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England, wohin ich im August zurückkehrte, war vergleichsweise grün und kühl. In Heathrow holte ich meinen Wagen ab, einen serienmäßigen BMW, ziemlich dunkles Blau, normal durcheinandergewürfeltes Kennzeichen, alles andere als eine Sonderanfertigung, und fuhr mit einem wohligen Gefühl westwärts nach Berkshire.
Vier Uhr nachmittags.
Der Heimweg.
Ich lachte vergnügt vor mich hin. Wie ein Kind, das aus der Schule kommt, dachte ich. Nach Haus an einem Sommernachmittag.
Das Haus war mittelgroß, teils alt, teils neu, und stand an einem sanft abfallenden Hang außerhalb eines Dorfes am Oberlauf der Themse. Es bot einen Blick über den Fluß, hatte viel Abendsonne und war über einen unbeschilderten Weg zu erreichen, den die meisten Leute übersahen.
Ein Jungenfahrrad lag halb auf dem Gras, halb auf der Zufahrt, und ein paar Gartengeräte lagen neben einem halb gejäteten Blumenbeet. Ich hielt vor der Garage an, blickte auf die geschlossene Vordertür und ging um das Haus herum nach hinten.
Ich sah sie alle vier, bevor sie mich sahen: als schaute ich von draußen durch ein Fenster. Zwei kleine Jungen planschten mit einem schwarzweißen Wasserball im Schwimmbecken herum. Nicht weit davon ein etwas verblaßter Sonnenschirm, in dessen Schatten ein kleines Mädchen auf einer Luftmatratze lag. Eine junge Frau mit kurzen kastanienbraunen Haaren saß auf einer Decke in der Sonne und hielt ihre Knie umfaßt.
Einer von den Jungen blickte hoch und sah, wie ich dastand und sie von der anderen Seite des Rasens beobachtete.
«He«, rief er,»Dad ist wieder da«, und duckte seinen Bruder. Ich ging lächelnd auf sie zu. Charlie löste sich von der Decke und kam mir ohne Eile entgegen.
«Hallo«, sagte sie.»Ich bin voller Öl. «Sie spitzte ihren Mund zu einem Kuß und hielt mein Gesicht zwischen den Innenseiten ihrer Handgelenke.
«Was hast du denn bloß mit dir angestellt?«fragte sie.»Du siehst furchtbar dünn aus.«
«Es war heiß in Spanien«, sagte ich. Ich ging mit ihr zurück ans Schwimmbecken und zog dabei meinen gelockerten Schlips, dann mein Hemd aus.
«Sehr braun geworden bist du ja nicht.«
«Nein. Hab’ die meiste Zeit im Auto gesessen.«
«Ist es was geworden?«
Ich verzog das Gesicht.»Das wird sich rausstellen. Wie geht’s den Kindern?«
«Bestens.«
Ich war einen Monat weggewesen. Es hätte auch ein Tag sein können. Irgendein Vater, der nach einem Arbeitstag heim zu seiner Familie kam.
Peter stemmte sich bäuchlings aus dem Becken und lief patschend über das Gras.
«Was hast du uns mitgebracht?«wollte er wissen.
«Ich hab dich doch gewarnt, Pete«, sagte Charlie gereizt,»wenn du fragst, bekommst du nichts.«»Jedenfalls gibt es diesmal nicht viel«, erklärte ich ihm.»Da war meilenweit kein vernünftiger Laden. Und jetzt schaff mal dein Rad von der Einfahrt runter.«
«Also ehrlich «sagte er.»Kaum bist du daheim, schon haben wir was falsch gemacht. «Er trollte sich ums Haus, und sein Rücken war steif vor Empörung.
Charlie lachte.»Ich bin froh, daß du wieder da bist.«
«Ich auch.«
«Dad, guck mal. Guck mal, was ich mache, Dad.«
Ich sah gehorsam zu, wie Chris einen komplizierten Purzelbaum über den Wasserball vollführte. Mit einem siegesbewußten Lächeln kam er wieder zum Vorschein, schüttelte sich das Wasser aus den Augen und wartete auf Lob.
«Klasse«, sagte ich.
«Guck noch mal, Dad.«
«Gleich.«
Charlie und ich gingen hinüber zu dem Sonnenschirm, und ich sah auf unsere Tochter nieder. Sie war fünf Jahre alt, braunhaarig und richtig süß. Ich setzte mich neben ihre Luftmatratze und kitzelte ihr den Bauch. Sie lachte leise und lächelte mich goldig an.
«Wie war’s mit ihr?«
«Wie immer.«
«Soll ich sie mit ins Wasser nehmen?«
«Sie war heute morgen schon mit mir drin… aber es gefällt ihr. Schadet nichts, wenn sie noch mal reingeht.«
Charlie kauerte sich neben sie.»Daddy ist wieder da, Kleines«, sagte sie. Aber Libby, unserer Kleinen, sagten Worte fast gar nichts. Ihre geistige Entwicklung hatte sich zum Schneckentempo verlangsamt, nachdem sie mit zehn
Monaten einen Schädelbruch erlitten hatte. Peter, der damals fünf war, hatte sie aus dem Kinderwagen genommen, weil er sich nützlich machen und sie zum Mittagessen ins Haus bringen wollte. Aber Charlie, die herauskam, um sie zu holen, hatte gesehen, wie er stolperte und hinfiel, und dabei war Libby mit dem Kopf auf die Steinstufe der Terrasse unserer damaligen Londoner Wohnung aufgeschlagen. Das Baby war kurz bewußtlos gewesen, doch ein, zwei Stunden darauf hatte der Arzt nichts bei ihr feststellen können.
Erst zwei oder drei Wochen später war sie krank geworden, und erst als sie sich von dieser sehr schweren Krankheit erholte, teilten die Ärzte der Klinik uns mit, da sei eine haarfeine Fraktur an der Schädelbasis gewesen, die sich infiziert und eine Hirnhautentzündung hervorgerufen habe. Wir waren so erleichtert, weil sie noch lebte, daß wir die vorsichtig formulierten Hinweise kaum zur Kenntnis nahmen.»Wir dürfen uns nicht wundern, wenn sie in der Entwicklung ein wenig hinterherhinkt. «Natürlich würde sie ein bißchen hinterherhinken, nachdem sie so krank gewesen war. Aber sie würde doch bestimmt aufholen, oder? Und wir verbannten den zweifelnden Gesichtsausdruck ebenso aus unseren Gedanken wie das unbekannte Wort» retardiert«.
Im darauffolgenden Jahr sollten wir lernen, was es bedeutet, und dadurch, daß wir uns einem solchen Schicksalsschlag stellen mußten, auch viel über uns selbst erfahren. Vor dem Unglück wäre unsere Ehe unter dem Ansturm von Wohlstand und Erfolg beinah in die Brüche gegangen; danach hatten wir das Band zwischen uns allmählich wieder gefestigt und eine viel klarere Vorstellung gewonnen von dem, was wirklich wichtig war und was nicht.
Wir hatten dem Rampenlicht, der Schmeichelei und dem Tamtam adieu gesagt und waren aufs Land gezogen, wo wir beide auch ursprünglich herkamen. Besser für die Kinder, hatten wir gesagt — und gewußt, daß es auch für uns selbst besser war.
Libbys Zustand bereitete uns keinen akuten Kummer mehr. Akzeptiert und vertraut, war es einfach ein Teil unseres Lebens. Die Jungen waren gutmütig im Umgang mit ihr, Charlie liebevoll und ich sanft; und da sie selten krank war und durchaus zufrieden zu sein schien, hätte es sehr viel schlimmer kommen können.
Letztlich war es schwieriger gewesen, sich gegen die Reaktionen Fremder abzuhärten, aber nach all den Jahren war es Charlie und mir völlig gleich, was irgend jemand sagte. Es mochte also sein, daß Libby noch nicht sprechen, nicht richtig laufen konnte, daß sie beim Essen kleckerte und nicht ganz und gar trocken war, aber sie war unsere Tochter, und damit hatte es sich.
Ich ging ins Haus, zog die Badehose an und nahm Libby mit ins Becken. Sie lernte langsam schwimmen und hatte keine Angst vor dem Wasser. Vergnügt planschte sie in meinem Arm liegend umher, patschte mir mit den nassen Händchen ins Gesicht und rief mich» Dada«, schlang dann die Arme um meinen Hals und klebte wie eine Klette an mir.
Nach einer Weile gab ich sie Charlie raus zum Abtrocknen und spielte mit Peter und Chris etwas, das wir unter uns» Wasserpolo «nannten, um nach zwanzig Minuten zu dem Schluß zu kommen, daß selbst Evan Pentelow einen nicht so hart drannahm.
«Weiter, Dad«, sagten sie, und:»Na, hör mal, Dad, du willst doch nicht etwa schon rausgehn?«
«Doch«, sagte ich bestimmt und trocknete mich neben Charlie auf der Decke ab.
Sie brachte die Kinder ins Bett, während ich auspackte, und ich las ihnen Geschichten vor, während sie kochte, und wir verbrachten den Abend allein, indem wir Hähnchen aßen und uns einen alten Spielfilm (von vor meiner Zeit) im Fernsehen anschauten. Danach räumten wir das Geschirr in die Spülmaschine und gingen zu Bett.
Außer uns wohnte niemand in dem Haus. Viermal die Woche kam morgens eine Frau aus dem Dorf für die gröberen Hausarbeiten, und es gab auch eine pensionierte Kinderschwester, die, wenn wir ausgehen wollten, gern auf Libby und die Jungen aufpaßte. Charlie selbst hatte das so geregelt: Ich hatte ein ruhiges, intelligentes Mädchen geheiratet, das zu einer praktischen, realistischen und
— zu ihrer eigenen Überraschung — häuslichen Frau geworden war. Seit unserem Wegzug von London hatte sie eine Stärke dazugewonnen, die man nur als Gelassenheit bezeichnen konnte, und obwohl sie mitunter ebenso in helle Wut geriet wie ich, waren ihre Fundamente jetzt doch auf Fels gebaut.
Viele Leute in der Filmwelt fanden meine Frau nicht aufregend genug und mein Familienleben langweilig, und sie erwarteten, daß ich bei jeder Gelegenheit Rotschöpfe und Blondinen pflückte. Aber ich hatte sehr wenig gemeinsam mit dem überlebensgroßen Draufgängertyp, den ich serienmäßig im Film verkörperte. Die Filme waren meine Arbeit, und ich arbeitete hart an ihnen, doch ich nahm sie nicht mit nach Hause.
Charlie kuschelte sich unter der Steppdecke an mich und legte ihren Kopf an meine Brust. Ich strich mit den Händen über ihre nackte Haut, spürte das Wellenkräuseln tief in ihrem Bauch und das leise Zittern in ihren Beinen.
«Okay?«fragte ich und küßte ihr Haar.
«Sehr.«
Wir liebten uns auf die einfache, normale Art, wie wir es immer machten, aber da ich einen Monat weggewesen war, war es atemberaubend schön, ein Erlebnis höchsten Glücks, eine jener elementaren Erfahrungen, die von bleibender Wirkung sind. Hier begann die Gewißheit, dachte ich. Hatte man dies, was brauchte man noch?
«Fantastisch«, seufzte Charlie.»Das war fantastisch.«
«Erinnere uns daran, daß wir es nicht so oft machen.«
Sie lachte.»Es wird besser, wenn man sich zurückhält.«
«Mhm. «Ich gähnte.
«Hör mal«, sagte sie,»ich hab’ heute morgen beim Zahnarzt eine Illustrierte gelesen, als Chris die Zähne nachgesehen bekam. Da war auf der Kummerkastenseite ein Brief von einer Frau, die ihrem kahlen, dicken, mittelalterlichen Mann nichts mehr abgewinnen kann, und sie wollte einen Rat für ihr Sexualleben. Weißt du, was sie ihr geraten haben?«Ein Lächeln lag in ihrer Stimme.»»Stellen Sie sich vor, Sie schlafen mit Edward Lincoln.««
«Das ist doch albern. «Ich gähnte wieder.
«Klar. Ich wollte sogar hinschreiben und fragen, was sie mir raten würden.«
«Wahrscheinlich, daß du dir vorstellen sollst, du schläfst mit einem dicken, kahlen mittelalterlichen Mann, der dich nicht anmacht.«
Sie lachte leise.»Vielleicht hab ich den in zwanzig Jahren.«
«Du bist zu liebenswürdig.«
«Gern geschehen.«
Zufrieden schliefen wir ein.
Ich hatte ein Rennpferd, einen Steepler, der bei einem erfolgreichen Stall im Training war, und wenn ich nicht drehte, fuhr ich meistens hin — es waren nur fünf Meilen — und ging mit dem Lot zur Morgenarbeit raus. Bill Tracker, der energische Trainer, sah es im allgemeinen nicht gern, wenn Besitzer ihre Pferde selbst reiten wollten, doch er fand sich mit meiner zeitweiligen Anwesenheit aus den gleichen beiden Gründen ab wie seine Pferdepfleger, nämlich weil mein Vater einst Futtermeister drüben in Lam-bourn gewesen war und weil ich mir meinen Lebensunterhalt auch selbst einmal mit Reiten, wenn schon nicht beim Pferderennen, verdient hatte.
Im August war nicht viel los, aber ein paar Tage nach meiner Rückkehr fuhr ich doch rüber und arbeitete auf den Downs mit. Die neue Hindernissaison hatte eben erst begonnen, und die meisten Pferde, meines eingeschlossen, klapperten noch die Straßen entlang, um ihre Beine zu kräftigen. Bill ließ mich großzügig einen der schon weiter fortgeschrittenen Hürdler reiten, der in rund zwei Wochen sein erstes Rennen laufen sollte, und wie immer war ich sehr dankbar, daß er mir die Gelegenheit gab, mich nützlich zu machen und das einzige Talent, das mir in die Wiege gelegt worden war, wieder aufzufrischen.
Ich hatte reiten gelernt, bevor ich laufen konnte, und war aufgewachsen mit dem Vorsatz, Jockey zu werden. Das Schicksal wollte es anders: Mit siebzehn war ich einen Meter achtzig groß, und das gewisse Etwas, das man zum Rennreiter braucht, besaß ich nicht. Die Erkenntnis war schmerzlich gewesen; der Wechsel zur Leinwandakrobatik ein dürftiger Ersatz.
Sich daran zu erinnern entbehrte nicht der Ironie.
Die Downs waren weit und windig und erfüllt von frischer Luft: schön und urtümlich noch bis auf das Kraftwerk am Horizont und den fernen Einschnitt einer Autobahn. Wir ritten im Schritt und leichten Trab hinauf zum Trainingsgelände, kanterten und galoppierten auf Geheiß und gingen im Schritt wieder zurück, um die Pferde abzukühlen; es war einfach großartig.
Ich blieb zum Frühstück bei den Trackers und ritt anschließend mein eigenes Pferd im zweiten Lot über die Landstraßen, wobei ich wie die Pfleger auch über die Autos schimpfte, die vorbeifuhren, ohne das Tempo zu drosseln. Ich entspannte mich mühelos im Sattel und lächelte, als mir einfiel, wie mein Vater sich an mir heiser gebrüllt hatte —»Setz dich gerade, du Pfeife! Und leg die Ellbogen an!«
Evan Pentelow und Madroledo waren eine andere Welt.
Als ich nach Hause kam, zankten die Jungen sich lautstark darüber, wer mit den noch nicht kaputten Rollschuhen fahren durfte, und Charlie backte einen Kuchen.
«Hallo«, sagte sie.»War es schön?«
«Großartig.«
«Prima… Also, es sind keine Anrufe gekommen, nur Nerissa hat sich gemeldet. Wollt ihr wohl still sein, ihr zwei, man versteht ja sein eigenes Wort nicht.«
«Ich bin dran«, brüllte Peter.
«Wenn ihr nicht gleich den Mund haltet, zieh ich euch die Ohren lang«, sagte ich.
Sie hielten den Mund. Ich hatte die oft wiederholte Drohung noch nie wahrgemacht, aber der Gedanke gefiel ihnen nicht. Chris schnappte sich augenblicklich die umstrittenen Rollschuhe und verschwand aus der Küche, und Peter nahm mit unterdrücktem Geschrei die Verfolgung auf.
«Kinder!«sagte Charlie empört. Ich nahm mir einen Fingervoll rohen Kuchenteig und bekam einen Klaps aufs Handgelenk.
«Was wollte Nerissa?«
«Sie möchte, daß wir mit ihr zu Mittag essen. «Charlie hielt inne, und von ihrem Holzlöffel tropfte dickflüssiger Schokoladenguß in die Schüssel.»Sie war ein bißchen — na ja — komisch irgendwie. Nicht so munter wie sonst. Jedenfalls wollte sie, daß wir heute kommen.«
«Heute!«sagte ich mit einem Blick auf die Uhr.
«Oh, ich habe ihr gesagt, wir könnten nicht, du wärst um zwölf erst wieder zurück. Da hat sie gefragt, ob es morgen ginge.«
«Weshalb die Eile?«
«Tja, ich weiß nicht, Schatz. Sie sagte nur, wir möchten sobald wie möglich kommen. Bevor du wieder drehen müßtest.«
«Ich fange mit dem nächsten Film doch erst im November an.«
«Ja, das habe ich ihr auch gesagt. Sie hat trotzdem ziemlich gedrängt. Also sagte ich, wir würden gern morgen kommen, es sei denn, du wärst verhindert — in dem Fall würde ich sie heute mittag zurückrufen.«
«Was mag sie bloß wollen?«sagte ich.»Wir haben sie eine Ewigkeit nicht gesehen. Am besten, wir fahren mal hin,ja?«
«Aber natürlich.«
Also fuhren wir.
Es ist schon gut, daß man die Zukunft nie voraussehen kann.
Nerissa war so eine Art Kreuzung zwischen Tante, Patin und Vormund, was ich eigentlich alles nie besessen hatte. Ich hatte eine Stiefmutter gehabt, die einzig ihre beiden eigenen Kinder liebte, und einen sehr beschäftigten Vater, den sie mit ihrem Gekeife zur Verzweiflung brachte. Nerissa, oft zu Besuch in dem von meinem Vater beaufsichtigten Stall, wo drei Pferde von ihr standen, hatte mir zuerst Süßigkeiten geschenkt, dann Pfundnoten, dann Ermutigung und schließlich mit den Jahren ihre Freundschaft. Es war nie eine enge Beziehung gewesen, aber eine bleibende Wärme im Hintergrund.
Sie erwartete uns im Sommerzimmer ihres Hauses in den Cotswolds, mit Kristallgläsern und einer Karaffe trockenen Sherrys auf einem Silbertablett, und sie kam uns entgegen, als sie hörte, wie ihr Butler uns durch die Diele führte.
«Kommt rein, ihr Lieben, kommt rein«, sagte sie.»Es ist schön, euch zu sehen. Charlotte, ich mag dich sehr in Gelb… und Edward, du bist ja so dünn geworden.«
Sie stand mit dem Rücken zum Licht, das hell durchs Fenster flutete, das Fenster mit der besten Aussicht in Gloucestershire, und erst, als wir sie auf die dargebotene Wange küßten, bemerkten wir beide die erschreckende Veränderung an ihr.
Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie eine attraktive Frau in den Fünfzigern gewesen, mit jungen blauen Augen und einer scheinbar unverwüstlichen Vitalität. Ihr Gang war fast ein Tanzen, und in ihrer Stimme lag ein gesunder Humor. Im Zuchtregister der Gesellschaft rangierte sie schon beinahe bei den adligen Vollblütern, und sie besaß das, was mein Vater kurz und bündig» Klasse «nannte.
Aber jetzt, innerhalb von drei Monaten, war ihre Energie verschwunden, und ihr Blick war trüb geworden. Der Glanz in ihren Haaren, ihr federnder Gang, ihre lachende Stimme: alles war dahin. Sie wirkte eher wie siebzig als wie fünfzig, und ihre Hände zitterten.
«Nerissa«, rief Charlie bestürzt aus, denn wie ich brachte auch sie ihr weit mehr als nur Sympathie entgegen.
«Ja, Liebes. Ja«, sagte Nerissa beruhigend.»Setz dich erst mal, Liebes, und Edward gibt dir einen Sherry.«
Ich goß uns allen dreien etwas von der klaren, hellen Flüssigkeit ein, doch Nerissa rührte ihr Glas kaum an. Sie saß in einem langärmeligen blauen Leinenkleid in einem Sessel aus Goldbrokat, den Rücken der Sonne zugewandt und ihr Gesicht im Schatten.
«Wie geht’s den zwei kleinen Strolchen?«fragte sie.»Und der süßen kleinen Libby? Und Edward, mein Lieber, so dünn, das steht dir nicht. «Sie redete weiter, machte gewandt Konversation, zeigte Interesse für unsere Antworten und gab uns keine Gelegenheit, zu fragen, was mit ihr los war.
Als sie ins Eßzimmer ging, benutzte sie einen Gehstock und meinen Arm als Stütze, und der extraleichte Lunch, der auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten war, gab mir nichts von meinen verlorenen Pfunden wieder. Anschließend gingen wir zum Kaffee langsam zurück in das Sommerzimmer.
«Rauch nur, Edward. Im Schrank sind Zigarren. Du weißt, wie ich den Geruch mag… und hier raucht kaum noch jemand.«
Ich nahm an, daß man es wegen ihrer Gesundheit bleiben ließ, aber wenn sie es wünschte, würde ich es tun, obwohl ich selten und nur abends rauchte. Es waren Coronas, aber ein wenig trocken schon vom langen Liegen. Ich zündete eine an, und sie atmete tief den Rauch ein und lächelte mit echtem Vergnügen.
«Wie gut das tut«, sagte sie.
Charlie goß den Kaffee ein, doch wieder trank Nerissa kaum. Sie lehnte sich langsam in ihrem Sessel zurück und kreuzte ihre schlanken Beine.
«Also, meine Lieben«, sagte sie ruhig,»Weihnachten werde ich tot sein.«
Wir schüttelten nicht einmal den Kopf. Es war allzu leicht zu glauben.
Sie lächelte uns an.»Wie vernünftig ihr seid. Kein albernes In-Ohnmacht-Fallen, kein Getue. «Sie hielt inne.»Wie es aussieht, habe ich irgend so eine blöde Krankheit, und man sagt mir, daß da nicht viel zu machen ist. Genaugenommen fühle ich mich durch das, was sie machen, so krank. Vorher war es nicht so schlimm… aber ich habe wer weiß wie viele Bestrahlungen bekommen… und die ganzen gräßlichen Chemotherapeutika jetzt, die vertrage ich wirklich sehr schlecht. «Sie brachte wieder ein Lächeln zustande.»Ich habe sie gebeten aufzuhören, aber ihr wißt ja, wie das ist. Wenn sie können, sagen sie, sie müssen. Eine ziemlich unvernünftige Einstellung, meint ihr nicht auch? Aber egal, meine Lieben, das braucht euch nicht zu kümmern.«
«Du möchtest aber, daß wir etwas für dich tun?«tippte Charlie an.
Nerissa war erstaunt.»Wie kommst du darauf, daß ich so was im Sinn habe?«
«Oh… weil es dir so eilig war mit uns — und du weißt doch bestimmt schon seit Wochen, wie es um dich steht.«
«Edward, wie gescheit deine Charlotte ist«, sagte sie.»Ja, ich habe einen Wunsch… Edward soll etwas für mich tun, wenn er mag.«
«Natürlich«, sagte ich.
Eine trockene Belustigung schlich sich wieder in ihre Stimme.
«Hör dir erst mal an, um was es geht, bevor du solche Blankoversprechungen machst.«»Okay.«
«Es hat mit meinen Pferden zu tun. «Sie überlegte, mit schräg geneigtem Kopf.»Sie laufen so schlecht.«
«Aber«, sagte ich verblüfft,»sie sind doch in dieser Saison noch gar nicht gestartet.«
Sie ließ noch immer zwei Hindernispferde in dem Stall trainieren, wo ich aufgewachsen war, und obwohl ich seit dem Tod meines Vaters nicht mehr direkt damit in Verbindung stand, wußte ich, daß sie in der vorigen Saison beide ein paar Rennen gewonnen hatten.
Sie schüttelte den Kopf.»Nicht die Springer, Edward. Meine anderen Pferde. Fünf Hengste und sechs Stuten, die auf der Flachen laufen.«
«Auf der Flachen? Entschuldige… Mir war nicht klar, daß du Flachpferde hast.«
«In Südafrika.«
«Oh. «Ich sah sie ein wenig ratlos an.»Vom südafrikanischen Rennsport habe ich keine Ahnung. Tut mir furchtbar leid. Ich würde dir gern helfen, aber ich weiß einfach viel zu wenig, um beurteilen zu können, warum deine Pferde da schlecht laufen.«
«Es ist nett, daß du enttäuscht dreinschaust, Edward. Du kannst mir aber wirklich helfen, weißt du. Wenn du willst.«
«Sag ihm nur wie«, warf Charlie ein,»dann tut er’s auch. Er würde alles für dich tun, Nerissa.«
Zu dem Zeitpunkt und unter diesen Umständen hatte sie recht. Das Endgültige von Nerissas Zustand brachte mir scharf zum Bewußtsein, wieviel ich ihr seit jeher zu verdanken hatte, nicht so sehr an Konkretem, sondern wegen des Gefühls, daß sie da war und sich interessierte und Anteil nahm an dem, was ich machte. In meinen mutterlosen Teenagerjahren hatte das viel bedeutet.
Sie seufzte.»Ich habe meinen Trainer da unten deshalb angeschrieben, und es scheint ihm ein großes Rätsel zu sein. Er weiß nicht, wieso meine Pferde schlecht laufen, denn alle anderen, die er trainiert, kommen gut. Aber Briefe brauchen so lange — anscheinend ist die Post heutzutage auf beiden Seiten sehr launenhaft. Und deshalb, Edward, habe ich mich gefragt, ob du vielleicht… ich meine, es ist ziemlich viel verlangt, aber könntest du vielleicht eine Woche opfern und für mich da hinunterfahren und mal nach dem Rechten sehen?«
Eine kurze Stille trat ein. Selbst Charlie beeilte sich nicht, zu sagen, daß ich selbstverständlich fahren würde, wenn auch bereits feststand, daß die Frage nur sein konnte, wie, nicht ob.
Nerissa versuchte mich zu überreden.»Denn schau mal, Edward, du verstehst doch was vom Rennsport. Du kennst den Stallbetrieb und solche Sachen. Du würdest doch sehen, ob mit ihrem Training was nicht stimmt, oder? Und dann weißt du natürlich auch so gut, wie man Ermittlungen anstellt.«
«Wie man was?«fragte ich.»Ich habe noch nie in meinem Leben Ermittlungen angestellt.«
Sie wedelte mit der Hand.»Du weißt, wie man etwas herausfindet, und läßt dich durch nichts davon abbringen.«
«Nerissa«, sagte ich argwöhnisch,»du hast meine Filme gesehen«.
«Ja, natürlich. Die habe ich fast alle gesehen.«
«Gut, aber das bin nicht ich. Diese fahndungserprobten Supermänner sind doch nur gespielt.«
«Sei nicht albern, mein lieber Edward. Du könntest all die Sachen, die du im Film machst, nicht machen, wenn du nicht mutig und entschlossen wärst und mit Raffinesse etwas herauszufinden verstündest.«
Ich sah sie mit einer Mischung aus Zuneigung und Ge-nervtheit an. So viele Leute verwechselten das Image mit dem Menschen, aber daß sie es tat…
«Du hast mich schon gekannt, als ich acht war«, protestierte ich.»Du weißt, daß ich nicht furchtlos oder sonderlich entschlossen bin. Ich bin Durchschnitt. Ich bin ich. Ich bin der Junge, dem du Süßigkeiten gegeben hast, wenn er heulte, weil er vom Pony gefallen war, und dem du gesagt hast: >Mach dir nichts drausc, als er sich nicht zutraute, Jockey zu werden.«
Sie lächelte nachsichtig.»Aber seitdem hast du kämpfen gelernt. Und denk mal an den letzten Film, wo du mit einer Hand an einem Felsvorsprung gehangen hast, über einem Steilabfall von dreihundert Metern — «
«Liebe, liebe Nerissa«, unterbrach ich sie.»Ich fahre ja für dich nach Südafrika. Ich fahre bestimmt. Aber diese Kampfszenen im Film — das bin meistens nicht ich; das ist jemand von meiner Größe und meiner Statur, der wirklich Judo kann. Ich kann keins. Ich kann überhaupt nicht kämpfen. Das ist nur mein Gesicht in Großaufnahme. Und die Felsvorsprünge, an die ich mich geklammert hab — die waren zwar an einer echten Felswand, aber ich war nicht in Gefahr. Ich wäre keine dreihundert Meter tief gestürzt, sondern nur drei, in so ein Netz, wie man es bei Trapezakten im Zirkus verwendet. Ich bin sogar zwei oder dreimal gestürzt. Und unter mir ging es in Wirklichkeit keine dreihundert Meter runter, jedenfalls nicht steil. Wir haben im Tal der Felsen in Norddevon gedreht, wo zwischen den Felswänden lauter kleine Plateaus sind, auf die man die Kameras stellen kann.«
Sie hörte mit einer Miene zu, als glaubte sie mir kein Wort. Ich nahm an, es war zwecklos, weiterzureden — ihr zu sagen, daß ich kein Meisterschütze war, kein Flugzeug fliegen und nicht schneller als jedes Abfahrts-As zu Tal jagen konnte, weder Russisch sprach noch ahnte, wie man ein Funkgerät baut oder Bomben entschärft, und daß ich bei der ersten Folterdrohung alles verraten würde. Sie wußte es besser; sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Ihr Gesichtsausdruck sagte mir das.
«Also gut«, kapitulierte ich.»Ich weiß schon, was in einem Rennstall laufen sollte und was nicht. Jedenfalls in England.«
«Und«, sagte sie zufrieden,»du kannst auch nicht behaupten, daß du es nicht warst, der all diese Reitkunststücke hingelegt hat, als du beim Film anfingst.«
Das konnte ich nicht. Es war aber nichts Besonderes gewesen.
«Ich werde nach deinen Pferden sehen und mir anhören, was dein Trainer meint«, sagte ich — und dachte bei mir, wenn er keine Gründe angeben konnte, würde ich höchstwahrscheinlich auch keine finden.
«Lieber Edward, das ist sehr nett…«Sie wirkte plötzlich geschwächt, als sei die Anstrengung, mich zu überreden, schon zuviel für sie gewesen. Als sie jedoch die Bestürzung in Charlies Gesicht und in meinem sah, setzte sie ein beruhigendes Lächeln auf.
«Noch nicht, meine Lieben. Noch zwei Monate, vielleicht… Mindestens zwei Monate, denke ich.«
Charlie schüttelte abwehrend den Kopf, doch Nerissa tätschelte ihr die Hand.»Ist schon gut, Liebes, Ich habe mich damit abgefunden. Aber ich will meine Angelegenheiten ordnen… deshalb hätte ich auch gern, daß Edward nach den Pferden sieht, und ich sollte vielleicht erklären…«
«Ermüde dich nicht«, sagte ich.
«Ich bin nicht… müde«, antwortete sie, obwohl das offensichtlich den Tatsachen widersprach.»Und ich möchte es euch erzählen. Die Pferde haben meiner Schwester Portia gehört, die vor dreißig Jahren nach Südafrika heiratete. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie dort, weil all ihre Freunde da lebten, und ich habe sie im Lauf der Jahre mehrmals besucht. Ich weiß, daß ich euch von ihr erzählt habe.«
Wir nickten.
«Sie ist im vorigen Winter gestorben«, sagte ich.
«Ja… ein schwerer Schlag. «Nerissa schien den Tod ihrer Schwester viel tragischer zu nehmen als ihren eigenen.»Sie hatte keine nahen Verwandten außer mir, und sie hinterließ mir fast alles, was sie von ihrem Mann geerbt hatte. Und ihre ganzen Pferde auch. «Sie hielt inne, um ihre Kräfte und ihre Gedanken zu sammeln.»Es waren damals Jährlinge. Teure Jährlinge. Ihr Trainer schrieb mir, ob ich sie verkaufen wollte, da man südafrikanische Pferde wegen der Quarantänebestimmungen nicht nach England holen kann. Aber ich dachte, es wäre vielleicht ganz schön, ganz interessant, sie in Südafrika laufen zu lassen und nachher an ein Gestüt zu verkaufen. Aber jetzt — tja, jetzt werde ich nicht mehr da sein, wenn sie alt genug für die Zucht sind, und sie haben bereits enorm an Wert verloren.«
«Liebste Nerissa«, sagte Charlie.»Spielt das eine Rolle?«
«O ja. Ja, meine Liebe, das tut es«, sagte sie nachdrücklich.»Ich vermache sie nämlich meinem Neffen Danilo, und mir mißfällt der Gedanke, ihm etwas Wertloses zu hinterlassen.«
Sie blickte von einem zum anderen.»Ich weiß gar nicht habt ihr Danilo mal kennengelernt?«
Charlie sagte:»Nein«, und ich sagte:»Ich habe ihn ein paarmal gesehen, als er ein kleiner Junge war. Du hast ihn immer mit in den Stall gebracht.«
«Richtig, das stimmt. Und dann hat mein Schwager sich von dieser gräßlichen Frau, Danilos Mutter, endlich scheiden lassen und ist mit ihm nach Kalifornien gezogen. Nun, Danilo war kürzlich in England, und er ist ein richtig netter junger Mann geworden. Ist das nicht ein Glück, ihr Lieben? Wo ich doch so wenig Verwandte habe. Genaugenommen ist Danilo sogar der einzige, und selbst er ist kein Blutsverwandter, da sein Vater der Bruder meines lieben John war, versteht ihr?«
Wir verstanden. John Cavesey, seit mehr als sechzehn Jahren unter der Erde, war ein Landedelmann mit vier Jagdpferden und viel Humor gewesen. Außerdem hatte er Nerissa, keine Kinder, einen Bruder, einen Neffen und fünf Quadratmeilen vom» schönen grünen England «gehabt.
Nach einer Pause sagte Nerissa:»Ich werde Mr. Arknold das ist mein Trainer — telegrafieren, daß du kommst, um die Angelegenheit zu prüfen, und daß er dir ein Zimmer bestellen soll.«
«Nein, tu das nicht. Er könnte dir übelnehmen, daß du jemand schickst, und sich gegen mich sperren. Ich bestelle schon das Zimmer und so weiter. Wenn du ihm telegrafierst, sag nur, daß ich vielleicht interessehalber vorbeischaue, weil ich gerade zu einem kurzen Besuch in Südafrika bin.«
Sie lächelte verschmitzt und sagte:»Siehst du, mein Lieber, du weißt eben doch, wie man Nachforschungen anstellt.«