Leute von Lawrenceville wurde er dadurch zum lebenden Beweis dafür, dass die Telegrafie eine magische Kunst war, elektrische Hexerei, und der Telegrafist ein Zauberer, den man mit offenem Mund bestaunte, ohne ihm wirklich zu vertrauen.
Seine Vorgesetzten von der Western Union waren jedoch so beeindruckt, dass sie Erkundigungen über den jungen Mann einzogen und ihm trotz erheblicher Bedenken – wegen eines skandalösen Verhältnisses, das Williams zu einer Negerin unterhielt – einen Posten im Hauptbüro von Indianapolis anboten. Offenbar war der junge Mann Abolitionist, was man von vielen guten und weniger guten Leuten sagen konnte. Dass er auch ein Coalminer war – wie man die weißen Liebhaber schwarzer Frauen mit äußerster Verachtung nannte –, erniedrigte ihn natürlich bis zur Verkommenheit; aber wenn er seine Gedächtniskunst nur an zwei, vier, fünf andere Telegrafisten vermitteln konnte, ließ sich selbst darüber hinwegsehen. Immerhin hatte irgendein freigeistiger Pfarrer ihm seine schwarze Hure angetraut, und wenn solche Verbindungen auch im weißen Norden selbstverständlich nicht juristisch anerkannt waren, deutete das doch auf einen ausbaufähigen Rest moralischer Integrität hin. In einem ganz geheimen Winkel ihrer Herzen wärmten sich die Herren der Western Union sogar an ihrer jovialen Toleranz und waren enttäuscht, ja pikiert, als Joe Williams zurückkabelte, dass er Illinois nicht verlassen könne. Sie nahmen an, dass eine andere Gesellschaft ihm ein besseres Angebot gemacht hatte.
134.
Sie hatten schon oft darüber gestritten, Illinois zu verlassen und in eine der großen Städte des Ostens zu gehen. John war dafür, Deborah dagegen, und das hieß, da sie in Illinois lebten: Er war der Angreifer, sie die Verteidigerin. Die verblüffendste Erfahrung, die sie beim Streiten machten, war die, dass sie es am Anfang gar nicht konnten. Sie konnten es so wenig, dass sie beim ersten Mal nicht einmal wussten, dass sie es taten. Nachdem die Argumente ergebnislos hin-und hergegangen waren, nachdem sie ihre Stimmen erhoben und am Ende sogar gleichzeitig geredet hatten, saßen sie einige Sekunden lang ratlos da, verwirrt darüber, dass es nicht das gewohnte Vergnügen machte, die Worte des anderen zu hören. Es war John gewesen, der irgendwann irritiert fragte: »Was tun wir hier?«
Und Deborah hatte zögernd geantwortet: »Wir … wir streiten!« Als handele es sich dabei um eine bloße Theorie, von der sie nicht mehr wusste, als dass es sie gab. Das war so komisch gewesen, dass sie lachen mussten, bis ihnen die Tränen in die Augen traten, und sie hatten sich umarmt und geküsst, denn sie beide hatten das entscheidende Wort gesagt und auch gemeint: wir.
Keiner von ihnen hatte je in Verhältnissen gelebt, die dem Gebrauch dieses Wortes förderlich waren. Sicher, es hatte die Zwangsgemeinschaften der Schiffe und Sklavenhütten gegeben, aber nie eine Familie, in der das Wort »wir« zu einem natürlichen Teil des individuellen Selbstverständnisses heranwächst. Sie kannten den Kampf, sie kannten die Flucht und hatten bisweilen sogar die Hilfe erfahren, die die Gemeinschaft mit anderen Menschen bietet. Aber zum Streiten im Sinne einer argumentativen Auseinandersetzung unter Gleichen hatte nie eine Notwendigkeit bestanden, solange jeder jederzeit seiner eigenen Wege gehen konnte. Überrascht stellten sie fest, dass sie gerade das nicht mehr wollten.
Eine Weile konnten sie jeden Streit vermeiden oder beilegen, indem sie einfach irgendwann sagten, was Deborah bei jenem ersten Mal verdutzt festgestellt hatte: »Wir streiten!«, und sich lachend in die Arme fielen. Das funktionierte aber nur bei bestimmten, meist belanglosen Themen und hinterließ bei anderen, wichtigeren bald einen schalen Nachgeschmack. Sie mussten lernen zu streiten; also lernen, einander zuzuhören, aufeinander einzugehen, kleine Angebote zu machen, wahrzunehmen oder höflich auszuschlagen und schließlich auch ohne Groll die Dinge zu akzeptieren, die sich nicht ändern ließen – so wie ein Bach die Steine akzeptiert, die seinen Lauf behindern.
Lieben heißt: den anderen zulassen – und mit diesem Wissen schlugen sie langsam, langsam schmale Schneisen in die Wildnis ihrer Herzen, lernten, sich darin zu bewegen und hier und da auch behutsam die verfilzten Dickichte zu umgehen, in denen die gefährlichen Tiere der Nacht, die Angst, der Hass, die Enttäuschung, auf der Lauer lagen. Deren Reviere wurden nun kleiner und kleiner.
Mächtig herrschten sie lange am Ort der Seligkeit: im Bett, das Deborah anfangs nicht mit John teilen mochte. Er war sanft und geduldig, aber irgendwann so enttäuscht, dass sie ihm stockend erzählte, was ihr widerfahren war. Sie ließ nichts aus, und als sie ihm die Narben auf ihrem Rücken zeigte und die eine zwischen ihren Beinen, ewige Erinnerung an den Sheriff von Vidalia, wurde er weiß vor Wut und biss sich in die Fäuste, bis das Blut kam.
»Wie war sein Name?«, f ragte er mit vor Hass zitternder Stimme, und zum ersten Mal war sie froh, dass sie diesen Namen nicht kannte und den Mann nur vage beschreiben konnte. Sie wusste, was John getan hätte, und als sie sich in dieser Nacht zu ihm legte, war sie es, die ihn umarmte, besänftigte, bis seine Augen wieder klar und seine Hände zärtlich wurden. Eine Weile schliefen sie nebeneinander wie Kinder, die sich im Dunkeln zusammenkauern, und Deborah fürchtete bereits, ihr Körper sei ihm verleidet.
Aber irgendwann erzählte nun John, nach Worten tastend wie ein Blinder nach Halt, von seiner Fahrt auf der Prince of Tides. Von dem elfjährigen Schiffsjungen, den sich drei seiner »Kameraden« Nacht für Nacht vornahmen. Den immer zwei festhielten, während der Dritte sich an ihm befriedigte, der vor Schmerzen schließlich kaum noch laufen konnte. Einen der drei, den Schlimmsten von allen, überredete der Junge irgendwann, allein zu ihm zu kommen – und am nächsten Morgen fehlte der Prince of Tides ein Matrose. Im Suff über Bord und zum Teufel gegangen, lautete sein Epitaph im Logbuch der Schöpfung, und obwohl nur John wusste, was wirklich geschehen war, hatte es auf dieser Reise niemand mehr gewagt, sich ihm zu nähern.
Deborah weinte um den Jungen; um seine Schuld, seine Unschuld, seinen lange vergangenen Schmerz. Aber nachdem sie gelernt hatten, selbst in diesen dunkelsten Tiefen miteinander zu reden, wurden die leisen Gespräche, für die man kein Licht braucht und keines will, bald wieder süßer. Sie war auf eine rührende Weise eifersüchtig auf jede Frau, die er gehabt hatte, wollte aber von seinen reichen Erfahrungen auf diesem Gebiet dennoch nichts wissen. Lediglich einen ehelichen Vorschlag nahm sie dankbar an und legte sich von nun an meistens auf ihn, weil nur das ihr die Freiheit ließ, sich ihm hinzugeben.
Eines Abends vergaß sie sogar absichtlich, die Kerzen zu löschen, damit er ihre Lust – und sie seine – sehen konnte. Dieses Experiment gaben sie aber rasch wieder auf, weil ihre Hände und Körper einander alles verrieten, was sie wissen mussten, und Blicke nur zwischen ihnen standen. Um Schwangerschaften, glaubte Deborah, brauchte sie sich bei alldem keine Gedanken zu machen, denn eine Menstruation hatte sie nie gekannt. Als er danach fragte, sagte sie, dass die Sklaverei diesen Teil ihres Körpers zerstört hätte.
Am schönsten waren die Nächte, die sie im Freien verbrachten, unter den Sternen, die sie durch das Okular seines Fernrohrs und ihres Sextanten betrachteten; deren Namen sie in einem alten Astronomielehrbuch suchten und denen sie neue gaben, wenn sie dort keine fanden. Sie schworen wie Kinder, einander nicht zu verlassen, solange Alkor und Mizzar gemeinsam am Himmel stehen, fragten sich, was hinter den Sternen ist, und schliefen manchmal darüber ein, eng aneinandergedrängt. Und obwohl sie nie darüber sprachen, wussten irgendwann beide, warum ihre Nächte schöner waren als ihre Tage. Es gab in der Nacht keine Farben und deshalb nichts, was sie in ihrer Welt, ihrer Zeit voneinander trennen konnte.
135.
Gowers las die ihn betreffende Passage in von Tempskys Brief zweimal, dreimal und fragte sich nur am Rande, wie er es angestellt hatte, schon wieder auf eine derart falsche Fährte zu geraten. Was ihn, fast widerwillig, stattdessen beschäftigte, war das Schicksal, das Gottesurteil, von dem Te Kooti gesprochen hatte. Gab es so etwas?
Hätte er seinen eigenen Willen durchgesetzt, wäre er längst in Otago gewesen und würde vermutlich nie erfahren haben, wo in der Welt James Fagan geblieben war. So erwies sich am Ende alles, was er als richtig erkannt zu haben glaubte, als grundverkehrt, und es waren stattdessen die Umwege, die Rückschläge, die ihn zum Ziel führten. Darin lag für John Gowers jedoch nichts Tröstliches, denn es stellte sein Selbstbewusstsein als planender und nach logischen Schlüssen handelnder Mensch auf eine harte Probe. Von seinem Selbstverständnis als Investigator gar nicht zu reden.
Vielleicht war es diese existenzielle Verunsicherung, vielleicht auch nur die lange, harte Wanderung, Schlafmangel, Hunger und schließlich das eher erschöpfende als erfrischende Bad, die Nacht auf dem harten Bretterboden der Hütte – jedenfalls konnte er sich am folgenden Tag nicht mehr bewegen. Es musste eine Art Rheumatismus sein, etwas, das er bis dahin nicht kennengelernt hatte. Verwundungen, ja. Schmerzen, ja. Aber mit steifen Knochen dazuliegen, am ganzen Körper gefesselt durch die eigenen verkrampften Muskeln, war etwas Neues.
Fatalerweise kam an diesem Morgen der Wagen, den Emilia mit der letzten Post bestellt hatte. Er kam aus Kopu, einer kleinen Siedlung an der Mündung des Thames River in den Golf von Hauraki. Dort war die Poststation für die südliche Coromandel Range, von dort gab es einen regelmäßigen Schiffsverkehr nach Auckland, den sie für die Übersiedlung ihrer Familie und den größten Teil ihrer beweglichen Habe nutzen wollte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: den nahezu bewegungsunfähigen Besucher mitnehmen und auf den halben Hausrat verzichten oder die Kinder mit dem gesamten Gepäck vorausschicken, dem Kutscher eines der beiden Pferde abschwatzen und mit Gowers in zwei oder drei Tagen nachkommen. Nach längerem Hin und Her entschied sich Emilia für das Letztere, vor allem, weil Louis, ihr Ältester, mit seinen elf Jahren bereits sehr erwachsen war.
Nicht genug damit, dass er seine eigenen Pläne nicht verwirklichen konnte, er brachte auch noch die der anderen durcheinander! Dass Emilia von Tempsky für ihn kochte, ihn fütterte und auch die unangenehmeren Aufgaben einer Krankenpflegerin übernahm, war Gowers entsetzlich peinlich. Zeitweise paralysierte die Scham darüber nach seinem Körper auch seinen Geist, und er starrte nur noch teilnahmslos vor sich hin, während sie ihn versorgte wie ein Kind. Sie war eine Pioniersfrau, die gewohnt war, ohne großes Aufheben zu tun, was getan werden musste, und nach mehreren kräftigen Einreibungen mit Kampferöl konnte er gegen Abend immerhin wieder Schultern, Nacken und beide Arme bewegen. In der Nacht legte sie ihn ins Ehebett und schlief selbst auf dem Boden, in ihren Kleidern, da die Kinder ihr Bettzeug bereits mitgenommen hatten.
Am zweiten Morgen fühlte er sich besser, konnte sich sogar schon ohne ihre Hilfe im Bett aufsetzen und sah durch die offene Tür zur Küche, wie Emilia, ungeniert vor den fremden Blicken, ihre eigene Körperwäsche vollzog. Sie tat das überlegt und wollte ihm dadurch seinen hilflosen Zustand erträglicher machen, denn sie wusste, dass Männer in physischen Angelegenheiten viel heikler waren als Frauen. Sie hatte schon mit neun Jahren ihre kleinen Brüder gebadet, zerrissene, schmutzige Unterwäsche geflickt und gewaschen und spätestens mit Einsetzen der Menstruation ihren Körper als eine Art Maschine kennengelernt, deren Funktionen eben bisweilen der Unterstützung durch einfache, resolute Handgriffe bedurften. Er sollte nicht denken, dass an ihm etwas Besonderes war. Dennoch registrierte Emilia verwundert, dass ein sehr eigenwilliger Kitzel sie überlief, als sie sich vorstellte – denn sie sah ihn natürlich nicht an –, dass er ihr zuschaute.
Sie war eine schöne Frau; nicht so exotisch schön wie die Wahine oder die vielen Farbigen, die er gesehen hatte, nicht mehr so schlank und straff wie die jungen Mädchen in den Hurenhäusern, die er mit Vorliebe aufsuchte. Man sah ihrem Körper an, dass sie ihr halbes Leben gelebt hatte. Schwangerschaften, harte Arbeit und ganz einfach die vergehende Zeit hatten ihre Spuren hinterlassen. Ihre Schönheit hatte nichts Geheimnisvolles, sondern etwas Vertrautes und lag in der Selbstverständlichkeit ihrer Bewegungen, war wie ein Lied, das man einmal geliebt, aber lange nicht mehr gehört hat. Die Vorstellung, sie zu berühren, versetzte ihn in die freudige, aber nicht zwangsläufig lüsterne Erregung, die auch der Gedanke auslöst, von einer langen, sinnlosen Reise nach Hause zu kommen. John Gowers lächelte, und während er ihr zunächst nur verstohlen und mit schlechtem Gewissen zugeschaut hatte, wünschte er sich jetzt, sie würde sich umdrehen und sein Lächeln sehen.
Emilia hatte ihren Mann erst einmal betrogen; mit einem Schullehrer in Bendigo, der dabei Vater ihrer Tochter Lina geworden war, ohne dass von Tempsky es auch nur ahnte. Er hatte sie einmal zu oft allein gelassen, war nach Melbourne gefahren, um sich einer idiotischen Expedition in die Wüsten Australiens anzuschließen, hatte nach Abenteuern gesucht, während seine Frau sich zwischen Windeln und Wäsche, Kochen und Saubermachen in einem staubigen Alltag verlor. Sie war müde gewesen, traurig, enttäuscht – und der Lehrer ein kluger, höflicher, älterer Mann, der es geschickt verstand, diesen Umstand für sich zu nutzen; wie ein alter Wolf, der seinen Samen nicht mehr durch Kampf und Kraft, sondern durch List verbreiten muss. Nach wenigen nicht allzu auf regenden, aber auch nicht langweiligen Begegnungen hatte Emilia wieder Kraft geschöpft, und sie hatten sich höflich und klug wieder in ihr jeweiliges Leben zurückgezogen. Und erst viel später fiel ihr auf, dass der Lehrer, genau wie John Gowers in diesen Tagen, eine Schwäche und Verletzlichkeit ausgestrahlt hatte, die sie reizte und stark machte. In der dritten Nacht legte sie sich zu ihm.
Er hatte den ganzen Tag eine grobe Übersichtskarte der Nordinsel studiert, und sie sah in seinen Augen, dass sein Geist bereits unterwegs in den Süden war. Emilia hatte diesen Blick durch sie und die unmittelbare Umgebung, gewissermaßen durch die Gegenwart hindurch, oft genug an ihrem Mann gesehen und auf eine sonderbare Weise lieben gelernt. Gowers’ Aufmerksamkeit hatte sie lediglich erregt, als sie kräftiger als am Vortag wieder Leben in seine verkrampften Gliedmaßen rieb. Am Abend war er zum ersten Mal wieder aufgestanden, hatte sogar Feuerholz gehackt und wollte auf dem Boden schlafen.
Das ließ Emilia jedoch nicht zu, und als sie sich schließlich zu ihm legte, glaubte er zu wissen, warum. Aber es war ganz anders. Einige Minuten lang stand die Erinnerung an von Tempsky zwischen seiner Lust und der Frau des einzigen Mannes, den er in dieser fremden Welt seinen Freund nennen konnte. Aber dann fiel ihm jener Morgen in Wanganui ein, und Takiora, die schöne, wilde Maori, die er im Bett seines Freundes gesehen hatte, und die Lust besiegte das schlechte Gewissen.
Es war anders als mit dem Schullehrer in Bendigo; sie schlief nicht wegen ihrer Enttäuschung oder seiner Schwäche mit John Gowers. Sie hatte etwas in ihm gesehen, was sie zugleich erschreckte und entzückte, nämlich die endlose, wilde Leere, in die ihr unruhiges Fleisch, ihr rastloser Geist sie führen würden, wenn sie es nicht, wie ihr Mann, endlich aufgab. Im Grunde schlief sie mit beiden: mit von Tempsky, der des Wanderns und der neuen Horizonte müde geworden war, und mit diesem Ahasver der Rache, des Suchens, der nie aufhören würde, unbehaust durch die Welt zu irren. Und als ihr Höhepunkt sie erschütterte, dann langsam abklang, hatte sie sich entschieden. Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter! Die große Welle ihrer Sehnsucht war gebrochen.
»Ich werde das Pferd brauchen«, sagte er, ehe er einschlief.
»Ich weiß«, antwortete Emilia.
136.
Noch immer hatten sie sich nicht alles erzählt, denn zwei Vierteljahrhunderte Leben ließen sich kaum in der kurzen Zeit zusammenfassen, die sie einander hatten. Immerhin waren sie weit gekommen und schon bei ihren Schlafgewohnheiten als Kinder angelangt. Deborah schlief meist auf der Seite und brauchte eine Wand in ihrem Rücken. Da die leider oft kalt gewesen war, spürte sie schon als junge Frau das unangenehme Ziehen einer rheumatischen Erkrankung im Nacken und die ganze Wirbelsäule hinunter. Irgendwann ließ sie zu, dass Johns kräftige Finger diese Verkrampfungen lockerten, aber stets über dem Kleid, dem Nachthemd, weil sie nicht wollte, dass er ihre Narben berührte.
Erstaunt stellte sie dabei fest, dass sie selbst unter seinen Händen die Narben völlig vergaß und dass auch die Schmerzen in ihrem Rücken einem tiefen, warmen Wohlgefühl wichen, als sei etwas in ihrem Innern allmählich weich und elastisch geworden. Manchmal drehte sie ihm sogar den Rücken zu und schlief ein, wurde er ihre Wand gegen den Wind und den Regen, gegen die Feindschaft der Welt. John legte dabei gern ein Ohr zwischen ihre Schulterblätter und horchte auf den dunklen, gleichmäßigen Schlag ihres Herzens – bis er ihr erzählte, dass er das schon als Kind getan hatte, bei einem kleinen Mädchen namens Mary-Ann, mit dem er das Bett teilen musste.
Da wollte sie es natürlich auch probieren, fühlte, genoss es, als der Friede seiner Atemzüge in ihre Seele hinabklang, und nun begannen ihre Nächte meist mit einem fröhlichen kleinen Ringkampf, bei dem jeder versuchte, hinter den Rücken des anderen zu kommen, und der meist mit der Vereinigung ihrer Körper endete. Dabei stellten sie fest, dass sich ein ganz ähnliches Gefühl immer dann ergab, wenn sie Brust an Brust lagen, einer den warmen Atem des anderen auf den Lippen spürte und ihre Hände einander umschlossen hielten. Manchmal schliefen sie in dieser seltsamen Stellung ein.
Mit äußerster Verwunderung registrierte John eines Morgens, dass Deborah, während sie noch im Bett lagen, eine rohe Zwiebel aß, obwohl ihr beim Abbeißen die Tränen bis in die Mundwinkel liefen. Sie konnte selbst nicht sagen, warum sie das tat, außer dass ihr eben danach gewesen sei. Mit großer Anstrengung verbarg sie vor ihm, dass ihr jetzt auch fast ständig übel war, denn er hätte versucht, sie zu einem Arzt oder einen Arzt zu ihr zu bringen, und nicht um den Preis ihres Lebens hätte Deborah zugelassen, dass ein fremder weißer Mann ihren Körper berührte, untersuchte oder auch nur ansah. Sie selbst hatte irgendwann eine Vermutung, gewachsen aus der Erinnerung an die schwangeren Frauen, die sie in den Sklavenhütten ihrer Jugend gesehen hatte. Aber das war ja nicht möglich, und zum ersten Mal seit langer Zeit beschloss sie, nicht mit ihm über das zu reden, was sie beschäftigte. Vielleicht ging es ja von allein wieder weg.
John spürte, dass sie sich ein wenig von ihm zurückzog, und glaubte, dass es an ihrer Tatenlosigkeit liegen müsse, dass sie wieder hinauswollte in den Kampf, in dem sie mit der Hälfte der Vereinigten Staaten lag. Ohne es sich selbst einzugestehen, hatte er sich von Anfang an vor genau diesem Moment gefürchtet, denn er wusste, dass es noch immer etwas in ihrem Leben gab, von dem er nicht Teil war, und dass er sie nicht aufhalten konnte, wollte oder durfte, wenn dieses Etwas sein Recht forderte. Er würde mit ihr gehen, überallhin, obwohl er nicht wollte, dass sie ging. Aber als sie nicht ging, keine Anstalten machte, nahm er an, dies geschähe aus Rücksicht auf ihn oder weil sie nicht glaubte, dass er völlig auf ihrer Seite war. Das kränkte ihn, und nun war John es, der sich zurückzog.
Deborah bemerkte es, verstand es aber nicht, war auch zu sehr mit dem Leben beschäftigt, das in ihr wuchs. Sie fragte ihn irgendwann vorsichtig nach seiner Meinung darüber, ob eine Familie, die Bindung an andere, einen Menschen stärker oder schwächer mache, sicherer oder verwundbarer, und er glaubte, es ginge bei dieser Frage um das, was er sich zusammengereimt hatte. Also sagte er, dass er auf Leben und Tod ihr Mann sei; eine große Liebeserklärung, die sie zwar freute, mit der sie aber im Moment wenig anfangen konnte, denn sie beantwortete nicht ihre Frage.
Das verwirrte ihn womöglich noch mehr, und er versuchte es auf eine eher intellektuelle Weise; sprach von der Geschichte der Sklaverei und allem, was er bei Gibbon, McCauly und Carlyle darüber gelesen hatte: die alljährliche Kriegserklärung der Spartaner an ihre Sklaven, die Heloten; die Schuldsklaverei in Athen nach Einführung der Geldwirtschaft und vor den solonischen Reformen; die bestialischen Ungerechtigkeiten der Römer, die nach Belieben Menschen zu Sklaven machten, wenn sie welche brauchten; über Hörigkeit, Leibeigenschaft, Lohnsklaverei und die Arbeit in den Minen, die von allem Anfang an Sklavenarbeit gewesen sei; Spartakus, die sizilischen Sklavenkriege, Sklavenkönigreiche – Deborah hatte keine Ahnung, warum er sagte, was er sagte, aber weil er klug war und vieles wusste, was sie nicht wusste, schwieg sie und lernte und blieb doch allein mit ihrer Frage.
Sie hatten keine Freunde in einer Welt, die in Schwarz und Weiß dachte, fühlte, handelte. Deborah hatte nur John, John nur Deborah, und wenn sie aneinander vorbeiredeten, -dachten, korrigierte sie niemand. Deshalb ging John davon aus, dass er mit all seinen Vermutungen recht gehabt hatte, als Deborah vorschlug, den alten Gringoire und seine Familie zu besuchen. In Wirklichkeit suchte sie den Rat der großen, weißhaarigen Syrah, Gringoires Frau, die sehr viel Erfahrung darin hatte, Kinder zu bekommen – aber auch darin, sie nicht zu bekommen.
John mietete ein Pferdegespann und einen Wagen für die hundertfünfzig Meilen lange Fahrt durch Illinois, obwohl er mit dieser Art der Fortbewegung nur sehr begrenzte Erfahrung hatte. Er ging davon aus, dass sie – freier Staat hin oder her – keine Unterkunft für die mindestens zwei, vielleicht drei Nächte bekommen würden, die vor ihnen lagen. Dass er auch einen Revolver kaufte, sagte er Deborah nicht.
Rasch stellte sich heraus, dass John Gowers, ein guter Lotse, Navigator und Seemann, überhaupt kein Talent für den Umgang mit Pferden hatte, und nachdem er die Kutsche zum dritten Mal in den glücklicherweise trockenen Straßengraben gelenkt und nur mit Mühe wieder f reibekommen hatte, übernahm Deborah die Zügel. Sie lachte noch lange über die ihr unbekannten, sehr bildhaften Matrosenflüche, mit denen er die Pferde aber auch zu nichts anderem als einem verständnislosen Schnauben gebracht hatte.
»Lachst du über mich?«, fragte er, noch immer in unfreundliche Gedanken über die Fauna im Allgemeinen und Huftiere im Besonderen versunken.
»Nein«, log sie tapfer, brach aber fast gleichzeitig in ein so ansteckendes Gelächter aus, dass er irgendwann mitlachen musste. In dieser Nacht schliefen sie zum einzigen Mal in ihrem Leben unter freiem Himmel miteinander, denn es war warm, und John, der aufgrund seiner Nachtsichtigkeit den nackten Leib seiner Frau über sich im feinen, unwirklichen Licht der Sterne schimmern sah, glaubte für eine Sekunde, ein Gott zu sein. Er dachte an die endlos klaren Nächte des Nordens, die Aurora Borealis, an Nut, die Göttin des Sternenhimmels, die an jedem Abend die Sonne empfing und sie an jedem Morgen neu zur Welt brachte. Waren Deborahs Brüste gewachsen, oder kam ihm das nur so vor?
Am nächsten Morgen konnte sie ihre Übelkeit nicht vor ihm verbergen und trotz ihrer schwachen Gegenwehr nicht verhindern, dass er ihren Kopf hielt, während sie sich übergab. Es war peinlich, aber auf eine sonderbare Weise auch schön, seine Hand auf ihrer Stirn zu fühlen. Er glaubte, dass es an der ungewohnten Schaukelei der Kutschfahrt liegen würde.
Sie waren noch keine zwei Stunden da, als Gringoire Gowers wortlos eine schwere Feldhacke in die Hand drückte, während er selbst eine Axt schulterte. Bis zum Einbruch der Dämmerung rodeten sie dann die großen Baumwurzeln aus, die die Feldarbeit hinter der kleinen Hütte schon lange behindert hatten. Wenn sie dabei gelegentlich mehr sagten als: »Seil fest, anziehen, der Ast ist durch, sie kommt, sie ist frei«, hatte zumindest der alte Pirat das Gefühl, eine tiefschürfende und erschöpfende Unterhaltung zu führen.
Deborah aber ging mit Syrah zum Ufer des Mississippi und sprach lange über ihren Zustand und ihre Gedanken darüber. Dass sie das Gefühl hatte, nicht mehr Herrin über ihren Körper zu sein, nicht mehr tun zu können, was immer sie wollte, nur noch eine Sklavin der blinden Natur zu sein.
»Das ist es nicht«, sagte die weise alte Frau und schüttelte den Kopf. »Du stellst diese Fragen, und weil du sie stellst, stellen kannst, bist du nicht Sklavin, sondern Herrin deiner selbst. Was dich kränkt, ist dies: Du bist eine Kämpferin gewesen, all deine Tage.«
Sie lächelte milde und zeigte zurück zum Haus, wo die Männer sich mit einem wahren Riesen von Wurzel abplackten. »Wie sie. Du kannst es an ihren Augen sehen. Die Kämpfer schlagen die Urwälder weg und töten die Ungeheuer darin. Sie können die wilden Tiere vertreiben und vielleicht auch noch Zäune bauen, aber sie können nichts zum Wachsen bringen. Ich …« Sie schaute auf ihre eigenen Hände, drehte sie in der Abendsonne, bis auch Deborah sie ansah. »Ich bin ein Pflanzer. Ich bringe Dinge zum Wachsen. Nicht alle Dinge, o nein. Ich bin nicht gütig. Ich entscheide, was wächst und was nicht. Das ist meine Aufgabe.«
Die alte Frau nahm jetzt Deborahs Hände in ihre. »Es gibt eine Zeit, in der man kämpft, und eine Zeit, in der man pflanzt. Und wenn du wissen willst, in welcher von beiden du lebst, dann frag dich, wofür du gekämpft hast und kämpfen willst.«
»Für die Freiheit«, sagte Deborah leise. »Meine, deine und die von Tausenden Sklaven, die noch dort unten sind!« Sie schüttelte Syrahs Hände ab und zeigte den Fluss hinunter, auf dem schon keine Sonne mehr lag und der dunkel und schweigend nach Süden floss.
»Und das, was in deinem Bauch wächst, darf nicht frei sein?« Die Alte erhob sich und ließ Deborah mit dieser Frage allein. Als sie zum Haus zurückkam, wo Gowers eben die Hacke weggestellt hatte und seine müden Knochen streckte, sagte sie: »Geh zu ihr, Engländer. Sie braucht dich.«
Auch Gringoire schaute bei diesen Worten auf. »Hat er ihr wehgetan?« , fragte er und sah dabei aus, als sei er bereit, dem jungen Mann nachzulaufen und ihm die Axt über den Schädel zu schlagen.
»Nicht mehr als du mir«, antwortete seine Frau.
137.
Als John Gowers am 26. August 1868 zu seiner dritten Durchquerung der neuseeländischen Nordinsel aufbrach, hatte der Krieg im Süden einen toten Punkt erreicht. Nahezu alles ging nahezu allen jämmerlich schief.
Titokowaru wusste, dass sein Dorf Te Ngutu o te Manu beziehungsweise die Tatsache, dass McDonnell seine Position genau kannte, der große Köder war, den er auswerfen musste. Turuturu Mokai, etliche kleine Überfälle auf befestigte Farmhäuser und die Nachschublinien der Patea Field Force sollten die Truppe endlich auf den Pungarehu-Pfad locken, die allen bekannte Verbindung zwischen Te Ngutu und der oberen Furt des Waingongoro River. Immer wieder ließ er seine Leute in Sichtweite von Camp Waihi provozierende Kriegstänze aufführen, bei denen der junge Ngana, der an der Ermordung der drei Holzfäller beteiligt gewesen war, schließlich erschossen wurde, als er sich zu weit vorwagte.
Aber nicht einmal dieser Erfolg ihrer Scharfschützen lockte die Pakeha in den riesigen Wald von Ahipaia, denn sie fürchteten Titokowarus Hinterhalte und hatten auch allen Grund dazu. Eine Meile vor Te Ngutu hatte der Häuptling eine Falle anlegen lassen, die so gut getarnt war, dass sogar die Leute, die wussten, dass es sie gab, Schwierigkeiten hatten, sie zu finden. Die Palisade dieser Te Maru o te Whenua genannten genialen Verteidigungsanlage sah dagegen jeder Idiot: Sie verlief quer über den Pungarehu-Pfad und riegelte ihn quasi ab. Aber wehe dem Feind, der versuchen würde, diese Palisade zu nehmen! Versteckte, nahezu unsichtbare Schützenlöcher flankierten beide Seiten der einzig möglichen Angriffslinie, und fünfzehn, zwanzig geübte Schützen konnten hier eine ganze Kompanie aufreiben. Zwei Meilen hinter seinem Dorf hatte Titokowaru hingegen sein eigentliches Material-und Versorgungslager aufgeschlagen. Hier, in Ruaruru, dem Eulennest, hüteten Frauen und Kinder die Nahrungsmittel, die Munition und den bescheidenen Viehbestand der Rebellen. Der Häuptling glaubte, dass dieser geheime Stützpunkt dem Feind völlig unbekannt sei.
Thomas »Fighting Mac« McDonnell hatte hingegen zwar keine Ahnung von der tödlichen Falle bei Te Maru, aber über das Eulennest war er durch Takiora informiert, die ihre Ohren überall hatte. Sie kannte allerdings weder seine genaue Lage noch die gut verborgenen Pfade, die hinführten, und glaubte zudem, dass es nur eine Meile von Te Ngutu entfernt sei. Eine oder zwei Meilen aber trennten in der Wildnis des Buschwalds, mit seinen dicht stehenden Bäumen, den Ästen, die einander umklammerten wie verschränkte Finger, und seinem Dickicht von Farn und Schlingpflanzen, Welten.
McDonnell wusste, dass sein Angriff erwartet wurde, und ein Kommandeur, der das weiß, hat nur zwei Möglichkeiten: Er kann an einem unerwarteten Punkt oder an einem unerwarteten Tag angreifen. »Fighting Mac« entschied sich am 10. August für das Erstere. Mit dreihundert Männern überquerte er am Nachmittag die Furt des Waingongoro, teilte seine Streitmacht aber bei hereinbrechender Dunkelheit. Die eine Hälfte unter Captain Page wich südwärts vom Pungarehu-Pfad ab, machte dabei gerade so viel Lärm, wie die Maori es von weißen Soldaten erwarten konnten, und zündete hier und da die kleinen Mais-und Weizenfelder an, die sich auf den Lichtungen fanden, um möglichst viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die andere Hälfte – von Tempsky und seine Ranger – marschierte unter strengstem Stillschweigen nach Norden, auf Pfaden, die selbst Takiora oft erst nach längerem Suchen fand. Auf diese Weise erreichten sie erst bei Einbruch der Dunkelheit das winzige, schon seit geraumer Zeit aufgegebene Eingeborenendorf Utawaka und beabsichtigten, am folgenden Tag Te Ngutu o te Manu zu umgehen und stattdessen das Eulennest anzugreifen.
Aber der nächste Morgen brachte sintflutartige Regenfälle, auf die die Kampftruppe nicht vorbereitet war. Ein Offizier namens Brown rutschte aus, brach sich den Knöchel und musste, weil er ein schwerer Mann war, von vier Soldaten getragen werden. Eine ganze Abteilung unter Harry Hastings ging im strömenden Regen in die Irre und musste mühsam wieder aufgetrieben werden, und Hunderte schlammiger kleiner Bäche, die jetzt von den Hängen herabstürzten, veränderten die Landschaft so sehr, dass weder Takiora noch von Tempsky mehr einen gangbaren Weg finden konnte.
An einen Angriff war nicht mehr zu denken, und fluchend befahl »Fighting Mac« am Nachmittag den Rückzug. Der Großteil seines Zorns traf Takiora, die behauptet hatte, die nötigen Pfade zu kennen oder zu finden, und McDonnell verstieg sich zu der Behauptung, dass ihm das mit Katene als Scout nicht passiert wäre; woraufhin es beinahe eine ernste Auseinandersetzung mit von Tempsky gegeben hätte, der seine Geliebte gegen derlei ungerechtfertigte Angriffe natürlich in Schutz nahm.
Im Busch war ihm der bei den Männern so populäre Deutsche natürlich überlegen, aber kaum in Camp Waihi angekommen, erteilte McDonnell Takiora den demütigenden Befehl, sich ins Lazarett und in ärztliche Behandlung zu begeben, da sie den Strapazen des Urwaldkriegs als Frau nicht gewachsen sei. Von Tempsky schluckte das nur, weil sein Freund Tom ihm gleichzeitig den Befehl gab, in aller Stille einen neuen, diesmal direkten Angriff auf Te Ngutu vorzubereiten, den er auch anführen sollte. Sie entschieden sich, nach einer mit Whisky und Zigarren ausführlich begangenen Versöhnung, jetzt für die andere Option: Sie würden an einem Tag mit so schlechtem Wetter angreifen, dass kein normaler Mensch mit einem Angriff rechnen konnte.
Aber neun Tage lang blieb das Wetter fast vorfrühlingshaft schön. Erst am Abend des 20. August zogen sich dichte Regenwolken zusammen, und am nächsten Morgen konnte man unter Wassergüssen, die nicht mehr aus einzelnen Tropfen, sondern aus langen grauen Fäden zu bestehen schienen, kaum noch die Hand vor Augen sehen. Die Männer, diesmal nur ihre besten, waren jedoch darauf vorbereitet und überquerten ab halb sechs Uhr morgens und in bester Stimmung, an Stricken gesichert, die Stromschnellen, die sich während der Nacht an der Waingongoro-Furt gebildet hatten. Sie verständigten sich nur per Handzeichen, und das einzig Trockene an ihnen waren ihre Waffen, die sie in wasserdichten Kautschuk-Decken transportierten.
Gegen zehn standen sie verwundert vor einer Palisade, die quer über den Pungarehu-Pfad verlief, und fragten sich, was das sein sollte. Von Tempsky, der die Anlage als einen genialen Hinterhalt erkannte, entdeckte schließlich die verborgenen Schützenlöcher und stellte anhand der zum Teil noch warmen Asche der kleinen Lagerfeuer fest, dass sie bis zum Abend zuvor noch besetzt gewesen sein mussten. Hätten die Schützen noch zwölf Stunden länger gewartet, wäre die angreifende Truppe zweifellos verloren gewesen.
Tatsächlich hatten Titokowarus Männer, die unter Katenes Befehl neun Tage lang ununterbrochen auf der Lauer gelegen hatten, erst am vergangenen Abend im bereits fallenden Regen den Befehl erhalten, sich nach Te Ngutu zurückzuziehen, und waren am frühen Morgen zu einem Jagdzug in den Norden aufgebrochen, um ihre nahezu aufgezehrten Vorräte wieder zu ergänzen. Die Kinder blieben unter der Aufsicht der alten Frauen ohnehin im trockenen Eulennest, die jungen Frauen waren trotz des Regens, der sich im Verlauf des Vormittags in dichte Nebelschleier zu verwandeln begann, ausgeschickt worden, um auf den verborgenen Lichtungen die kleinen Felder zu bestellen.
In Te Ngutu o te Manu befanden sich zu diesem Zeitpunkt nur noch zwanzig vorwiegend ältere Männer, die sich mit Schwatzen, Singen und der Herstellung von Patronen die Zeit vertrieben. Titokowaru selbst hatte sich in seine Hütte zurückgezogen und setzte seinem Feuer eben einige Kräuter und Wurzeln zu, die er auf seiner Traumwanderung durch die Höhlen der Mairoa Range gesammelt hatte und deren Rauch ihm ermöglichen würde, mit seinen Ahnen zu sprechen.
Eine Wandlung hatte sich mit dem Häuptling vollzogen, seit er den Kampf aufgenommen hatte; seine Träume quälten ihn nicht länger, und er dachte auch nicht mehr an Puarauranga. Ein tiefer Friede durchzog seine Brust, als er auf das langsame Singen und den fallenden Regen lauschte, wie er es schon als Kind gern getan hatte. Aber ehe er die ersten Schwaden des Rauchs einatmen konnte, erklang ein gellender Kriegsschrei auf der Lichtung vor dem Dorf.
Ein ans Ende der Welt verschlagener Bushwacker aus Louisiana, der schon mit Quantrill gekämpft hatte und jetzt bei den Wellington Volunteers diente, machte den neuseeländischen Urwald mit dem rebel yell, dem Kriegsruf der Konföderierten, bekannt, der noch vier Jahre zuvor ganzen Yankee-Regimentern Schauer über die Rücken getrieben hatte. Gleichzeitig ließ McDonnell zum Angriff blasen, und die überrumpelten Maori hatten kaum zu den Waffen gegriffen, als von Tempsky, mit gezogenem Säbel an der Spitze seiner Männer, die Lichtung schon halb überquert hatte. Eine einzige Salve konnten die Verteidiger noch abgeben, die immerhin fünf der heranstürmenden Männer tötete, aber dann war der Feind im Dorf und an Gegenwehr nicht mehr zu denken. Kontinuierlich feuernd zogen sich die Maori in die Deckung der Wälder zurück und gaben Te Ngutu o te Manu dem Zorn der Patea Field Force preis.
Aufgrund der Voraussicht ihres Häuptlings war dort aber nicht viel zu holen und der Sieg nur eine Art symbolischer Akt. Die Waffen, die die Pakeha erbeuteten, waren offensichtlich alt, und als McDonnell persönlich in die Hütte Katenes eindrang, fand er dort nur dessen Reserve-Tupara, was zweierlei nahelegte: Erstens, der Maorirenegat hatte den funkelnagelneuen Karabiner, den »Fighting Mac« ihm persönlich geschenkt hatte, offensichtlich noch bei sich und war zweitens vermutlich gar nicht im Dorf gewesen. Das aber hieß, dass er mit den eigentlichen Truppen der Rebellen sehr bald irgendwo auftauchen würde und man über den Rückzug nachdenken musste, da die Weißen, ohne jeden Proviant, Te Ngutu nicht gegen eine entschlossene Belagerung würden halten können.
McDonnell gab den Befehl, das Dorf niederzubrennen, und seine Nachhut, die dieses schmutzige Geschäft besorgte, verließ es in dem Moment, als Katene und sein Jagdtrupp eintrafen. Der Rückzug wurde deshalb beinahe zu einer Katastrophe. Unablässig setzten die Maorischarfschützen den Pakeha zu, und insbesondere der Übergang über den Waingongoro, der inzwischen zu einem tobenden Chaos angeschwollen war, erwies sich als außerordentlich schwierig.
Insgesamt verlor Titokowaru bei diesem unerwarteten Überfall acht seiner Krieger, aber auch neun der Pakeha waren gefallen, und ihr »Sieg« – die Verbrennung eines leeren Dorfes – kaum so überwältigend, wie McDonnell noch am gleichen Abend nach Wellington meldete. Als in den nächsten Tagen Einzelheiten über die eigenartige Operation bekannt wurden, fielen die Zeitungen über den glücklosen Kommandeur der Patea Field Force her, und einzelne Stimmen verlangten bereits seine Ablösung.
Von Tempsky, davon in Kenntnis gesetzt, konnte sich eine Weile wieder Hoffnungen auf den Oberbefehl machen und wunderte sich nur, dass diese Aussicht ihn kaum noch befriedigte. Er fühlte sich müde, zu müde sogar, um an Emilia zu schreiben. Einmal mehr hatte er sich wacker geschlagen, und einmal mehr hatte es überhaupt nichts bewirkt, im Gegenteil. Er wusste, dass »Fighting Mac« jetzt mit Sicherheit einen letzten verzweifelten und daher unüberlegten Versuch machen würde, den Aufstand niederzuschlagen.
Die Einzige, die sich über die Entwicklung der Dinge freute, war Takiora, denn solange der Krieg weitergehen würde, wäre Manu-Rau an ihrer Seite. Er hatte ihr aus Te Ngutu die einzige nennenswerte Beute mitgebracht, die er finden konnte: einen zahmen Papagei, der »Whakarongo!« sagen konnte: »Hört mir zu!« Aber eben nicht mehr.
138.
Der Amerikanische Bürgerkrieg hatte in seiner wörtlichen Bedeutung, als nicht mehr nur bewaffnete, sondern kriegerische Auseinandersetzung zwischen Bürgern desselben Staates, bereits 1855 im Territorium Kansas begonnen. Es gab politische Vorgaben, militärische Strategien, organisierte Truppenverbände, Aufmarschpläne, Rückzugs-und Nachschublinien und all das übrige Groß und Klein eines richtigen Krieges, mit einer Ausnahme: Die Kontrahenten trugen keine Uniformen und kämpften alle unter derselben, der amerikanischen Flagge. Sie kämpften paradoxerweise sogar alle im Namen der Freiheit. Dass beide Seiten auch in göttlichem Auftrag unterwegs waren, verstand sich, wie in allen Kriegen, von selbst.
Im Kansas-Nebraska Act von 1854 hatte der US-Kongress beschlossen, dass die Wähler in Kansas selbst entscheiden sollten, ob die Sklaverei in ihrem Territorium eingeführt würde oder nicht. Es galt also sowohl für die Sklavereigegner als auch ihre Befürworter, möglichste viele »Wähler« nach Kansas zu schaffen. Die New England Emigrant Aid Company, von Abolitionisten gegründet, ging dabei insofern noch rechtmäßig vor, als sie tatsächliche Siedler ihrer Denkrichtung, die sogenannten freesoiler, ins Territorium brachte, während die Sklavenhalter im benachbarten Missouri lediglich bezahlte Habenichtse über die Grenze schickten, die ihre Stimme abgaben und dann wieder nach Missouri zurückkehrten. Diese »hageren, unrasierten und ungewaschenen, trinkfesten Kerle aus Missouri« wurden als border ruffians, Grenzschläger, bekannt, weil sie sich auf ausdrückliche Aufforderung ihrer politischen Führer mit gezückten Messern und Revolvern Zugang zu den Wahlbezirken von Kansas verschafften.
Ein auf diese abenteuerliche Weise gewähltes, sklavereifreundliches Territorialparlament war natürlich eine Farce, wurde aber aufgrund massiver politischer Einflussnahme der Sklavenhalterstaaten von der Bundesregierung anerkannt, während eine von den tatsächlichen Kansas-Siedlern und ihrer sklavereifeindlichen Mehrheit berufene verfassungsgebende Versammlung in Topeka als illegal angesehen wurde. Daraufhin bewaffneten sich beide Seiten, die politischen Töne wurden schriller und gingen bis zum Aufruf zur Lynchjustiz. Die Spaltung vollzog sich bis in den Senat der Vereinigten Staaten, und während ein Südstaatenmitglied des Hohen Hauses einen abolitionistischen Senatorenkollegen im Senatssaal blutig schlug, kam es in Kansas zur Bildung von Guerilla-Einheiten und ersten Raids, also Kommandooperationen gegen vermeintliche oder tatsächliche Gegner in der Zivilbevölkerung. Farmen und Felder wurden niedergebrannt, geplündert, ihre Besitzer erschossen, gehängt oder auf noch mittelalterlichere Weise zu Tode gebracht.
Diese bis an die Zähne bewaffneten Banden, die sich stets nur zu ihren feigen nächtlichen Überfällen zusammentaten und dann wieder zerstreuten, die abolitionistischen Jayhawker und die noch im Bürgerkrieg berüchtigten Bushwacker auf Sklavenhalterseite, waren ein Sammelbecken von Fanatikern, Psychopathen, Killern, Wirrköpfen und Schlägern, die ihr Vergnügen darin fanden, ihre Nachbarn zu terrorisieren. Der Schlimmste unter ihnen war der sechsundfünfzigjährige Abolitionist John Brown, Vater von zwanzig Kindern, Träger eines alttestamentarischen Barts und ein in jedem Geschäft, ja sogar als Farmer gescheiterter Mann.
Im Mai 1856 schätzte Brown, dass seit Beginn der Kämpfe in Kansas mindestens fünf seiner Gesinnungsgenossen ums Leben gekommen waren, und fühlte sich von Gott berufen, die Morde an diesen free soilers zu rächen. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft am Pottawatomie Creek entführte er also mit seiner nicht minder verrückten Truppe fünf sklavereifreundliche Farmer aus ihren Häusern und Betten, schnitt einigen von ihnen aus unerfindlichen Gründen zunächst die Finger ab und spaltete ihnen dann nacheinander die Köpfe mit einem schweren Kavalleriesäbel. Die chaotische Situation am Ende der 1850er-Jahre lässt sich vielleicht dadurch am treffendsten kennzeichnen, dass dieses widerliche Massaker in den Zeitungen aufgrund weiterer Kämpfe und Überfälle schon bald verblasste und auch nie juristisch geahndet wurde.
Über zweihundert Menschen starben durch derartige Fememorde, und natürlich wurden bei derlei Gelegenheiten auch viele alte Rechnungen beglichen, Raub-und Rachegelüste befriedigt. Die neuere Forschung hat festgestellt, dass die Bushwacker aus Missouri dabei keineswegs nur primitive, gekaufte Gesellen waren, sondern zumeist »Söhne von wohlhabenden Pflanzern südstaatlicher Herkunft, die mit dreimal so großer Wahrscheinlichkeit Sklaven besaßen und doppelt so reich waren wie der durchschnittliche Mann aus Missouri«.
Obwohl auch in St. Louis zehn Todesopfer zu beklagen waren, war die Stadt, in der und deren Umgebung überdurchschnittlich viele Sklavereigegner lebten, bislang von den Raids der Terroristen beider Seiten weitgehend verschont geblieben, vermutlich, weil eine so große Stadt, in der zudem ein militärisches Arsenal der Bundestruppen lag, für nächtliche Überfälle ungeeignet war. John Lafflin fühlte sich als angesehener Bürger dieser Stadt deshalb vollkommen sicher, obwohl seine Haltung in der Sklavenfrage – wenn auch nicht sein heimliches Engagement in der Befreiungsbewegung – allgemein bekannt war. Nachbarn und sogar Gegner betrachteten auch seine sozialistischen Neigungen eher als persönliche Verschrobenheit und fanden es durchaus nicht ungewöhnlich, dass der Pulverfabrikant an einem kalten, trüben Novembermorgen 1859 zu Fuß aufbrach, um einem seiner ehemaligen Arbeiter eine Kiepe mit Nahrungsmitteln zu seiner acht Meilen außerhalb liegenden Farm zu bringen.
Es störte Lafflin nicht im Geringsten, dass Thomas Gerstendorff, ein Deutschamerikaner aus Trier, jünger war als er selbst. Auch dass Gerstendorff aus derselben Stadt stammte wie sein Freund Marx und er sich mit ihm über die Thesen des Sozialismus unterhalten konnte – ohne den Deutschen jedoch überzeugen zu können –, war für Lafflin bei seinem Samariterdienst nicht ausschlaggebend. Entscheidend war allein, dass sein ehemaliger Vorarbeiter, an Tuberkulose erkrankt, seit mehreren Monaten daniederlag und Lafflin eben nicht nur theoretisch der Überzeugung war, dass der Stärkere für den Schwächeren einstehen muss. Außerdem hörte er die deutschen Volkslieder gern, die Gerstendorffs Frau, die nie richtig Englisch gelernt hatte, bei all den kleinen Nähtätigkeiten sang, mit denen sie sich und ihren Mann über Wasser hielt.
Tatsächlich trieben ihm einige dieser friedlichen, gemütvollen Melodien Tränen in die Augen, obwohl er den Text nicht verstand. Sie erinnerten ihn an die einfachen französischen Volksweisen, die seine Mutter gesungen hatte. Vielleicht, dachte er manchmal – und verbot sich meist sofort, derart naiv zu denken –, ließen sich irgendwann Kriege und Ausbeutung unter den Völkern allein dadurch verhindern, dass die Menschen einander die Lieder vorsangen, die sie aus ihrer Kindheit noch in Erinnerung hatten.
Lafflin aß mit den beiden alten Leuten zu Mittag und hackte danach noch ein wenig Holz, wobei er zum ersten Mal merkte, dass seine eigene Krankheit, eine aus einer hartnäckigen Sommererkältung hervorgegangene Lungenentzündung, noch nicht allzu lange zurücklag. Oder war es das Alter? Ihm wurde ein wenig schwindlig, und der Schweiß auf seinem Rücken fühlte sich kalt und ungesund an. Er fröstelte, als er seine Jacke wieder anzog, und dachte mit Unlust an den acht Meilen langen Rückweg, denn ein unangenehmer kalter Nieselregen hatte eingesetzt, den kein Hut und kein hochgeschlagener Kragen aufhalten konnte.
Lediglich das »Ade nun zur guten Nacht, jetzt wird der Schluss gemacht, dass ich muss scheiden«, mit dem Mrs. Gerstendorff ihn wie immer verabschiedete, wärmte ihn noch ein wenig. Dann war er allein auf den schlammigen Wegen. Der Novemberwind blies machtvoll durch die Gerippe der kahlen Bäume, und schon der frühe Nachmittag war in ein düsteres, kaltes Zwielicht getaucht. Lafflin konnte die Pferde hören, ehe er sie sah.
Zuerst dachte er an einen Wagen, hoffte sogar auf eine Mitfahrgelegenheit nach St. Louis, aber er hörte nicht das übliche Knarren von Rädern und Achsen. Drei, fünf, sieben Reiter tauchten jetzt hinter einer Baumreihe auf. Sie trugen lange, durchnässte Staubmäntel über dicken Winterjacken und hatten die Hüte tief ins Gesicht gezogen. Gegen den Regen, dachte der einsame Wanderer noch und fragte sich nur, was sieben Reiter um diese Zeit in dieser Gegend zu suchen hatten. Dann sah er, dass sie weiße Kapuzen mit ausgeschnittenen Augenlöchern unter ihren Hüten trugen, und wusste, wer sie waren und was sie wollten.
»Guten Tag, Gentlemen«, sagte John Lafflin alias Jean Laffitte, Pirat, Sozialist, Menschenfreund, mit fester Stimme, als die Bushwacker ihn langsam einkreisten.
139.
Zu Pferd kam er zwar nicht unbedingt schneller, aber wesentlich stetiger voran, jedenfalls solange die Wege den Thames River hinauf gut gangbar waren und er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unterwegs blieb. Zudem konnte er im Sattel essen. Schon am Morgen des dritten Tages erreichte er die Brücke von Aniwahniwha und hatte das mittlere Waikato-Becken hinter sich. An diesem Tag passierte er den Maungatantari und überquerte am Abend den Overland Mail Track, den er vier Monate zuvor mit von Tempsky entlanggezogen war. Seine schnelle Reise ließ allerdings kaum einen Vergleich mit dem ermüdenden Fußmarsch und dem mühsamen Zusammenhalten von zweihundert Männern zu.
Zwar konnte er von nun an nur noch selten aufsitzen und reiten, aber das Pferd trug immerhin noch weitere vier Tage seinen Proviant, sodass er keine Zeit mit Tauschhandel verlor und dennoch nicht hungern musste. Erst als er jenseits des kleinen Waikaka, an den Oberläufen von Mokau und Wanganui, die Grenzen der Provinz Taranaki und ihrer Urwälder erreichte, hörte das Tier endgültig auf, ihm nützlich zu sein, und er verkaufte es in der Eingeborenensiedlung Pohanga gegen so viel Maismehl, wie er auf dem Rücken tragen konnte. Die »Damper«, von denen er von diesem Zeitpunkt an leben musste, waren zwar mangels Salz und anderer Gewürze nahezu geschmacklos, aber das konnte nur ein zusätzlicher Antrieb sein, diese Wanderung so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Gowers wusste jedoch, dass er sich nun im Einflussbereich der Aufständischen befand, und ging entsprechend vorsichtig voran. Dass er sich zudem nun wieder im ewigen Auf und Ab dicht bewaldeter Hügelketten bewegte, verlangsamte sein Marschtempo weiter, und während bisher der große, alles überragende Vulkan Taranaki sein Fernziel gewesen war, musste er nun überlegen, ob, wie und auf welchen Wegen er sich möglichst ungesehen dem ihm unbekannten Camp Waihi nähern konnte und wie er hineinkommen würde. Am Abend des 7. September hatte er endlich den Te-Ngaere-Sumpf hinter sich gebracht und musste jetzt nahe an dem breiten Pfad sein, den General Chute vor vier Jahren auf seinem großen Marsch von Hawera nach New Plymouth hatte freischlagen lassen. Es war auf diesem Pfad, mitten im Gebiet des Tangahoe-Stammes, der bereits zum Volk der Ruanui gehörte, und unweit des kleinen Dorfes Araukuku, als ihm der Melder begegnete.
Obwohl die Dämmerung nicht mehr fern war, bewegte dieser Mann sich ungewöhnlich sorglos durch ein Land, das sich in Kriegswirren befand. Gowers hörte ihn jedenfalls schon lange, ehe er ihn sehen konnte, so laut, beinahe mutwillig schlenderte der Maori den Pfad entlang, den jetzt bereits an beiden Seiten nachtschwarzer Urwald begrenzte. Dann hörte der Investigator das seltsamste Geräusch, das der andere produzierte: Der Mann sang! Nicht aus Leibeskräften, aber auch kein irgendwie unterdrücktes, nur hier und da zu Versen hochkochendes Summen – er sang wahrhaftig, und obwohl Gowers die Worte nicht verstehen konnte, wurde ihm sofort klar, dass der Krieg eine unvorhergesehene und für die Aufständischen vorteilhafte Wendung genommen haben musste.
Hatte er zunächst beabsichtigt, in seinem Versteck zu bleiben und den Mann unbehelligt passieren zu lassen, so änderte er diesen Plan jetzt. Er musste wissen, was geschehen war und ihn erwarten würde. Der Melder war ein junger Bursche, keine achtzehn Jahre alt, und als er auf Höhe seines Verstecks war, sah Gowers, dass er sich bewegte wie ein Betrunkener.
Tatsächlich hatte Tutange Waionui etwas getrunken, wenn auch nicht viel. Aber da er Alkohol nicht gewohnt war, hatten vier, fünf kräftige Schlucke aus der erbeuteten Whiskyflasche ausgereicht, um ihn noch fröhlicher zu machen, als er durch den großen Sieg ohnehin schon war. Er hatte gekämpft, wahrhaftig, zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sein Gewehr auf einen Menschen abgefeuert und ihn sogar getroffen. Er wusste nicht, ob er den Mann getötet hatte – die Pakeha hatten ihn rasch weggetragen. Aber irgendwann waren mehr Weiße gefallen, als ihre Kameraden tragen konnten, und da waren sie weggelaufen, geflohen, den Pungarehu-Pfad hinunter bis zum Waingongoro und hinter die Palisaden von Waihi.
Unermüdlich waren die Maorischützen ihnen gefolgt, hatten sie durch die Wälder gejagt und noch viele, viele von ihnen getroffen. Die Toten hatten sie ausgeplündert, ihnen alles weggenommen, was ihnen im Leben gehört hatte: Waffen, Munition, Schuhe, Kleider, Proviant und vereinzelt sogar die Fotografien ihrer Frauen und Familien. Fast zwei Dutzend völlig nackter Leichen hatte Tutange gezählt und war in eine seltsame Erregung geraten.
»Warum seid ihr hergekommen?«, hatte er die Toten angeschrien. »Was wollt ihr in unserem Land? Ihr wärt besser in eurem eigenen geblieben!« Seine Kameraden hatten gelacht, und als ihm gerade schlecht werden wollte, war die Whiskyflasche aufgetaucht, und das scharfe Getränk hatte seinen leeren Magen wieder festgezurrt in seinem Körper.
Der Häuptling selbst hatte ihm befohlen, nach Araukuku zu gehen und den Tangahoe vom Sieg ihrer Brüder, der Ngaruahine, zu berichten, damit sie sich ihnen anschließen würden. Das kaum getan, hatte er sich trotz der hereinbrechenden Nacht auf den noch längeren Weg nach Norden gemacht, um auch den Ngati Maru die große Botschaft zu bringen.
Er hatte keine Furcht vor der Dunkelheit. Er hatte gekämpft an diesem Morgen, getötet, und er war in seinem eigenen Land. Jeder Baum, jeder Farnbusch gehörte ihm, dem Krieger Tutange Waionui! Dass der Wald ihn plötzlich ansprang und auf den Boden warf, überraschte ihn, machte ihm aber keine Angst. Es war ja sein Wald.
»Warum singst du?«, fragte der Schatten auf seiner Brust, der seine Arme festhielt. Tutange merkte an der englischen Frage, dann am Geruch und schließlich an den europäischen Kleidern des anderen, dass es ein Pakeha war, der ihn überwältigt hatte. Aber was tat ein einzelner Pakeha hier? War er dem Gemetzel bei Te Ngutu o te Manu entkommen? Dann würde er nicht fra – gen, warum Tutange sang, es sei denn …
Er sah sich den Mann jetzt so genau an,wie es in der Dämmerung gerade noch möglich war, und er glaubte, ihn zu erkennen: schlank, dunkel, die gleichen Kleider, die gekreuzten Riemen über der Brust! Und Tutange Waionui hörte auf, sich zu wehren, denn man kann und man muss sich nicht gegen die Geister wehren. Ein triumphierendes Lächeln trat auf sein Gesicht.
»Ich singe, weil du tot bist, Manu-Rau. Du bist tot. Geh zurück zu den Schatten!«
140.
Johns Stellung als Telegrafist verschaffte ihm natürlich einen Informationsvorsprung, von dem auch Deborah profitierte. Was immer es auch Neues gab, wusste er schon, bevor es am nächsten Tag in der Zeitung stand, weil er es war, der die Nachrichten an die Reporter weitergab. Die beiden machten sich sogar ein Vergnügen daraus, vorherzusagen, wie welche Zeitung welche Nachricht verfälschen würde. Aber nie, nicht einmal bei John Browns Angriff auf Harpers Ferry11 vor wenigen Wochen, hatte John seine Arbeit unterbrochen, um seiner Frau die Neuigkeiten sofort mitzuteilen. Deborah wusste deshalb, dass es eine wichtige Botschaft war, die er ihr mitten am Tag überbrachte – und sein Gesicht verriet ihr, dass es keine gute war.
Erst im letzten Moment fiel ihm ein, dass es vielleicht keine gute Idee war, einer im sechsten Monat schwangeren Frau ganz unvorbereitet die Nachricht vom Tod eines guten Freundes zu überbringen. Aber er hatte plötzlich Angst gehabt, dass sie auf anderem Weg zu Deborah gelangen könnte, und nun war es ohnehin zu spät.
»John Lafflin ist tot«, sagte er möglichst ruhig.
Deborah spürte, dass er ihr noch etwas verschwieg, und fragte ebenso ruhig: »Und warum geht diese Nachricht über den Draht?«
»Er ist ermordet worden«, antwortete John, wieder einmal beeindruckt von der Schnelligkeit, mit der sie die richtigen Schlüsse zog, die richtigen Fragen stellte. »Sie nennen ihn einen bekennenden Sklavereigegner«, fuhr er fort, »und sie vermuten irgendeine Art Rache für Harpers Ferry.«
»Wie …«, fragte sie, aber ihre Stimme versagte nun doch, weil sie von den vielen Gräueltaten in Missouri wusste.
»Kugeln«, sagte John hart. »Sie schreiben: ein halbes Dutzend.«
»Gut«, erwiderte Deborah leise und nickte. »Dann ging es schnell.« Wortlos sahen sie einander an, nur wenige Sekunden, die aber ausreichten, um sich zu verständigen und über ihre gemeinsame Zukunft zu entscheiden. »Ich werde mitkommen«, sagte Deborah. »Zuerst nach St. Louis und dann in den Osten.«
Erst jetzt umarmten sie einander.
John Lafflins Papiere sahen vor, dass im Falle seines Todes auch einige Leute benachrichtigt werden sollten, die seine Witwe nicht oder zumindest nicht namentlich kannte. Emma Lafflin, die die Beerdigung mit bemerkenswerter Stärke überstanden hatte, entledigte sich dieser Briefschulden rasch und gern, denn die Tätigkeit lenkte sie nicht nur von ihrer Trauer, sondern auch ihrem Zorn ab.
Die Polizei hatte die Ermittlungen zu den Todesumständen des Pulverfabrikanten bereits nach drei Tagen eingestellt, eine selbst für den amerikanischen Westen bemerkenswert kurze Zeit, die indes viel über die Ohnmacht und Ratlosigkeit des Staatsapparats gegenüber der ganzen verfahrenen Sklavenfrage verriet. Offenbar hatte eine Vigilantentruppe den einsam wandernden Abolitionisten erwischt. Das war nicht weiter verwunderlich. Man hatte nach John Browns Wahnsinnstat sogar mit irgendwelchen Racheakten der Fanatiker von der anderen Seite gerechnet, wenn auch nicht unbedingt in St. Louis.
Wer diese Fanatiker gewesen waren, ließ sich im Hexenkessel aus Terror und Gegenterror wohl kaum je feststellen. Es konnten bezahlte Schläger gewesen sein, vielleicht auf dem Weg nach Kansas, die einfach die günstige Gelegenheit genutzt hatten. Es konnten aber auch John Lafflins Nachbarn gewesen sein, Mitbürger, irgendwelche Burschen, bei denen er sich mit seiner Meinung unbeliebt gemacht hatte. Ohne Zeugen konnte das niemand wissen, zumal die Mörder inzwischen wieder ihre Zivilgesichter trugen oder einfach längst über alle Berge waren.
Tatsächlich befanden sich die Killer noch in St. Louis, in Spratts Boarding House in der Nähe des Hafens, und sahen aus wie Flößer, die auf eine Heuer in den Süden warteten; während ihr Anführer respektive ihr Arbeitgeber, ein eleganter junger Mann, der mit umfangreichem Gepäck und einer Leibsklavin reiste, im feinen Gatesto-the-West-Hotel residierte, das allgemein nur als Gates bekannt war. Hier wohnten üblicherweise begüterte Kaufleute, Reeder, und sogar Präsident James Buchanan war auf einer Wahlkampfreise einmal hier abgestiegen.
Den Kontakt zwischen diesem besten Haus am Platz und der schäbigen Hafenpension stellte regelmäßig ein seltsam unauffälliger kleiner Mann her, den jeder, der ihn zufällig doch einmal bemerkte, für eine Art Handelsvertreter halten musste. Er war es, der die Dinge organisierte, der die Wege John Lafflins ausspioniert hatte und der jetzt auch das Haus in der Collins Avenue rund um die Uhr beobachten ließ. Am liebsten hätte er auch die Post kontrolliert, welche die Nr. 24 verließ und in die Nr. 24 gelangte, aber Emma Lafflin ließ die Post durch ihren Hausdiener Lucius besorgen, und vor Lucius verbarg sich der bullige kleine Mann, denn dieser hochgewachsene, kräftige Schwarze hatte ihn bereits einmal als Einbrecher den Polizeibehörden von St. Louis übergeben.
So konnte er seine heimliche, erschreckende Aufmerksamkeit nur auf die Kondolenzbesucher konzentrieren, die der Witwe des Pulverfabrikanten nach und nach persönlich ihr Beileid bekundeten. Die Leute, die er suchte, hoffte er allerdings eher mit der Nachricht herzulocken, dass John Lafflin einem Mord zum Opfer gefallen war. Woher sie kamen und wie sich diese Information unter ihnen verbreitet hatte, war dann zweitrangig.
Weniger als eine Woche nach John Lafflins Beerdigung begannen in der Tat nicht nur Beileidsbriefe, sondern auch Besucher in der Collins Avenue einzutreffen, die von weit her kamen und die Emma Lafflin nur zum Teil kannte. Sie kannte natürlich Mr. Phineas, kannte Jason, hatte den weißhaarigen alten Gringoire schon einmal gesehen. Von Deborah hatte ihr Mann ihr lediglich einige Male erzählt; das allerdings so schwärmerisch, dass sie am Anfang beinahe eifersüchtig geworden war.
Erst als John Gowers auf seine seltsame Art um das Mädchen geworben hatte und Lafflin dieses Vorhaben so offensichtlich begrüßte, hatte Emma eingesehen, dass seine Bewunderung für die junge Frau ihrem Mut und ihren Taten galt, und sich für ihre profane Eifersucht sogar ein bisschen geschämt. Vielleicht hatte sie deshalb das Gefühl, an Deborah etwas gutmachen zu müssen, als sie von Lucius mitten in einer dieser kalten Novembernächte geweckt wurde, weil der Lotse John Gowers mit seiner schwangeren Frau vor der Tür stand. Jedenfalls bekamen die beiden das beste, nämlich Emma Lafflins eigenes Schlafzimmer.
Dass die alte Besatzung der Deep South unter diesen traurigen Umständen erstmals wieder zusammenkam, sorgte tatsächlich für eine Art bittersüße Fröhlichkeit, und sie gedachten ihres Kapitäns, indem sie kleine Geschichten von ihrer Fahrt erzählten: von Lafflins zweifelhaften Kochkünsten, dem Versteckspiel mit ihren Verfolgern, ihrem Weg durch die Sümpfe auf dem Schiffsgerippe, der Kohlenscharade von Morgan City und wie John Gowers ins Wasser fiel und aufgeheißt werden musste wie ein nasses Segel.
Erst am zweiten Abend begannen sie, über den Mord zu spekulieren, und ahnten noch immer nicht, dass genau das die Absicht der Mörder gewesen war. Immerhin aber gab es einen Umstand, den auch die Mörder nicht kalkuliert hatten.
Es war für Gabriel Beale selbst schwer zu ergründen, was ihn letzten Endes so weit korrumpiert hatte, dass er das schmutzige Spiel seines Auftraggebers mitspielte. Es war nicht das Geld, das ihm reichlich zufloss, waren nicht die Annehmlichkeiten weiblicher Gesellschaft, die Desmond Bonneterre ihm immer wieder angedeihen ließ. Es war, sagte er sich, wenn die Frage – meist vor dem Einschlafen – am fernen Horizont seiner Integrität aufschien, der angeborene Instinkt eines Jägers, der lange vergeblich versucht hat, seine Beute aufzuscheuchen, und endlich eine Gelegenheit sieht, sie zu stellen.
Wie jedem überdurchschnittlich intelligenten Menschen standen ihm seine Niederlagen deutlicher vor Augen als seine Erfolge: das Gelächter, in das Emma Lafflin ausgebrochen war, als sie ihn festnehmen ließ. Der ölige Triumph im Gesicht des alten Willoughby, als er ihm für seine vergeblichen Dienste dankte. Schließlich das Desaster von Pelahatchie. Moses, Gowers, Lafflin – sie hatten ihn zum Narren gehalten und sollten sehen, hatten gesehen, wer zuletzt lachen würde.
»Ist es sicher?«, fragte Bonneterre, voll angekleidet und in glänzend gewichsten Stiefeln auf dem Bett liegend.
»Ganz sicher«, sagte sein Spürhund. »Sie sind in der Nacht auf gestern angekommen und haben seitdem das Haus nicht mehr verlassen.«
»Wie viele Männer haben das bestätigt?«
»Gesehen hat sie nur einer, Sir. Aber ich habe vier Leute am Haus postiert, vorn und hinten, rund um die Uhr. Sie sitzen in der Falle, wenn ich so sagen darf.« Beale warf schon wieder einen irritierten Seitenblick auf die Negerin, die Bonneterre an einem der Heizungsrohre angekettet hatte. Warum tat er das? Das Mädchen schwitzte sich doch zu Tode. Er sah es an den nur noch wenigen weißen Flecken auf ihrem Kleid, die der Schweiß noch nicht dunkel eingefärbt hatte.
Der Detektiv wusste nicht, dass Desmond Bonneterre schon seit längerer Zeit in der Angst lebte, ermordet zu werden, und den Komfort, den er auf Reisen brauchte, auf diese praktische Weise mit dem Gedanken an seine eigene Sicherheit verband. Das Mädchen war ständig feucht, strömte den starken, fast tierischen Geruch aus, den Bonneterre zur Aufstachelung seiner Lust inzwischen benötigte, und konnte ihm doch nicht gefährlich werden.
»Dann also heute Nacht«, sagte er. »Beide. Und lebend. Hämmern Sie das diesen Schwachköpfen ein!«
Als Beale den Raum verlassen hatte, stellte der junge Mann fest, dass sein Blut in den Ohren rauschte und seine Vorfreude so sehr gewachsen war, dass sie ihn am Denken hinderte. Er knöpfte deshalb seine Hose auf und näherte sich dem am Boden hockenden gefesselten Mädchen. Sanft, fast kitzelnd, strich er über die Narben, die sie anstelle von Ohrmuscheln hatte, und sagte: »Du wirst bald etwas Lustiges zu tun bekommen, Darry. Jetzt mach den Mund auf!« Es war ein herrliches Gefühl hemmungsloser, völlig sicherer Hingabe, dass Darioleta keine Zähne mehr hatte.
141.
Der Detektiv sagte sich immer wieder, dass er John Lafflin ja nicht getötet hatte. Er hatte seinen Auftraggeber und dessen Handlanger lediglich darauf hingewiesen, wo und wann sie den Mann finden konnten. Er würde auch Moses und den Engländer nicht selbst entführen, ja vielleicht würde er sie gar nicht selbst zu Gesicht bekommen, was er insgeheim schon bedauerte. Moses zumindest hätte er sehr gerne kennengelernt, so wie man einen würdigen, aber letztlich überwundenen Gegner eben gern kennenlernt. Es konnte jetzt nicht mehr schiefgehen, das Wild war ja ahnungslos. Einzig und allein die düsteren, fast krankhaften Gedanken an das, was Bonneterre mit dieser Frau tun würde, bedrückten Gabriel Beale ein wenig. Aber, sagte er sich, auch das würde er ja nicht selbst tun. Er wies nur den Weg, beschaffte Informationen, gab Befehle weiter.
Im dichten, bunten Getümmel des Hafenviertels angekommen, überlegte er, welche Männer er wo einsetzen konnte, um so viel Lärm wie eben möglich zu vermeiden. Es war später Nachmittag, und ein Dampfschiff aus New Orleans war eingetroffen. Breite auf Deck und von Deck drängende Menschenströme, die er aufgrund seiner geringen Körpergröße nicht zu überschauen vermochte, stauten sich und hielten ihn auf. Während er noch nach einem geeigneten Ausweg suchte, hörte er plötzlich, erst leise, entfernt, dann lauter werdend, eine einzelne weibliche Stimme über dem Hafenlärm. »Jack! Jack!«, rief die Frau.
Er dachte sich nichts dabei, denn Jack war nicht gerade ein ungebräuchlicher Name. Aber als ihn das Rufen hartnäckig verfolgte und er selbst bereits dachte: Wo zum Teufel ist denn dieser idiotische Jack?, drehte er sich irgendwann zu dem Dampfschiff um und sah, dass Molly, das Dienstmädchen Madame Clairbornes, dem er in New Orleans so gefährlich nahe gekommen war, ihm von Deck aus aufgeregt zuwinkte. Augenblicklich machte er sich noch kleiner, als er war, versank sozusagen im Erdboden und tauchte in der wogenden Menge unter. Jetzt konnte es doch noch schiefgehen!
Als sie den Brief aus St. Louis las, hatte Eileen Clairborne zum ersten Mal seit vielleicht einem Vierteljahrhundert wieder geweint. Nur kurz tröstete sie der romantische Gedanke, dass Jean gestorben war, wie er gelebt hatte. Dann verdrängten ihr nüchterner Verstand und die Frage nach seinem Mörder diese Mädchenallüren.
Er hatte ihr von seinen Verfolgern erzählt, damals, vor zwei Jahren, aber der einzige Verfolger, der bei ihr aufgetaucht war, war ein dicklicher kleiner Mann gewesen, der sich als Harvardprofessor ausgegeben hatte. Eileen Clairborne versuchte, sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen und sich vorzustellen, dass er ein Mörder war – aber ihr gelang beides nicht. Der Mann hatte geradezu erschreckend harmlos gewirkt.
Dass sie nach St. Louis aufbrach, lag weniger an solchen Überlegungen als vielmehr an ihrem echten Bedürfnis, an Jeans Grab zu stehen und seiner Witwe zu kondolieren. Diese Frau war hochherzig genug gewesen, einer verflossenen Liebe ihres Mannes die Nachricht von seinem Tod in freundlichen Worten mitzuteilen, und sie freute sich darauf, Emma Lafflin kennenzulernen. Der Gedanke, dass Jeans Witwe das Leben gelebt hatte, das sie, Eileen Clairborne, hätte leben können, verdrängte das verschwommene Bild von Jacob Files, Andrew Jackson und seine Zeit – bis ihr Mädchen Molly, sonderbar aufgeregt, Stein und Bein schwor, den seltsamen kleinen Mann im Hafen von St. Louis gesehen zu haben. Das konnte kein Zufall sein. Ihr ursprünglicher Verdacht tauchte wieder auf, verfestigte sich, und auf ihrem Weg in die Collins Avenue dachte sie jetzt nur noch daran, Mrs. Lafflin vor diesem unheimlichen Menschen zu warnen.
Es blieb nicht viel Zeit für Höflichkeiten. Jean hatte Eileen von Moses und ihren gemeinsamen Befreiungsaktionen erzählt, und als sie nun einer hochgewachsenen jungen Farbigen vorgestellt wurde, sagte die Witwe des ehemaligen Gouverneurs von Louisiana: »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, und bin stolz darauf, Ihnen die Hand zu schütteln.«
Deborah war es unangenehm, derart im Mittelpunkt zu stehen, aber nachdem die Beteiligten alle Informationen diskutiert hatten, schien klar, dass dies ihr Platz war. Es ging um sie. Wer ihr unbekannter Verfolger war, wusste sie nicht, aber er war dort draußen und sie genau dort, wo er sie haben wollte.
Dass Jacob Files, den Madam Clairborne und Molly – bis über die Ohren errötend – beschrieben, und der nächtliche Einbrecher namens Doughty, den Emma Lafflin und Lucius gesehen hatten, derselbe Mann waren, stand schnell fest. Als sich aufgrund dieser Beschreibungen auch Jason sehr verlegen zu Wort meldete und erzählte, dass ihn vor einigen Monaten ein kleiner Zeitungsreporter aus dem Osten, allem Anschein nach ein überzeugter Abolitionist, über eheliche Beziehungen zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen befragt hatte, war auch diese Beziehung hergestellt. In die schmerzliche Pause hinein, in der allen klar wurde, warum John Lafflin gestorben war, stellte Gringoire die nüchterne Frage: »Haben Sie Waffen im Haus, Madame?«
Zwar waren sie sich darüber einig, dass ein offener Angriff mitten in einem der besten Wohnviertel von St. Louis nicht zu befürchten war, aber es konnte nicht schaden, den unbekannten Gegnern zu zeigen, dass man ihr Spiel durchschaut hatte. Also saß eine Viertelstunde später Gringoire auf den Stufen des Hauses, seine Pfeife im Mund und eine doppelläufige Schrotflinte auf den Knien, während Lucius, gleichfalls bewaffnet, den Hintereingang bewachte. Nach drei Stunden wurden sie von Jason und Mr. Phineas abgelöst.
Deborah hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen, wo sie sich sicher fühlte, bis ihr einfiel, dass ihr Feind schon einmal in genau diesem Raum gestanden hatte. Sie ging hinunter in den Salon, wo John, den geladenen Revolver vor sich auf dem Tisch, gemeinsam mit Emma Lafflin und Madame Clairborne überlegte, wie er und vor allem seine Frau sicher aus der Stadt kommen könnten.
»Bewaffnete Wächter vor und hinter dem Haus«, lautete die Botschaft, die Gabriel Beale und seinem Auftraggeber deutlich machte, dass ihr Plan gescheitert oder zumindest entdeckt war. Eine nächtliche Entführung lag jetzt außerhalb der Möglichkeiten ihrer kleinen Mörderbande, und was, fragten sie sich, lag noch innerhalb? Sollten sie Moses und den Engländer erschießen, sobald sie – und irgendwann musste dies ja geschehen – aus dem Haus kamen? Aber wer sollte das tun, mitten in St. Louis, vor Dutzenden von Zeugen? Sollten sie ihnen auflauern, auf ihrem Heimweg, sie an irgendeinem einsamen Ort überfallen?
Dazu hätte man wissen müssen, wohin die beiden gehen würden, und schon zwei geschlossene Kutschen, die die Collins Avenue in verschiedene Richtungen verließen, würden ihre Truppe hoffnungslos überfordern. Nein, fest stand nur, dass ihre Opfer den Sklavenstaat Missouri nicht wieder verlassen durften.
Sie erwogen ernsthaft die Möglichkeiten einer Brandstiftung, das Lafflin-Haus auszuräuchern, die Bewohner so auf die Straße zu treiben und Moses im allgemeinen Chaos mit einem gezielten Schuss zu erledigen. Aber das würde die lang gehegte Rachsucht Desmond Bonneterres nicht befriedigen, und obwohl dieser Plan Gabriel Beale noch auf eine andere, schlimmere Idee brachte, war es der junge Kreole, der schließlich die Lösung fand.
»Wir müssen die Polizei auf unsere Seite bringen«, sagte er.
Der Detektiv dachte an das viele, das geschehen war, und das wenige, das sich beweisen ließ, und knurrte: »Bis Sie diesen Sachverhalt auch nur einem einzigen Polizisten erklärt haben, sind die beiden in Kanada und haben sieben Kinder!«
»Ja«, sagte Bonneterre, in der Sonne seiner plötzlichen Eingebung lächelnd. »Aber Sie vergessen dabei eins, Mr. Beale: Das geht ihnen genauso.« Er hatte damit treffend umrissen, wie weit sowohl die Jäger als auch die Gejagten sich längst außerhalb jeder gesetzlichen Ordnung bewegten. »Wir werden niemandem irgendetwas erklären müssen.«
»Wer soll uns dann helfen?«, fragte der ratlose kleine Yankee.
»Der Kongress und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika, Mr. Beale«, antwortete der Südstaatler. »Warum bin ich eigentlich nicht eher darauf gekommen?!« Und während er den Detektiv offen angrinste, sagte er höhnisch: »Brandstiftung!! Warum nicht gleich eine Bombe?«
142.
Obwohl in diesem letzten der Maorikriege auch aufseiten der Weißen nie mehr als anderthalb-oder zweitausend Soldaten kämpften, waren die Mechanismen, die ihn antrieben, die gleichen wie in den unzähligen ungleich größeren Kriegen, die über Europa, Amerika, über die Welt hinweggegangen waren.
Eine Gruppe kämpfender, tötender Männer, gleich ob man sie nun eine Taua oder eine Armee nennt, ist immer und überall ein seltsamer Organismus. Außerhalb der Zivilisation, der Kultur stehend, für die zu kämpfen sie vorgibt, sich über die herkömmlichen Gesetze der menschlichen Gesellschaft gezielt hinwegsetzend, ist sie doch auch nicht die Wildnis, in der sie umgeht. Sie kämpft, sie tötet nicht, wie Tiere kämpfen und töten, ist aber auch mehr als bloß politisches Instrument.
Wie ängstlich die Menschen, die sie ausschicken, sich von diesen kämpfenden Gruppen abzugrenzen bemüht sind, zeigen in Stammesverbänden die Tabus, die Reinigungsrituale, denen die Krieger sich unterwerfen müssen, ehe sie in die Gemeinschaft zurückkehren dürfen; zeigen die Bannmeilen, die Rom und Athen zwischen sich und ihre eigenen Soldaten legten, zeigt noch heute jedes Zivilgesetz, jeder Untersuchungsausschuss, mit dem Politiker sich mühsam die Illusion verschaffen, »ihre« Armee jederzeit unter Kontrolle zu halten – wie ein Kind, das sich im Innern eines Wagens an irgendein Polster klammert, einen Faden, einen Strohhalm, und sich mit aller Kraft einredet, den Wagen auf diese Weise lenken zu können.
Nach außen so furchterregend homogen, sich an Uniformen, Fahnen, Befehlen und sogenannten »Kriegskünsten« orientierend – einem erlernbaren Handwerk, das sich vor allem den geografischen Räumen anpasst, in denen eine Armee sich bewegt –, ist sie in ihrem Innern doch merkwürdig hohl, heterogen und kann vor allem in moralischer Hinsicht leicht implodieren, wenn die Druckverhältnisse, denen sie ausgesetzt ist, sich verändern; sei es durch einen Sieg, eine Niederlage oder einfach durch das lange, zermürbende Warten auf das eine oder das andere.
Thomas McDonnell wusste, dass er sich nicht mehr lange auf dem Rücken dieses Untiers halten konnte, dass er ihm noch einmal die Sporen geben und seiner unheimlichen, alles zersetzenden Kraft ein Ziel weisen musste, um nicht selbst unter die vielen genagelten Stiefel zu geraten, die auf seinen Befehl so lange und weit marschiert waren. Am 2. September trafen endlich die Kupapa-Milizen ein, auf die er schon lange gewartet hatte; hundertdreißig kampferprobte Veteranen aus dem Krieg von 1865/66, die er sofort gegen ein gleich starkes Kontingent unerfahrener Weißer, vorwiegend von den Wellington Volunteers, austauschte.
Offizieller Anführer dieser neuen, irregulären Truppe war sein Bruder William, aber in Wirklichkeit folgten die Männer ihren Häuptlingen: Kepa und Kawana Hunia. Ein Problem war das insofern, als die Kupapa so etwas wie einen von der Regierung beauftragten und durch die Gesetze legitimierten Oberbefehlshaber nicht anerkannten. Führerschaft definierte sich in ihren Augen durch Fähigkeiten und Erfolge, die zum Tapu eines Mannes gehörten – und »Fighting Mac« hatte bereits zweimal versagt, war also kein Mann von unerprobter Fähigkeit, sondern von erprobter Unfähigkeit. In der Versammlung der Regimentskommandeure schlug ihm jedenfalls von nun an stärkerer Widerstand entgegen, als er gewohnt war, und es gab für ihn nur einen Weg, die Dinge wieder unter Kontrolle zu bringen: Er musste noch einmal hinaus in den Wald von Ahipaia.
Gemeinsam mit von Tempsky, der das geahnt hatte, entwarf McDonnell einen Angriffsplan, der wiederum eine Attacke auf das Eulennest vorsah, um Titokowarus logistische Basis zu zerschlagen und ihn dadurch entweder zu einer offenen Schlacht zu zwingen oder aber, versorgt durch die erbeuteten Lebensmittel der Rebellen, Te Ngutu auszuhungern. Es war ein guter Plan, der mithilfe der auf den vorangegangenen Expeditionen gewonnenen Erfahrungen und der Unterstützung der Kupapa gelingen konnte – wenn er geheim blieb.
Aber auch Titokowaru war ein Meister in seinem Fach. In den weniger als zwei Wochen, die seit McDonnells letztem Angriff vergangen waren, hatte er Te Ngutu o te Manu nicht nur wieder aufgebaut, sondern unter Aufbietung aller Kräfte, sogar der Mithilfe von Frauen und Kindern, mit eindrucksvollen Befestigungen versehen: einer Palisade, Laufgräben, Wällen und Schützenlöchern. Das Entscheidende war jedoch, dass die ganze Anlage nur Mimikry war. Wie bei dem vorgeschobenen Hinterhalt bei Te Maru spekulierte er darauf, dass die Pakeha ihre Kräfte auf das konzentrieren würden, was sie sahen und kannten, also auf die Palisade und das Dorf.
Er hatte jedoch auch den Wald selbst befestigt, einige Taumaihis, getarnte Schützenplattformen, in den Bäumen errichten und vor allem ein System gedeckter und gut getarnter, also quasi unterirdischer Gänge graben lassen, in denen seine Krieger sich rings um die große Lichtung vor dem Dorf bewegen konnten, ohne für den Feind sichtbar zu werden. Er musste jetzt nur noch Tag und Stunde des Angriffs kennen, und die einmal mehr tödliche Falle würde zuschnappen.
143.
Dred Scott war ein etwa sechzig Jahre alter Sklave aus Missouri, der aber mit seinem Besitzer, dem Armeearzt John Emerson, einige Jahre lang im freien Nachbarstaat Illinois gelebt hatte. Als Emerson starb, kam Scott als Teil der Erbmasse zurück nach Missouri und begann hier einen Prozess gegen die Erben, in dem er darauf plädierte, durch den Aufenthalt in Illinois ein freier Mann geworden zu sein, der gar nicht vererbt werden konnte. In dem nun beginnenden elfjährigen Prozessmarathon vor verschiedenen Staats-und Bundesgerichten ging es aber nicht nur um die Freiheit oder Unfreiheit von Dred Scott, sondern um exakt die Verfassungsfragen, die sich an der Sollbruchstelle der Vereinigten Staaten von Amerika seit Jahrzehnten aufgetürmt hatten.
Konnte ein Schwarzer in einem Bundesstaat Bürger und in einem anderen Eigentum sein? Wann wurde er das eine oder das andere? Konnte ein Sklavenstaat einen freien Schwarzen zum Sklaven machen, wenn er nur durchreiste? Und konnte umgekehrt ein freier Staat einem weißen Mann sein Sklaveneigentum wegnehmen, wenn er nur durchreiste? Hatten Regierung, Kongress und Senat überhaupt das Recht, Bundesgesetze zu erlassen, die den Sklavereibestimmungen der Einzelstaaten widersprachen?
Am 6. März 1857 kam der Supreme Court der USA in Sachen Dred Scott und der ihn betreffenden Verfassungsfragen zum vielleicht beschämendsten Rechtsspruch in der Geschichte der Freien und Tapferen. Denn eine Sklavenhaltermehrheit in diesem Gremium hatte entschieden, dass ein Sklave immer ein Sklave bleibt, egal wie lange er in einem freien Staat lebt und wie er dort hingekommen ist. Damit war die Flucht eines Sklaven innerhalb der Vereinigten Staaten aussichtslos geworden. Sein Besitzer konnte ihn überallhin verfolgen und durfte ihn von überall her zurück in die Sklaverei führen, ohne dass irgendeine juristische Gegenwehr möglich war. Die einzige Gelegenheit für einen Sklaven, auf legalem Weg frei zu werden, war die freiwillige Aufgabe des Besitzanspruchs seines Herrn, sei es aufgrund eines Freikaufs oder aus purer Generosität. War ein Sklavenhalter dazu nicht bereit, gab es keine Macht auf Erden, oder jedenfalls keine in den Vereinigten Staaten, die ihm seine Sklaven wegnehmen konnte.
Natürlich war dieses Urteil in den freien Staaten nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben stand, das heißt, die Gerichte etwa von Illinois dachten gar nicht daran, entsprechende Ansprüche gelten zu lassen. Aber in Missouri und den anderen Sklavenhalterstaaten konnte nun theoretisch jeder Weiße auf jeden Schwarzen zeigen und behaupten, er gehöre ihm. Tauchten keine anderslautenden Dokumente auf, konnte der Schwarze nicht nachweisen, dass er entweder freigelassen worden war oder von freigelassenen Eltern abstammte, konnte der Weiße hingegen mindestens einen Zeugen beibringen, der seine Besitzansprüche bestätigte, durfte er den Schwarzen »einpacken und mitnehmen«. Es war dieses vom Kongress bestätigte Urteil des Obersten Gerichtshofes, mit dessen Hilfe Desmond Bonneterre hoffte, seine Hand doch noch sozusagen legal und mit Unterstützung der staatlichen Behörden auf die ihm nach wie vor nur unter dem Namen Moses bekannte Frau zu legen.
Dem Anführer der vier Mann starken Abteilung der St. Louis City Police war vor allem die Begleitung durch die beiden Antragsteller, zwei Männer, die in ihren Anzügen wie verkleidet aussahen, sichtlich unangenehm. Er befahl deshalb den seltsamen Gestalten und seinen eigenen Leuten, auf der gegenüberliegenden Seite der Collins Avenue zu warten, und kam allein auf den bewaffneten Riesen vor dem Haus Nr. 24 zu.
»Guten Abend«, sagte er.
»Guten Abend«, erwiderte Mr. Phineas, lud aber gleichzeitig seine Waffe durch, um dem Polizisten zu zeigen, dass der weitere Verlauf des Abends noch entwicklungsfähig war.
»Na, na«, sagte fast väterlich der bieder und ehrlich wirkende Sheriff. »Wir kennen uns doch. Sie arbeiten beim alten Lafflin in der Fabrik und heißen Phineas, nicht wahr? Sie sind ja auch kaum zu übersehen, lieber Mann.« Der Sheriff lachte ein wenig über seinen eigenen kleinen Scherz, aber Mr. Phineas verzog keine Miene. Der Ankömmling wurde daraufhin amtlich.
»Ich bin Sheriff Samuel Madsen und …«
»… und das ist eine doppelläufige Schrotflinte, Sir. Mit Sauposten geladen!«, ergänzte der Riese trocken. Der Polizist kratzte sich betreten am Kinn.
»Ich würde gerne mit Mrs. Emma Lafflin sprechen, wenn das möglich ist, ohne erschossen zu werden.«
»Das ist es«, sagte Mrs. Lafflin, die jetzt die Tür geöffnet hatte. »Hallo, Sam!«
»Guten Abend, Emma«, erwiderte der Sheriff erleichtert. »Darf ich hereinkommen?«
»Das hängt davon ab, was du willst, Sam.«
»Was ich will, Emma, möchte ich jedenfalls nur ungern über die ganze Straße brüllen. Vielleicht lässt du mich einfach rein. Was kann das schaden?«
Darauf wusste Emma Lafflin keine Antwort zu geben, denn sie konnte ja schlecht sagen, dass ihr Haus von Unbekannten belagert wurde, und wenn, hätte sie erklären müssen, warum sie nicht längst selbst die Polizei gerufen hatte. So konnte also die Anwesenheit Deborahs in der Collins Avenue 24 nicht mehr schlicht und einfach geleugnet werden, denn Sheriff Madsen sah sie sofort inmitten der kleinen Menschenmenge in der Halle.
»Guten Abend, meine Damen«, sagte er. »Gentlemen!«
»Hast du Angst vor Zug, Sam?« Mrs. Lafflin hatte die Tür wieder geschlossen und bemerkt, dass der Besucher den Hut auf dem Kopf behielt.
»Entschuldige, Emma«, sagte Madsen, nahm den Hut ab und deutete damit auf Deborah. »Es geht um diese junge Dame, denke ich. Draußen warten zwei Männer, die einen Anspruch auf sie angemeldet haben.«
»Wie bitte?!«, fragte John Gowers und trat zwischen seine Frau und die Staatsgewalt.
»Einen Besitzanspruch, Sir, so ist es leider. Die beiden beziehungsweise der eine behauptet, er habe seine flüchtige Sklavin Amy in dieses Haus gehen sehen. Der andere ist sein Zeuge.«
»Das ist vollkommen lächerlich, Sam«, sagte Mrs. Lafflin. »Die Frau heißt Deborah Williams und ist mein Gast.«
»Nun«, Madsen kratzte sich wieder den Bart und wandte sich dann direkt an Deborah. »Können Sie das irgendwie beweisen, Miss?«
»Mrs.«, sagte John wütend. »Sie ist meine Frau!«
»O Mann«, entfuhr es dem bisher so besonnenen Sheriff. Dieser Fall wurde ihm immer unangenehmer. »Tut mir leid, aber die Gesetze von Missouri schreiben vor, dass wir derartigen, äh … Ansprüchen nachgehen müssen. Können Sie … haben Sie …?«
Deborah hatte selbstverständlich eine notariell beglaubigte Urkunde über ihre Freilassung, die ebenso selbstverständlich gefälscht war, und reichte sie dem Polizisten wortlos.
»Nun, das …«, begann Madsen, nachdem er das Dokument flüchtig gelesen hatte, »das Problem ist, dass diese beiden Kerle beziehungsweise dass der eine sagt, seine Sklavin sei mit gefälschten Papieren unterwegs. Wir werden die Sache also überprüfen müssen.«
»Wie willst du das machen, Sam?«, fragte Mrs. Lafflin.
»Nun, wir werden ganz einfach nach, äh …«Er schaute noch einmal auf das Papier in seiner Hand. »Nach Vicksburg schreiben und Mr., äh …« Ein weiterer Blick auf das Dokument enthüllte ihm nur die Unleserlichkeit des Namens. »Und Mr. Wie-auch-immer um eine Bestätigung dieser Angaben bitten. So lange …«, er wandte sich wieder an Deborah, »… muss ich Sie leider bitten, mich zu begleiten, Miss, ich meine Mrs.«
»Nein«, sagte leise und gefährlich Gringoire und trat vor.
»Tut mir leid, Sir, aber das ist das Gesetz.«
Der zornige alte Mann richtete bei diesen Worten seine Waffe direkt auf den Kopf des Gesetzeshüters, und der fuhr mit einem säuerlichen Grinsen fort: »Ich weiß, ich weiß, und das ist eine doppelläufige Schrotflinte, mit – sagen Sie nichts! – mit Sauposten geladen, nehme ich an?!« Der Sheriff seufzte und setzte seinen Hut wieder auf.
»Das ist leider alles sehr verdächtig, Emma«, sagte er, als er mitsamt Deborahs Papieren hinausging. »Ich werde deshalb meine Jungs heute Nacht vor dem Haus Posten beziehen lassen und Ihnen allen Zeit geben, sich das Ganze in Ruhe zu überlegen. Und wer von Ihnen bewaffnet die Straße betritt«, fügte er mit Blick auf Gringoire und Gowers freundlich, aber bestimmt hinzu, »dem lasse ich die Eingeweide aus dem Leib schießen! Guten Abend.«
»Wo ist die Deep South?«, fragte Deborah in das ratlose Schweigen, das in der Halle zurückblieb wie ein schlechter Geruch. Sie wusste natürlich, dass sie ohne ihre Papiere weder einen Zug noch ein Schiff, ja nicht einmal eine Postkutsche besteigen konnte.
144.
In der ersten Stunde des 7. September 1868 ging Manu-Rau persönlich von Zelt zu Zelt, um dreihundertneunundsechzig Männer einzeln zu wecken, und noch vor drei Uhr nachts rückten sie lautlos, ohne Licht und mit geschwärzten Gesichtern aus Camp Waihi aus, überquerten zum dritten Mal den bis zur Brust reichenden, eiskalten Waingongoro und befanden sich bei Tagesanbruch bereits tief im Wald Ahipaia, nördlich des Pungarehu-Pfads. In der gleichen grauen Stunde versammelte jedoch auch Titokowaru seine Krieger, befahl ihnen, ihre Waffen zu holen und den Haka zu tanzen, »denn dieser Tag wird ein böser Tag, und die Gefahr kriecht heran wie ein Nebel«.
Seine sechzig Krieger glaubten, ihre toten Ahnen, mit denen der Häuptling nun fast ständig in Kontakt stand, hätten Titokowaru den Tag des Angriffs verraten, aber noch zwei andere Umstände dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Wochen später entdeckte Takiora auf einem Höhenzug jenseits des Waingongoro einen riesigen Rata-Baum, aus dessen Wipfel geübte Augen alle Vorgänge in Camp Waihi beobachten konnten und dessen Äste verrieten, dass er schon häufig bestiegen worden war. Außerdem vollzog sich der Auszug der Patea Field Force nicht ganz so lautlos, wie ihre Kommandeure es vorgesehen hatten.
Ein Leutnant namens Albert Fookes stellte mitten im Abmarsch fest, dass er seinen Revolver vergessen hatte, und rannte in sein Zelt, um ihn zu holen. Da völlige Dunkelheit befohlen war, tastete er eine Weile ratlos hin und her und schaffte es dabei irgendwie, an den Abzugshahn zu kommen und sich ins Bein zu schießen. Diese bemerkenswerte Ungeschicklichkeit sollte ihm das Leben retten.
Die Gefahr kroch wahrhaftig heran. Die Patea Field Force hatte den Pfad verlassen, hatte auch keine Zeit damit vergeudet, einen neuen zu suchen, und bewegte sich nicht mehr wie eine Kampfeinheit auf geordnetem Vormarsch, sondern wie eine Armee von Ameisen durch das weglose Dickicht. Von Tempsky, der mit seinen Forest Ranger und Kawana Hunias Kupapa die Vorhut bildete, gab lediglich die Richtung vor, in die sich durch Schlingpflanzen und Unterholz ansonsten jeder Mann einzeln kämpfen musste. Sie verständigten sich mit Handzeichen und hatten nur den Befehl erhalten, ihre Neben-und Vorderleute nicht aus den Augen zu verlieren.
So gab es zwar hin und wieder Stauungen, wenn sie auf wahrhaftig undurchdringliche Hindernisse stießen, aber es fand auch immer irgendwer irgendwo einen Durchschlupf in dem schweren Gelände, wenn sie dazu auch bisweilen hintereinander und dicht an den Boden gepresst auf Händen und Knien kriechen mussten. Dieses zermürbende Vorgehen erwies sich insofern als richtig, als Titokowarus Späher, durch den Schuss aufgeschreckt, den Aufbruch der Patea Field Force zwar gesehen, die Truppe aber tatsächlich bald aus den Augen verloren hatten. Man wusste, dass die Pakeha im Wald waren, aber man wusste nicht, wo sie waren.
Im Eulennest erwachten etwa zu diesem Zeitpunkt die Kinder, und die alten Frauen hatten alle Hände voll zu tun, ihnen den Befehl, den Titokowaru persönlich im Morgengrauen überbracht hatte, nämlich an diesem Tag unter keinen Umständen in den Wald zu gehen, verständlich zu machen. Es war den Kindern peinlich, ihre Notdurft in Sichtweite der Hütten und der anderen zu verrichten und sie auch noch unter den Augen der Frauen vergraben zu müssen wie Katzen.
Insbesondere der zehnjährige Omahura konnte es nicht erwarten, dass die Sonne höher stieg, denn er wollte an diesem Morgen, koste es, was es wolle, seinen Freund Hami, den behinderten neunjährigen Sohn des großen Wiremu Katene, besuchen. Man hatte den sehr liebenswerten, aber auch etwas lauten Epileptiker zusammen mit einem fieberkranken Mädchen in einer alten Hütte auf einer Lichtung auf halbem Weg nach Te Ngutu untergebracht, damit er mit seinen wirren Reden und Anfällen nicht die Nachtruhe der anderen störte. Betreut wurden die kranken Kinder dort lediglich von dem uralten Häuptling Paramena, der amüsiert gesagt hatte, dass er ohnehin nicht mehr viel Schlaf brauche.
Das Warten war entsetzlich. Tutange Waionui war noch in der Nacht mit einigen nur wenig älteren Kameraden zu »heiligen Kindern« gemacht worden, um die kommende Schlacht zu überleben. Tangamoko, die Zauberin des Stammes, hatte jedem von ihnen ein von ihr selbst angefertigtes Korowai um die Hüften gelegt, ein Kriegskleid, in das sie Zaubersprüche gewebt hatte, um seine Träger unverwundbar zu machen. So geschützt sollten die sechzehn-, siebzehnjährigen Jungen Kriegern wie Kawana Hunia, »Fighting Mac« oder dem gefürchteten Manu-Rau standhalten.
Jetzt saß Tutange seit vielen kalten Stunden in einem Schützenloch der ersten Linie und lauschte auf jedes Knacken und Rascheln im Wald von Ahipaia, bis ihm die Ohren vor Anspannung wehtaten. Das Loch war so klein, dass er darin knien musste, und immer wieder schliefen deshalb seine Beine ein. Er wollte sich gerade zum hundertsten Mal eine erträglichere Position suchen, als irgendwo weit nördlich, in seinem Rücken, ein einzelner Schuss ertönte, dem jedoch eine ganze Salve folgte, die alle Vögel auffliegen ließ und ihm schneidend ins Rückenmark fuhr. Was war das? Hatten die Pakeha ihn umgangen? Griffen sie Te Ngutu an?
Es mochte etwa zehn Uhr sein, als Omahura die Unaufmerksamkeit einer Wärterin nutzte, seine Chance ergriff und in den Wald lief. Er lief, so schnell er konnte, um nicht nur der Frau, sondern auch ihren mahnenden Rufen und damit seinem schlechten Gewissen so schnell wie möglich zu entkommen. Sein Herz klopfte noch wild in seinem Hals, als er bemerkte, dass er an der kleinen Lichtung der Kranken vorbeigelaufen sein musste. Langsam sah er sich um. Sie konnte nicht weit entfernt sein. Und plötzlich erstarrte er vor Entsetzen: Der Wald um ihn war lebendig!
Fremde weiße Männer krochen über Baumwurzeln, durch Farn und die feuchte Erde selbst, starrend vor Dreck, bis an die Zähne bewaffnet und mehr, als er zählen konnte. Omahura schrie vor Schreck und wollte zurückrennen, aber ein schneller, schlanker Pakeha griff nach seinen Beinen, brachte ihn zu Fall und hielt ihn umklammert.
»Drehen Sie ihm seinen verdammten Hals um, Sir!«, sagte ein anderer, aber es war zu spät. Paramena, in der nur einen Steinwurf entfernten Hütte der Kranken, hatte den Schrei gehört. Eine Weile blieb alles still. Dann erhoben sich auf einen Wink ihres Anführers, der ihn noch immer im Arm hielt, die Pakeha zu Dutzenden, und Omahura glaubte für einen Moment, dass das bemooste Dickicht, das Unterholz, der Wald selbst aufstand.
Der alte Häuptling wusste, dass er überhaupt keine Chance hatte; aber er wusste auch, dass er Te Ngutu und die jungen Krieger warnen musste vor der Gefahr, die aus dieser unerwarteten Richtung kam. Also hob Paramena seine altersschwache Tupara und griff die Pakeha an, feuerte, einer gegen hundert, ehe eine rasche Salve ihn buchstäblich in Fetzen riss.
145.
Ein Überraschungsangriff war nun nicht mehr möglich, und zu ihrem Verhängnis wussten die Pakeha noch immer nicht, wo genau Ruaruru, das Eulennest, sich befand und sie sowohl Proviant für eine Belagerung Te Ngutus als auch zahlreiche Geiseln gefunden hätten. Von Tempsky schickte deshalb einen Melder an McDonnell mit der Bitte, der Forderung, so schnell wie möglich die offene Attacke zu befehlen. Was besonders an ihren Nerven zehrte, war, dass der kleine, offenbar behinderte Junge, den sie in der Hütte gefunden hatten, nicht aufhörte zu schreien – und Omahura musste mit ansehen, wie ein besonders ungehaltener Kupapa-Krieger seinem Freund Hami mit einer Streitaxt den Schädel zerschlug, ehe Manu-Rau ihn daran hindern konnte. Von allen Seiten krochen, liefen die Feinde an ihn heran – und an ihm vorbei, wie der Häuptling vorausgesehen hatte. Ein Dutzend Mal hatte Tutange Waionui das Gefühl, dass sie ihn jetzt, jetzt entdecken und töten würden, und das Geräusch vorüberstampfender Stiefel schien kein Ende mehr zu nehmen. Dann wurde es stiller, und er wusste, dass die Pakeha nun zwischen der Palisade und der geheimen, unsichtbaren Schützenlinie im Wald in der Falle saßen.
Er spähte vorsichtig aus seiner Deckung und wartete nur noch auf den Feuerbefehl. Er sah bereits den Rücken des Mannes, auf den er schießen würde, und fragte sich, wer der Mann war und was er in diesem Moment dachte. Aber erst als die meisten der Pakeha schon am Rande der Lichtung und in Sichtweite der Palisade waren, erklang, den Urwald auf eine Meile durchdringend, Titokowarus heisere Stimme im Innern der Festung: »Ka whawhai! – Kämpft!« Und die Hölle tat sich auf.
Die weißen Männer fielen wie Kegel, ohne dass sie sahen, aus welcher Richtung das vernichtende Feuer gekommen war. Sie versuchten, sich zu wehren, und schossen Salve um Salve auf die Palisade. Hin und wieder entdeckten sie auch eine der kleinen Taumaihis in den Bäumen hinter sich und feuerten darauf, bis es Splitter und Blut regnete. Aber weil die Maori sich in den unterirdischen Laufgräben immer neu im Gelände verteilen konnten, fanden die Kugeln der Patea Field Force nur selten ein Ziel.
Glücklich waren die dran, die zuerst fielen und nur verwundet waren, denn sie wurden rasch von ihren Kameraden aus der Feuerlinie getragen. »Fighting Mac«, der ja damit gerechnet hatte, dass sie die Angreifer und nicht die Angegriffenen sein würden, hatte jedoch nur vierzehn Tragbahren mitnehmen lassen. Die übrigen Verwundeten mussten auf je drei Gewehrläufen abtransportiert werden, was bedeutete, dass mit jedem Verletzten noch sechs Träger die unübersichtliche Front verließen.
Auf dem Bauch durchs Unterholz kriechend trafen sich die Kommandeure der einzelnen Abteilungen und hielten Kriegsrat. Dass sie in einen Hinterhalt geraten waren, war offensichtlich, aber wo war der Feind? Von Tempsky, der beobachtet hatte, dass aus dem Dorf selbst kaum gefeuert wurde, schlug noch einmal den sofortigen Sturmangriff vor; dabei würden zwar viele Männer fallen, aber der Rest wäre hinter der Palisade zumindest vor den unsichtbaren Schützen im Wald geborgen.
McDonnell sagte nicht Ja und nicht Nein, gestattete ihm aber immerhin, seine Ranger den seichten Mangotahi River, eigentlich nur einen etwas breiteren Bach, hinauf-und noch näher an Te Ngutu heranzuführen. Die andere, die linke Flanke sollte unter Kawana Hunia dichter an den im Südosten verlaufenden Pungarehu-Pfad geschoben werden, um im Bedarfsfall zumindest ihren Rückzug zu sichern. Harry Hunter, Bruder des verschlafenen Kavallerieoffiziers von Turuturu Mokai, und »Fighting Mac« selbst übernahmen das Zentrum, suchten noch immer mit ziellosen Salven nach den verborgenen Schützen und wurden allmählich aufgerieben.
Von Tempsky, inzwischen weniger als hundert Meter von der Palisade entfernt, fluchte und tobte, weil das Angriffssignal noch immer nicht kam. Seine Männer, obwohl dem feindlichen Dorf am nächsten, hatten doch am wenigsten durch die Heckenschützen zu leiden, da Titokowaru auf dieser abgelegensten Seite seiner Festung keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen hatte. Als er durch eine Schießscharte der Verschanzung spähte, erkannte der Häuptling jetzt gefährlich spät seinen Fehler und brüllte über das Schlachtfeld: »Whakawhiria! – Umzingelt sie, schließt sie ein!« Und Tutange und ein Dutzend anderer Krieger verließen ihre Positionen, um diesem Befehl Folge zu leisten. Dicht an den Boden gepresst krochen sie die Westseite des Bachlaufs hinauf.
Jetzt! Jetzt wäre es noch zu machen, jetzt konnte man die Palisade noch stürmen, das Dorf überrennen und insbesondere die alles übertönende Stimme des feindlichen Generals zum Schweigen bringen. Wen oder was wollte er in des Teufels drei Namen denn noch umzingeln? Sie saßen doch schon in der Falle!
Manu-Rau schritt die Reihen seiner in Deckung liegenden Männer ab, befahl ihnen, auf ihren Posten zu bleiben – »Stand your ground, boys!« –, und trat insbesondere James Fagan, der alles Menschenmögliche tat, um im Erdboden zu versinken, jedes Mal in den Hintern, wenn er an ihm vorüberkam. Auf von Tempskys ausdrücklichen Befehl befand Bradley sich immer in unmittelbarer Nähe des Kommandanten, und das hieß in der Sprache der Forest Ranger: immer da, wo die Scheiße am dicksten war!
Von Tempsky selbst bewegte sich sorglos, fast ein wenig abgestumpft am Flussufer hinauf und hinunter, schlug mit dem blanken Säbel auf herunterhängende Zweige ein und fluchte leise vor sich hin: »Wie hängt mir das alles zum Halse heraus! Wenn ich diese Keilerei überstehe, gebe ich das ganze verdammte Geschäft auf!« Seine Männer lachten noch einmal über den kleinen Scherz.
Zweiundvierzig Jahre später erinnerte sich Tutange Waionui im Gespräch mit dem neuseeländischen Historiker James Cowan an diese Stunde: »Wir krochen am westlichen Ufer des Mangotahi hinauf, genau gegenüber von Manu-Raus Männern, aber wir sahen nicht viel von ihnen, und sie sahen gar nichts von uns. Wir hatten etwa eine Viertelstunde zuvor einen herumirrenden Soldaten getötet, den ersten der Pakeha, der wirklich in unsere Hände fiel, und zelebrierten das Whangai Hau; schnitten sein Herz heraus und verbrannten es. Der Rauch zog in Richtung der weißen Soldaten, und wir wussten, dass wir sie an diesem Tag schlagen würden.
Am Fuß eines Karaka-Baums fanden wir eine gut geschützte Position und legten an. Da erschien am gegenüberliegenden Ufer, keine zwanzig Meter von uns entfernt, ein Offizier mit einem gebogenen Schwert. Wir feuerten, und eine der Kugeln traf ihn mitten in die Stirn – ich glaube, es war meine.«
Es war kein Scherz. Von Tempsky hatte es satt. Er war einmal zu oft durch diesen verdammten Urwald gekrochen, hatte einmal zu häufig auf den Befehl gewartet, der dem ganzen Schlamassel ein Ende machen würde; sei es nun ein gutes oder schlechtes Ende. Er wollte nur noch nach Hause und es vergessen. Aber wo war sein Zuhause?
Er merkte, dass er nicht mehr bei der Sache war, und wusste, dass es im Krieg eine lebensgefährliche Sache ist, nicht ganz im Hier und Jetzt zu sein. Er schwitzte, sein Kopf war heiß. Er ging ein paar Schritte hinunter zu diesem jämmerlichen kleinen Bach, um sich etwas Wasser über den Schädel zu gießen, und stutzte nur, weil ihm dabei plötzlich die Verse einfielen, nach denen er sein Gedächtnis nun schon seit Wochen ergebnislos durchsucht hatte. Es war in Braunsberg, an der Mährischen Pforte, im Schatten des Glaserbergs, und die Stimme seiner Großmutter, die das Lied sang:
»Ich hab daraus getrunken, gar manchen frischen Trunk. Ich bin nicht alt geworden, ich bin nicht alt geworden! Ich bin noch allzeit jung.«
146.
»Wir haben sie gar nicht gesehen, Sir. Sie ist nicht rausgekommen und wir nicht rein. Aber sie ist jedenfalls drin, hat der Sheriff gesagt. Und raus kann sie nicht, weil er jetzt ihre Papiere hat.«
Die beiden schäbigen Kerle, die Bonneterre damit beauftragt hatte, die Rolle von Moses’ Besitzer und seinem Zeugen zu spielen, waren sehr zufrieden mit sich. Mit einem Minimum an Aufwand glaubten sie, das Maximum aus der Situation herausgeholt zu haben.
»Und wie heißt sie?«, fragte Bonneterre ungehalten, und seine Strohmänner sahen einander stirnrunzelnd an, ehe sie ratlos die Schultern hoben.
»Das hat er nicht gesagt, Sir.«
Der elegante Kreole lachte verächtlich. Da hatte er mit Vorbedacht die intelligentesten seiner Mörder für die nicht unkomplizierte Aufgabe ausgewählt, und das traurige Ergebnis sagte noch immer mehr über seine Truppe als über den Gegenstand ihrer Jagd aus. Er selbst hätte darauf bestanden, die Sklavin und ihre Papiere zumindest zu sehen; aber er wollte natürlich nicht persönlich in irgendeine öffentliche Erscheinung treten. Auch Gabriel Beale hatte es abgelehnt, die Rolle des Sklavenhalters zu spielen, da er, wie er sagte, in St. Louis polizeibekannt sei. Also hatten es die beiden Trottel machen müssen – mit der kläglichen Folge, dass Moses nicht einmal verhaftet wurde, sondern bis zur Klärung des Sachverhalts in der Collins Avenue 24 bleiben durfte!
Bonneterres Neugier auf diese Frau war krankhaft. Er sah sie vor sich, in seinen Gedanken, aber sie hatte kein Gesicht. Er stellte ihr Fragen, in seinem Kopf, aber er kannte ihren Namen nicht. Beides behinderte das Spiel seiner Fantasie so sehr, dass er kaum noch Schlaf fand, so dicht vor dem Ziel. Er glaubte, sein Opfer schon riechen zu können, aber wenn er die Augen aufschlug, war es nur Darioleta, die in der Zimmerecke sogar den Teppich feucht schwitzte, auf dem sie lag. Noch vor Mitternacht hielt er es nicht mehr aus und stand wieder auf; hätte er eine Erektion gehabt, wäre er einfach einmal mehr über das unglückliche Mädchen hergefallen, aber die Aufregung über das nahe Ende seiner langen Jagd machte sein Glied schlaff und seine Hoden leicht.
Bonneterre zog sich an und ging in die Halle des Gates hinunter, wo Gabriel Beale in einem der bequemen Polstersessel saß. Auch der Detektiv konnte nicht schlafen, aber es war nicht Neugier, sondern Unruhe, die ihn umtrieb. Er hielt nicht viel vom Plan seines Auftraggebers, weil dieser den Gegner zu vorschnellen und darum nur schwer berechenbaren Reaktionen veranlassen konnte.
»Wenn sie etwas tun, tun sie es heute Nacht«, stellte er fest, als Bonneterre ihn seiner Unruhe wegen nur fragend ansah.
»Wie viele Leute bewachen das Haus?«, fragte der Kreole fast spöttisch, aber nur, um seine eigene Besorgnis zu überspielen.
»Drei von uns, hinten«, antwortete Beale. »Vorn stehen die Leute des Sheriffs. Aber ich weiß nicht …«
»Dann schauen wir doch einfach mal vorbei, wenn Sie das beruhigt«, schlug Bonneterre eine Spur zu schnell vor; er hoffte tatsächlich, durch irgendein Fenster, irgendeinen Zufall zumindest einen Blick auf Moses zu erhaschen. Der Detektiv seufzte. Er war erst vor wenigen Minuten von seinem letzten Kontrollgang in die Collins Avenue zurückgekommen. Er war müde. Dennoch erhob er sich so rasch, als hätte er Sprungfedern im Hintern, und die beiden Männer traten hinaus in die kalte Nacht.
»Ich werde sie übrigens nicht töten«, sagte Bonneterre auf dem nicht allzu langen Weg, um das Gewissen des Detektivs zu beruhigen. »Ihn ja, sie nicht.« Und er lächelte bei diesen Worten, als hätte er eine liebevolle kleine Überraschung durchschaut, die ein anderer ihm bereiten würde.
An einer dunklen Straßenhecke auf der Rückseite des Hauses Nr. 24 und nur etwa fünfzig Meter davon entfernt erwischten sie ihre drei Wächter mit einer Flasche Schnaps, deren fast bis zur Neige verschwundener Inhalt verriet, dass sie schon mehrfach herumgegangen sein musste.
»Ihr sollt aufpassen und euch nicht besaufen!«, zischte Gabriel Beale.
»Ganz ruhig, Yankee«, antwortete einer der hässlichen, verschlagenen Kerle. »Wir aus dem Süden können nämlich beides gleichzeitig.« Seine Genossen lachten rau, und einer von ihnen wandte sich jetzt direkt an Desmond Bonneterre.
»Dieser Nigger, Sir«, er deutete mit einem Nicken auf den hochgewachsenen Hausdiener Lucius, der sich von Deborah und Gowers schon verabschiedet hatte und die Rückseite des Hauses bewachte. »Darf ich ihn nicht doch kaltmachen? Juckt mich einfach in den Fingern, wenn ich so was sehe: ein Nigger mit einem Gewehr!«
Bonneterre lächelte über so viel sportlichen Ehrgeiz, schüttelte aber den Kopf. Gemeinsam mit dem Detektiv begab er sich jetzt auf die Vorderseite, wobei sie selbst in den Seitenstraßen jeden Schatten ausnutzten, den sie finden konnten, falls das Haus nicht schlief und irgendjemand zufällig aus einem der dunklen Fenster sah. Aber obwohl natürlich niemand im Haus schlief, kamen sie tatsächlich ungesehen nach vorn, wo sie die Männer des Sheriffs an einem gegenüberliegenden Gartenzaun dösen sahen.
Ihre Gewehre hatten die Deputies zur Seite gestellt, und der eine hatte sogar seinen Revolver samt Patronengurt abgelegt, um bequemer sitzen zu können. Einem entschlossenen Ausbruchsversuch hätten sie so kaum etwas entgegenzusetzen gehabt, und Beale, erbost über so viel dienstliche Nachlässigkeit, hätte sie am liebsten bei ihrem Vorgesetzten denunziert. Aber in ebendiesem Augenblick tat sich etwas an der Haustür von Nr. 24, und schlagartig waren die Polizisten hellwach und griffen zu ihren Waffen.
»Was gibt’s da?«, rief ihr junger Anführer zum Haus hinüber.
»Nichts gibt’s«, antwortete Mr. Phineas, der jetzt zusammen mit Jason hinaus auf die Straße trat. »Wir gehen nach Hause, wenn’s beliebt. Oder ist das verboten?«
Der Deputy überlegte kurz. »Seid ihr bewaffnet?«, fragte er dann.
»Nein«, brummte Mr. Phineas. »Aber ihr dürft es gern kontrollieren.«
Die Polizisten durchsuchten die beiden tatsächlich, fanden aber nichts zu beanstanden, und Mr. Phineas und Jason taten daraufhin, was Gabriel Beale befürchtete, seit die Haustür sich geöffnet hatte: Sie gingen in zwei verschiedene Richtungen davon, und die Art, wie sie gingen, zeigte, dass sie mit einer Verfolgung rechneten.
147.
Binnen Sekunden mussten die beiden heimlichen Beobachter eine Entscheidung treffen: die Männer einfach gehen lassen und nie erfahren, in welcher Absicht sie unterwegs waren, oder aber sich trennen und ihnen folgen. Und wer sollte wem folgen?
John Gowers, für den die nächtliche Straße nicht dunkel, sondern nur grau war, sah gespannt zu, wie Jason und Mr. Phineas von den Polizisten durchsucht wurden, wie sie sich trennten und davongingen. Jason rannte, während Mr. Phineas es zwar deutlich eilig hatte, aber nicht lief. Das war nicht unwichtig für all die Entscheidungen, die in diesen Sekunden fielen. Gabriel Beale war ein kluger Kopf, aber kein Läufer; Bonneterre war der Jüngere, was die zweite Frage der Belagerer beantwortete, nachdem sie die erste mit einem kurzen Blickwechsel und einem bloßen Nicken geklärt hatten.
John blickte von einem der oberen Fenster seinen beiden Freunden hinterher, schaute aber naturgemäß länger demjenigen nach, der sein Blickfeld schneller verlassen würde. Deshalb sah er, als Jason schon beinahe verschwunden war, wie ein Mann sich aus dem Schatten einer Seitenstraße löste und dem jungen Mulatten nachlief. Er sah ihn nur für wenige Sekunden, von ferne, aber die Zeit reichte, um den eleganten Kreolen zu erkennen, dem er in Maggies Etablissement schon einmal Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Die plötzliche Aufregung, in die ihn diese Entdeckung versetzte, hinderte ihn leider daran, sich allzu sehr auf Mr. Phineas und seinen Verfolger zu konzentrieren. Gringoire sagte, dass auch dem Maschinisten jemand nachgegangen sei, aber da er nicht Gowers’ Fähigkeit besaß, im Dunkeln zu sehen, konnte er den Mann nicht beschreiben.
Mr. Phineas war es nicht gewohnt, vor jemandem davonzulaufen, vielleicht hätte er sich sonst größere Mühe gegeben, etwaige Verfolger abzuschütteln. Andererseits war es für den klugen kleinen Yankee auf seiner Fährte nicht schwer, den riesigen Mann im Auge zu behalten, auch wenn er ihm einen gehörigen Vorsprung ließ.
Desmond Bonneterre dagegen gab die Verfolgung des flinken Jungen, der sein Leben und seine Sicherheit schon öfter der Kraft seiner Füße und Beine anvertraut hatte, mit schwer und schmerzhaft pumpenden Lungen schon nach wenig mehr als drei Straßenzügen auf. Täuschte er sich, oder hatte der Mulatte auch noch gelacht, als er, der Angehörige der überlegenen, der herrschenden Rasse, stehen blieb, die Hände auf die Knie stützte, Sterne vor seinen Augen sah und nur noch ausspucken wollte, ohne die Kraft dafür zu finden? Geschlagen taumelte Bonneterre nach kurzer Überlegung ins Gates zurück, weil er keine Lust verspürte, seine Niederlage einzugestehen. Egal, welche Nachrichten es geben würde, hier würden sie ihn am sichersten erreichen. Leider kannte Jason sich mit der Maschine der Deep South nicht aus und war tatsächlich nur der Hase gewesen, der die Gegner irreführen sollte.
Als sie sich dem Hafenviertel näherten, verfestigten sich die Vermutungen, die der Detektiv bereits seit einigen Minuten über das Ziel des Riesen angestellt hatte. Sie würden versuchen, per Schiff zu entkommen! Er wusste nicht, wie sie aus dem Haus kommen wollten, zweifelte aber nicht daran, dass sie es schaffen würden, wie sie bisher alles geschafft hatten. Allerdings war ihnen Gabriel Beale bisher auch noch nie so dicht auf den Fersen gewesen.
Er sah auf eine Entfernung von vielleicht dreißig Metern, wie Mr. Phineas an Bord eines der am Pier befestigten Schiffe ging, mimte sofort einen Betrunkenen und entzifferte den Namen Deep South, als er daran vorbeiwankte. Seine Gedanken rasten. Wie ließ sich diese Flucht noch verhindern? Ein Vorteil war, dass Spratts Boardinghouse nicht allzu weit entfernt war und er binnen zwanzig Minuten vier, fünf, sechs Männer hier haben konnte, um die Zugänge zum Schiff zu überwachen. Ein Vorteil war auch, dass der Riese das Schiff offenbar ganz allein fahrtklar machen musste, was zweifellos einige Stunden dauern würde.
Vielleicht war es ja möglich, ihn zu überwältigen und an seiner Stelle auf die Flüchtenden zu warten. Aber das, sagte sich Beale sofort, würde wohl kaum ohne Kampf und darum auch nicht geräuschlos vonstattengehen; außerdem gab es womöglich ein Losungswort, schickte Moses vielleicht einen Beobachter vor und wäre gewarnt. Nein, die Bewachung des Schiffs und ein Überfall auf die Flüchtenden bei ihrer Annäherung schienen ihm das Sicherste. Aber was, wenn dieser Überfall fehlschlug?
Es war letztlich wohl nur seine von dem bloßen Gedanken an ein neuerliches Entkommen seiner Beute gekränkte Eitelkeit, die den höhnischen Satz in seiner Erinnerung wachrief, wo er ihn von nun an ständig wiederholte: »Brandstiftung?! Warum nicht gleich eine Bombe?«
Er hatte einmal einen Versicherungsbetrug auf dem Ohio untersucht und wusste, dass bei der Explosion eines Dampfschiffs jedermann nahezu blindlings von einem Kesselschaden ausging. Er wusste auch, dass schon eine relativ kleine Menge Pulver an der richtigen Stelle genügte, um eine tödliche Kettenreaktion auszulösen. Als Zünder hatten die Betrüger damals eine oder mehrere Patronen in einem angebohrten Stück Kohle verwendet. Bei einem anderen, dem berühmten Unfall der Effie Afton hatte das Ganze wohl ähnlich funktioniert. Man sprach nicht mehr viel darüber.
148.
Was bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht schiefgegangen war, schlug fehl, nachdem von Tempsky gefallen war. McDonnell, mit dem Zentrum übel zusammengeschlagen, befahl den Rückzug und schickte Hunter auf den rechten Flügel, um Fühlung mit den Rangern herzustellen und eine schlagkräftige Nachhut zu bilden, die die Maori beschäftigen sollte, bis alle auf dem Pungarehu-Pfad waren. Eine kluge Maßnahme, die allerdings nicht umgesetzt werden konnte, weil Hunter nur wenige Minuten später erschossen wurde und auch die Ranger inzwischen drei von vier Offizieren verloren hatten.
Zweimal waren sie vorgeprescht, um von Tempskys Leiche zu bergen, und zweimal hatten die Maori dabei nur noch mehr Männer getötet. Also blieben sie in Deckung und wurden abgeschnitten, als »Fighting Mac« zurückging. Dass irgendetwas mit von Tempskys Truppe nicht stimmte, merkte McDonnell irgendwann daran, dass niemand den Feind daran hinderte, ihn zu verfolgen. Auf diese Weise zu seiner eigenen Nachhut geworden, zeigte er noch einmal seine ganze militärische und moralische Klasse; hielt die nachrückenden Maori auf Distanz, dirigierte den Rückzug, organisierte den Transport der vielen Verwundeten und war praktisch überall gleichzeitig. Ein Dutzend Kugeln durchlöcherten seine Uniform, trafen ihn selbst aber wie durch ein Wunder nicht. Er schien gefeit zu sein an diesem grausamen Tag, und als die Männer, die die Verwundeten trugen, laut darüber nachzudenken begannen, ob sie es überhaupt schaffen konnten, sowohl sich selbst als auch ihre verletzten Kameraden zu retten, stieg McDonnell mitten auf einer Lichtung auf einen hohen Baumstumpf. Sehr ruhig, ein Bein vorgestellt und die Hände in die Hüften gestützt, das Gesicht dem Wald zugewandt, aus dem die Verfolger unablässig feuerten, erklärte er, dass er diesen Punkt nicht verlassen würde, ehe nicht alle Verwundeten an ihm vorüber wären. Als Letzter von allen überquerte er den Waingongoro und erreichte gegen zehn Uhr abends Camp Waihi. Takiora half dabei, die abgekämpften Männer zu versorgen, fragte aber jeden, der nicht zu müde oder durchgedreht zum Reden war, nach von Tempsky und seinen Rangern.
»Wer hat Manu-Rau getötet?«, fragte Gowers den Jungen, nachdem er ihn gefesselt und im Licht eines einzelnen Streichholzes davon überzeugt hatte, dass er kein Geist war.
»Ich«, antwortete Tutange Waionui stolz und versuchte dabei, sein Herz zu beruhigen, denn dieser Pakeha würde nun sicher Rache nehmen wollen, und der Gedanke an die Folter und die Verstümmelungen, die ihm bevorstanden, erschreckte den Fünfzehnjährigen mehr, als er zeigen wollte.
Der Mann, der ihn überwältigt hatte, sagte jedoch nur: »Erzähl mir davon.« Dass der Junge trotz seiner unschönen Lage als Gefangener darauf beharrte, den größten und berühmtesten Krieger der Pakeha getötet zu haben, verschaffte ihm nicht nur Gowers’ Respekt, sondern überzeugte den Investigator auch davon, dass er die Wahrheit sagte.
Von den Einzelheiten der Schlacht, den Positionen der einzelnen Abteilungen wusste Tutange nicht viel, aber klar war, dass die Patea Field Force bei Te Ngutu o te Manu eine vernichtende Niederlage erlitten hatte und zersplittert worden war. McDonnell schleppte sich mit den traurigen Resten nach Süden, aber von Tempskys Männer waren offenbar auf dem Schlachtfeld geblieben.
»Habt ihr Gefangene gemacht?«, fragte Gowers, dem es nun nur noch um einen bestimmten Mann ging.
»Zwei oder drei, die ihre Gewehre weggeworfen hatten, wurden ins Dorf gebracht«, sagte Tutange verächtlich. »Sie waren keine Kugel wert.«
»Und die anderen?«
»Sind noch dort und werden ewig dort bleiben!«
Das stimmte nicht ganz. John Roberts und James Livingstone, die letzten lebenden Offiziere der Forest Ranger, beide noch junge Burschen, keine fünfundzwanzig Jahre alt, hatten die Reste der geschlagenen Truppe gesammelt und sich langsam, vom gnadenlosen Feuer der Maori verfolgt, von ihrem verlorenen Posten in den dichten Wald im Nordosten geschleppt. Nur der Umstand, dass Titokowaru die Hauptmacht seiner Leute zur Verfolgung McDonnells nach Süden beorderte, rettete sie.
Nun waren grausame Entscheidungen zu treffen, denn sie hatten mehr Verwundete, als sie transportieren konnten. Harry Hastings, versprengtes Mitglied der Wellington Volunteers, wurde auf eigenen Wunsch schwer verletzt zurückgelassen, und Livingstone zerschlug seinen Karabiner an einem Baum, damit er den Maori nicht in die Hände fiel. Corporal William Russell, mit zerschmetterter Hüfte an einen Baum gelehnt, bat seine Kameraden, ihn zu erschießen, aber niemand wollte es tun. Sie gaben ihm seinen Revolver und hörten kurze Zeit später einen einzelnen Schuss, gefolgt von wütendem Gewehrfeuer. Offenbar hatte er einen der Verfolger niedergestreckt und war den Tod eines Soldaten gestorben.
Nur ein einziger der Zurückgelassenen überlebte; G. H. Dore, ein ehemaliger Seemann, der anscheinend an einer Form des Downsyndroms litt, war mit einer Schulterwunde, die tief in den Knochen hinabreichte, zurückgeblieben. Als die Maori ihn erreichten, stellte er sich tot, und nachdem sie ihm Hosen, Stiefel, seinen Revolver und all seine Habe weggenommen hatten, ließen sie ihn liegen.
Er schleppte sich ins Unterholz und berichtete später, dass er von überall her noch lange die verzweifelten Hilferufe seiner verletzten Kameraden gehört hatte, ehe sie einer nach dem anderen unter den Äxten der siegreichen Feinde verstummten. Zwei von ihnen wurden jedoch von den Maori dicht an seinem Versteck vorbei nach Te Ngutu getrieben, und einer dieser beiden bettelte in einem fort um sein Leben. Der andere, Dore kannte ihn, konnte sich aber nicht mehr an seinen Namen erinnern; selbst als man ihm die Vermisstenliste vorlegte, habe nur gesagt: »Warum tötet ihr mich nicht sofort, ihr Bastarde?!«
In der folgenden Nacht, sagte er, habe er außer den Siegesgesängen der Maori auch entsetzliche Schreie aus dem Dorf ge – hört und glaubte für den Rest seines Lebens, die beiden Gefangenen seien lebendig gebraten worden. Die sehr viel später danach befragten Maori bestritten das, und was wirklich mit diesen Männern geschah, ist nie bekannt geworden.
John Gowers überlegte lange und so angestrengt, dass die ehrliche Trauer um von Tempskys Tod hinter diesen Gedanken zurücktrat. Ich habe diesen Bradley oder Fagan, oder wie immer er heißen mag, fast ständig bei mir, hatte der Deutsche geschrieben und auch, dass dieser Mann ein jämmerlicher Feigling ist.
Angenommen, er ginge nach Camp Waihi, was könnte er dort erreichen? Selbst wenn er einen Weg durch die nach der Niederlage wahrscheinlich verdoppelten Wachen hindurch fände, würde man ihn zweifellos irgendwann entdecken und als Überläufer und Deserteur füsilieren, ehe er auch nur nach James Bradley fragen konnte. Aber angenommen, auch das unterbliebe wie durch ein Wunder, was würde er tun, wenn der Mörder nicht in Waihi war? Wenn er bei von Tempsky gewesen war und die Maori ihn erwischt hatten, tot oder lebendig, weil er als Feigling keine Kugel wert war …
Das Risiko war enorm, die Wahrscheinlichkeit gering, aber er musste zumindest die Leiche des Mannes sehen, den er so lange gejagt hatte. Aber wie? Bei Nacht über ein Schlachtfeld robben, das bei Tag schon unüberschaubar war? Jeden Toten einzeln umdrehen, sich heimlich in ein Kriegslager der Maori, ins Herz ihres Aufstands schleichen? Gowers lachte verzweifelt. Und als er bei Sonnenaufgang das Messer zog, glaubte Tutange Waionui, er würde nun doch noch zerstückelt. Dann sah er zu seinem grenzenlosen Erstaunen, dass der sonderbare Pakeha sich lediglich rasierte, sah auch die Zeichen in seinem Gesicht und fragte sich, ob dieser Mann nicht doch ein Geist war.
Gowers aber tat, was Geister eher selten tun: Er zerschnitt die Fesseln seines Gefangenen und rieb wieder Leben in die über Nacht erstarrten Gliedmaßen des Jungen.
»Bring mich nach Te Ngutu o te Manu und zu deinem Häuptling!«
Als die Abenddämmerung hereinbrach, hatten die Maori die Verfolgung aufgegeben, und Roberts und Livingstone konnten ihren erschöpften Männern zum ersten Mal an diesem Tag eine Pause gönnen. Aber schon als der Mond aufging, waren sie wieder auf ihrem Weg, in einer weiten, östlichen Schleife; krochen durch Schluchten und kleine Sümpfe, rollten kraftlos steile Hänge hinunter und erreichten im Morgengrauen zu ihrer Verwunderung und nachhaltigen Freude den Pungarehu-Pfad. Gegen sieben Uhr früh standen sie am Waingongoro und hatten alle Hände voll zu tun, um die Verwundeten einzeln hinüberzuschaffen. Zwei Stunden später schleppten sie sich endlich ins Camp Waihi und überbrachten als Erste die gesicherte Nachricht vom Tod ihres Kommandeurs und von dem ungeklärten Schicksal vieler anderer Männer.
Takiora, die nicht geschlafen hatte, ging in ihr Zelt und lockte den Papagei mit kleinen Samenkörnern bis auf ihre Schulter. Eine Sekunde lang wollte sie ihm den Hals umdrehen, aber dann ließ sie zu, dass er leise, fast zärtlich sein einziges Wort in ihr Ohr flüsterte »Whakarongo!«
Als letzter Mann der Patea Field Force kam G. H. Dore vom Feldzug nach Te Ngutu o te Manu zurück. Vier Tage lang hatte er sich, ohne zu essen und in einer Art Delirium, nackt und barfuß durch den Urwald geschleppt. Er hatte keinerlei Erinnerung mehr an diese Zeit oder seinen Weg, wusste auch nicht, wie er den Fluss überquert hatte, und seine Wunde wimmelte von lebenden Maden.
149.
Nachdem sie alle Entscheidungen getroffen hatten, begann das Warten. Was es so schwer machte, war die Tatsache, dass sie selbst bestimmen mussten, wie lange es dauerte und wann der richtige Zeitpunkt da war. Die Initiative lag allein bei ihnen. Sie waren die »Angreifer«. Mr. Phineas würde mindestens zwei Stunden brauchen, um die Deep South flottzumachen. Natürlich hätten sie ihm helfen und die Sache beschleunigen können, aber sie wussten, dass sie sich exponieren würden, sobald sie das Haus verließen.
Je früher sie gingen, je länger Deborah in den Straßen, im Hafen von St. Louis unterwegs war, desto mehr Unvorhersehbares konnte geschehen. Aber je länger sie warteten, desto näher rückte die Ablösung der Polizeiwachen vor ihrer Tür heran und desto weniger Zeit hätten sie, zu entkommen. Es musste zwei Uhr in der Nacht sein, als Gringoire Deborah schließlich zunickte. Die eigentliche Flucht war dann bemerkenswert einfach.
»Hallo!? Oliver? Ollie Madsen!« Mrs. Lafflin, mit Nachthaube und Morgenmantel, war auf die Straße getreten und wandte sich direkt an die inzwischen reichlich verfrorenen Polizisten.
»Was gibt’s da?«, fragte der älteste Sohn und erste Deputy Sheriff Madsens schläfrig. »Oh! Mrs. Lafflin …«
»Hör zu, Ollie«, sagte die alte Dame mit der geradezu mütterlichen Überzeugungskraft, die sie wie selbstverständlich gegenüber einem jungen Mann hatte, der mit ihren Söhnen zur Schule gegangen war und gelegentlich sogar in der Collins Avenue 24 zu Mittag gegessen hatte. »Findest du es nicht lächerlich, wenn ihr hier draußen in der Kälte herumsitzt? In der Halle könnt ihr uns schließlich genauso gut bewachen.«
»Ich weiß nicht recht …«, sagte Oliver Madsen langsam und kratzte sich ebenso verlegen am Kinn wie sein Vater, nur mit dem Unterschied, dass er noch keinen nennenswerten Bart hatte.
»Keine Widerrede«, entschied Emma Lafflin die Sache resolut. »Ihr wärmt euch auf, bekommt einen Kaffee, und wenn ihr danach unbedingt wieder raus in die Kälte wollt, bitte schön!«
Die Deputies folgten diesem forsch-freundlichen Einladungsüberfall der alten Dame wie an der Schnur gezogen, nur der eine, der seinen Revolvergurt abgelegt hatte und ihn mit seinen klammen Händen nicht so schnell wieder an seinen Hüften befestigen konnte, blieb etwas zurück. Aber als Mrs. Lafflin stehen blieb und mit sozusagen trommelnden Fingern demonstrativ auf ihn wartete, beeilte er sich, seine Bereitwilligkeit zumindest mit einer Frage zu signalisieren: »Kann ich vielleicht auch einen Tee bekommen, Madame?«
»Clem McKenna«, sagte sie und schüttelte milde den Kopf, als sie hinter ihn trat und ihn mit langsamen Schritten zur Haustür trieb. »Immer eine Extrawurst, wie?«
»Ich vertrage doch keinen Kaffee«, murmelte McKenna entschuldigend, als er in die Halle trat – wo seine Kollegen bereits mit erhobenen Händen in die Gewehrläufe schauten, die Gowers und Gringoire auf sie gerichtet hielten.
»Nur keine Aufregung, Gentlemen«, sagte Mrs. Lafflin, nachdem sie mit Mollys Hilfe die jungen Männer entwaffnet hatte. »Hier hinein, bitte!« Sie führte ihre Gefangenen in den Salon, wo Eileen Clairborne den Kaffeetisch bereits gedeckt hatte.
»Kaffee, Milch und Kekse, meine Herren«, sagte die ehemalige Gouverneurin von Louisiana freundlich. »Nehmen Sie Platz, greifen Sie zu!«
»Was zum Teufel …«, sagte Deputy Madsen, als er sah, dass die beiden alten Damen sich bei diesen Worten bewaffneten und die Polizisten nun mit ihren eigenen Revolvern in Schach hielten.
»Oliver!«, erwiderte Emma Lafflin vorwurfsvoll. »Das ist doch wohl kein Grund, um in Gegenwart von Damen zu fluchen?!«
»Entschuldigung«, entfuhr es Madsen spontan, der sich noch immer nicht überwinden konnte, am Tisch Platz zu nehmen.
»Molly, meine Liebe«, sagte die Hausherrin, »wir haben einen Teetrinker hier. Würden Sie …«
»Aber natürlich«, antwortete Molly und ging in die Küche.
»Seien Sie doch vernünftig«, versuchte Deputy Madsen es noch einmal, aber Mrs. Lafflin richtete jetzt den Lauf ihres Revolvers direkt auf ihn.
»Oliver«, sagte sie freundlich, »ich habe in deine Wiege gesehen, und zweifellos wirst du eines Tages in meinen Sarg schauen. Aber wenn du dich jetzt nicht hinsetzt und deinen Kaffee trinkst, schieße ich dir ins Bein!«
»Aber was soll ich denn meinem Vater sagen?!«, entgegnete Oliver kläglich.
»Dass ich dasselbe mit ihm gemacht hätte!« Emma Lafflin spannte den Abzugshahn. Und als alle saßen und auch Deputy McKenna seinen Tee hatte, begann sie höflich, Konversation zu machen. »Wie geht es Ihrer Mutter, Clem? Was macht die Arthrose?«
Sie hatten sich schon vorher voneinander verabschiedet, so wie Menschen, die wissen, dass sie sich im Leben nicht mehr wiedersehen werden. Emma Lafflin war Deborah behilflich gewesen, einige Kleider ihres Mannes auszusuchen, die ihr in ihrem Zustand noch passten, und hatte dabei plötzlich eine Hand auf ihren Bauch gelegt.
»Wann ist es so weit?«
Deborah war nach all den kriegerischen Plänen, die sie an diesem Abend gemacht hatte, nicht auf eine solche Frauenfrage vorbereitet und wunderte sich selbst, dass sie bei ihrer Antwort lächeln musste: »In neun oder zehn Wochen.«
Madame Clairborne hatte bei dieser Gelegenheit die tiefen Narben auf dem Rücken der nackten jungen Frau gesehen und war wortlos in das Zimmer gegangen, in dem sie gemeinsam mit Molly noch keine zehn Minuten verbracht hatte. Auf der Treppe nahm sie wenig später John Gowers zur Seite und drückte ihm ein beachtliches Bündel Geldnoten in die Hand.
»Ich gebe es Ihnen, weil ich weiß, dass Ihre Frau es nicht annehmen würde. Ich hoffe aber, dass Sie es tun. Es ist für Ihr Kind!«
John nickte wortlos und überlegte, wo er das Geld vor Deborah verstecken könnte, bis sie auf dem Schiff und in Sicherheit waren. Während am Kaffeetisch im Salon eine nur zähe Unterhaltung in Gang kam, ging er hinaus auf die Straße, sah sich gründlich um und winkte dann den beiden anderen, ihm zu folgen.
150.
Plan gegen Plan, Voraussicht gegen Voraussicht. Gabriel Beale hatte mit insgesamt sechs seiner Männer inzwischen einen Hinterhalt angelegt, der es ihnen ermöglichte, den einzigen Weg zur Deep South mit Kreuzfeuer zu belegen. Danach war er allerdings verschwunden, wahrscheinlich um Bonneterre zu benachrichtigen, vermuteten seine Leute. Sie trugen wieder ihre geisterhaften Kapuzen und freuten sich ehrlich auf den bevorstehenden Kampf; nicht nur, weil es ein ungleicher werden würde, nicht nur, weil ihr Auftraggeber sich ihre Dienste etwas kosten ließ. Sie freuten sich auch auf das einfache, klare Geschäft des Tötens. Am liebsten hätten sie ja das Schiff gekapert, aber sie hatten eingesehen, dass ihre Gegner dann vielleicht gewarnt wären und nicht mehr auftauchen würden. Das Schiff war der Köder in ihrer Falle und musste unangetastet bleiben, wenn er ihre Beute anlocken sollte.
Probehalber suchten sie, die Gewehre im Anschlag, mit zusammengekniffenen Augen immer wieder ihr Schussfeld ab und waren dabei konzentrierter und disziplinierter, als man es ihnen aufgrund ihres rauen Äußeren zugetraut hätte. Sie warteten lange, so lange, dass sie bereits begannen, die ganze Sache mit den Augen ihrer Gegner zu betrachten.
»Wenn sie nicht bald kommen, wird es zu hell für sie werden«, sagte einer ganz ernsthaft. Einmal nahmen sie einen Betrunkenen ins Visier, der sich an exakt der Hausecke, die den Schnittpunkt ihres Hinterhalts bildete, vermutlich mit einem weniger kräftigen Strahl erleichtert hätte, wenn er auch nur geahnt hätte, dass dabei sechs Gewehre auf ihn gerichtet waren. Vom Fluss her hörten sie irgendwann den leisen Gesang eines Flößers.
»Baissez-vous, montagnes,
Haussez-vous, vallons!
M’empêchez de voir
Ma mi’ Madelon.«12
Und als sie sich umdrehten, bemerkten sie das dazugehörige Floß, das langsam von Norden heruntertrieb. Ein kleines Feuer brannte darauf, um das diejenigen mit den besten Augen eine, zwei, drei dunkle Gestalten sitzen sahen. Uninteressiert wandten die Mörder sich ab und ihre inzwischen schmerzhaft gesteigerte Aufmerksamkeit wieder der Straße zu.
Erst als sie nach einigen Minuten den leisen Aufprall des Floßes am Schiff und in ihrem Rücken hörten, erkannten sie ihren Fehler. Aber es war niemand da, der sie neu instruierte, und so beobachteten vier von ihnen weiter den Zugang zum Pier, während zwei vorsichtig nachsehen gingen, was sich an der Flussseite der Deep South tat.
Sie waren nach Norden gegangen, ohne von irgendjemandem gehindert oder auch nur gesehen zu werden, hatten einen großen Bogen um den Hafen geschlagen und schließlich ein kleines Stück oberhalb der Stadt die Stelle erreicht, an der die ärmeren oder geizigeren Flößer haltmachten, um die Liegegebühren zu sparen.
Zu Deborahs und Gringoires Überraschung – denn eigentlich hatten sie einen einfachen Diebstahl geplant – zog John Gowers einige Banknoten hervor und kaufte einem hageren, schwindsüchtigen Mann und seiner sechsköpfigen Familie ihr Floß beinahe schneller ab, als die darauf schlafenden Kleinkinder geweckt werden konnten. Binnen Minuten hatten sie alles zusammengepackt, was sie besaßen, und standen schlaftrunken und an ein nächtliches Wunder glaubend am schlammigen Ufer.
Deborah hörte noch, wie eine Frauenstimme den Mann auszankte: »Die hätten noch mehr ausgespuckt!«, aber dann hatten sie die kleine Anlegestelle schon achteraus. Gringoire entzündete das Feuer, und sie trieben noch nicht lange den Fluss hinunter und auf den Hafen zu, als Gowers die Deep South auch schon ausgemacht hatte. Es war Gringoire, der das einfältige Liedchen sang, um jeden noch so geringen Verdacht abzulenken, dann brachte John sie mit wenigen Schlägen des Ruders längsseits des alten Dampfers, und sie kletterten an Bord, ohne dass sich an Land etwas gerührt hätte.
Flüsternd befahl John dem über das vollständige Gelingen ihres Plans nicht im Geringsten verwunderten Maschinisten, Dampf vorzulegen, und schlich dann geduckt die Treppe zum Texasdeck hoch. Gringoire wartete nur auf sein Signal, um die Leinen loszuwerfen, und Deborah hielt sich backbord, auf der Flussseite, der im Augenblick sichersten Stelle.
»Scheiße!«, ertönte in diesem Moment eine Stimme vom Ufer her. »Hierher, Jungs! Sie sind an Bord, sie sind schon an Bord!«
Ein einzelner Schuss fiel, und Gringoire wartete jetzt nicht mehr länger, sondern sprang an Land und löste das Schiff vom Pier, zuerst achtern, dann vorn. Die Maschine erwachte im gleichen Moment, Gowers legte das Ruder um, und der alte Pirat drückte mit der Laufplanke das Schiff vom Ufer weg. Dabei begann eine wilde Knallerei, die größtenteils dem Steuerhaus galt.
Deborah, nicht gewohnt, sich vor einer Gefahr zu verstecken, lief auf die Steuerbordseite, sah flüchtig einige schattenhafte Gestalten mit gespenstisch weißen Gesichtern auf das Schiff zulaufen und registrierte auch, dass Gringoire in seiner anstrengenden Tätigkeit eine Sekunde lang stockte. Der alte Mann fühlte, dass er getroffen war, stieß das freikommende Schiff aber noch ein paar Zentimeter weiter ab und sprang erst im letzten Moment. Hilflos klammerte er sich mit beiden Händen von außen an die Bordwand und wurde noch zweimal getroffen, während das große Heckrad sich in Bewegung setzte und die Deep South Meter um Meter auf den Fluss hinausschob.
Mit letzter Anstrengung und der Hilfe des Mädchens zog sich Gringoire schließlich an Deck. Blut lief aus seinem Mund, in seinen weißen Bart, strömte über seine Lippen, als er sagte: »Du … du wirst loten müssen!«
Das Johlen vom Ufer her wurde leiser, die Mörder feuerten nicht länger auf das Steuerhaus, sondern nur noch auf das weiße, vom Schaufelrad aufgewühlte Wasser – das Letzte, was man in St. Louis von John Lafflins Schiff sah. John Gowers blickte jetzt zum ersten Mal zurück und bemerkte, dass überall im Hafenviertel Lichter aufflammten, die ganze Stadt aufwachte und sich vermutlich fragte, ob der Bürgerkrieg endlich ausgebrochen sei.
Deborah aber hatte, als sie nach achtern lief, um John von Gringoires Verwundung zu informieren, die unheimlichste Begegnung der ganzen Nacht. Plötzlich stand ein unbekannter Mann vor ihr, ein bloßer Schatten, klein und dunkel, dessen Gesicht und Hände schwarz waren, als hätte er nach Kohle gegraben. Sie hob den schweren Revolver und sah nur das flackernde Weiß in seinen Augen und sein geblecktes Gebiss, als er sagte: »Nicht schießen, Miss, bitte! Ich verschwinde, ich bin schon weg!« Praktisch im gleichen Moment ließ er sich über die Backbordseite ins Wasser fallen.
Sie hatte keine Zeit, lange über diesen Menschen nachzudenken oder sich zu fragen, was er an Bord gesucht hatte; Gringoire lag im Sterben. Alles, was sie für ihn tun konnten, war, ihn so bequem wie möglich hinzulegen, vorn am Bug, wo er gefallen war. Deborah hielt kurz seinen Kopf im Schoß und sah, dass er lächelte. Dann musste sie nach den Lotleinen suchen, während John wieder ans Steuer ging.
Er hatte sich immer gewünscht, auf dem Wasser zu sterben, auf dem Meer, wenn möglich. Aber wenn es denn nur ein Fluss sein sollte, voilà, dann war der Mississippi vermutlich besser als jeder andere. Er hörte die Stimme des Mädchens die Tiefen aussingen und wusste, dass sie gute Fahrt machten. Irgendwann sah er die Nebelbank auf sich zukriechen, den Atem des Flusses, schon nicht mehr grau, sondern weiß. Das war gut. Dann war der Tag nahe.
151.
Der Morgen nach dem großen Sieg war windstill und ungewöhnlich warm für einen Tag im letzten Monat des südlichen Winters. Seit Sonnenaufgang waren die Frauen und alten Männer damit beschäftigt, die Leichen der getöteten Feinde aus dem Busch zum Marae, dem großen Versammlungsplatz in der Mitte des Dorfes, zu schleppen, während die Krieger sich ausruhten und für die Siegeszeremonie schmückten. Die schwere Arbeit hatte unter Singen und Scherzworten begonnen, aber als immer mehr ausgeblutete, über Nacht erstarrte Körper eingeholt wurden, wich das Lachen einem zwar nicht bedrückten, aber doch respektvollen Ernst.
Es waren junge, starke Männer, die sie fanden, und ihre Augen waren fast alle geöffnet, so, als hätten sie bis zuletzt nicht an ihren Tod geglaubt. Einige waren bereits nackt und von Axthieben gezeichnet; einem hatte man das Herz herausgeschnitten. Aber auch die, die man erst jetzt fand, hatten sich die Uniform oder Teile davon heruntergerissen, vielleicht, um festzustellen, wo die Kugeln sie getroffen hatten. Als die Sonne höher stieg, schwärmten auch die Kinder, die man aus dem Eulennest geholt hatte, auf dem Schlachtfeld aus, um liegen gebliebene Waffen und Munition bis auf die letzte Patrone zu bergen.
Es war Mittag, ehe alles getan war und die Zeremonie beginnen konnte. Titokowaru, in den sauber gebürsteten dunklen Anzug eines britischen Gentlemans gekleidet, trat aus seiner Hütte und überblickte seinen Triumph: zweiundzwanzig komplett entkleidete Leichen, ausgelegt wie eine Strecke Wildschweine, einen großen Berg, bestehend aus ihren Kleidern, Stiefeln, Hüten, Decken, Rucksäcken, Zeltbahnen; einen kleineren, den ihre persönliche Habe, Brieftaschen, Uhren, Brillen, Tagebücher und so weiter, bildete, und ihre Waffen, die man zusammengebündelt hatte wie Heugarben.
Es begann nun ein langes, aufgeregtes Korero, die öffentliche Diskussion und Entscheidung darüber, was mit den Toten geschehen sollte. Einige wollten sie essen, insbesondere den Kör – per von Manu-Rau, um seiner Kraft teilhaftig zu werden, aber Titokowaru lehnte das ab. Er trat zu der Leiche des auf der gesamten Nordinsel so sehr gefürchteten Kriegers und hielt ihm eine etwas bemühte Totenrede.
»In den Tagen der Vergangenheit hast du hier gekämpft und dort gekämpft und dich immer gerühmt, dass du sicher aus den dunklen Schlachten zurückkehren würdest in die strahlende Welt des Lebens. Aber als du auf mich trafst, haben deine Augen sich geschlossen zu ihrem letzten Schlaf. Es ließ sich nicht ändern: Du suchtest den Tod in meiner Hand, und jetzt schläfst du für immer …«
Er war bis zu dieser Stelle gekommen und so in den Anblick des Toten versunken, dass er erst jetzt bemerkte, dass die Aufmerksamkeit seiner Leute von etwas abgelenkt wurde, das sich jenseits der Palisade befand.
»Pakeha! Pakeha!«, rief der Wachtposten, einer der jungen Burschen, die sich gestern so gut bewährt hatten, und fügte dann entsetzt etwas völlig Lächerliches hinzu: »Es ist Manu-Rau! Manu-Rau kommt zurück!«
Die Menge wälzte sich mit einem Aufheulen zum Tor, um den wiederkehrenden Manu-Rau, dessen Leiche sie doch gerade noch umstanden hatte, in Augenschein zu nehmen, und die Krieger holten ihre Waffen, um ihn im Bedarfsfall noch einmal zu töten. Tatsächlich wurden einige Gewehre angelegt, aber der Wachtposten schrie plötzlich: »Er hat Tutange Waionui bei sich!« Der junge Mann zitterte. Wenn dies der Geist Manu-Raus war, dann war vielleicht auch sein Freund Tutange ein Geist – und notwendigerweise zuvor gestorben!
Auch Titikowaru schaute jetzt auf die Lichtung hinaus, und wahrhaftig, am Waldrand stand ein einzelner weißer Mann, der Manu-Raus Gestalt hatte und Kleider trug, wie man sie seiner Leiche ausgezogen hatte. Einen Augenblick stutzte der Häuptling, dann sagte er mit mildem Spott: »Ich sehe mit einem Auge besser als ihr alle mit zweien! Der Mann ist nicht Manu-Rau.«
Aber wenn er nicht Manu-Rau und auch kein Geist war, wer oder was war er dann? Ein Abgesandter McDonnells, der über die Herausgabe der Leichen verhandeln sollte? Dann hätte er zumindest eine Parlamentärsflagge zeigen müssen. Der Mann tat nichts dergleichen, legte nicht einmal seine Waffen ab, sondern überquerte ruhig und bedächtig an der Seite des jungen Tutange Waionui die Lichtung, wobei er lediglich bemüht zu sein schien, die Maori jederzeit seine Hände sehen zu lassen.
Die Krieger honorierten so viel Mut, indem sie nicht auf den Mann feuerten, ihm aber in einem furchterregenden Haka zeigten, was sie alles mit ihm machen würden, wenn umgekehrt er auf sie anlegen sollte. Ohne dass ein Wort gesprochen wurde, betrat der Mann das Pa und blieb erst vor Titokowaru stehen, den er aufgrund seines grimmigen Äußeren, des fehlenden Auges und der schrecklichen Narbe auf der Stirn als den Anführer der Rebellen erkannte.
»Guten Tag«, sagte John Gowers trocken.
Der Häuptling musterte ihn von oben bis unten, wobei er wegen seiner Einäugigkeit den Kopf auf seltsame, vogelartige Weise bewegte, und fixierte dann das Moko im Gesicht seines Gegenübers.
»Sterne und Strömungen, die Wolken und den Wind kenne ich!« Titokowaru sah dem seltsamen Besucher jetzt genau in die Augen. »Ist das so?«
»Ja.«
»Woher haben Sie diese Zeichen?«
»Te Kooti Arikirangi Te Turuki ließ sie in mein Gesicht schneiden, weil ich ihn über das Meer gebracht habe.«
Erstauntes Gemurmel erhob sich, und die Krieger, die bisher ihre Waffen drohend vor, hinter und neben Gowers geschüttelt hatten, standen still wie ein Mann. Te Kooti! Te Kooti Arikirangi, der Prophet, der von Chatham geflohen war, die Pakeha genarrt hatte, der Zerstörer von Matawhero, der Bezwinger der Ostküste, schickte ihnen einen Boten! Das war eine große Nachricht.
»Was tun Sie hier?«, fragte Titokowaru, mit einem Mal steif und ein wenig unsicher wie ein Regierungschef, der mitten in einer Wahlkampfrede von seinen diplomatischen Verpflichtungen eingeholt wird.
»Ich suche einen Mann«, antwortete Gowers, »der in der Patea Field Force gekämpft hat, und hoffe, ihn hier zu finden.«
»Wie ist Ihr Name?« Titokowaru gewann wieder an Sicherheit und erinnerte sich daran, dass auch er seit gestern ein Sieger war.
»Mein Name ist John Gowers.«
»Nun, Mr. Gowers«, sagte der Häuptling, und der Anflug eines ironischen Lächelns zuckte in seinem verwüsteten Gesicht, »die Ehrengäste unserer kleinen Siegesfeier finden Sie hier drüben.«
Die Maori lachten über diesen gelungenen Scherz, immer noch aufgekratzt vom Kämpfen und Töten des vergangenen Tages. Die nervöse Anspannung wich wieder der Fröhlichkeit und dem Stolz auf ihren Triumph, während Gowers langsam die Reihe der so gnadenlos zur Schau gestellten Körper abschritt. Mit einigen dieser Männer war er auf einem Schiff gefahren, hatte er Flüsse, Gebirge und schließlich den furchtbaren Buschwald durchquert. Aufmerksam studierte er ihre Gesichter, blieb aber nur bei der Leiche des Mannes, dessen Kleider und Stiefel er trug, mit dessen Frau er geschlafen hatte, kurz stehen und senkte den Kopf. Das war sein Abschied.
Als Gowers am Ende der Reihe angekommen war, fragte Titokowaru: »Ist der Mann, den Sie suchen, darunter?«
»Nein«, sagte Gowers und dachte bereits darüber nach, wie er aus der sonderbaren und gefährlichen Situation wieder herauskommen würde.
»Dann erlauben Sie, dass wir zunächst mit unserer Zeremonie fortfahren!?«
Wieder war da diese leichte, bedrohliche Ironie, und Gowers beeilte sich zu sagen: »Selbstverständlich!« Dann trat er zurück und fing an – von vielen wachsamen Augen beobachtet –, die Pfeife zu stopfen, die Emilia von Tempsky ihm geschenkt hatte.
Er sah ein nahezu urzeitliches Ritual. Jeder Krieger, der gestern einen Feind getötet hatte, trat zu der Leiche des Mannes und schilderte in kurzen oder auch längeren Worten, wann und auf welche Weise sein Tod vonstattengegangen war. Dabei gab es einige Male Meinungsverschiedenheiten, weil mehrere Schützen offenbar dasselbe Ziel getroffen hatten und sich nun über den Besitz der Kleider und Waffen des Verstorbenen einig werden mussten. Insbesondere um die Ehre, Manu-Rau getötet zu haben, stritten sich gleich drei Männer, unter ihnen der junge Tutange.
Der Preis wurde schließlich einem alten Veteranen namens Te Rangi Hinakau zugesprochen, der im Gegenzug für diese hohe Auszeichnung jedoch großherzig auf Waffen und sonstige Habe des Getöteten verzichtete. Von Tempskys Revolver erhielt daraufhin zu seiner großen Freude Tutange Waionui, den berühmten gebogenen Säbel und das Tagebuch Manu-Raus nahm der Häuptling selbst an sich.
Danach wurden die Leichen an die einzelnen beteiligten Stämme verteilt, wozu Titokowaru mit einem Stock auf sie deutete: »Diesen für Taranaki! Diesen für Ngarauru! Diesen für Ruanui!« Das versammelte Volk beantwortete jeden dieser rituellen Besitzansprüche mit einem lang gezogenen »Ko Hara! – Besiegt!«. Anschließend trübte sich die gemeinschaftliche Freude ein wenig, weil die Frage des Verspeisens der Feinde noch immer unterschiedlich beantwortet wurde.
Vor allem die Ngarauru, die selbst viele Gefallene zu beklagen hatten, und unter ihnen insbesondere Katene, der seinen Sohn verloren hatte, bestanden darauf, mindestens einen Pakeha zu kochen und zu essen. Titokowaru, der die Leichen den Stämmen bereits formell übergeben hatte, gestand ihnen das schließlich zu, und Katene wählte einen Mann, den er in seiner Zeit bei der Patea Field Force gut gekannt hatte. Die über ihre Verluste aufgebrachten Ngarauru schleiften das Opfer an den Knöcheln hinter eine der Hütten, wo ein entsprechender Ofen bereits aufgebaut war.
Für die Übrigen ließ Titokowaru einen Scheiterhaufen von fünf Metern Durchmesser und einem Meter Höhe errichten; nicht in Te Ngutu o te Manu selbst, sondern auf einer nicht allzu weit entfernten benachbarten Lichtung, damit der Brandgeruch nicht in die Hütten zog. Vor allem die Kinder waren nun eifrig damit beschäftigt, den Wald nach trockenem Holz für ein so großes Feuer zu durchkämmen. Das Letzte, was Gowers von den Leichen sah, war, dass sie durch Schmutz und Staub aus dem Dorf gezogen wurden wie Hektor aus dem großen alten Lied.
Er selbst wurde zwar nicht offiziell unter Arrest gestellt, aber nicht weniger als sechs bewaffnete Männer, die sich sehr zu ärgern schienen, weil ihnen dadurch das Schauspiel der Verbrennung entging, bewachten jede seiner Bewegungen. Eine Stunde später sah er eine dicke Rauchwolke über dem Wald von Ahipaia in die nahezu bewegungslose Luft steigen, wo sie noch lange die Form einer schlanken, endlos hohen Säule behielt, ehe Tawhiri-matea, der Gott des Windes und der Stürme, sie schließlich doch auflöste.
152.
Als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Flussbett des Mississippi allmählich auf seiner ganzen Länge begradigt, eingedämmt und eine ständige Fahrrinne ausgebaggert wurde, verschwanden die letzten der alten Orientierungsmarken und Points, an denen sich einst jene Raddampfer entlanggetastet hatten, die jetzt nur noch als besondere Touristenattraktion eingesetzt wurden. Einige dieser Namen hielten sich jedoch und schafften es, vor allem als Bezeichnungen für Altarme und Bayous, sogar bis auf moderne Straßenkarten.
Nicht so eine kleine Sandbank namens Deep South, die irgendwo zwischen Crystal City und der Einmündung des Kaskaskia River vor einem Inselchen auf der Illinois-Seite lag. Es war eine junge Sandbank, erst irgendwann um die Jahrhundertwende aus den trüben Fluten aufgetaucht wie der blanke Schädel eines Walgerippes, und weil sie weit abseits aller bekannten Fahrrinnen lag, erlangte sie nie irgendeine Bedeutung. Kurios war sie eigentlich nur wegen ihres Namens, denn der tiefe, der echte Süden begann erst runde hundert Meilen weiter flussabwärts. Und nur noch die ältesten Schiffer, Lotsen und Flößer wussten oder vermuteten zumindest, dass sie ihren ungewöhnlichen Namen wahrscheinlich trug, weil irgendwo weit unten im toten Sand, den der Mississippi darüber zusammengeschoben hatte, das Wrack eines Schiffes lag, das einmal Deep South geheißen hatte.
Viele der alten Namen verdankten sich solchen Wracks; aber die riesigen Schwimmbagger rissen jetzt binnen Minuten alles aus seinem Grund, eiserne Maschinenmäuler zerkleinerten Holz, Wurzeln, sogar im Flussbett wandernde Felsbrocken zu einer einzigen schlammigen Masse und spuckten sie ans Ufer, wo eine neue Generation Menschen Deiche und Dämme aus ihnen baute.
Deborah hatte noch immer keine Zeit gehabt, John oder Mr. Phineas gegenüber den unheimlichen kleinen Mann zu erwähnen, dem sie an Deck begegnet und der so schnell über Bord gesprungen war. So schnell, dass sie sich ernsthaft fragte, ob sie sich diese Begegnung nur einbildete. Tatsächlich hatte sie John überhaupt nicht mehr gesehen, seit Gringoire gestorben war, nur seine Stimme gehört, die sie mit immer neuen Befehlen vom Bug zum Heck und wieder zurück scheuchte: »Backbord vorn? Steuerbord achtern? Steuerbord vorn?«
Deborah kam mit dem Loten kaum nach, weil sie allein war und das Schiff Volldampf fuhr, in einer schmalen Rinne am Ostufer, um mögliche Verfolger so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Hätte sie gewusst, dass seine Fragen und ihre Antworten: »Twaineinhalb! Twaineinviertel! Twaineinhalb!«, die letzten Worte waren, die sie im Leben wechselten, wäre sie vielleicht sogar glücklich gewesen, denn was bedeuteten sie anderes, als dass sie auf ihrem Weg waren?
Mr. Phineas hörte zuletzt etwas, das nach Schüssen in seiner unmittelbaren Umgebung klang, und stutzte, aber da barst auch schon der Kessel, eine armdicke Stichflamme schoss aus der klaffenden Öffnung hervor, erreichte die Kohlen und das Pulver darunter, und die Explosion zerriss den riesigen Mann, wie ein Faustschlag mürbes altes Papier zerfetzt. Deborah, die achtern gewesen war, wurde zu Boden geschleudert. Gowers hielt sich am Steuerrad aufrecht, als das ganze Schiff plötzlich einen Sprung nach oben machte, fühlte aber am fehlenden Widerstand in seinen Händen sofort, dass das Rückgrat der Deep South gebrochen war.
Mittschiffs brannte alles; glühende Kohlen wurden zischend hoch in die Luft geschleudert und fielen rings um das sterbende Schiff in den Fluss, vergingen in kleinen weißen Wolken, die wie Schrapnellfeuer überall auf dem Wasser standen. Sie taumelten, riefen, suchten einander in dem Inferno, das zwischen ihnen stand. Fauchend entwich der achthundert Grad heiße Dampf aus dem geborstenen Kessel. Gowers wusste, dass man die Augen schließen musste und auf keinen Fall einatmen durfte, wenn man hindurchlief. Deborah wusste es nicht.
Tief, tief drang das Feuer in Form mikroskopisch kleiner Tropfen in ihre Lunge ein, legte sich auf ihr Gesicht, ihre vor Schmerz weit aufgerissenen Augen. Mechanisch, vegetativ schnappte sie mehrmals nach Luft, fraß sich der tödliche Dampf weiter in ihren Körper, bis auch die feinsten Verästelungen ihrer Lunge kochten. Gowers sah sie in dieser Hölle stehen, rannte durchs Feuer und warf sich auf sie, riss sie mit sich in den Fluss und schwamm nur Sekunden später um ihrer beider Leben, weg von dem mit einem hässlichen Gurgeln schnell versinkenden Schiff.
Mehrmals kam es ihm so vor, als würde sie gewaltsam versuchen, sich von ihm loszureißen, nach unten zu drängen, tiefer ins kalte, nicht allzu reißende Wasser. Deborah wusste nichts mehr von sich, von John, vom Illinois-Ufer und von der Freiheit, in die er sie bringen wollte. Sie war nur noch Schmerz, denn natürlich schöpfte ihr Körper Atem, Sauerstoff, der in ihrer halb zerstörten Lunge immer weiter zu brennen schien. Sie konnte nicht schreien, denn auch das Schreien war Schmerz. Nur ein leises, hohes, alles durchdringendes Keuchen kam über ihre Lippen, und als sie im Sand auf der kleinen Insel lag, festen Boden unter sich fühlte, warf sich ihr Körper in wilden Zuckungen dagegen, bäumte sich auf, schlug blind um sich in dem einen rasenden Wunsch: dass es aufhören möge.
John legte sich halb über ihren Körper in der verzweifelten Hoffnung, sie zu beruhigen, mit ihr reden zu können, weinte, schrie, hielt ihre Arme umklammert. Dabei glaubte er irgendwann, tatsächlich noch einmal ein Wort zu verstehen, ein einziges, lang gezogenes: »Nein!«
Da verstand er. Verstand, dass jede Sekunde, die sie noch länger lebte, unendliche, gnadenlose Folter war, und wusste mit entsetzlicher, seelentötender Klarheit, was er tun musste, wenn er sie liebte. Er schloss die Augen und legte die Hände um ihren Hals. Der schlanke und doch so starke Körper wehrte sich lange gegen den Tod, den ihr Geist so verzweifelt suchte: als einzigen Ausweg aus dem funkelnden Labyrinth der Schmerzen.
John wusste nicht, wie lange er zugedrückt hatte, sah nur, dass ihr verbranntes Gesicht jetzt entspannt war; nicht friedlich, aber doch still. Deborahs Tag war vorüber.
Plötzlich schlotternd vor Kälte setzte er sich im nassen Sand auf und legte lange den Kopf in die Hände. Weinend streichelte er sie, ihre Hände, ihren Leib – und fühlte an der leichten, aber deutlichen Bewegung unter ihrer Bauchdecke, dass es noch nicht vorbei war.
153.
Der Friede war wieder eingekehrt in seiner dunklen, engen Welt, aber dennoch spürte das kleine Wesen, dass eine Veränderung vorgegangen war. Es hatte sonst ständig Geräusche gehört, Bewegung gespürt und tief innen eine Sicherheit gefühlt wie einen warmen, endlosen Strom. Zuletzt, in den Schmerzen, der Agonie seiner Mutter aber war es von flatternder Panik geradezu überschwemmt worden. Das winzige Herz raste vor Angst, die kleinen Fäuste ballten sich wieder und wieder zusammen, seine Füße zuckten und traten gegen die tödliche Bedrückung, die es von allen Seiten umgab.
Nun war alles wieder still und hätte schön sein können, wenn es nicht so ganz anders gewesen wäre. Das Blut seiner Mutter kreiste nicht mehr, enthielt aber noch genug Sauerstoff, um das Wesen für Stunden am Leben zu erhalten. Es steckte einen der winzigen Finger in seinen Mund, weil es bereits gelernt hatte, dass diese zärtliche Berührung ihm guttat, es ruhig machte und meist sogar einschlafen ließ.
John fror jetzt nicht mehr, denn er war selbst das Eis geworden, eine kalte, harte Maschine, die ohne jedes Gefühl, durch den bloßen Willen zum Leben in Gang gehalten wurde. Langsam suchte er seine Kleidung ab, aber er hatte die Stiefel im Wasser verloren und mit den Stiefeln das Messer, das er jetzt brauchte.
Zuerst trat er ans Ufer und suchte im grauen Morgen nach angeschwemmten Wrackteilen, einem geborstenen Brett, einem rostigen Nagel, aber er sah nichts als das trübe, weiche Wasser, das sich leblos nach Süden wälzte. Danach suchte er den Strand nach einem kantigen Stein ab, aber der Mississippi und der Sand unter seinen nackten Füßen hatte die wenigen Steine, die er fand, rund und glatt geschliffen. In der Hoffnung, sie zu einem halbwegs brauchbaren Schneidewerkzeug zu sprengen, schlug er mehrere gegeneinander, doch jedes Mal sprangen nur winzige Splitter ab, schlug er den Steinen nur weiße Narben.
Er dachte jetzt an einen Ast, den er so vom Baum abreißen könnte, dass eine Spitze entstand, eine Art Speer; aber auf dieser Insel, an diesem Ufer, so weit er auch auf und ab ging, schoben nur Weiden ihre weichen, biegsamen Äste über das Wasser. John blickte zum Himmel auf, und der Ausdruck auf seinem Gesicht musste jeden Gott davor warnen, ihm zu begegnen. Sollte er die Leiche seiner Frau mit Fingernägeln und Zähnen zerreißen?!
Das kleine Wesen erwachte, weil das Blut seiner Mutter allmählich kalt, ihre Muskeln hart wurden. Es war nicht die natürliche Anspannung, Kontraktion, die das Wesen so gut kannte. Dies war eine Erstarrung, eine Umklammerung, die bald tödlich sein würde. Was so lange Frieden und Sicherheit, Leben gewesen war, wurde nun Kerker, mit jeder Minute mehr, kälter, erschreckender.
Wieder stellte sich Panik ein, Todesangst, schließlich Hass auf die enge Höhle, in der es lag. Das Fruchtwasser war nun schon weit unter dreißig Grad abgekühlt, und das Wesen würde langsam erfrieren, noch ehe es ersticken konnte. Es wehrte sich jetzt mit aller Macht gegen den Tod, trat, warf den kleinen Kopf hin und her, versuchte, sich umzudrehen. Dabei legte sich aber nur die Nabelschnur um seinen Hals und verhinderte jede weitere Gegenwehr. Nur seine Hände konnte es noch heben, streckte die schwachen Finger aus und bohrte sie von innen gegen die Bauchdecke, unter der es lag wie in einem Grab. Langsam kroch die Kälte in seine kleinen, noch biegsamen Knochen.
Dann hörte es ein Geräusch, etwas wie ein Kratzen, das langsam anschwoll, bis die ganze Bauchhöhle davon erfüllt war. Es fühlte jetzt auch die Erschütterungen, und als es, nur noch schwach, die Augen auf-und zuschlug, wurde es hell und dunkel, hell und dunkel – aber die Helligkeit überwog.
John Gowers hatte sich noch einmal gründlich abgesucht und dabei etwas gefunden, was er vorhin übersehen oder einfach nicht als brauchbares Werkzeug erkannt hatte: seine kurze, schwarz gerauchte Tonpfeife, die er auf einem Stein vorsichtig so zerschlug, dass der Pfeifenstiel wie ein kleines Stichmesser benutzt werden konnte.
Es war eine grauenhafte Arbeit, an der seine Stärke beinahe zerbrochen wäre und die er nur aushielt, weil er irgendwann die heftige, verzweifelte Bewegung in Deborahs Bauch spürte und wusste, dass er nicht allein war. Da war so viel mehr Blut, als er erwartet hatte, aber als die Haut, die Muskeln, das Bauchfell durchtrennt waren, wurde das Blut plötzlich wässrig, und er wusste, dass er die Fruchtblase zerstört haben musste.
Mit einer Hand spreizte er die klaffende Wunde im Leib seiner Frau, mit der anderen griff er hinein, ertastete vorsichtig ihre Eingeweide und fühlte dann, wie eine winzige Hand sich um einen seiner Finger schloss. Als er wusste, wie und wo das Kind lag, arbeitete er wilder und rücksichtsloser und erweiterte die grausige Öffnung in Deborahs Bauch, bis er es fassen konnte. Er fühlte ihr Rückgrat, als er seine Hand unter das Kind schob und es herauszerrte.
Seine Augen waren weit offen, aber es schrie nicht, atmete auch nicht, und erst als John mit dem Finger in die kleine Mundhöhle fuhr, hustete es leise, spuckte blutigen Schleim, und dann kam endlich ein erster Atemzug. Es war ein Mädchen. John zog sein Hemd aus und rieb damit die gelbliche, käsige Substanz ab, mit der das Kind bedeckt war. Dabei wickelte er auch die Nabelschnur ab und durchtrennte sie wahrhaftig mit seinen Zähnen wie ein wildes Tier. Auf seinen Lippen schmeckte er das Blut, das Deborah und das Kind so lange geteilt hatten.
Zum ersten Mal seit über zwei Stunden sah er sich jetzt in der Absicht um, festzustellen wo er überhaupt war und wohin er gehen würde. Es waren noch mindestens zwanzig Meilen bis Chester und zu der Anlegestelle von Gringoires Farm. Er musste von der kleinen Insel herunter, zum Illinois-Ufer, vermutlich auch noch den Kaskaskia überqueren – aber ehe er all das tat, musste er Deborah unter die Erde bringen.
Er zog der Leiche die blutige Kleidung vollends aus und wickelte seine Tochter, so gut es ging, darin ein. Dann zerriss er sein Hemd in schmale Streifen und verband damit die riesige Wunde. Nur kurz suchte er nach einer geeigneten Stelle und fand eine kleine Lichtung, auf der weder Wurzeln noch Fels seine Arbeit unmöglich machen würden. Der Boden war weich und feucht, dennoch brauchte er fast eine Stunde, um mit den bloßen Händen ein flaches Grab auszuheben. Anschließend trug er Deborah auf seinen Armen bis auf die Lichtung und legte sie nackt in die Erde. Ohne eine Träne zu vergießen, bedeckte er sie mit dem lockeren Aushub und hielt nur noch einmal kurz inne, um sich die Stelle für alle Ewigkeit einzuprägen.
Mit dem Kind, das er hoch über seinen Kopf hielt, überquerte John Gowers den schmalen Flussarm zum Ostufer. Er musste nur an zwei Stellen schwimmen, hatte aber große Schwierigkeiten, an der steilen Böschung eine geeignete Stelle zu finden, um an Land zu kommen. Einmal rutschte er ab und fiel ins Wasser zurück, wobei auch das Bündel nass wurde, das er umklammert hielt. Er vergewisserte sich, dass die Kleine noch atmete, küsste sie und versuchte es dann an einer anderen Stelle noch einmal.
154.
Die Nachricht vom Tod Manu-Raus und von der vernichtenden Niederlage der Pakeha verbreitete sich unter den Stämmen im Busch schneller und weiter als der Rauch darüber, und schon am Abend trafen erste kleine Gruppen neuer Verbündeter in Titokowarus Lager ein. Der Häuptling der Ngaruahine hatte deshalb alle Hände voll zu tun, und erst spät in der Nacht ließ er den sonderbarsten seiner Besucher noch einmal zu sich rufen.
Gowers war auf der Hut, als die Männer ihn aus dem Dorf hinaus in den Busch führten, und erwartete, jeden Moment einen Schlag über den Schädel zu bekommen. Dann bemerkte er jedoch einen schwachen rötlichen Schimmer zwischen den Bäumen und wusste, dass er zu dem niedergebrannten Scheiterhaufen gebracht wurde, aus dessen Asche noch hier und da die rote Glut funkelte wie die Augen eines vielköpfigen Raubtiers. Sein ungewöhnliches Sehvermögen löste die niedrigen Schatten davor zu den Silhouetten einer auf dem Boden sitzenden Gruppe von Männern auf, die leise miteinander redeten. Einer von ihnen erhob sich, trat zu ihm hin und schickte die Wachen weg. Gemeinsam gingen sie ein paar Schritte am Rande der Lichtung, fort von den anderen, und Gowers, noch immer bewaffnet, erkannte, was er am Nachmittag nur geahnt hatte: dass Riwha Titokowaru ein Mann ohne jede Furcht war.
»Haben Sie zu essen bekommen, Mr. Gowers?«, fragte der Häuptling.
»Ich habe keinen Appetit, Sir«, antwortete der Investigator, dem man im Dorf etwas Gebratenes angeboten und der dankend abgelehnt hatte, weil er nicht wusste, woher das Fleisch stammte.
»Ich verstehe«, sagte Titokowaru und ahnte nicht, dass Gowers sehr wohl das wilde Grinsen sah, das dabei über sein Gesicht huschte. Die Augen dem niedergebrannten Feuer zugewandt, ließ der Häuptling sich auf dem Boden nieder und lud seinen Gast mit einer flüchtigen Handbewegung ein, vor ihm Platz zu nehmen. »Und nun erzählen Sie mir Ihre Geschichte, Mr. Gowers!«
Es dauerte die halbe Nacht, denn er ließ nichts aus, nicht seinen Hass auf Te Kooti, nicht seine Freundschaft für von Tempsky, nicht einmal die Nacht mit Emilia. Was Titokowaru jedoch am stärksten zu interessieren schien, waren die Geschehnisse in Melbourne, der Tod der Kinder und ihrer Mutter und die seltsame, dunkle Rache, die Gowers über Meere und durch Urwälder bis nach Te Ngutu o te Manu getrieben hatte.
»Wie wollen Sie den Mörder erkennen, wenn Sie ihn sehen?«, fragte der Häuptling.
»Unter den Fingernägeln des geschändeten Mädchens war Blut. Er muss eine tiefe Narbe haben.«
Titokowaru nickte bedächtig. »Geben Sie mir das Messer«, sagte er dann, und Gowers reichte ihm die Klinge, die Poll Hunley und den kleinen Jonathan getötet hatte. Der Häuptling nahm das Messer des Mörders an sich, stand dann aber ohne ein weiteres Wort auf und streckte seine erstarrten Glieder. Er trat zu den glimmenden Resten des großen Feuers und pisste hinein. Zischend erloschen die letzten Funken seiner erschlagenen Feinde, und weißer Rauch umspielte seine Beine.
»Es ist spät geworden. Ich bin müde«, sagte er, und auf einen Wink hin erhoben sich nun auch seine Männer und gingen zurück ins Dorf. Gowers wurde unter Bewachung in eine gesonderte Hütte gebracht. Er hatte sich vorgenommen, nicht zu schlafen und am nächsten Tag nach Camp Waihi aufzubrechen. Was er dort tun würde, tun könnte, wusste er immer noch nicht und hatte lediglich den vagen Plan, irgendwie Kontakt zu Takiora aufzunehmen – falls sie überhaupt dort war und man ihn überhaupt freiließe.
Bei Sonnenaufgang fiel er aber dennoch in den kurzen, einstündigen Schlafrhythmus, den er sich auf seiner langen Reise angewöhnt hatte, das heißt, er erwachte jeweils nach einer Stunde, vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war, und nickte dann für eine weitere Stunde ein. Es mochte gegen acht Uhr am Morgen sein, als vereinzelte Schüsse ihm den Schlaf endgültig aus den Augen trieben. Er lauschte, aber der Lärm war nicht kriegerisch und klang auch nicht nach einer Jagdpartie. Offenbar war eine Art Scheibenschießen im Gange, nur wer schoss und auf was geschossen wurde, sah er auch dann nicht, als er die Hütte schließlich verließ.
Seine Wachen waren abgezogen worden und das Dorf nahezu leer. Nur ein paar Alte waren zurückgeblieben und kümmerten sich um die Dinge des täglichen Bedarfs, flickten Kleidungsstücke, spalteten Holz und bewachten ein Dutzend Schafe und Ziegen, die das spärliche Grün rings um die Hütten abgrasten und keiner Bewachung bedurft hätten. Die restlichen Bewohner fand Gowers jenseits der Palisade und auf der großen Lichtung als Zuschauer bei einem Schauspiel, das er zunächst nicht verstand.
Es waren ausschließlich Kinder, die feuerten, Jungen und Mädchen von neun, zehn, elf Jahren, zum Teil kleiner als die Gewehre, die die Frauen für sie luden. Die Krieger standen lediglich dabei und spornten die Kinder an, gaben Ratschläge, mahnten. Ihr Ziel konnte Gowers noch nicht ausmachen; er sah lediglich, dass zwischen den ersten vereinzelten Bäumen am Waldrand ein Seil gespannt war.
Als Titokowaru, noch immer in seinem europäischen Anzug, den Investigator herankommen sah, befahl er, das Feuer einzustellen, und winkte ihn zu sich. Gemeinsam gingen sie dichter an die Bäume und das Seil heran, und Gowers entdeckte schließlich den weißen Gefangenen, der dicht an den Boden gekauert hinter den Baumwurzeln Deckung suchte. Um seine Hüfte war ein zweites Seil geschlungen, das mit der langen »Laufleine« so verbunden war, dass er sich zwischen den Stämmen hin-und herbewegen konnte, zehn Schritte nach links, zehn Schritte nach rechts. Mit zitternden Händen arbeitete der Gefangene an den Knoten, die man jedoch mit Wasser übergossen hatte und die inzwischen so eingetrocknet waren, dass er sich bei den verzweifelten Versuchen, sie zu lösen, bereits einige Fingernägel abgerissen hatte.
Der Mann heulte und schluchzte, rief mit überschnappender Stimme: »Ihr seid keine Menschen! Ihr seid keine Menschen!«, in diese erste wirkliche Schießpause, und als er aufsah, erkannte Gowers die lange rote Narbe in seinem Gesicht.
»Ist das der Mann?«, fragte Titokowaru leise.
Gowers hatte James Fagan nur ein einziges Mal gesehen und ging noch ein Stückchen näher heran. »Bradley?«, rief er. »James Bradley?«
»Ja, Sir, jawohl, Sir«, schrie der Gefangene verzweifelt, und als er inmitten dieses Alptraums einen trotz seiner Tätowierungen offenbar weißen Mann vor sich sah, flackerte in seiner Stimme und seinen Augen die irrwitzige Hoffnung, doch noch einmal davonzukommen. »Retten Sie mich, Sir. Retten Sie mich! Um der Gnade Christi willen: Helfen Sie mir! Die wollen mich abknallen wie einen Hund!«
Einige Schüsse hatten ihn bereits gestreift; er blutete aus mehreren kleinen Wunden, war aber noch nicht ernsthaft verletzt. Einen Moment lang dachte Gowers daran, den Mörder, den er so lange gejagt hatte, selbst zu erschießen, aber dann erkannte er beinahe widerwillig die Gerechtigkeit, die in der von Titokowaru angeordneten Strafe lag. Er drehte sich um und ging langsam zu dem Häuptling der Ngaruahine zurück.
»Ja«, sagte er.
»Sir, bitte«, gellten die Schreie James Fagans in seinem Rücken. »Bitte gehen Sie nicht weg! Helfen Sie mir! So helfen Sie mir doch!«
Titokowaru zog das Messer aus dem Gürtel, das er Gowers in der Nacht abgenommen hatte, und schleuderte es bis zu der Baumwurzel, hinter der Fagan lag. Es war ein schlechter Wurf; die Klinge blieb nicht im Holz stecken, sondern prallte ab und blieb ein paar Schritte neben dem zum Tode Verurteilten liegen.
Als James Fagan merkte, dass das Feuer nicht wieder aufgenommen wurde, stürzte er aus seiner Deckung, packte das Messer und begann, seine Fesseln zu zerschneiden. Erst mitten in dieser Arbeit erkannte er, was er da in der Hand hielt. Er stutzte einen Augenblick, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf seine Peiniger, verstand nicht und würde nie erfahren, wie sein Messer an diesen Höllenort gekommen war.
»O mein Gott, mein Gott!«, rief er und fuhr dann in panischem Schrecken fort, sich zu befreien. Und auf diese Weise waren es ganz zuletzt drei Männer, die wussten, warum geschah, was geschah: der von Entsetzen geschüttelte Mörder, sein gnadenloser, unerbittlicher Verfolger und der furchtbare einäugige Richter. Dann hatte Fagan die Stricke durchschnitten und rannte mit taumelnden Schritten in den Wald.
»Jetzt!«, befahl Titokowaru, und jauchzend vor Mordlust und Jagdeifer schwärmten seine kleinen Henker aus, über die Lichtung, rannten wie ein Rudel hungriger Wölfe ihrer Beute hinterher und verschwanden zwischen den Bäumen. Wenig später hörte man einzelne Schüsse, Schreie, dann ein wildes Triumphgeheul aus einem Dutzend Kinderkehlen. Dann nichts mehr.
155.
Etwas zu wissen, ohne es beweisen zu können, kam im Leben eines privaten Ermittlers recht häufig vor. Genau genommen bestand seine Arbeit ja gerade darin, Beweise für bestimmte Vermutungen zu erbringen beziehungsweise so vielen Vermutungen nachzugehen, bis eine davon sich als evident erwies. Ein wichtiger Zweig seiner Tätigkeit war es auch, verloren gegangene Dinge wiederzubeschaffen oder wenigstens herauszufinden, wo sie geblieben waren und was mit ihnen geschehen war.
Dazu brauchte man in erster Linie Spuren, und die waren in dem Auftrag, einen Menschen namens Moses zu finden, von Anfang an dünn gesät gewesen. Aber nie war Gabriel Beale in dieser Hinsicht so ratlos wie in den Tagen, die der Flucht der Deep South folgten. War das Schiff explodiert und gesunken? Hatte sein verzweifelter mörderischer Plan funktioniert? Oder hatte John Gowers, der das ja schon einmal getan hatte, das Schiff und seine Mannschaft unsichtbar gemacht? Wie sollte er das herausfinden? Wo sollte er auch nur anfangen?
Auf dem großen Fluss hinterließ nichts und niemand eine Spur; allenfalls an seinen Ufern hätte man nach Indizien, Wrackteilen, Leichen zumindest suchen können. Aber wenn nicht gerade ein verkohltes Brett mit der Aufschrift Deep South oder eine Lotsenjacke mit dem Namenszug »John Gowers« angespült wurde oder ein Angler anstelle von Flussbarschen eine blaue Brille aus dem Wasser zog, wären auch Wrackteile und dergleichen keine Beweise, die dem hohen Wahrheitsanspruch des Detektivs genügten.
Gabriel Beale musste kapitulieren, und sein scharfer Verstand fand sich auch erstaunlich schnell mit der Tatsache ab, dass er dieses Rätsel nie lösen würde. Nur in seinen Träumen stand er Moses noch oft gegenüber und bettelte um sein Leben.
Desmond Bonneterre nahm es schwerer. Zweifellos war die Sache für ihn schon vorher zur fixen Idee geworden, die er jetzt umso weniger abschütteln konnte, als er nie Klarheit über sie haben würde. Dass sein ganzes Vermögen, sein Verstand, seine Macht und – seine Schnelligkeit nicht ausgereicht hatten, Moses zu fangen, kränkte auch seine Eitelkeit schwer.
Allen Ernstes erwog er, nach Wrackteilen zu suchen, als der Detektiv sagte, dass die Deep South mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Luft geflogen sei, und nur die lächerliche Figur, die er dabei machen würde, hielt ihn davon ab.
»Entschuldigung, sind hier in letzter Zeit Leichen angespült worden?!«
Er kaute seine Rachegedanken durch, bis sie jeden Geschmack verloren hatten, und konnte sie doch nicht hinunterschlucken. Anfangs betrank er sich jeden Abend, um überhaupt in einen wirren Schlaf zu finden, und zeitweise litt seine Potenz unter der jämmerlichen Ohnmacht, die schließlich das Einzige war, was er in dieser Sache empfinden konnte.
Aber irgendwann siegte seine Jugend, die Eitelkeit, das Wissen, dass er noch immer der »Herr« war, Hunderte von Sklaven und beinahe ein Land besaß, um das ihn mancher der kleinen europäischen Könige beneiden würde. Nur in der Nacht riegelte er seine Tür noch sorgfältiger ab als früher, wenn er auch die Gewohnheit beibehielt, Darioleta in seinem Schlafzimmer anzuketten. Manchmal verbarrikadierte er sich sogar in der jämmerlichen kleinen Angst, die tief in jeder Bosheit steckt. War es vorbei?
Seine Füße bluteten schon, als er am Ufer des Kaskaskia stand. Der Fluss war nicht übermäßig breit, aber tief, und obwohl er ein guter Schwimmer war, geriet das kleine Bündel in seiner linken Hand zweimal ins kalte Wasser. Er versuchte, das Kind warm zu reiben, aber es machte auch bei dieser rauen Behandlung die Augen nicht mehr auf. John trug es den Rest des Weges an seiner nackten Brust und konnte später nicht sagen, wann es aufgehört hatte zu atmen. Es hatte nie geschrien, und nicht ein einziges Mal hatte er die Stimme seiner Tochter gehört.
»Es war nicht deine Schuld«, beruhigte ihn die alte Syrah, als sie ihm das Bündel aus den zitternden Händen nahm. »Sie war noch zu klein. Sie konnte nicht leben.«
Syrah weinte bei diesen Worten – um das Kind, um Deborah, um ihren Mann – und wanderte später mit ihren Töchtern und Enkeln zu der Stelle, die John Gowers ihr bezeichnet hatte, um Blumen ins Wasser zu werfen.
John fand keine Tränen mehr nach allem, was er getan hatte.
»Ich weiß, wessen Schuld es ist«, erwiderte er irgendwann, als Syrah sich an ihre ersten Worte kaum noch erinnerte. Das Angebot, in ihrer Hütte zu wohnen, nahm er dankbar an, ging aber in den nächsten Tagen noch einmal nach Lawrenceville, um seine Sachen zu holen. Und erst als er sein altes Zuhause betrat, Deborahs Kleider sah und das Bett, in dem sie geschlafen hatten, brach er zusammen.
Drei Tage lang war er nicht fähig, etwas zu essen, und erst als er merkte, dass er vor Schwäche kaum noch stehen konnte, riss er sich wieder zusammen.
»Ich weiß, wessen Schuld es ist«, sagte er noch einmal laut, die ersten Worte nach diesen drei Tagen und die letzten, die er in ihrer gemeinsamen Wohnung sprach. John Gowers schnürte sein Bündel, schaffte es sogar, Deborahs Kleider zusammenzupacken, und ertrug es in den folgenden Wochen, sie an Syrahs Töchtern zu sehen. Es waren gute Kleider, und es wäre Verschwendung gewesen, sie wegzuwerfen.
Einen Winter lang rief er sich alles ins Gedächtnis zurück, was er über seine Feinde wusste, und ordnete dieses Wissen hinter seinen geschlossenen Lidern in die verschiedenen Systeme der Ars Memorativa ein. Dann kannte er zumindest die Fragen, die er stellen musste. Er hatte zwar deutliche Bilder, Gesichter vor Augen, aber keine Namen zu diesen Gesichtern. Den Kreolen sah er Tag und Nacht vor sich und wusste doch nicht, wie er hieß. Von dem anderen, dem Drahtzieher, dem Spion fehlte ihm beides. Wo also sollte er seine Suche beginnen?
Halbe Tage saß er jetzt über dem Fluss, schaute nach Süden und grübelte über diesen Fragen. Wie hatte die Louisiana-Miliz Barataria gefunden? Sollte er nach New Orleans gehen und Maggie über ihren unheimlichen Kunden befragen? Herausfinden, in welchem Hotel die Miliz damals abgestiegen war? Und wie sollte er die Namen, die er dabei womöglich erfuhr, den Gesichtern in seinem Kopf zuordnen? Nein, es musste einen anderen Weg geben; irgendetwas, eine Kleinigkeit, die er übersehen hatte, eine Spur, der er nachgehen, einen Faden, den er aufgreifen konnte.
John Gowers wurde zum Detektiv in diesem Winter, und es war kein glücklicher Zufall, sondern konzentrierte Gedankenarbeit, die ihm die Lösung brachte. Als er zum hundertsten Mal durchdachte, bei welchen Gelegenheiten er den Kreolen gesehen hatte, fiel ihm plötzlich ein, dass er doch einen seiner Feinde namentlich kannte und sogar wusste, wo er wohnte: »Mein Name ist Lemuel Willard. Ich besitze eine Baumwollplantage bei Indian Mound.«
War ihm anzusehen, dass er seinen Weg gefunden hatte? Syrah setzte sich zu ihm an diesem Abend und sah lange in seine Augen.
»Du wirst bald fortgehen«, sagte sie.
John nickte.
»Du wirst fortgehen und kämpfen, und ich werde hierbleiben und pflanzen.« Sie sah ihn jetzt nicht mehr an, und er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch mit ihm sprach oder mit Gringoire, dessen Stiefel er trug.
Syrah beendete diese Zweifel mit ihren nächsten Worten. »Ich wollte dir sagen, John Gowers, dass du immer herkommen kannst, wenn du müde vom Kämpfen bist. Und wenn ich nicht mehr lebe, denn ich bin alt, werden meine Töchter und ihre Kinder da sein und auf dich warten.«
»Ich werde kommen, wenn es vorbei ist«, erwiderte John.
»Nein.« Die alte Frau lachte leise. »Komm auch sonst. Denn es wird nie vorbei sein, John Gowers. Dieser Kampf endet nicht mit dir oder mir. Er war immer da und wird niemals aufhören!«
156.
Wieder liefen die Pakeha gegen den scheinbar schwächsten Teil der Palisade an, eine neue Welle des alten Sturms, der aus Europa über die Erde gekommen war bis in ihren letzten Winkel. Wieder feuerten die Maori aus verborgenen Stellungen im Wald, aus getarnten Schützentürmen, gedeckten Gräben. Wieder, noch einmal ihr Schlachtgesang: »Hold the Land! Hold the Land!«
Wieder flogen die Kugeln dicht wie Hagel, durchschlugen Menschenfleisch, Knochen. Wieder mischte sich Pulverdampf mit dem Morgennebel, fielen die Zwanzig-, Fünfundzwanzigjährigen beider Seiten, rannten in ihren Tod. William Keneally, geboren in Antrim am Lough Neagh, von verzweifelten irischen Eltern über das Meer getragen, die nicht mehr wollten als ein Stück Land, das keinem englischen Großgrundbesitzer gehörte. Te Waka Taparuru vom Stamm der Pakakohe, der das Land seiner Ahnen nicht hergeben wollte. Sie lagen dicht beieinander. Ihr Blut floss in die gleiche Erde.
Der Hügel von Okotuku war ein erfahrenes Schlachtfeld. Vor weniger als drei Jahren hatte General Chute hier mit zehnfacher Übermacht ein Widerstandsnest der Maori zerschlagen, und man fand hier und da noch die verkohlten Balken niedergebrannter Hütten unter dem rasch wachsenden Farn. Aber schon früher, in alter Zeit, hatten sich immer wieder Menschen um den Besitz von Okotuku Hill geschlagen, denn der Hügel beherrschte die umliegende Landschaft und war auf der Ost-und Westseite durch steile Waldschluchten geschützt. Nach Süden, zur Küste hin, hatten vielleicht schon die frühesten Bewohner vor drei, vier, fünf Jahrhunderten eine Lichtung von nahezu einem halben Kilometer Durchmesser in den Urwald geschlagen, sodass sich kein Feind dem Ort unbemerkt nähern konnte. Es war der ideale Platz für eine Befestigung, darum wählte Titokowaru ihn aus, um der neuen Armee, die die Pakeha gegen ihn ausgesandt hatten, standzuhalten.
Obwohl ihm nach dem Sieg von Te Ngutu o te Manu zwei Monate lang immer neue Verbündete zuströmten, war er militärisch gesehen noch immer in der schwächeren Position. Gewiss, die Pakeha hatten sich zurückgezogen, hatten Siedlungen, Militär-und Handelsposten aufgegeben, die seit Jahrzehnten in ihrem Besitz waren. Aber doch nur, er wusste es gut, um sich erneut zu sammeln, um ihn und seine hundertfünfzig Krieger mit einer nur noch größeren Welle an Menschen und Material wegzuspülen aus Taranaki. In einer offenen Schlacht konnte er sie niemals besiegen und musste sie deshalb dazu bringen, ihn noch einmal anzugreifen, an einem Ort, den er bestimmte, in einer Falle, die er stellte.
Moturoa, das befestigte Dorf, das er am Fuß des Hügels von Okotuku in weniger als einer Woche errichten ließ, war diese Falle. Seine Palisade war bloßer Schein, eine Art spanische Wand, hinter der Wall und Graben seine Schützen verbargen. Ihre linke Seite hatte er bewusst so belassen, als sei sie nicht rechtzeitig fertig geworden, in der Hoffnung, dass die Pakeha ihren Angriff auf diesen Punkt konzentrieren würden. So lag die ganze lange Strecke von dreihundert Metern Lichtung, die die Angreifer überqueren mussten, im Schussfeld seiner Krieger. Dass Titokowarus Plan funktionierte, lag aber nicht allein an dessen Genialität, nicht allein an der durch die bei Te Ngutu erbeuteten Waffen erhöhten Feuerkraft, sondern an der Person seines Gegners.
Thomas McDonnell hatte schon unmittelbar nach der vernichtenden Niederlage gewusst, dass seine Tage als »Fighting Mac« gezählt waren. Insbesondere die Forest Ranger hatten sich ganz offen geweigert, seinem Befehl länger zu gehorchen, taten, was sie wollten – und das war vor allem: trinken –, und traten schließlich nicht einmal mehr zum Dienst an. Es war militärische Meuterei in ihrer reinsten Form, und da man sich nach wie vor im Krieg befand, hätte er diese Männer erschießen lassen können. Er war aber nicht sicher, ob auf seinen Befehl überhaupt noch irgendjemand geschossen hätte, und löste stattdessen das gesamte Regiment auf, das heißt, er entließ von Tempskys stolze Truppe ganz einfach unehrenhaft aus der neuseeländischen Armee. Sie mussten ihre Waffen abgeben und konnten ihrer Wege gehen.
Das war seine letzte Amtshandlung als Oberkommandierender. Die Regierung dankte McDonnell für seine Dienste und verabschiedete ihn mit militärischen Ehren aus der Geschichte. Bei den kurz darauf stattfindenden Wahlen verabschiedete das Volk allerdings auch die Regierung.
Der neue Mann an der Spitze der neuseeländischen Streitkräfte hieß George Stoddard Whitmore und wurde von seinen eigenen Offizieren mit Adjektiven beschrieben, die im Zivilleben eine Flut von Beleidigungsklagen ausgelöst hätten: heuchlerisch, arrogant, taktlos, verachtenswert, viehisch, aufgeblasen, schwachsinnig, eingebildet und »ein widerliches kleines Schwein, hart wie ein Schusternagel, der jeden seiner Männer in Grund und Boden marschieren könnte«.
Die Eigenschaft, die ihn so viele »menschliche Qualitäten« überhaupt ertragen ließ, kann allerdings ohne Übertreibung als die Kardinaltugend eines Soldaten bezeichnet werden; eine Tugend, die jedweden militärischen Erfolg letzten Endes erst ermöglicht: Whitmore war stur. Ein einmal ins Auge gefasstes Ziel aufgrund welcher Umstände oder Argumente auch immer irgendwann wieder aufzugeben lag ganz einfach außerhalb seiner Vorstellungskraft.
Als er Moturoa im Morgengrauen vor sich liegen sah, baute Whitmore seinen Angriffsplan auf zwei Annahmen auf; dass die Annäherung seiner Armee unbemerkt geblieben war und dass die Befestigung des Pas auf der rechten Flanke eine offensichtliche Lücke aufwies. Vergeblich sagten ihm seine Kupapa, dass es ein schlafendes Kriegslager der Maori nicht gibt, dass Moturoa viel zu still war, um überrumpelt zu werden. Ohne Gehör zu finden, wiesen ihn auch die Veteranen der Patea Field Force darauf hin, dass die Palisade schon bei Te Ngutu nicht die eigentliche Verteidigungslinie der Rebellen gewesen war, sondern der dichte, nebelverhangene Wald.
Aber schon am Tag zuvor hatte Whitmore doppelte Rationen an seine Männer ausgeben lassen, und jeder Soldat jeder Armee jedes Jahrhunderts weiß, was das bedeutet: Der Angriff stand unmittelbar bevor und würde schon aus logistischen Gründen nicht mehr verschoben werden. William Hunter, der Mann, der Turuturu Mokai verschlafen hatte, befehligte die Attacke. Und selbst als sie in einer Wand aus Blei stecken blieb, als seine Männer, soweit sie nicht gefallen waren, auf dem nackten Boden kriechend nach Deckung suchten und ihn baten, sich doch hinzulegen, um Gottes willen, blieb Hunter aufrecht, ging im unablässigen Feuer auf und ab.
»Heute muss ich der Welt zeigen, dass ich kein Feigling bin!«
Eine Kugel erwischte ihn unterhalb der Hüfte, zerriss die Arteria Femoralis, und er verblutete binnen weniger Minuten, ein viktorianischer Held, mit dem irritierenden Gefühl einer Unmenge warmer Flüssigkeit zwischen den Beinen. Noch zwei ganze Abteilungen jagte Whitmore gegen die einmal ausgewählte »Schwachstelle«, ehe er den Rückzug befahl.
Wieder ein mit Leichen übersätes Schlachtfeld. Wieder versuchten die Weißen, ihre gefallenen Kameraden mitzunehmen, wieder verloren sie dabei nur noch mehr Männer. Wieder kopflose Flucht, Verfolgung, Jagd durch den weglosen Busch. Wieder wurden Gefangene und Verwundete mit Äxten niedergemacht, geplündert. Am Rande des Waldes baute die Nachhut eine Verteidigungslinie auf, um der fliehenden Armee den geordneten Rückzug über eine Meile freies Feld in den kleinen Stützpunkt Wairoa zu ermöglichen.
Aber der Wald schien plötzlich lebendig zu werden, knackte, summte, jeder Baum wurde zu einem Feind. Da nahm auch die Nachhut die Beine in die Hand, und achthundert Männer rannten in wildem Zickzack über die offene Fläche, verfolgt von den Salven der hundert Maori, als würden Mäuse eine Katze verjagen. Einem an der Schulter verwundeten Soldaten dauerte der geordnete Rückzug zu lange. Er sprang von der Tragbahre und rannte seinen Trägern voraus. Ein paar Granaten, von der schweren Artillerie Wairoas in den Urwald gefeuert, beendeten das Triumphgeheul der Aufständischen, aber hier und da hörte man noch die Todesschreie der Versprengten, die ihnen in die Hände fielen.
Neu war an diesem blutigen Tag nur ein Gerücht, das unter den Pakeha die Runde machte. Einige sagten, andere bestätigten, Dritte schmückten aus, dass sie in den Reihen der Maori, durch Pulverdampf, Nebel, Unterholz, kriechende Schlingpflanzen hindurch einen tätowierten Weißen gesehen hätten, der auf Titokowarus Seite kämpfte.
157.
»Er will nicht zu etwas oder jemandem gehören.«
Es waren diese Worte, die Te Kooti, der Prophet, über ihn gesprochen hatte, die John Gowers beschäftigten. Was immer man von dem seltsamen Heiligen und seinen Methoden halten mochte, er war ein kluger, vielleicht sogar hellsichtiger Mann, der wusste, was er wollte, und Gowers fragte sich am Ende seiner langen Jagd, ob er das Gleiche auch von sich selbst behaupten konnte.
Seit Deborah tot war und er den letzten ihrer Mörder zur Strecke gebracht hatte, war er nur noch ein Beobachter im endlosen Krieg aller gegen alle gewesen, hatte sein Geschäft, die Aufklärung von Sachverhalten, hatten seine Aufträge als Ermittler ihm kurzfristige, rasch wechselnde Ziele gewiesen. Er war aus Notwendigkeit Detektiv geworden und es eigentlich nur geblieben, weil er es verhältnismäßig gut konnte, weil es seine unterschiedlichen Fähigkeiten forderte und gelegentlich sogar befriedigte. Jetzt, in einem Teil der Welt, in den zu kommen er nie beabsichtigt hatte, Freund und Feind tot, fragte er sich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder, wohin er eigentlich wollte.
Te Kootis Angebot, mit den Maori zu leben, hatte er abgelehnt, weil er noch etwas zu tun hatte und »wegen des religiösen Scheißdrecks«, wie er es vor sich selbst formulierte. Auch der Häuptling der Ngaruahine zog sich von Zeit zu Zeit in die Taha wairua, das Land der Geister, zurück, aber er war kein Prophet und forderte von keinem seiner Anhänger, an ihn zu glauben. Titokowaru war ein Kämpfer – und darin dem Seemann, Lotsen, Soldaten und Investigator sehr ähnlich. Nur der eine wesentliche Unterschied zwischen ihnen wurde ihm klar, als der Häuptling ihn unmittelbar nach der sonderbaren Hinrichtung Fagans gut gelaunt fragte: »Woher kommen Sie, John Gowers? Wo ist Ihre Heimat, Ihre Familie?«
Was sollte er antworten? Er schüttelte nur den Kopf.
Titokowaru schien zu verstehen und wurde ernsthafter.
»Wo sind Ihre Toten begraben?«
Wieder Kopfschütteln. Wo sollte er anfangen? Sein Vater, im Berg? Jane, in den Seziersälen irgendeines Londoner Lehrkrankenhauses? Deborah, auf einer kleinen Insel, die der Mississippi vielleicht längst weggewaschen hatte?
»Kommen Sie heute Abend in meine Hütte«, sagte der Häuptling, als er keine Antwort erhielt. »Ich möchte mit Ihnen reden.« Und er gab seinen Leuten Befehl, den sonderbaren stillen Pakeha nicht länger zu bewachen wie einen Gefangenen. Am Abend aßen sie Fleisch.
»Schwein«, sagte Titokowaru und lächelte. »Sie müssen keine Angst haben.«
»Ich habe keine Angst«, erwiderte Gowers, von der Qual der Fragen tiefer erschöpft als von seinen langen Reisen. »Ich weiß nur nicht, warum ich noch essen soll.«
»Vielleicht, weil es schmeckt«, sagte der einäugige Häuptling, das wüste Gesicht zu einem Grinsen verzogen. Er griff in den Staub, in den festgestampften Boden der Hütte und hielt Gowers die Hand hin. »Ich bin aus dieser Erde gewachsen, John Gowers, und sie hält mich fest, solange ich lebe, und wird mich festhalten, wenn ich nicht mehr lebe; wie sie es schon mit meinem Vater und seinem Vater und dessen Vater und all meinen Ahnen getan hat seit tausend Jahren, seit die Tangata Whenua, die aus dem Meer kamen, dieses Land in Besitz nahmen.«
Titokowaru musterte den abgezehrten Fremdling lange und eindringlich. »Ich glaube, dass Sie zu den Tangata Whenua gehören«, meinte er dann. »Wir sind also verwandt, und Sie können ruhig zugreifen.«
Gowers lachte und aß.
»Wie kommen Sie nun eigentlich zu Ihrem Moko?«, fragte der Häuptling nach dem Essen und reichte seinem Gast dabei eine der erbeuteten Feldflaschen mit Schnaps. Am Geschmack erkannte der Investigator, dass die Flasche einem Offizier gehört haben musste, überlegte kurz, wem, und sagte sich dann, dass der Mann sicher nichts dagegen hätte, wenn das Getränk seinem Verwendungszweck zugeführt wurde.
Über Te Kootis Flucht von Chatham und seine eigene Verbannung aus dem Lager Nga Tapa hatte Gowers bereits berichtet, aber die etwas heiklen Details bislang verschwiegen. Titokowaru lachte leise darüber, wie der Prophet des Ringatu seinen Navigator überlistet hatte, aber danach schallend über Gowers’ Antwort hinsichtlich göttlicher Offenbarungen.
»Das Moko selbst entehrt Sie nicht, mein Freund«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Genau genommen ist es der einzige Grund, aus dem Sie mein Lager lebend betreten haben«, fügte er trocken hinzu. »Es hat uns zusammengebracht.« Der Häuptling erhob sich und zog seine europäischen Kleider aus, sogar seine Schuhe.
»Das sind die Zeichen, die ich erhalten und mir selbst gegeben habe, John Gowers«, sagte er, als der Amerikaner sich gerade fragte, was daraus werden sollte. »Mein Whakapapa.« Titokowaru deutete auf die Tätowierungen an seinen Armen, Beinen und Hinterbacken.
»Dies«, fuhr er fort und legte die rechte Hand auf seine linke Schulter, während er sich umdrehte und Gowers seinen Rücken sehen ließ, »sind die Menschen, die ich liebte und die gestorben sind. Ihre Namen werden meinem Geist helfen, sie im Jenseits wiederzufinden.«
Gowers sah nur Linien, Kreise und Punkte auf dem linken Schulterblatt des hageren und dabei so kräftigen Mannes.
»Und dies«, sagte der Häuptling mit deutlich veränderter Stimme, als er die linke Hand auf seine rechte Schulter legte, »sind die Männer, die ich getötet habe und deren Geistern ich wieder begegnen möchte, um sie noch einmal zu töten!«
Der Investigator registrierte, dass die Zeichen auf der linken, der Herzseite, eine deutlich größere Fläche bedeckten als die wenigen dünnen Striche auf der rechten.
»Sie haben mehr geliebt als gehasst«, stellte er fest. Titokowaru nickte erstaunt, dann setzte er sich wieder nieder und schürte bedächtig das Feuer.
»Vielleicht ist dies das Beste, was man über mich sagen kann, John Gowers.«
Sein Status bei den Rebellen blieb ungeklärt in den beiden Monaten, die sie nach der Schlacht von Te Ngutu o te Manu durch die weglosen Wälder, die befreiten Ebenen zogen. Er war kein Gefangener, kein Gast, aber auch kein Verbündeter, obwohl er an der Befestigung von Moturoa mitarbeitete, Bäume fällte, Gräben aushob. Niemand redete viel mit ihm, weil keiner ihn einordnen konnte. Wiremu Katene jedenfalls schien ihn zu hassen, vielleicht, weil er selbst ein Überläufer war, dem man noch immer mit Misstrauen begegnete. Aber weil er ein Überläufer war, konnte er es nicht sagen.
John Gowers beneidete insgeheim jeden dieser Menschen darum, dass sie wussten, wofür sie kämpften. Er selbst kämpfte nicht am Okotuku Hill, überbrachte aber Befehle, Berichte, Munition, Wasser und half, ihre Verwundeten zu bergen. Er konnte nicht auf Männer schießen, mit denen er gegessen, gelacht hatte, durch die Lavaebenen des Tongariro marschiert war. An den schauerlichen Ritualen des Sieges nahm er nicht teil, wanderte allein durch die Wälder, so oft, so weit und so lange, dass einige Männer befürchteten, er könne den Pakeha ihren Standort und ihre Pläne verraten, und den Häuptling baten, ihn doch noch töten zu dürfen. Titokowaru lehnte das ab.
Einige Tage nach Moturoa kam John Gowers dann zur Hütte des Häuptlings und bat ihn um Papier und Schreibzeug. Titokowaru riss eine leere Seite aus Manu-Raus Tagebuch, in dem er zu seiner Erbauung hin und wieder las. Der Investigator schrieb etwas nieder, wenige kurze Worte, aber in deutlichen Buchstaben. Dann suchte er den Tatauiermeister der Ngaruahine auf. Zu seiner Überraschung war es noch ein ganz junger Bursche, eigentlich noch ein Lehrling, der jetzt seinen bei Moturoa gefallenen Meister ersetzen musste.
»Du willst es?«, fragte er, wie er es nach den uralten Gesetzen seines Handwerks tun musste. Gowers nickte, zog sein Hemd aus und legte sich auf den Bauch. Der junge Mann sah sich noch einmal die Zeichen an, die er dem anderen ins Fleisch schlagen würde.
Jane Gowers, Deborah Williams, stand auf der linken Seite des Papiers. Desmond Bonneterre, Gabriel Beale, Henry Wirz, auf der anderen. John Gowers hatte länger gehasst als geliebt.
158.
Lemuel Willard war ein sehr mäßig begabter Heilkünstler, aber zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass er sich dieser Tatsache stets bewusst war. Bar jeder medizinischen Eitelkeit hielt er es deshalb für das Vernünftigste, ernsthaft erkrankten Patienten nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen und sich auf die kleineren, leichter erkennbaren Wehwehchen zu spezialisieren, die die Natur bereithielt. Beides gelang ihm auch einigermaßen, und zumindest war in und durch seine bisherige medizinische Praxis noch niemand ums Leben gekommen – was nicht jeder Arzt des 19. Jahrhunderts von sich sagen konnte.
In seiner Seele war er ein Dichter, ein Schöngeist, dem bereits in der Jugend die griechisch-römische Klassik über alles ging und dessen Geschick im Umgang mit Worten früh auffiel. Für den zweiten Sohn eines harten, sehr harten iroschottischen Pflanzers lag ein entsprechendes Studium natürlich außerhalb aller denkbaren Lebensentwürfe, und erst die vehemente Fürsprache eines evangelikalen Pfarrers ermöglichte es Lemuel, die zumindest halb intellektuelle Laufbahn eines Veterinärmediziners einzuschlagen. Und nur weil zum Viehbestand einer Baumwollplantage selbstverständlich Sklaven gehörten, hatten weder Vater noch Bruder etwas gegen eine zusätzliche humanmedizinische Spezialisierung des »Familientrottels« einzuwenden.
»Er wird selbst sein bester Kunde sein«, lautete ihr höhnischer Kommentar, denn der sensible, versponnene Junge hatte nie großes Talent für Farm-und Handwerksarbeiten erkennen lassen, sondern nur die Gabe, sich bei der kleinsten entsprechenden Tätigkeit zu verletzen. Auch im Zuge seiner akademischen Ausbildung musste er durch einen Wald geschüttelter Köpfe gehen, und noch die wohlwollendsten Professoren gestanden sich irgendwann resigniert ein, dass sie selten einen Kandidaten der Medizin mit noch geringerem Verständnis für die menschliche Anatomie gesehen hatten.
Sogar im amerikanisch-mexikanischen Krieg, zu dem Willard – nach dem frühen Tod seines Bruders ein höchst wider-und eigenwilliger Plantagenbesitzer geworden – sich freiwillig gemeldet hatte, wurde er von seinen Vorgesetzten im Lazarettdienst sehr bald nur noch mit der Applikation von Einläufen befasst; eine Heilbehandlung, bei der auch ein unbedarfter Anatom kaum fehlgehen konnte, die ihn aber bei den verwundeten Soldaten nicht sonderlich beliebt machte. Dass er trotz seiner Verschrobenheit ein sehr wohlhabender Mann geworden war, verdankte Willard allein der Tatsache, dass der Boden, den er geerbt hatte, so ungewöhnlich fruchtbar war, dass man nur darauf spucken musste, um Baumwolle zum Wachsen zu bringen.
Längst hatte er das Geschäft seinem ältesten Sohn übertragen, pflegte aus purer Liebhaberei seine rhetorischen Künste und trat fast nur noch bei den bedauernswerten Sklaven seiner Familie in eine bescheidene ärztliche Erscheinung. Noch immer war er dabei der Ansicht, dass es kein Leiden des Körpers oder der Seele gäbe, das sich nicht durch einen kräftigen Einlauf lindern ließe. Erst in jüngster Zeit, auf seine alten Tage, hatte er außerdem die üble Gewohnheit angenommen, bei entsprechend guten Gelegenheiten auch die Geschlechtsreife seiner jugendlichen Patienten und Patientinnen persönlich auf die Probe zu stellen.
Seine philologische Tätigkeit beschränkte sich inzwischen auf Übersetzungsversuche der Carmina Priapeia, die er insgeheim allerdings so gelungen fand, dass er sogar von einer – selbstverständlich anonymen – Veröffentlichung zu träumen wagte. Aber auch zu eigenen Versen ließ Doktor Lemuel Willard sich noch gelegentlich hinreißen, wobei er am reichlich unpoetischen Sujet der Zote seine Beredsamkeit zu schulen glaubte.
»Wie glücklich ist ein Hintern, der gut geschissen hat«, murmelte er deshalb frei assoziierend und auf der Suche nach passenden Reimwörtern vor sich hin, als er an diesem Tag die abgelegenste Ecke seiner Pflanzung aufsuchte, um wieder einmal den Gesundheitszustand des Jungviehs zu kontrollieren und einem Feldarbeiter auf die Beine zu helfen, der sich angeblich den Fuß verstaucht hatte, in Wirklichkeit aber wohl nur faul genug war, seit zwei Tagen nicht zur Arbeit zu erscheinen.
Ein weißer Landstreicher, ein erbärmliches, besitzloses Geschöpf, hatte sich von dem erkrankten Nigger tatsächlich als Botenjunge gebrauchen lassen und den Doktor bestellt. Überall im Süden gab es solche Männer, manchmal verarmte Kleinfarmer, aber häufiger bloße Müßiggänger und Vagabunden, die sogar von den Sklaven verachtet wurden. Die Ritter des Südens betrachteten diesen Abschaum ihrer Gesellschaft als die niedrigste Stufe der menschlichen Existenz. Jesus Christus! Was blieb denn schon von einem Mann übrig, der seinen Stolz verloren hatte?! Man gab ihm ein paar Pennys und jagte ihn vom Hof.
Lemuel Willard war deshalb sehr erstaunt, den Mann plötzlich noch einmal auf seinem Weg zu entdecken, und noch überraschter, dass er eine Pistole auf ihn richtete.
»Steigen Sie ab, Sir!« Die Stimme klang weniger brüchig und alkoholgetränkt als noch am Nachmittag zuvor, und Doktor Willard fragte sich für eine Sekunde, ob und wo er diese Stimme schon einmal gehört hatte. Der Mann in seinen abgerissenen Kleidern, mit seinem verwilderten Bart, kam ihm jedenfalls nicht bekannt vor, und ein anderer Gedanke verdrängte auch sofort jene erste Frage, während er gehorsam von seinem Pferd stieg. Konnte es sein, dass eines dieser niedrigen Geschöpfe doch noch einen Funken Stolz besaß und sogar straßenräuberische Initiative entwickelte? Hatte er die Tatsache, dass der Arzt allein unterwegs sein würde, als günstige Gelegenheit erkannt? Oder hatte er diese Gelegenheit vielleicht sogar selbst herbeigeführt? Wenn dem so war, musste man ihn ernster nehmen, als es einem Mann, der eine Schusswaffe auf einen richtet, ohnehin zusteht.
»Es tut mir ehrlich leid, dass ich kein Geld bei mir habe, mein lieber Mann«, sagte Willard deshalb. »Aber wenn Sie die Waffe wegnehmen und mit mir zum Haus zurückkehren, wäre es mir eine Ehre, Ihnen mit Barmitteln auszuhelfen. Die Summe dürfte allerdings eine vernünftige Höhe nicht übersteigen«, fügte er einschränkend hinzu, um die Ehrlichkeit seiner Absichten deutlich zu machen. Er bemühte sich sogar um ein Lächeln, das jene Mischung aus Besorgnis und Wohlwollen darstellen sollte, die Medizinern so gut zu Gesicht steht. Zu seiner Bestürzung sagte der Mann jedoch nur: »Ich brauche kein Geld«, und führte das Pferd in den dichten, niedrigen Wald neben der Straße.
Auf dem Weg zum Flussufer wuchs Lemuel Willards Angst zu nahezu offener Panik. Er wusste nicht, was dieser sonderbar ruhige, fast kalte Mensch von ihm wollte, außer dass es offensichtlich auch nicht sein Pferd war. Was ihn so sehr beunruhigte, war die einfache Überlegung, dass er einen Mann, der kein Geld wollte, auch nicht kaufen konnte, also nicht mehr den Universalschlüssel des Lebens in der Hand hielt, den die Besitzenden immer zu haben glauben. Gleichzeitig wurde ihm mit jedem Schritt klarer, wie ungeheuer nahe die Abgründe der Wildnis neben den fest gegründeten Säulen der Zivilisation liegen.
Er war auf seinem eigenen Grund und Boden, keine Stunde vom Herrenhaus entfernt, wo zwei Dutzend Diener auf einen bloßen Wink seiner Hand hin all seine Wünsche erfüllen würden. Polizei, Rechtssystem, Religion und all die Regeln, die seine, die herrschende Klasse aufgestellt hatte, um weiter und immer weiter herrschen zu können, waren plötzlich unendlich weit weg und bedeutungslos, und nur der Fingerdruck eines Wahnsinnigen trennte ihn noch von der dunklen Seite. Es war empörend – und dennoch wagte er nicht, sich zu empören.
»Hören Sie«, begann Lemuel Willard erneut, und nackte, ehrliche Angst beherrschte die Stimme des zungenfertigen Mannes, als er auf einen scharfen Befehl des anderen stehen bleiben musste. »Überlegen Sie sich gut, was Sie tun …«
»Das tue ich, Sir«, antwortete John Gowers, der allerdings sehr lange und gründlich über das nachgedacht hatte, was er tat und tun würde. Eine Stunde später wusste er, was er wissen wollte, kannte alle Zusammenhänge, die zur Schlacht von Barataria, zum Tode Lafflins, zur Explosion der Deep South und dem geführt hatten, was danach geschehen war. Er kannte nun auch endlich den Namen zu dem bösartigen Gesicht, an das er sich so gut erinnerte: Desmond Bonneterre.
An der Erleichterung des Arztes darüber, dass er sein Leben anscheinend durch ein paar kleine Informationen retten konnte, las Gowers ab, dass der Mann die Wahrheit sagte, und kam jetzt zum zweiten Teil seines Plans. Er holte Federhalter, Tinte und Papier aus seinem Bündel.
»Schreiben Sie, Sir!«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Willard, schrieb aber auf die Bemerkung hin, dass dies auch nicht nötig sei, und hielt sein Gegenüber dann doch wieder für geisteskrank. Deshalb sagte er, nachdem er das kurze Empfehlungszeugnis für Mr. Benjamin Williams geschrieben hatte, mit aller heilberuflichen Mitmenschlichkeit, derer er noch fähig war: »Sie wollen sich also hier in der Gegend um eine Stellung bewerben, Mr. Williams? Aber warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Ich werde natürlich sofort mit meinem Verwalter reden und …«
»Ziehen Sie Ihre Kleider aus, Sir!«
»Warum?«, fragte der Arzt und fühlte, wie erneut ein unkontrollierbares Zittern seinen Körper durchflutete.
»Sagen wir, ich brauche einen gewissen Vorsprung«, log John, um Lemuel Willard in Sicherheit zu wiegen, und schluckte bitter, als diese Lüge ihren Zweck erfüllte.
Natürlich, dachte Willard, ohne Kleider werde ich natürlich etwas länger brauchen, um Alarm zu schlagen, und die zweifelhafte Logik dieser Überlegung ließ ihn allen Stolz eines Ritters des Südens vergessen. Das nackte Leben, nichts als das nackte Leben! Diese Worte rasten durch seinen Kopf, aber er war doch auch schon wieder ruhig genug, um über die rhetorischen Möglichkeiten nachzudenken, die dieser Umstand ihm bei seinen späteren Berichten darüber bieten würde. Widerstandslos stieg er aus seinen Kleidern und drehte sich auf eine entsprechende Aufforderung hin sogar zum Fluss um.
Er sah den Mississippi durch die niedrigen Bäume schimmern, dachte daran, wie oft er als Junge schwimmen gegangen war und warum er es eigentlich so lange nicht mehr getan hatte. Fast glaubte er, das Wasser bereits auf seiner Haut zu spüren, hörte das leise Rauschen der Strömung und zuletzt einen scharfen Knall.
John hatte sich die Stelle sehr genau ausgesucht. Er kannte den Fluss gut genug, um zu wissen, dass erst zwei oder drei Tage später bei Plaquemine oder Seymourville eine nackte Leiche angetrieben würde. Mit ein wenig Glück hatten Fische und Alligatoren dann bereits ihre Arbeit getan.
159.
Matutaera Tawhiao Te Wherowhero, König der mächtigen Waikato-Stämme, war ein kluger Mann. Er sah mit Freude, wie die Herrschaft der Pakeha in Neuseeland unter den Schlägen Titokowarus im Süden und Te Kootis im Osten erzitterte. Ihm war klar, dass beide fest auf seine Unterstützung rechneten, denn er konnte im Ernstfall eine Armee von dreitausend Kriegern aufstellen und wusste, dass sie zu dritt, unter seiner Führung, die Weißen vermutlich ins Meer werfen konnten. Aber er wusste auch, dass dann die Engländer zurückkommen würden, mit einer gewaltigen Kriegsflotte, Heeren und Waffen, denen die Maori wenig entgegenzusetzen hätten.
Es war besser, sich mit einer schwachen und eingeschüchterten Kolonialregierung in Wellington auseinanderzusetzen, als mit London; einem neuseeländischen Premierminister günstige Bedingungen abzuhandeln als seiner königlichen Kollegin Viktoria. Da auch den Weißen klar sein musste, dass ihr Überleben als eigenständige Kolonie letztlich von seiner, Tawhiaos Tätigkeit oder eben Untätigkeit abhing, wäre auf diese Weise sein Königreich auf Jahre hinaus gesichert. Im Hinblick auf Te Kootis Aufstand ließ sich diese Politik auch mühelos umsetzen. Der Mann war ein Emporkömmling, den niemand wollte, und er war offensichtlich verrückt. Tawhiao lachte herzlich über seine Drohung, der Fluch Jehovas und das Schwert des Propheten würden ihn und all seine Gefolgsleute treffen, wenn sie nicht endlich Hilfe brächten.
Der Krieg im Osten war ohnehin nicht viel mehr als eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Stämmen, ein Kampf um Land und Einfluss wie damals in den Musketenkriegen. Schon bei seinem Überfall auf Matawhero hatte Te Kooti mehr Maori als Weiße umgebracht und alte Rechnungen beglichen. Nichts war logischer, als dass die Pakeha seine Verfolgung weitgehend ihren Kupapa-Verbündeten überließen und selbst nur hier und da mit eher kleinen Abteilungen ihrer Soldaten in Erscheinung traten.
Sein alter Freund und General Titokowaru bereitete dem König weit größere Schwierigkeiten. Er hatte den gefürchteten Manu-Rau getötet, den berühmten McDonnell aus dem Feld geschlagen und nun auch den eher berüchtigten Whitmore besiegt. Sein Ziel war einfacher: nicht den Himmel auf Erden, sondern nur die Taranaki-Region für die dort lebenden Stämme zu gewinnen. Nach dem Sieg bei Moturoa war sein Ruhm unbeschreiblich gewachsen. Immer neue Krieger der unterschiedlichsten Stämme schlossen sich ihm an. Nur noch ein weiterer Triumph, und Tawhiao würde auch seine jungen, tatendurstigen Männer nicht mehr vom Krieg zurückhalten können. Oder noch schlimmer: Titokowaru könnte Taranaki ohne seine, des Königs Hilfe befreien und würde daraufhin zwangsläufig selbst die Rolle spielen, die Tawhiao für sich reklamierte.
Es war eine schwierige Situation, und was sie für den Maorikönig noch unübersichtlicher machte, war die Tatsache, dass der kleine weiße Colonel Whitmore verrückt geworden zu sein schien, seine Truppen aus Taranaki zurückzog, auf Schiffe lud und zur Ostküste brachte.
Whitmores Überlegung war ebenso einfach wie kühn. Er wusste, dass Titokowaru noch immer zu wenig Männer hatte, um Wanganui Town oder auch nur einen der befestigten Außenposten offen anzugreifen. Er war es seinerseits leid, den genialen Verteidiger ein drittes Mal nach dessen Spielregeln zu attackieren. Seine Truppe war müde und durch die Niederlagen demoralisiert, die Siedler verängstigt, eingeschüchtert.
Um Titokowaru verächtlich zu machen und den Siedlern zu zeigen, dass die Wilden nicht so gefährlich, sie selbst kaum so gefährdet waren, wie aufgrund der albernen und bestialischen Menschenfresserei alle glaubten, konnte er nichts Besseres tun, als Taranaki im Stich zu lassen. So nannten es jedenfalls die Zeitungen und Einwohner von Wanganui, als Whitmore mehr als die Hälfte seiner Armee aus dem umkämpften Distrikt abzog. Die hysterischeren Beobachter in Wellington nannten ihn sogar einen Feigling und Verräter. Er trug das mit seiner vorzüglichsten Eigenschaft, nämlich der Sturheit dessen, der es besser weiß. Seine niedergeschlagene Truppe würde jedenfalls nur eins wieder aufrichten: ein neuer Krieg, ein neuer Gegner.
Te Kooti, obwohl ein durchaus fähiger militärischer Führer, besaß doch bei Weitem nicht die kriegerische Genialität Titokowarus. Außerdem bewegte er sich nicht. Man wusste, wo er war. Und auch wenn er fast doppelt so viele Krieger unter Waffen hatte wie der Häuptling der Ngaruahine, würde er einer konzentrierten Belagerung seiner Urwaldfestung Nga Tapa nicht lange standhalten können. Whitmores Plan hatte darüber hinaus den Vorteil, dass man die Dreckarbeit weitgehend den Kupapa überlassen konnte, die den selbst ernannten Propheten hassten, weil er so viele ihrer Verwandten umgebracht hatte und mit seinem Haufen Ausbrecher eine ständige Bedrohung für ihre Stammesgebiete war.
Also geschah es, dass in den letzten Tagen des Jahres 1868 eine Streitmacht von mehr als sechshundert Männern eine Schneise in den Urwald von Te Wera schlug und den steilen Bergkamm einschloss, auf den der Prophet sein Volk unklugerweise geführt hatte. Weniger als die Hälfte waren Pakeha; die Hauptlast trugen die Ngati Porou, von jeher Todfeinde Te Kootis. Schritt für Schritt wurden die Verteidiger, die zuletzt nur noch mit Kugeln feuern konnten, die aus dem Metall ihrer Essbestecke gegossen waren, von den überlegenen Waffen der Belagerer zurückgedrängt, und als man ihre geheime Quelle entdeckt hatte, die einzige Möglichkeit, auf ihrem einsamen Berg an Wasser zu kommen, war ihr Schicksal besiegelt.
In einer halsbrecherischen nächtlichen Flucht die steilen Berghänge hinunter schaffte es der an Schulter und Fußknöchel verwundete Te Kooti zwar, seine Leute aus der tödlichen Falle herauszubringen, aber die Verfolger umzingelten auch den Treck der halb verhungerten Flüchtigen und erschossen schließlich die letzten hundertdreißig in Gefangenschaft geratenen Krieger wie Hunde. Nur der Prophet selbst konnte mit wenigen Getreuen auch diesem Gemetzel entkommen und führte sie noch tiefer in die Koraha, die undurchdringliche Wildnis des Urewera. Niemand folgte ihnen, denn sie waren keine große Gefahr mehr.
160.
Schon ehe er von Te Kootis vernichtender Niederlage erfuhr, hatte Titokowaru einen folgenschweren Entschluss gefasst. Er hatte die Pakeha aus der Provinz Taranaki herausgejagt, der Süden lag, bis auf wenige befestigte Stützpunkte, offen vor ihm, seine Stoßtrupps zeigten sich herausfordernd in den Außenbezirken von Wanganui Town. Aber mehr, wusste er, konnte er mit seiner noch immer zu kleinen Schar von Rebellen nicht tun. Noch einmal würde er Whitmore, der im Triumph aus dem Osten zurückgekehrt war, auch nicht dazu bringen können, ihn auf einem für ihn günstigen Terrain anzugreifen. Er tat deshalb etwas, das nach hellem Wahnsinn aussah: grub sich etwa auf halber Strecke zwischen Moturoa nach Wanganui im nahezu offenen Hügelland ein und wartete ruhig auf einen überlegenen Gegner, der an so viel Glück zunächst gar nicht glauben konnte.
Erst die nähere Betrachtung von Tauranga Ika zeigte Whitmore, wie trügerisch sein Glück war und dass Kalkül auch hinter diesem letzten Schachzug Titokowarus steckte. Das Pa war ein Meisterwerk defensiver Kriegskunst. Vier starke Bastionen bildeten die Ecken einer quadratischen Anlage, deren Seitenlinien jedoch konkav nach innen gezogen waren, sodass ein Sturmangriff, egal auf welchen Punkt der doppelreihigen Palisade, stets von drei Seiten unter Feuer genommen werden konnte. Im Innern schützten zahlreiche Erdbunker die Verteidiger vor Artilleriebeschuss, gedeckte Laufgräben verbanden die Schützenstellungen, die, wie schon bei Moturoa, aus einer Kombination von Wällen und Gräben bestanden.
Es gab im ganzen pazifischen Raum keine Kanonen, die imstande gewesen wären, diese Anlage wund zu schießen, und sie mit dem Sturm zu nehmen würde nicht nur viele, sehr viele Menschenleben kosten, es würde auch sehr lange dauern. Beides wusste Titokowaru sehr gut; und mit jedem Tag, den er standhielt, den dieser furchtbare Nagel – Tauranga Ika – länger im Fleisch der Pakeha, dem Kern ihres Siedlungsgebiets steckte, würde der politische Druck auf Tawhiao wachsen, seinen Brüdern im Süden zu Hilfe zu kommen.
Erst als er tausendachthundert Mann beisammenhatte, dachte Whitmore auch nur an eine Belagerung. Vielleicht würden Mineure einen Teil des Problems lösen können, aber es gab in den neuseeländischen Streitkräften keine entsprechend erfahrenen Leute, also versuchten die Pakeha, sich durch eigene Grabensysteme zunächst einmal näher an die Festung heranzuarbeiten. Am Abend des 2. Februar 1869 waren einige Einheiten nahe genug, um sich zumindest rufend mit den Maoriverteidigern im Innern zu verständigen.
Die Soldaten wussten selbstverständlich, was für ein Blutbad sie am nächsten Morgen bei ihrem Sturmlauf erwartete, und um sich Mut zu machen, sangen sie Kriegslieder wie etwa »Marching through Georgia«.
Die Verteidiger applaudierten ihnen und verlangten nach Zugaben. Einer rief: »Kommt näher, Pakeha, denn wir wollen euch fressen! Die Dicken nach vorn! Die Dicken nach vorn!« Alle lachten, aber den Weißen sträubten sich die Haare, als kurz darauf einige Salven die furchtbare Feuerkraft der Palisade eindrucksvoll unter Beweis stellten. Wer sollte, um Himmels willen, als Erster aus seinem Graben springen und in dieses Feuer laufen? Vereinzelte Schüsse der Verteidiger steigerten sich gegen drei Uhr morgens noch einmal zu einem Crescendo, dem eine tödliche Stille folgte.
Grau und kalt kroch der Morgen aus den Wäldern im Osten, und noch immer kein Laut, keine Bewegung, auf keiner Seite. Ein Konstabler namens Ben Biddle hielt das Warten irgendwann nicht mehr aus, steckte seine Mütze auf den Lauf seines Gewehrs und schwenkte beides über dem Graben. Nichts. Er hatte noch in der Nacht ein kleines Gebüsch entdeckt, nahe der Stelle, an der er lag, und ehe noch der Befehl dazu kam, sprang er aus seinem Loch, lief hinüber und warf sich hinter dieser jämmerlichen Deckung auf den Bauch. Kein Schuss fiel.
Ein Kamerad namens Black folgte Biddle, und die ganze Armee hielt den Atem an, als die beiden Männer nach einer Weile aufsprangen und auf die Palisade zurannten. Sie erreichten sie unbehelligt und verharrten erneut, die Gewehre abwechselnd nach oben und auf beide Seiten gerichtet. Einige der Pakeha hatten schon bei Te Ngutu und Moturoa gegen Titokowaru gekämpft und erwarteten in jeder Sekunde das Losbrechen einer neuen, unerhörten Teufelei. Aber nichts geschah.
Die beiden todesmutigen Männer verständigten sich mit Blicken und erkletterten dann mit umgehängten Gewehren die zweieinhalb Meter hohe Palisade, wobei sie die Schießscharten als Tritthilfen nutzten. Sie fanden den Hauptschützengraben, der rund um die Festung lief, leer und bestiegen, immer noch unruhig, sich gegenseitig nach allen Seiten sichernd, den Wall dahinter und die auf ihm errichtete zweite Palisade. Erst danach sahen sie die eigentliche Festungslandschaft im Innern mit ihren gewaltigen Erdaufschüttungen unter sich – aber nicht einen Verteidiger.
Nur ein einsamer alter Hund lief schwanzwedelnd auf die schwer bewaffneten Ankömmlinge zu. Tauranga Ika war leer.
161.
Der neue Mann kam mit einer Empfehlung von Doktor Lemuel Willard, datiert auf den Februar 1856, und man sah dem Papier die vier Jahre an, die es im Reisebündel des Mannes verbracht haben musste.
»Warum kommen Sie damit erst jetzt, Mr. Williams?«, fragte der Verwalter misstrauisch, denn es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass Doktor Willard spurlos verschwunden war.
»Ich war lange nicht in der Gegend, Sir«, antwortete Benjamin Williams. »Bin damals erst rauf in den Norden gegangen. Aber die Fabrikarbeit ist nichts für mich. Brauche frische Luft, wissen Sie.«
Der Verwalter der Bonneterre-Plantage fasste den Bewerber noch einmal scharf ins Auge: die hagere Gestalt, die mühsam sauber gebürstete Kleidung, die schweren, verdreckten Stiefel, die mehr als einen Fußmarsch hinter sich hatten, und das merkwürdig abgezehrte Gesicht, den kurzen, dunklen Bart, der Wangen und Hals bis weit in den Kragen hinein bedeckte. Ben Williams hatte offenbar schwere Zeiten durchgemacht.
»Nun, frische Luft können Sie bei uns reichlich bekommen«, sagte der Verwalter. »Außerdem fünf Dollar die Woche und Kost und Logis in der Aufseherbaracke. Und treiben Sie sich nicht zu oft in der Nähe des Hauses herum. Die Herrschaft sieht das nicht gern.«
John Gowers hatte nicht vor, »der Herrschaft« allzu oft zu begegnen, denn es gab immerhin die vage Möglichkeit, dass Desmond Bonneterre ihn trotz seines veränderten Äußeren wiedererkennen würde. Er selbst sah den Mann in den nächsten drei Wochen nur ein einziges Mal. In einer Kutsche kam der Kreole auf die Felder gefahren, begleitet von einer schwarzen Frau, die anzusehen die Feldsklaven ängstlich vermieden. Das musste Darioleta sein; das Mädchen, das Bonneterre in jener schrecklichen Nacht in New Orleans fast zu Tode gefoltert hatte und das nun selbst Folterwerkzeug seines Meisters geworden war. Gowers fiel wieder die Entrüstung ein, mit der selbst Doktor Willard davon gesprochen hatte. Gleichzeitig dachte er bei Darioletas Anblick an alles, was ihm Deborah über Gandalod erzählt hatte. Eine Weile sahen die beiden »Besucher« der Feldarbeit zu, konzentrierten ihre Aufmerksamkeit aber bald auf eine der jungen Sklavinnen, die Bonneterre schließlich zu sich an den Wagen rief.
»Wie heißt du, Mädchen?«, fragte er.
»Brisena«, murmelte sie mit niedergeschlagenen Augen. Bonneterre lachte leise. Immer wieder dieser Spleen seiner Mutter! Es würde noch mindestens zwei Generationen brauchen, bis Amadis von Gallien sich auf der Bonneterre-Plantage verwachsen würde.
»Wie alt bist du?«
»Zwölf, Massa.« Sie war nicht sonderlich hübsch, ein zu runder Kopf auf einem zu schmächtigen Körper, hatte aber immerhin eine bereits deutlich ausgeprägte Brust und den Ansatz zu einem üppigen Hintern wie viele der früh ausgereiften farbigen Mädchen. Außerdem würde ihn der Spaß überhaupt nichts kosten.
»Melde dich heute Abend im Haus, Brisena«, befahl Bonneterre. »Und bring deine Sachen mit!«
Gowers, der dem Kreolen offenbar gar nicht aufgefallen war, den aber Darioleta umso aufmerksamer gemustert hatte, nahm das kurze Gespräch als Gelegenheit, in der Aufseherbaracke den Ahnungslosen zu spielen und nach »der Herrschaft« zu fragen.
»Was sollte das denn?« Die Männer, ein halbes Dutzend vom white trash, der Hefe der Südstaatengesellschaft, lachten hämisch.
»Massa Bonneterre ist der König der Coalminer«, sagte einer von ihnen. »Fickt gerne schwarze Weiber. Hat einen ganzen Stall voll hinter dem Haus.«
»Wenn du’s geschickt anstellst«, ergänzte ein anderer, »lässt er dich vielleicht auch mal rein. Aber«, die Augen des Mannes funkelten gierig, »er guckt dabei zu.« Wieder lachten alle über das dumme Gesicht des Neuen, und wohl um ihre Überlegenheit noch ein wenig auszuspielen, fügte ein Dritter hinzu: »Er lässt sich aber auch selbst zugucken. Diese zahnlose Niggerhexe ist in seinem Schlafzimmer angeblich die ganze Zeit dabei!« Daraufhin sagte einer der jüngeren Aufseher irgendwann: »Also, das wär mir nichts!«
»Klar«, sagte wieder sein erfahrener Genosse. »Du bist ja auch hässlich.« Das jetzt nahezu donnernde Gelächter fasste er als Ermutigung auf, um hinzuzufügen: »Und um deinen Schwanz zu sehen, braucht man sowieso eine Lupe!«
Bonneterre benutzte keine Lupe, sah sich Brisena aber ausführlich und überall an, ohne sie zu berühren. Das Mädchen weinte trotzdem, und das machte ihn irgendwann wütend. Verwundert registrierte er einmal mehr, dass diese Wut seine Lust größer machte als die vorangegangenen Blicke.
Brutal drängte er sich zwischen ihre mageren Schenkel und genoss ihre Schmerzensschreie, als er wieder und wieder in sie eindrang. Anschließend warf er sie nackt und blutend aus seinem Schlafzimmer, verriegelte die Tür und ließ sich von seiner stummen Dienerin Blut, Rotz und Samen abwaschen. Dann kettete er Darioleta an die Säule neben ihrem Schlafplatz an der Tür und legte den Schlüssel wie immer auf seinen Nachttisch. Als er endlich erschöpft auf sein Bett fiel, seufzte er wohlig, lachte aber auch und sagte laut: »Die ersten Kinder werden die besten!« Er würde das noch Tausende Male tun, mit Hunderten schwarzer Frauen, und irgendwann, hoffte er, sogar mit seinen eigenen Töchtern. Das Leben im Süden war herrlich!
Er erwachte durch das leise Geräusch, mit dem das Fenster ausgehebelt wurde, aber ehe er sich hochrappeln und schreien konnte, schlossen sich zwei kräftige Hände um seinen Hals. Einen Moment lang glaubte er zu träumen: sah sich selbst wieder in einer staubigen Straße von New Orleans liegen, einen schwarzen Alptraum namens Gandalod auf der Brust. Bonneterre schlug jetzt heftig mit beiden Beinen aus, zappelte, aber erst als er sicher war, dass er sterben würde, ließ der Druck plötzlich nach und bekam er mit einem rasselnden Pfeifen wieder Luft in die Lunge. Sonst konnte er sich allerdings nicht rühren, denn der Eindringling hielt ihn weiterhin eisern umklammert. »Was soll das?«, krächzte er. »Wer sind Sie?«
»Moses«, sagte John Gowers, während er der stumm zuschauenden Darioleta den Schlüssel zu ihrer Kette in den Schoß warf.
162.
»Marching through Georgia« hinterließ bei einem der Verteidiger des Pas Tauranga Ika einen sonderbaren Eindruck. Die Erinnerung an vergangene Schrecken mischte sich mit der Erwartung derjenigen, die ihnen bevorstanden, und machte ihn zu dem vielleicht einzigen weißen Mann in Neuseeland, der die Vorgänge dieser Nacht je verstand. Denn John Gowers war in der Tat durch Georgia marschiert.
Der Zerstörer von Atlanta13 gab einen Befehl, und zweiundsechzigtausend Männer setzten sich in Bewegung – aber nicht, wie jeder erwartet hatte, entlang ihrer dünnen Nachschublinie nach Norden, sondern nach Südosten, dem tausend Meilen entfernten Meer zu. Der Rückzug der so tief im Feindesland stehenden Yankee-Armee werde enden wie Napoleons Übergang über die Beresina, prophezeite rachsüchtig und propagandistisch nicht ungeschickt der Präsident der Konföderierten Staaten von Amerika, Jefferson Davis.
»Schön«, knurrte der ledergesichtige, rothaarige William Tecumseh Sherman, »aber wo will er den Schnee hernehmen?« Seine Telegramme an Lincoln und Grant waren deutlicher: »Georgia soll winseln. Wir werden ihnen den Krieg so verleiden, dass sie auf Generationen hin nicht mehr daran denken, einen anzuzetteln.«
Tatsächlich war Georgia als ein Kernstaat des Südens bislang von den Schrecken des Krieges verschont geblieben. Sherman änderte das. Die Ernte war gut gewesen, Scheunen und Vorratskammern waren bis zum Bersten gefüllt. Sherman änderte das. Die Wege waren gut, die Häuser sauber, die Gärten gepflegt. Sherman änderte das. Seine Armee schlug eine so breite Schneise der Verwüstung durch das reiche Land, dass »eine Krähe, die darüber wegfliegen will, ihren Proviant mitnehmen muss«. Da keine feindlichen Soldaten zwischen ihnen und Savannah standen, fiel ihnen ihr Zerstörungswerk leicht, wenn sie es auch nicht gern taten und sich wie die Barbaren vorkamen, die sie zweifellos waren. Bis zu diesem Abend in Milledgeville.
Sie feierten gerade Thanksgiving an ihren Feuern, als sich plötzlich eine kleine Gruppe zerlumpter, fast verhungerter Männer aus dem Dunkel löste. Schwer vorstellbar, wie sie überhaupt durch die Postenlinien gekommen waren. Vielleicht lag es daran, dass keiner von ihnen mehr Stiefel anhatte. Die Vogelscheuche, die offensichtlich ihr Anführer war, trat ans Feuer, und man sah jetzt, dass die Fetzen, die er am Leib trug, die Reste einer Nordstaatenuniform waren.
»Riecht verdammt gut, euer Kaffee, Jungs!«
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte ein Sergeant.
»Captain John Gowers, 4th Illinois Scouts. Mit sieben Burschen aus unterschiedlichen Einheiten. Vor zwei Wochen aus Andersonville … sagen wir mal: entsprungen.« Der Mann, in dessen Augen ein irrer Glanz trat, als er das rohe Fleisch sah, das noch nicht über dem Feuer hing, lachte tatsächlich leise.
»Das … das müssen Sie dem General erzählen«, stammelte der Sergeant.
»Sorgen Sie dafür, dass die sich den Magen nicht verderben«, erwiderte Captain Gowers mit einem Daumenwink in Richtung seiner Männer, von denen einige beim Anblick des Sternenbanners in Tränen ausbrachen.
»Sind wir uns nicht schon begegnet?«, fragte General Sherman den abgekämpften Captain der 4th Illinois Scouts, der während seines Berichts zwanglos an einem kleinen Stück Brot herumkaute.
»Ja, Sir«, antwortete Gowers. »Ich war mit Grant bei Vicksburg.«14
»Ich erinnere mich«, sagte der General. »Haben die Stadt infiltriert, richtig?!«
»Das war keine Stadt mehr, Sir.«
Ein Monat Artillerie-und Kanonenbootfeuer, rund um die Uhr, vierundzwanzig Stunden am Tag. Enge Höhlen, Stollen, in die Hänge getrieben, vollgestopft mit Möbeln, Teppichen, Bildern, Wertsachen. Dazwischen ganze Familien, Frauen in verdreckten Kleidern, hohläugige Kinder, ein Mann, der beim Licht eines einzelnen Kerzenstumpfs eine Zeitung las, die auf Tapetenpapier gedruckt war. Maultierfleisch auf dem Markt. Hunde und Katzen, die einfach verschwunden blieben. Der Junge, der mit Freude und Händlerstolz in der Stimme »Ratten! Frische Ratten!« anbot und seine abgehäutete Ware binnen zehn Minuten abgesetzt hatte.
»Wo haben sie Sie erwischt?«, fragte Sherman.
»In der Wilderness«,15 antwortete Gowers, »ziemlich am Anfang.«
Hundertzehntausend Männer in einem undurchdringlichen Wald, keine Frontlinien mehr, Kampf Mann gegen Mann, hinter zerschossene Bäume geduckt. Freund und Feind im Pulverdampf nicht mehr zu unterscheiden. Verwundete beider Seiten, die jämmerlich schreiend im vom Mündungsfeuer entzündeten Unterholz verbrannten.
»Dann waren Sie ja«, der rothaarige General rechnete kurz, »fast fünf Monate drin. Ich dachte nicht, dass irgendwer es so lange aushalten kann.«
Gowers zuckte jetzt nur mit den Schultern. Man musste sich schon danach drängen, am Leben zu bleiben. Nur für sich sorgen. Die schwächeren Kameraden vergessen. Den ohnehin Sterbenden die letzte Ration wegnehmen. Möglichst wenig aus dem verseuchten Fluss trinken. Regenwasser. Oder den eigenen Urin.
»Wie sind Sie rausgekommen?«
»Zwei Posten getötet und über den Zaun, Sir.«
Sie hatten sie praktisch zeitgleich erledigt, was nur möglich war, weil Gowers im Dunkeln sehen konnte, wie und wann Leutnant Frederick Milner dem einen Posten die Kehle mit einem angeschärften Löffelstiel durchschnitt. Der Mann, den er selbst hinterrücks tötete, war noch erschreckend jung gewesen. Er fühlte es daran, wie weich sein Bart war. Milner und er hatten zuletzt so vielen Männern wie möglich gesagt, dass es gleich eine Lücke in der Postenkette geben würde. Nicht, weil sie alle rausbringen wollten, sondern weil sie wussten, dass die Wächter auf alles schießen würden, was sich bewegte. Und je mehr sich bewegte, desto größer war die Chance für den Einzelnen.
»Wir sind gerannt wie die Hasen und haben uns verkrochen wie Mäuse.«
Er hatte gesehen, wie die Hunde Milner erwischten, und verdankte sein Leben allein der Tatsache, dass sie danach keine Witterung mehr hatten, weil ihre Nasen voller Blut waren. Er würde von nun an jeden Hund erschießen, der ihm näher als einen Meter kam. Und er hatte Henry Wirz gesehen, den kleinen Schweizer, den Kommandanten von Andersonville, der angeblich ausgehungerte Gefangene tötete, indem er sie in Leim gekochten Weizenbrei essen ließ.
»Wie haben Sie uns gefunden?« Der General hatte seine Verwunderung noch immer nicht überwunden. Gowers zeigte nur auf die Sterne.
»Ich bin Seemann, Sir. Und zuletzt kam ein Haufen Kavalleristen herein, die alle erzählten, dass Sie durch Georgia marschieren. Den Weg konnten wir uns ungefähr ausrechnen.«
Die Geschichte war schnell herum. Shermans Männer dachten jetzt nur noch an die vollen Scheunen, die fetten Schweine in diesem Land, das ihre gefangenen Kameraden verhungern ließ, und wurden krank vor Wut. Sie plünderten, raubten, zerstörten von nun an mit Wonne. Ein erboster Plantagenbesitzer kam auf einem Maultier angeritten und drang tatsächlich bis zu General Sherman vor.
»Ich bin Privatmann, Sir! Ihre Männer haben mein Haus zerschlagen, mein Vieh gestohlen, meine Ernte in Brand gesteckt und meine Nigger entführt!«
»Das waren nicht meine Männer«, erwiderte Sherman trocken. »Wären es meine Männer gewesen, hätten Sie kein Maultier mehr.«
Ein schneidiger junger Ordonnanzoffizier, die Uniform in peinlich genauer Ordnung, fühlte sich durch diese Antwort entehrt und platzte mit hochrotem Kopf heraus: »So was können Sie über uns nicht sagen, Sir!«
Der General funkelte ihn mit bösen kleinen Augen an.
»Wann kapiert ihr Bilderbuchhelden endlich, dass ein Krieg keine Schönheitskonkurrenz ist?!«
Weggehen, dachte John Gowers, als die Kriegslieder vor Tauranga Ika verstummt waren, mit denen sich die Angreifer Mut machen wollten. Einfach weggehen, wenn die großen Politikmacher und Generäle schweren Herzens und voller guter Absichten ihre Befehle erteilen. Ihnen auch dann nicht gehorchen, wenn sie im Recht sind und man ihrer Meinung ist. Aus Prinzip nicht gehorchen. Und im Kampf ausschließlich auf Offiziere schießen!
Da er die Sprache der Maori noch immer nicht sprach, wusste er nicht, wie nahe er in diesem Moment ebensolchen Überlegungen war.
Als Letzte von allen waren an diesem Tag die Maniapoto gekommen, eine kleine Abteilung grimmig dreinblickender Männer, die der abendlichen Versammlung der verbündeten Häuptlinge und Führer einen Brief des alten Hone Waitere überbrachten.
»Ein Wort an euch, meine Brüder, und an Titokowaru, den großen Ariki der tapferen Ngaruahine! Ich schicke dir deine Hure und ihre Brut. Mögen die Häuptlinge aller Stämme sehen, was Titokowaru sich unter einem Bündnis mit ihnen vorstellt.«
Die Krieger schoben eine verängstigte junge Frau nach vorn, die bisher zwischen der Masse ihrer stämmigen Körper fast verborgen geblieben war, und Titokowaru erkannte Puarauranga und sah auch den Säugling auf ihrem Arm. Er wusste in diesem Moment, dass sein Krieg vorbei und verloren war. Die Häuptlinge wussten es noch nicht.
»Wer bist du, Mädchen?«, fragte Wiremu Katene so finster, dass sie vor Angst nicht antworten konnte.
»Hone Waiteres Frau«, sagte der Anführer der Maniapoto. »Er ist Christ und hat nur eine!« Er gab Puarauranga einen derben Stoß in den Rücken, damit sie tat, was man ihr offenbar unter Schlägen befohlen hatte. Und wenn ihn bisher nichts verraten hatte, so war es der unwillkürliche Schritt, den Titokowaru jetzt nach vorn machte, um die junge Frau zu beschützen.
Die Häuptlinge sahen einander verwirrt an. Dass Titokowaru mit mehreren Frauen schlief, wussten sie und störte sie nicht. Aber dass er es mit der Frau eines anderen Häuptlings tat, eines Mannes, den er um Beistand gebeten hatte, und offenbar schon vor längerer Zeit, wie das Kind auf ihrem Arm bewies, war eine ungeheure, eine noch nie da gewesene Verletzung des Tapus, das ein Kriegshäuptling der Maori besitzen musste. Sein Schweigen konnte nur bedeuten, dass er nicht leugnete, und der Zorn seiner Verbündeten darüber, einem so leichtfertigen Mann so lange gefolgt zu sein, wurde so groß, dass einige von ihnen seinen sofortigen Tod forderten. Das verhinderten die Männer seines eigenen Stammes natürlich, aber die Übrigen verließen fast fluchtartig diese Versammlung des Teufels.
Die ungeheuerliche Nachricht sprach sich binnen Minuten unter den Männern auf der Palisade, den Wällen, den Taumaihis oder Schützentürmen und in den Gräben herum. Ihr geistiger und militärischer Führer hatte sein Mana-Tapu verloren, es vielleicht nie besessen, und sie alle getäuscht, und all seine Siege konnten nur zu einem schrecklichen Ende führen. Ohne sich untereinander lange darüber zu verständigen, fast wie Zugvögel, die im einen Moment noch lärmend in den Bäumen sitzen und im anderen in einer einzigen jähen Wolke davonfliegen, als hätten sie ein geheimes Signal erhalten, verließen die Krieger das unbezwingliche Pa.
Titokowaru blieben gerade genug Männer, um den Rückzug seines eigenen Stammes zu sichern, und auch die wurden weniger mit jedem Tag, den sie zurückgingen durch Busch und Wald und Hügel zum großen Vulkan Taranaki, aus dessen glühender Asche sie alle stammten.
Die Pakeha verstanden nicht und haben bis heute nicht verstanden, warum dieser letzte Maorikrieg so plötzlich endete und warum ihr Gegner auf der Höhe seiner Macht seine stärkste und aussichtsreichste Stellung einfach aufgab. Die Ältesten der Ngarauru und Ruanui wissen es wohl, haben es erfahren von ihren Eltern und Urgroßeltern. Aber sie sprechen nicht darüber und sagen es niemandem.
163.
Niemand zweifelte am Selbstmord Desmond Bonneterres, nicht seine Frau, nicht seine Nachbarn, nicht einmal die Louisiana-Miliz. Jeder wusste, dass es mit seiner Plantage bergab ging, wusste auch, dass der junge Mann zuletzt immer krankhaftere, selbstzerstörerische Neigungen entwickelt hatte. Das Einzige, was General Willoughby, Michael und Dick, Huggins, Cheever und all die anderen zumindest wunderte, war die Tatsache, dass Bonneterre in seinem sehr knapp gehaltenen Testament all seine Sklaven freiließ.
Aber nachdem seine Witwe zunächst erwogen hatte, diesen seltsamen Letzten Willen juristisch anzufechten, fügte sie sich auch in diesen nicht unbeträchtlichen finanziellen Verlust. Das Haus, das Land blieben ihr immerhin, und sie nahm an, dass ganz zuletzt ein wenig vom christlichen Licht der Nächstenliebe in diese kranke Seele hinabgeleuchtet hatte, die nun in Frieden ruhen mochte.
Tatsächlich war es dieser Punkt gewesen, von dem Bonneterre beinahe entrüstet behauptet hatte, dass kein Mensch es glauben würde. Er hatte dem Engländer alles gesagt: dass der New Yorker Detektiv Gabriel Beale die Höllenmaschine an Bord der Deep South gebracht hätte, dass es auch Beale gewesen sei, der den Plan zu John Lafflins Ermordung ausgearbeitet habe.
Er hatte all das bereitwillig zugegeben, in der irrsinnigen Hoffnung, doch noch davonzukommen, und es war ihm umso leichter gefallen, als niemand da war, der seinen Angaben widersprechen konnte. Nur als er seine Sklaven freilassen sollte, hatten sich noch einmal der Stolz und der Trotz eines echten Ritters des Südens in ihm aufgebäumt.
Aber als er Anstalten machte loszubrüllen, hatte John Gowers ihm wieder den blutigen Knebel, einen Fetzen von Brisenas bestem Kleid, in den Mund geschoben und ruhig gesagt, dass er, Desmond Bonneterre, weiß sei und als Weißer die freie Wahl habe – zwischen dem einen und dem anderen Tod. Der Engländer hatte dabei mit der linken Hand das Giftfläschchen hochgehalten und mit der rechten auf Darioleta gezeigt, die wortlos und mit verschränkten Armen vor dem Bett stand und auf ihren Herrn und Meister niederschaute.
Bonneterre hatte daraufhin, heulend vor Angst und Verzweiflung, alles geschrieben, was Gowers von ihm verlangte und Deborah gutgeheißen hätte.
Es war ihm sehr schwergefallen, es dem Mörder so leicht zu machen. Ganz am Anfang, als er Bonneterres Kehle zudrückte, fühlte er sich zurückversetzt auf die kleine Insel, in den kalten Morgen, der ihn mehr als das Leben gekostet hatte, und er hätte beinahe nicht rechtzeitig aufgehört.
Erst als er sah, wie der Kreole sich mit hervorquellenden Augen unter dem Einfluss des Giftes wand, wusste er, fühlte, dass auch das Bewusstsein, in einer völligen, endgültigen Niederlage zugrunde zu gehen, eine Höllenqual sein musste. Und als er drei Tage später, nachdem er seinen Lohn ausgezahlt bekommen hatte, inmitten eines Stroms Hunderter freigelassener Sklaven nach Baton Rouge wanderte, als eine der schwarzen Frauen das Lied von »Jacob’s Ladder« sang und alle anderen einstimmten, als er die Melodie den ganzen Weg und sein Leben lang nicht mehr loswurde, wusste er, dass es richtig gewesen war, seine Rache der Freiheit dieser Menschen zu opfern.
Es dauerte volle vier Tage, ehe er eine direkte Passage nach Cincinnati und noch weiter den Ohio hinauf bekommen konnte, von wo aus stündlich Züge in den Osten fuhren, nach Boston und Philadelphia, nach Washington, nach New York. Er hätte als Lotse natürlich eine Freifahrt gehabt, aber er zahlte lieber mit dem letzten Geld aus Eileen Clairbornes Gabe, weil er spürte, dass nach seinen Seejahren auch seine Flussjahre hinter ihm lagen.
Er jagte nun in der Wildnis der großen Städte.
164.
Der Isthmus von Auckland war geologisch gesehen eine der interessantesten Stellen nicht nur Neuseelands, sondern der gesamten südlichen Hemisphäre. Zahllose hohe Vulkankegel, Kraterseen, mächtige, weit eingeschnittene, immer weiter verlandende Fjorde zeugten von den ewig jungen Gewalten im Erdinnern, die die schmale Landenge hochgetrieben hatten, die den Pazifischen Ozean von der Tasmansee trennte. Zwei natürliche Häfen waren auf diese Weise entstanden; Manukau Harbour im Westen und Waitemata oder Auckland Harbour im Osten, und die beiden Siedlungen, die an ihren Rändern wuchsen, hatten noch nicht zu einer Stadt zusammengefunden.
Der bärtige, verwildert aussehende Weiße, der bei Epsom auf die Kyberpass Road stieß, sah beide unter sich liegen: das weiße Auckland im Osten, das vorwiegend von Maori bewohnte Onehunga im Westen. Er selbst war aus dem Süden gekommen, die Great South Road hinauf, zu Fuß und ohne Gepäck, und niemand kannte seinen Namen. Er dachte über die beiden Möglichkeiten nach, die er jetzt hatte. Manukau Harbour und irgendeine Arbeit, in einem Kontor, auf einem Küstenleichter, bis er genug Geld für die Passage nach Australien aufbringen könnte. Seine Wohnung. Seine Bücher. Sein altes Leben. Oder Waitemata Harbour und die dort überall ankernden Walfangschiffe auf ihrem Weg in den endlosen Südpazifik.
Die Sonne ging unter, und der Westen blieb noch lange hell, aber auch in der Dunkelheit auf der anderen Seite glomm rot und nah ein seltsames Licht. Das war der Gipfelkrater von Rangitoto, einer großen Vulkaninsel, die neunhundert Fuß hoch direkt aus dem Golf von Hauraki stieg. Die Eingeborenen nannten sie: blutiger Himmel. Beide Möglichkeiten schienen nur einen Katzensprung entfernt, und John Gowers brauchte lange für seine Entscheidung.
Aber er gehörte, hatte man ihm gesagt, zu den Tangata Whenua, die einst aus dem Meer gekommen waren, also wandte er sich irgendwann nach Osten und verschwand in der Dunkelheit.
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Die beiden großen Rebellen, der Prophet des Ringatu und der Häuptling der Ngaruahine, wurden für viele Jahre von keinem Weißen mehr gesehen, aber das Wissen, dass beide noch lebten, versetzte Regierung und Bewohner der jungen Nation noch lange in Angst. Kein anderer als Tawhiao, der kluge Politiker, König des Waikato-Beckens, gewährte ihnen Schutz und Asyl, weil er genau diese Angst brauchte und wollte. In kleinen versteckten Dörfern praktizierten Te Kooti und Titokowaru unabhängig voneinander einen religiös geprägten Kommunismus und wurden zu alten Männern, die manche weise nannten.
Erst als der König gestorben und auch die Macht der Waikato-Stämme durch den immer dreisteren Landraub gebrochen war, erinnerte sich das weiße Neuseeland Te Kootis und Titokowarus, ließ sie gefangen setzen und machte ihnen den Prozess. Und wohl nur, um einer nachwachsenden Generation von Maori zu zeigen, wie bedeutungslos sie und all ihre Taten waren, wurden beide nach kurzen Gefängnisstrafen wieder freigelassen.
Der Prophet starb am 17. April 1893 inmitten einer kleinen Schar seiner Anhänger und wurde an einem geheimen Ort begraben. Sein Ringatu ist heute eine der anerkannten Religionsgemeinschaften Neuseelands und zählt einige Tausend Mitglieder.
Titokowarus Abgang war glänzender. Bei seinem letzten öffentlichen Auftreten hielt er plötzlich das lange verborgene, bei Te Ngutu erbeutete Schwert Manu-Raus in die Höhe, zerbrach es auf seinem Knie und sagte: »Ich zerbreche dieses Schwert und will es begraben. Ich gebe den Krieg zurück an die großen Nationen der Erde.« Wenn die zweitausend Maori, die schließlich hinter seinem Sarg gingen, ihm auch im Leben gefolgt wären, hätte die Geschichte Neuseelands anders verlaufen können.
Thomas McDonnell verbrachte den Rest seiner Tage damit, durch Lobbyarbeit irgendeine Art Dank des Vaterlandes zu erringen. Es langte allerdings nicht zu einer halbwegs erträglich besoldeten Stellung, einer Pension oder auch nur einem klangvollen Titel, und achtzehn Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Armee erhielt er lediglich einen Orden, wenn auch nicht das Viktoriakreuz.
Emilia von Tempsky verließ mit ihren Kindern Neuseeland, aber nicht den Pazifik, und ihr Ältester, Louis, hinterließ sogar eine ganz eigenartige Spur in der Welt: Als Rancher auf Hawaii lernte er 1907 den Schriftsteller Jack London kennen, der die Südsee bereiste und ihm in einigen Geschichten als »Von« ein bescheidenes literarisches Denkmal setzte.
Omahura, der kleine Junge, den von Tempsky am Tag seines Todes gefangen genommen hatte, wurde von Sir William und Lady Fox adoptiert und wie ein Pakeha aufgezogen. Er starb 1918, ein geachteter Anwalt, Übersetzer und Mittler zwischen den beiden Völkern Aotearoas.
Der Einzige, der wirklich uralt wurde, war der Papagei, der Puarauranga entflogen und mit Titokowaru gegangen war; den Manu-Rau in jenem grausamen Winter Takiora geschenkt und der bis zu ihrem Tod im Jahr 1893 auf ihrer Schulter gesessen hatte. Ihr Nachlassverwalter vermachte das Tier dem Zoo von New Plymouth, und lange nachdem die Männer und Frauen und die Kinder der Männer und Frauen, die in Taranaki gekämpft hatten, in ihre Gräber gesunken waren, rief dieser traurige kleine Veteran in seinem Käfig noch immer nach der Aufmerksamkeit eines Jahrhunderts, das nichts mehr von den anderen wissen wollte: »Whakarongo, whakarongo! – Hört mir zu.«