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Schwärze.
Nichts.
Ich schlug die Augen auf. Konnte nichts sehen. Hob die Hand ans Gesicht, um zu fühlen, ob meine Lider geöffnet waren.
Sie waren es.
Mein Denken war völlig aus den Fugen. Ich wußte weder, wo ich war, noch warum ich da war, noch wieso ich nichts sehen konnte. Die Zeit schien aufgehoben. Ich wurde mir nicht klar darüber, ob ich schlief oder wach war, und eine Weile konnte ich mich nicht einmal entsinnen, wie ich hieß.
Driftete wieder weg. Kam zu mir. War mit einem Schlag dann bei Besinnung. Wußte, daß ich wach war. Wußte, daß ich ich war.
Konnte immer noch nichts sehen.
Ich bewegte mich; versuchte mich aufzusetzen. Stellte fest, daß ich auf der Seite lag. Als ich mich bewegte, hörte ich das knirschende Geräusch und spürte den Druck der scharfen Steinsplitter.
In der Strosse.
Vorsichtig hob ich die Hand. Die Gesteinsdecke war einen halben Meter über mir.
Kein Helm auf meinem Kopf. Eine empfindliche Beule hinten am Schädel und drinnen ein pochender Schmerz.
Verdammter Mist, dachte ich. Ich muß mir den Kopf gestoßen haben. Ich bin in der Strosse. Ich kann nichts sehen, weil nirgends Licht ist. Alle haben die Mine verlassen. Und jeden Augenblick werden die Sprengladungen hochgehen.
Eine Ewigkeit konnte ich an nichts anderes denken, als daß es mich in Stücke reißen würde, bevor ich die Situation noch ganz erfaßt hatte. Dann dachte ich, daß es vielleicht besser gewesen wäre, es hätte mich in Stücke gerissen, bevor ich zu mir gekommen war. Dann würde ich jetzt wenigstens nicht wach sein und mich quälen. Danach, und keinesfalls zu früh, sann ich auf Abhilfe.
Zuerst mal Licht.
Ich suchte tastend hinter mir, fand das Kabel und zog es sachte heran. Das andere Ende schrappte über den Schotter auf mich zu, doch als ich die Lampe aufhob, wußte ich, daß ich kein Licht bekommen würde. Das Deckglas und die Birne waren zerbrochen.
Die Lampe hatte sich aus der Fassung am Helm gelöst. Ich tastete mit ausgestreckter Hand um mich herum, konnte aber den Helm nicht finden.
Nur raus hier, dachte ich verzweifelt — und fragte mich in demselben Sekundenbruchteil, wo es hinausging.
Ich zwang mich, still zu liegen. Das letzte, woran ich mich erinnerte, war, daß ich Yates versichert hatte, ich fände allein zurück. Ich mußte vergessen haben, den Kopf einzuziehen. Mußte buchstäblich die Decke eingerannt haben. Erinnern konnte ich mich daran nicht. Klar zu sein schien nur, daß ich im Fallen meine Grubenlampe zerschlagen hatte und daß mich im Dunkeln da niemand hatte liegen sehen.
Dummkopf, beschimpfte ich mich. Ungeschickter Trottel, dich so in die Klemme zu bringen.
Vorsichtig, den einen Arm ausgestreckt, schob ich mich ein Stück vor. Meine Finger fanden nichts zum Anfassen als Steinsplitter.
Ich mußte wissen, in welche Richtung es ging. Sonst kroch ich womöglich noch auf die Gefahr zu, statt weg von ihr. Ich mußte den Durchbruch zum Stollen finden.
Ich ergriff eine Handvoll von den quarzähnlichen Steinen und begann sie systematisch von rechts im Kreis um mich zu werfen. Es war ein Versuch voller Irrtümer, denn etliche trafen die Decke und andere den Boden, aber ein paar flogen weit genug, um mir die Gewißheit zu geben, daß vor mir leerer Raum lag.
Ich rollte mich auf den Rücken, und die Batterie drückte mir ins Kreuz. Ich schnallte den Gurt auf und legte ihn ab. Dann warf ich eine Handvoll Steine im Bogen um meine Beine herum.
Da war die Stollenwand. Viele von den Steinen trafen sie.
Mein Herz klopfte inzwischen so sehr, daß mir die Ohren dröhnten. Ruhig, ruhig, sagte ich mir. Hab nicht so verdammte Angst; du kannst sie nicht gebrauchen.
Ich warf wieder Steine, diesmal nicht, um die Wand zu finden, sondern das Loch darin. Ich fand es fast sofort. Warf noch mehr Steine, um sicherzugehen; aber da mußte es sein, ein wenig links von der Richtung, in die meine Füße zeigten, denn alle Steine, die ich dorthin warf, landeten weiter weg und klapperten noch nach. Sie waren nicht rund genug, um zu kullern, aber schwer genug, um bergab weiterzuschlittern, wenn sie herunterfielen. Bergab… die steile kleine Schräge von der Strosse in den Stollen.
Noch mehr Steine. Ich bewegte erst die Füße, dann den ganzen Körper, bis das Loch genau vor mir, über meinen Zehenspitzen war. Dann rutschte ich auf Ellbogen und Hintern voran, wobei ich den Kopf schön unten ließ.
Noch mehr Steine. Das Loch war noch da.
Weiterrutschen. Noch eine Kontrolle.
Es konnten nicht mehr als drei Meter sein. Sie kamen mir vor wie dreitausend.
Ich schwenkte versuchsweise die Arme in der Luft. Fühlte die Decke, sonst nichts.
Rückte noch etwa einen Meter weiter vor. Tastete mit den Armen umher. Berührte massiven Fels. Rechts vor mir.
Noch ein Rutscher nach vorn. Spürte, wie meine Füße jäh nach unten gingen, meine Knie sich beugten. Streckte die Hände schräg nach vorn und fühlte Stein auf beiden Seiten. Halb heraus aus dem Loch… und flach liegend schob ich mich vorsichtig Zentimeter für Zentimeter voran, bis meine Füße knirschend auf dem Boden des Stollens aufkamen. Selbst dann noch hielt ich die Knie gebeugt und schlängelte mich weiter, ohne den Kopf zu heben, wußte ich doch nur zu gut, wie hart und kantig das Gestein über mir war und wie verletzlich mein unbehelmter Schädel.
Ich landete auf den Knien im Stollen, keuchend und so angsterfüllt wie eh und je.
Denk nach.
Die Löcher waren auf der linken Seite gewesen, als wir herkamen. War ich erst mal im Stollen, hatte Yates gesagt, konnte ich mich nicht verlaufen.
Okay. Halt dich rechts. Immer geradeaus. Ganz einfach.
Ich stand vorsichtig auf und wandte mich mit dem Durchbruch im Rücken nach rechts. Legte eine Hand auf die rauhe Felswand. Machte einen Schritt nach vorn.
Das Knirschen meines Stiefels auf dem Felsboden brachte mir erst zum Bewußtsein, wie ruhig es war. In der
Strosse hatten die Steine und mein eigenes Herz mir in den Ohren geklungen. Nichts davon jetzt. Die Stille war so total wie die Dunkelheit.
Ich grübelte nicht groß darüber nach. Ging vorwärts, so schnell ich es wagte, vorsichtig, Schritt für Schritt. Kein Laut. Das hieß, die Belüftung war abgeschaltet, was kaum eine Rolle spielte; das ganze Bergwerk war noch voll von unverbrauchter Luft, mochte sie auch heiß sein.
Meine Hand verlor plötzlich den Kontakt mit der Wand, und mein Herz stimmte einen neuen Kanon an. Ich brachte meine Atmung unter Kontrolle und ging einen Schritt zurück. Die rechte Hand wieder an der Wand. Okay. Ausatmen. Gut, jetzt hinknien, am Boden entlangtasten, dabei rechts mit der Wand in Kontakt bleiben. Dich an einem der Löcher vorbeilotsen, die in die Strosse führten… Löcher, durch die der Explosionsdruck entweichen würde, wenn die Ladungen hochgingen.
Druckwellen pflanzen sich weit fort, wenn sie in einen langen, engen Raum gesperrt sind. Druck ist eine mörderische Kraft, so tödlich wie fliegendes Gestein.
O Gott, dachte ich. Hölle und Teufel. Woran denkt man, wenn man damit rechnet, jeden Augenblick zu sterben?
Ich dachte daran, so schnell ich konnte so weit wie möglich aus der Mine herauszukommen. Ich dachte daran, nicht den Kontakt mit der rechtsseitigen Wand zu verlieren, wenn ich an einem Durchbruch vorbeikam, denn sonst konnte es passieren, daß ich mich im Dunkeln drehte, die andere Wand ertastete und schnurstracks wieder auf die Explosion zuging. Ich dachte an nichts anderes. Nicht einmal an Charlie.
Ich ging weiter. Die Luft wurde immer heißer. Der Streckenabschnitt, der schon auf dem Hinweg heiß gewesen war, war jetzt ein Angriff auf die Nervenenden.
Wie schnell ich vorankam, mich voranquälte, wußte ich nicht. Sehr langsam vermutlich. Wie in einem Alptraum, wenn man vor etwas Entsetzlichem zu fliehen versucht und auf der Stelle tritt.
Ich gelangte schließlich wieder zu der Verbreiterung, und die Explosion war immer noch nicht erfolgt. Auch in dem Querschlag sollte gesprengt werden, aber die Biegung des Stollens würde den Druck einigermaßen verteilen.
Allmählich wagte ich doch wieder zu hoffen, und indem ich die Hand an der rechten Wand behielt, da buchstäblich mein Leben daran hing, tappte ich langsam weiter. Zwei Meilen vielleicht bis zum Fuß des Schachts… aber jeder Schritt brachte mich der Rettung näher.
Die tödlichen Ladungen Dynagel explodierten nicht; jedenfalls nicht, solange ich unter Tage war.
Eben noch machte ich einen Schritt ins Dunkle. Im nächsten Augenblick wurde ich von Licht geblendet.
Ich schloß die Augen, zuckte vor der Helligkeit zurück, dann blieb ich stehen und lehnte mich gegen die Wand. Als ich die Augen wieder aufschlug, brannte die Grubenbeleuchtung in ihrer ganzen Pracht, und die Strecke war so gediegen, so sicher und farblich so beruhigend anzusehen wie auf dem Hinweg.
Schwach vor Erleichterung stieß ich mich von der Wand ab und ging weiter mit plötzlich zitternden Knien und einem Kopf, der wie von einem Kater schmerzte.
Ein leises Summen erfüllte jetzt wieder die Mine, und ganz weit vorn im Stollen löste sich ein einzelnes Geräusch davon und wurde lauter: das Rattern der Förderwagen auf dem Weg ins Innere.
Bald hörte es auf, und das Geräusch von mehreren Paar
Stiefeln folgte, und schließlich kamen aus einer Biegung vier Männer in weißen Overalls.
Im Eilschritt.
Sie sahen mich und fingen an zu laufen. Verlangsamten ihr Tempo und blieben kurz vor mir stehen, und die Erleichterung darüber, daß ich auf den Beinen war, spiegelte sich in ihren Gesichtern. Losenwoldt war mit dabei; die anderen kannte ich nicht.
«Mr. Lincoln, alles in Ordnung?«fragte einer von ihnen besorgt.
«Klar«, sagte ich. Es hörte sich nicht richtig an. Ich sagte es noch einmal.»Klar. «Schon viel besser.
«Wieso sind Sie zurückgeblieben?«fragte Losenwoldt tadelnd, um jegliche Schuld von sich abzuwälzen. Nicht, daß ich ihm welche zugewiesen hätte; er baute lediglich vor.
Ich sagte:»Es tut mir leid, daß ich Ihnen solche Umstände bereite… Ich glaube, ich habe mir den Kopf gestoßen und bin umgekippt, aber richtig erinnern kann ich mich daran nicht. «Ich legte die Stirn in Falten.»Wirklich blöd von mir.«
Einer sagte:»Wo waren Sie denn genau?«
«In der Strosse«, sagte ich.
«Menschenskind. Wahrscheinlich haben Sie zu schnell den Kopf gehoben, oder ein Stück Stein ist von der Decke gefallen und hat Sie getroffen.«
«Ja«, sagte ich.
Ein anderer fragte:»Aber wenn Sie bewußtlos in der Strosse waren, wie sind Sie dann hierhergekommen?«
Ich erzählte ihnen von den Steinen. Sie sagten nichts. Schauten sich nur an.
Einer ging um mich herum und sagte nach einem Moment:»Sie haben etwas Blut im Haar und am Nacken, aber es sieht trocken aus. Ich glaube nicht, daß Sie noch bluten. «Er stellte sich neben mich.»Meinen Sie, Sie können bis zum Förderwagen laufen? Wir haben eine Trage mitgebracht — für alle Fälle.«
Ich lächelte.»Wird schon gehen.«
Wir gingen. Ich fragte:»Wie haben Sie festgestellt, daß ich noch unten war?«
Einer sagte kleinlaut:»Das System, nach dem wir prüfen, ob vor dem Sprengen alle aus der Grube raus sind, soll unfehlbar sein. Und soweit es die Arbeiter angeht, ist es das auch. Aber Gäste… Sie müssen wissen, daß wir inoffiziellen Besuch von kleinen Gruppen, so wie heute, nicht oft bekommen. Mr. van Horen lädt selten jemand ein, und sonst darf es keiner. Zu uns kommen fast immer nur vorangemeldete Reisegruppen von rund zwanzig Personen, und der Bergwerksbetrieb steht mehr oder weniger still, während wir die herumführen, aber das passiert so alle sechs Wochen mal. An diesen Tagen sprengen wir gewöhnlich gar nicht. Aber heute hat einer aus Ihrer Gruppe sich nicht wohlgefühlt und ist vor den anderen zurück nach oben, und irgendwie sind alle davon ausgegangen, daß Sie mit ihm hochgefahren sind. Tim Yates sagte, als er Sie zuletzt gesehen hat, wollten Sie gerade auf die Hauptstrecke zurück.«
«Ja«, sagte ich.»Daran entsinne ich mich.«
«Die drei anderen Besucher sind zusammen hochgefahren, und die Kontrolleure hatten alle Bergleute abgehakt, so daß wir annahmen, daß alles draußen sei, und klar zum Sprengen waren.«
Ein langer, dünner Mann führte die Geschichte fort.»Dann sagte einer von den Leuten, die zählen, wie viele ein- und ausfahren, es sei einer mehr runter als rauf. Die Schichtkontrolleure meinten, daß sei unmöglich, jeder
Trupp sei Name für Name ausgecheckt worden. Der Zähler sagte, er sei sicher. Tja, damit blieben nur die Besucher. Also haben wir die überprüft. Die drei im Umkleideraum sagten, Sie hätten sich noch nicht umgezogen, Ihre Kleider seien noch da, folglich müßten Sie in der Unfallstation bei diesem Conrad sein, der sich nicht wohl gefühlt hatte.«
«Conrad«, rief ich aus. Ich hatte gedacht, es handele sich um Evan.»Was ist mit ihm?«
«Ich glaube, er hatte einen Asthmaanfall. Jedenfalls sind wir hin und haben ihn gefragt, und er sagte, Sie seien nicht mit ihm raufgekommen.«
«Oh«, sagte ich tonlos. Wäre ich bei ihm gewesen, wäre ich sicher mit ihm hochgefahren, aber ich hatte ihn ja nicht mehr gesehen, seit wir uns vor dem Reef getrennt hatten.
Wir kamen zu den Förderwagen und stiegen ein. Sehr viel Platz bei nur fünf Leuten statt zwölf.
«Der, dem nicht gut war«, meinte Losenwoldt tugendhaft,»der Kräftige mit dem Hängeschnurrbart, der war nicht bei mir. Wäre er bei mir gewesen, hätte ich ihn natürlich zu den Wagen zurückbegleitet, und dann hätte ich natürlich gewußt, daß Sie nicht bei ihm waren.«
«Natürlich«, sagte ich trocken.
Wir ratterten durch den Stollen zum Fuß des Schachts und von dort, nach dem Austausch der Klingelzeichen, im Förderkorb durch eine Dreiviertelmeile Fels hinauf ans Sonnenlicht. Die Helligkeit tat im ersten Moment weh, und es war so kalt, daß ich zu zittern anfing.
«Jacke«, rief einer von meinen Begleitern.»Wir hatten eine Decke mit runtergenommen — die hätten wir Ihnen umlegen sollen. «Er eilte in ein kleines Gebäude beim Schacht und kam mit einer abgetragenen TweedSportjacke wieder, in die er mir hineinhalf.
Ein besorgt aussehendes Empfangskomitee stand herum: Evan, Roderick, Danilo und van Horen selbst.
«Mein lieber Freund«, sagte er und starrte mich an, als wolle er sich vergewissern, daß ich wirklich da war.»Was soll ich sagen?«
«Um Himmels willen«, sagte ich,»das war doch meine eigene Schuld, und es tut mir schrecklich leid, daß ich so viel Aufregung verursacht habe. «Van Horen sah erleichtert aus und lächelte, genau wie Evan, Roderick und Danilo. Ich drehte mich nach den drei Unbekannten um, die mich heraufgeholt hatten; Losenwoldt war bereits fort.»Danke«, sagte ich.»Herzlichen Dank.«
Sie grinsten alle.»Wir möchten eine Belohnung.«
Bestimmt sah ich verdutzt aus. Ich fragte mich, was angemessen wäre. Wieviel.
«Ihr Autogramm«, erklärte einer von ihnen.
«Oh. «Ich lachte.»Okay.«
Er holte einen Notizblock hervor, und ich schrieb jedem ein Dankeschön, auf drei getrennte Seiten. Ein wirklich guter Preis, dachte ich.
Der Grubenarzt tupfte Staub von der Wunde an meinem Kopf und sagte, sie sei nicht tief, nichts Ernstes, sie brauche nicht genäht zu werden und verbunden auch nur, wenn ich’s wollte.
«Nein, danke«, sagte ich.
«Alles klar. Dann nehmen Sie mal die Tabletten hier. Damit Sie keine Kopfschmerzen bekommen.«
Ich nahm sie gehorsam. Holte Conrad, der jetzt wieder normal atmete, nebenan aus einem Ruheraum und ging mit ihm, nachdem man uns den Weg erklärt hatte, zum Mittagessen ins Kasino. Unterwegs tauschten wir sozusagen unsere Krankengeschichten aus. Keiner von uns war zufrieden mit sich.
Wir fünf aßen mit Quentin van Horen und zwei leitenden Angestellten, deren Namen ich nie erfuhr, an einem Tisch. Mein knappes Entkommen wurde von allen immer wieder durchgekaut, und ich sagte mit Nachdruck zu Roderick, daß ich ihm sehr verbunden wäre, wenn er mein Mißgeschick nicht an die große Glocke hängen würde.
Er grinste.»Klar… Das gäbe auch viel mehr her, wenn Sie in die Luft geflogen wären. Ein Kontrolleur, der ordentlich seine Arbeit macht, hat wenig Nachrichtenwert.«
«Gott sei Dank«, sagte ich.
Conrad sah mich an.»Aber es ist doch wie verhext mit Ihnen in Südafrika, mein lieber Junge. Schon zum zweitenmal innerhalb einer Woche wären Sie fast umgekommen.«
Ich schüttelte den Kopf.»Nicht wie verhext. Ganz im Gegenteil. Ich habe zweimal überlebt. Betrachten Sie’s mal so.«
«Nur noch sieben Leben übrig«, sagte Conrad.
Die Rede kam wieder aufs Gold. Das war in Welkom wohl immer so, genau wie in Newmarket jeder von Pferden spricht.
«Sagen Sie, wie zieht man das denn aus dem Stein?«wollte Danilo wissen.»Man sieht es ja nicht mal.«
Van Horen lächelte nachsichtig.»Danilo, das ist ganz einfach. Man zerkleinert und zermahlt das Gestein zu einem Pulver. Man gibt Kaliumzyanid hinzu, das die Goldpartikel löst. Man gibt Zink zu, das die Goldpartikel bindet. Dann wäscht man die Säure aus. Danach trennt man Zink und Gold wieder mit Königswasser, und schließlich hat man das Gold.«»O ja, ganz einfach«, stimmte Conrad zu.»Junge, Junge.«
Van Horen erwärmte sich für ihn und lächelte vor Vergnügen.
«Das war eigentlich noch nicht alles. Man muß das Gold noch verfeinern — die Unreinheiten entfernen, indem man es bei größter Hitze schmilzt und es in Barren gießt. Die Rückstände fließen ab, und man erhält das reine Gold.«
Danilo rechnete schnell.»Sie müssen ungefähr dreitausendfünfhundert Tonnen Gestein aus der Mine holen, um einen einzigen kleinen Barren zu kriegen.«
«Richtig«, stimmte van Horen lächelnd zu.»Plus oder minus ein paar Tonnen.«
«Wieviel fördern Sie in der Woche?«fragte Danilo.
«Etwas über vierzigtausend metrische Tonnen.«
Danilos Augen flackerten, als er nachrechnete.»Das wären, ehm… etwa elfeinhalb Goldbarren pro Woche.«
«Möchten Sie einen Job in der Rechnungsabteilung, Danilo?«fragte van Horen ziemlich belustigt.
Aber Danilo war noch nicht fertig.»Jeder Barren wiegt zweiundsiebzig Pfund, ja? Dann ergibt das… Moment… rund achthundert Pfund Gold die Woche. He, und wie steht der Goldpreis je Unze? Mensch, da ist man wirklich im richtigen Geschäft. Super!«Er war jetzt wieder sehr aufgedreht, erfüllt von einer starken inneren Erregung, die seine Augen glänzen ließ. Ein Hang zum Geldverdienen und die Rechnerei, die nötig war, um die Erbschaftssteuer zu umgehen, das schien mir genau zusammenzupassen.
Van Horen sagte, immer noch lächelnd:»Sie vergessen die Löhne und Gehälter, die Unterhaltskosten und die Aktionäre. Es bleiben nur Krümel übrig, wenn alle sich ihren Anteil geholt haben.«
Danilos sich verziehender Mund zeigte, daß er das nicht glaubte. Roderick reckte eine orange Manschette aus dem braunen Wildlederärmel und legte einen halben Zentner Tigerauge frei, der als Manschettenknopf diente.
«Dann gehört Ihnen die Mine also nicht ganz allein, Quentin?«
Die leitenden Angestellten und van Horen selbst lächelten nachsichtig über Rodericks Naivität.
«Nein«, sagte van Horen.»Meine Familie besitzt das Land und die Abbaurechte. Von daher gehört uns das Gold wohl auch. Aber man braucht enormes Kapital, viele Millionen Rand, um einen Schacht niederzubringen und die ganze Grubenanlage zu bauen. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren haben mein Bruder und ich eine Gesellschaft gegründet, um Kapital für die Bohrarbeiten aufzutreiben, und so hat die Firma Hunderte von Aktionären.«
«Die Mine sieht nicht so aus, als wäre sie fünfundzwanzig Jahre alt«, wandte ich freundlich ein.
Van Horen richtete seine lächelnden Augen auf mich und erklärte weiter.
«Der Teil, den Sie heute morgen gesehen haben, ist die neueste Strecke und die tiefste. Es gibt andere, die höher liegen. In früheren Jahren haben wir alle oberen Bereiche des Reefs abgebaut.«
«Und es ist immer noch viel übrig?«
Van Horens Lächeln hatte die Unbeschwertheit dessen, dem es nie an einem Tausender fehlen würde.»Es wird Jonathan überdauern«, sagte er.
Evan fand die technische und wirtschaftliche Seite weniger interessant als den Zweck und warf die Arme in die Luft, während er mit seinen wilden Augen reihum die Blicke der anderen festhielt und eindringlich wie gewohnt das Wort ergriff.
«Aber wozu ist Gold gut? Das ist die Frage, die wir uns stellen sollten. Die jeder sich stellen sollte. Welchen Sinn hat es? Alle strengen sich so an, um es zu kriegen, und bezahlen es so teuer, und dabei gibt es keine richtige Verwendung dafür.«
«Vergoldete Mondfahrzeuge«, meinte ich leise.
Evan funkelte mich an.»Alle buddeln es hier aus dem Boden und verfrachten es in Fort Knox wieder unter die Erde, wo es dann nie mehr ans Licht kommt… Sehen Sie nicht, daß das alles künstlich ist? Warum soll der Wohlstand der ganzen Welt auf einem gelben Metall beruhen, das keinen vernünftigen Zweck hat?«
«Es ist gut für Zahnfüllungen«, sagte ich im Plauderton.
«Und für reine Funkverbindungen bei Transistoren«, ergänzte Roderick, sich an dem Spiel beteiligend.
Van Horen sah und hörte zu, als sei das Gespräch mal eine nette Abwechslung für ihn an einem Montag. Ich hörte jedoch auf, Evan zu hänseln, da ich nach der Besichtigung der Mine fast seine Auffassung teilte.
Am Abend ging es mit der Dakota zurück nach Johannesburg; ich saß neben Roderick und fühlte mich etwas abgespannt. Der Rundgang durch die Grubenanlage am heißen Nachmittag, die Besichtigung eines goldausgießenden Tiegelofens, die optischen (und akustischen) Eindrücke von der Zerkleinerung des Erzes und der anschließende Besuch eines Bergarbeiter-Wohnheims, das alles hatte meinem brummenden Schädel nicht gut getan. Ein halbes Dutzend Mal war ich drauf und dran, das Handtuch zu werfen, doch ich hatte — zumal in Gedanken an Rodericks lauernde Schreibmaschine — kein Aufhebens machen wollen.
Die Besichtigung des Wohnheims war das beste gewesen; das Mittagessen für die nächste Übertageschicht wurde gerade zubereitet, und wir kosteten es in der Küche. Große Bottiche mit einer dicken Brühe von vorzüglichem Geschmack, unbekanntes Gemüse, nach dem zu erkundigen ich mich nicht aufraffen konnte, und dicke Fladen von einem cremefarbenen, mehlbestäubten Brot, eine Art fettloses Teiggebäck.
Von dort gingen wir nach nebenan in die Bar des Wohnheims, wo sich die ersten Leute von der ausfahrenden Schicht recht engagiert über etwas hermachten, das aussah wie 2-Liter-Plastikkrüge mit Milchkakao.
«Das ist Bantu-Bier«, sagte unser Nachmittagsführer, der im Gegensatz zu dem grantigen Losenwoldt erfreulich freundlich war.
Wir versuchten es. Es hatte einen angenehm herben Geschmack, der aber nicht entfernt an Bier erinnerte.
«Ist das alkoholisch, lieber Junge?«fragte Conrad.
Alkoholisch schon, sagte der liebe Junge, aber nur schwach. Bedenkt man, daß wir sahen, wie ein Mann seinen ganzen Krug in zwei großen Zügen hinunterkippte, war das eigentlich ganz gut so.
Unser Führer winkte einen anderen Mann, der mit seinen Kollegen an einem Tisch saß, heran, und er stand auf und kam zu uns. Er war hochgewachsen und nicht mehr jung, und er hatte ein breites, zahniges Grinsen, das ich anstek-kend fand.
Der Führer sagte:»Das ist Piano Nyembezi. Er ist der Kontrolleur, der behauptet hat, wir hätten jemanden in der Mine zurückgelassen.«
«Sie waren das?«fragte ich interessiert.
«Yebo«, sagte er, und wie ich später erfuhr, hieß das» ja «auf Zulu. (»Nein «dagegen bestand aus einem Schnalzen, einem Knacklaut und einem langgezogenen» aa«. Für einen Europäer zumindest war es unmöglich, schnell nein zu sagen.)
«Nun, Piano«, sagte ich.»Haben Sie vielen Dank. «Ich streckte meine Hand aus, und er schüttelte sie, ein Ereignis, das bei seinen Freunden breites Lächeln hervorrief, ein scharfes Luftholen bei unserem Führer, ein Kopfschütteln bei Roderick und gar keine Reaktion bei Evan, Conrad und Danilo.
Im Hintergrund spielte sich irgendein Gerangel ab, und dann kam einer von den anderen mit einer abgegriffenen Filmzeitschrift herüber.
«Die Zeitung gehört Piano«, sagte der Neuankömmling und drückte sie ihm in die Finger. Nyembezi sah verlegen aus, zeigte mir aber, was es war. Ganzseitig, und die Visage so langweilig wie immer.
Ich zog die Nase kraus, nahm das Heft, schrieb unten über mein Konterfei:»Ich verdanke mein Leben Piano Nyembezi«, und setzte meinen Namen hinzu.
«Das wird er sich für immer aufheben«, meinte unser Führer.
Vielleicht auch nur bis morgen, dachte ich.
Die Dakota dröhnte weiter. Die Abendsonne schien voll auf meine Augenlider, als wir in der Schräglage auf einen neuen Kurs gingen, und vorsichtig hob ich den Kopf von der Nackenstütze und drehte mich auf die andere Seite. Die Wunde am Hinterkopf mochte nicht tief sein, tat aber weh.
Aus irgendeinem Grund aktivierte die kleine Bewegung ein paar schläfrige Nervenzellen, und ganz nebenher fiel mir ein, daß jemand bei mir in der Strosse gewesen war.
Mir fiel ein, daß ich mich hatte herumdrehen wollen, um mit den Füßen zuerst rauszuklettern, und daß ich gewartet hatte, um jemand anders hereinzulassen. Mir fiel ein, daß ich sein Gesicht nicht gesehen hatte und nicht wußte, wer es war.
Wenn er dort gewesen war, als ich mir den Kopf anschlug, warum hatte er mir dann nicht geholfen?
Ich war in einem so benebelten Zustand, daß es noch eine ganze Minute dauerte, bis ich zu dem Schluß kam, daß er mir nicht geholfen hatte, weil der Schlag mit dem Stein von ihm selbst gekommen war.
Ich riß die Augen auf. Rodericks Gesicht war mir zugewandt. Ich machte den Mund auf, um es ihm zu sagen. Schloß ihn dann wieder fest. Ich hatte nicht den leisesten Wunsch, es dem Rand Daily Star zu verbraten.