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Die ganze Zeit Angstvon NANCY PICKARD

Nancy Pickard (*1945) wurde in Kansas City, Missouri, geboren, absolvierte die Missouri School of Journalism und arbeitete einige Zeit als Berichterstatterin und Redakteurin, bevor sie sich ganz der freien Schriftstellerei zuwandte. Ihre Serie über Jenny Cain, Stiftungsdirektorin in einer Kleinstadt in Massachusetts, begann mit der Taschenbuch-Originalausgabe Generous Death (1984) und gelangte dann mit dem dritten Buch unter dem Titel No Body (1986) als gebundene Ausgabe zu höheren Ehren. Anfangs bekannt für ihren Humor, wurden die Cains-Romane allmählich düsterer in Ton und Inhalt. In einem Interview mit Robert J. Randisi (Speaking of Murder, Band II, 1999) erläuterte Pickard den Grund dafür, wobei sie sich Susan Wittig Alberts Begriff der» Mega-Buch-Detektivserie «bediente:»ein neues Phänomen … das eine Romanserie beschreibt, die im Grunde aus einem einzigen langen Buch besteht. Jeder Roman in der Serie ist wie ein ›Kapitel‹ im Mega-Buch.« Anders als in den Serien von Autoren wie Agatha Christie oder John D. MacDonald, in denen sich die Detektive vom Schlage einer Miss Marple und eines Travis McGee von Buch zu Buch eigentlich immer gleich bleiben,»kann man in einer ›Mega-Buch‹-Serie nicht darauf zählen, dass das folgende Buch dem vorhergegangenen sonderlich ähnelt… Es ist eher wie im echten Leben (falls … ein Amateurdetektiv überhaupt wie im echten Leben ist), denn der Protagonist durchläuft echte Wandlungen…

Während wir (und sie) reifen, gewinnen die Dinge mit der Zeit einen wesentlicheren Charakter, eine Gewichtigkeit, die bisweilen eine Stimmung von größerer ›Düsternis‹ vermitteln kann.« In mehreren Büchern, angefangen bei The 27 Ingredient Chili Con Carne Murders (1993), lässt Pickard eine gewisse Eugenia Potter auftreten, die bereits in drei Romanen der verstorbenen Virginia Rich erschien.

Pickards Fortsetzung der Reihe — wobei der erste Band auf Richs Aufzeichnungen basiert, die späteren auf eigenen Geschichten — verriet ein Gefühl für Rhythmus, handwerkliches Können und Komplexität — Qualitäten, die einigen von den» Küchenkrimis «und anderen» anheimelnd-beschaulichen Hausfrauenkrimis «abgingen.

Randisis Frage, ob sie eine anheimelnde Autorin sei, findet Pickard komisch:»Ich weiß nicht, was ich bin. Was ist der Unterschied zwischen anheimelnd und unbehaglich? Wenn Kriminalautorinnen Stühle wären, wäre ich nicht gerade ein mit Chintz bezogener Schaukelstuhl, aber auch kein harter Klappstuhl aus Aluminium. Ein schöner Bürodrehstuhl vielleicht?« Manche Romanschriftsteller, die auch Kurzgeschichten schreiben, verwenden dabei die gleiche Erzählform, nur kürzer. Andere bedienen sich der Kurzform, um mit Inhalt, Atmosphäre und Thema zu experimentieren.

Pickard gehört zur letzteren Kategorie, wie sich in ihrer Sammlung Storm Warnings (1999) und in der für den Edgar nominierten Geschichte» Die ganze Zeit Angst «zeigt.

«Ribbon a darkness over me …« «Jaaa, ein Band von Dunkelheit wind über mich …«Mel Brown, auch als Pell Mell und Animel bekannt, sang die Songzeile immer und immer wieder hinter seinem Windschild vor sich hin, während er auf seiner alten schwarzen Harley Davidson von Missouri nach Kansas düste.

Von Kansas war er schon jetzt total begeistert, denn der Highway, der sich vor ihm hinzog, war wie ein langes, flaches, dunkles Band, das sich eigens für ihn entrollte.

«Ribbon a darkness over me …« Er brauste mit Vollgas in den glühenden Spätnachmittag, hatte das Gefühl, als glitte er in blinder Trunkenheit auf einer Himmelsbahn geradewegs der Sonne entgegen. Die Wolken in der Ferne sahen aus, als wollten sie in dieser Nacht auf ihn herunterregnen, aber das kümmerte ihn nicht. In Kansas, hatte er gehört, gebe es jede Menge verlassene Farmen und Ranchhäuser, wo man einbrechen und übernachten konnte. Wie freie Auswahl unter lauter kostenlosen Motels wäre es, dieses Kansas, hatte er gehört.

«Ribbon a darkness over me …« Dreihundert Meilen südwestlich davon unterbrach Jane Baum plötzlich das, was sie gerade tat. Die Angst hatte sie wieder überwältigt. So war es immer: kam aus dem Nichts und schlug wie eine Faust gegen ihr Herz. Sie ließ den Wäschekorb aus den starren Fingern gleiten und blieb wie gelähmt zwischen den beiden Wäscheleinen in ihrem Garten stehen. Rechts von ihr hing ein nasses Leintuch, links von ihr noch eines. Weil sich der Wind zur Abwechslung einmal gelegt hatte, hingen die Laken reglos und still wie Wände, Sie fühlte sich von einem engen, weißen, sterilen Raum aus Stoff umschlossen, den sie nie wieder verlassen wollte. Denn draußen lauerte die Gefahr.

Zu beiden Seiten der Bettlaken erstreckte sich die endlose Prärie, in der sie sich wie ein winziges Mäuschen vorkam, jedem Habicht in den Lüften ausgesetzt.

Sie musste ihre ganze Willenskraft zusammennehmen, um nicht loszuschreien.

Wie um sich zu trösten, umklammerte sie ihre Schultern, aber es half nichts. Es dauerte nicht lange und sie weinte, und dann schüttelte sie sich, wie gelähmt vor Panik.

Sie hatte nicht gewusst, dass sie solche Angst haben würde.

Bevor sie vor acht Monaten auf diese kleine Farm gezogen war, die sie geerbt hatte, war ihr der Gedanke recht romantisch vorgekommen, sogar wenn sie an so simple Dinge wie Wäscheaufhängen dachte. Das würde sich so gut anfühlen, hatte sie sich ausgemalt, die Wäsche würde so herrlich duften. Stattdessen kam ihr gleich von Anfang an alles fremdartig und bedrohlich vor, und es wurde immer schlimmer. Inzwischen fühlte sie sich nicht einmal mehr vom Haus geschützt. Allmählich war ihr, als würde Angst statt Elektrizität ihre Lampen erleuchten, als würde Angst ihre Badewanne füllen, ihre Schränke auslegen und ihr Bett bedecken — Angst, die sie statt der Luft atmete.

Sie hasste die Prärie und alles, was dazu gehörte.

Die Stadt hatte ihr nie solche Angst gemacht. Sie kannte die Stadt, verstand sie, sie wusste, wie man ihren Gefahren und Problemen aus dem Weg ging. In der Stadt gab es

überall Gebäude, und inzwischen wusste sie auch, warum — um die wahre, schreckliche Weite der Erde zu verhüllen, wo die Bewohner der Gefahr so entsetzlich ausgesetzt waren.

Der Wind wurde wieder stärker und klatschte ihr die nassen Laken an den Körper. Janie schoss aus ihrem Unterschlupf hervor. Wie eine Maus, über der ein Habicht kreist, rannte sie los, als wäre jemand hinter ihr her. Aus ihrem Garten hinaus und den Highway hinunter, raste sie wie besessen, atemlos auf den einzigen anderen Unterschlupf zu, den sie kannte.

Als sie Cissy Johnsons Haus erreichte, riss sie die Seitentür auf und stürzte hinein, ohne anzuklopfen.

« Cissy?« «Ich hab die ganze Zeit Angst.« «Ich weiß, Janie.« Cissy Johnson stand in ihrer Küche am Spülbecken, schälte Kartoffeln fürs Abendessen und hörte sich Jane Baums wohl vertraute Litanei der Angst an. Die kannte Cissy inzwischen schon auswendig. Janie hatte Angst davor, in dem Haus allein zu sein, das sie von ihrer Tante geerbt hatte; hatte Angst vor der Dunkelheit; dem kleinsten Knacken von Zweigen in der Nacht; dem Sturmschutzkeller; vor Pferden, die auf sie treten könnten; Kühen, die sie niedertrampeln könnten; Hühnern, die nach ihr picken könnten; Katzen, die sie kratzen könnten und vielleicht Tollwut hatten; Kojoten, die sie angreifen könnten; vor Lastwagenfahrern, die an ihrem Haus vorbeifuhren, besonders denen, die flirten wollten und laut hupten, wenn sie sie im Hof stehen sahen; vor Tornados, Wirbelstürmen und Gewittern und schließlich davor, dass man so weit fahren musste, bloß um einfache Lebensmittel und sonstige Vorräte einzukaufen.

Anfangs hatte Cissy noch Mitleid gehabt und ihr eine tägliche Dosis Kaffee und Freundschaft angeboten.

Inzwischen fiel es ihr aber zunehmend schwerer, Geduld mit einer Nachbarin zu haben, die ohne anzuklopfen hereinplatzte und die ganze Zeit über imaginäre Probleme jammerte und die —»Du lebst schließlich schon immer hier«, sagte Janie, als wäre diese Tatsache der Frau am Spülbecken bisher noch nicht bewusst gewesen. Sie saß auf einem Küchenstuhl, in sich zusammengekauert wie ein Kind, das ausgezankt wird. Ihre Stimme war leise, als redete sie mehr mit sich selbst als mit Cissy.»Du bist es gewohnt, darum macht es dir auch keine Angst.« «Hmmm«, machte Cissy wie zur Zustimmung. Außer Sichtweite ihrer Nachbarin aber stach sie einer Kartoffel zornig das Auge aus. Mit Stumpf und Stiel riss sie es aus – bloß eine weiße, feuchte, offene Wunde blieb zurück – und schnippte das tote schwarze Hautstückchen ins Spülbecken, wo es vom laufenden Wasser aus dem Hahn durch den Abfallshredder hinuntergespült wurde. Wie gern, dachte sie, würde sie Janies Ängste ins Spülbecken schütten, auf ähnliche Weise zerhäckseln und fortschwemmen. Sie hielt die Kartoffel an die Nase und schnupperte, atmete den frischen, rohen Geruch ein.

Als hätte sie in diesem ganz eigenen Moment Kraft geschöpft, blickte sie erneut über die Schulter zu ihrer Besucherin hinüber. Cissy schämte sich dafür, dass der bloße Anblick von Jane Baum sie inzwischen anwiderte.

Aber es war wirklich eine Zumutung, wie die sich allmählich gehen ließ. Sie wünschte, Jane würde sich die Haare kämmen, ihre Schultern straffen, sich ein bisschen Farbe ins blasse Gesicht malen und etwas anderes anziehen als dieses hässliche Jeansträgerkleid, das ihr bis zu den Absätzen reichte. Cissys Mann Bob nannte Janie «Cissys Hündchen«, und das Trägerkleid nannte er «Hündchenzelt«. Er hatte Recht, dachte Cissy, die Frau sah tatsächlich aus wie eine gehemmte, pickelige Halbwüchsige und überhaupt nicht wie eine erwachsene Frau von fünfunddreißig Jahren oder mehr. Und Himmel noch mal, Janie lief ihr wirklich wie ein neurotischer Quälgeist von einem Hündchen andauernd hinterher.

«Kommt Bob heute Abend zurück?«, fragte Janie.

Jetzt dringt sie auch noch in meine Gedanken ein, dachte Cissy. Gereizt hieb sie auf die Kartoffel ein und schälte nicht nur die Schale, sondern auch reichlich vom Inneren weg.»Morgen. «Ihre Schultern versteiften sich.

«Kann ich dann heute Nacht hier schlafen?« «Nein. «Cissy war selbst überrascht von der Knappheit ihrer Antwort. Sie konnte die Verletztheit förmlich spüren, die Janie ausstrahlte, und versuchte es dadurch wieder gutzumachen, dass sie einen sanfteren Ton anschlug.»Tut mir Leid, Janie, aber ich hab noch so viel Schreibkram zu erledigen und kann mich schwer konzentrieren, wenn jemand im Haus ist. Den Mädchen hab ich sogar gesagt, sie dürfen ihre Schlafsäcke heute Nacht mit in die Scheune nehmen, damit ich ein bisschen Ruhe hab. «Mit den Mädchen waren ihre Töchter gemeint: Tessie, dreizehn, und Mandy, elf.»Sie wollen draußen schlafen, weil wir doch das neue blinde Kälbchen haben, das wir mit der Flasche aufziehen. Armes Kerlchen, seine Mutter will nichts von ihm wissen. Tessie hat ihn Plumpsy genannt, weil er aufstehen will und immer wieder hinplumpst. Also füttern ihn die Mädchen mit der Flasche und wollen da schlafen, wo er in der Nähe …« «Ach. «Der Ausruf klang vorwurfsvoll.

Cissy trat vom Spülbecken an ihren Ofen, um ihn auf 200 Grad einzustellen. Ihre persönliche Temperatur stieg ebenfalls an. Dass sie vielleicht mal über ihr Leben reden könnte — von wegen! Dass sie sich vielleicht mal über was anderes unterhalten könnten als über Janie und das ganze verdammte Zeug, vor dem sie sich fürchtete — von wegen!

Sie könnte bereits ein Buch darüber schreiben: Wie Jane Baum einen großen Fehler machte, als sie aus Kansas City wegzog, und wie alles auf dem Land sie schlichtweg zu Tode ängstigte.

«Hast du denn vor gar nichts Angst, Cissy?« In der unterschwelligen Bewunderung lag ein leicht weinerlicher Ton — vor gar nichts —, wie ein leichter Drall bei einem scharfen Baseball-Wurf.

«Doch. «Cissy zog das Wort widerwillig in die Länge.

« Wirklich? Vor was denn?« Cissy drehte sich am Spülbecken um und lachte verlegen.

«Es ist so was Dummes … Ich hab sogar Angst davor, es zu sagen.« «Sag doch! Mir ist gleich wohler, wenn ich weiß, dass du dich auch vor was fürchtest.« Da haben wir’s! dachte Cissy. Sogar meine Ängste laufen bloß darauf hinaus, wie sie dich berühren!

«Na gut. «Sie seufzte.»Also, ich hab Angst davor, dass Bobby was passieren könnte, ein Unfall auf dem Highway oder so was, oder einem von den Mädchen oder meinen Leuten, solche Sachen eben. Leukämie oder ein Herzinfarkt oder etwas, was ich nicht unter Kontrolle habe. Ich hab immer Angst, dass mal nicht mehr genug Geld da ist und wir alles verkaufen müssen. Wir sind so glücklich hier. Ich glaub, ich hab einfach Angst, dass sich das mal ändern könnte. «Sie machte eine Pause, bestürzt über die plötzliche Erkenntnis, dass sie nicht mehr so glücklich war, seit Jane Baum in dem Haus weiter unten eingezogen war. Sie blickte ihre Nachbarin anklagend an.

«Das ist es wohl, wovor ich Angst habe«, sagte Cissy.

Dann fügte sie bedächtig hinzu:»Ich denke aber nicht die ganze Zeit dran.« «Ich denk an meine die ganze Zeit«, flüsterte Jane.

«Ich weiß.« «Ich find es hier furchtbar!« «Du könntest ja wieder wegziehen.« Janie sah sie vorwurfsvoll an.»Du weißt doch, dass ich mir das nicht leisten kann!« Cissy machte kurz die Augen zu. Die Vorstellung, sich das für wer weiß wie viele Jahre anhören zu müssen …

«Ich komme schrecklich gern hier herüber«, sagte Janie sehnsüchtig, als könnte sie wieder Cissys Gedanken lesen.

«Mir geht’s dann immer viel besser. Hier ist der einzige Ort, an dem ich mich noch sicher fühle. Ich find es einfach furchtbar, ganz allein in das große alte Haus zurückgehen zu müssen.« Ich werde dich nicht zum Abendessen einladen, dachte Cissy.

Janie seufzte.

Cissy schaute aus dem großen quadratischen Fenster hinter Janie. Es war Oktober, ihr Lieblingsmonat, wenn das Gras rot wie die Löckchen auf dem Rücken einer Hereford-Kuh wurde und der Himmel das Stahlgrau des Highway annahm, der zwischen ihren beiden Häusern verlief. Es war, als würde die ganze Welt in sich verschmelzen — das Gras ins Vieh, die Straßen in den Himmel und sie selbst in das alles hinein. Es lag eine Spannung in der Luft, als würde bald etwas viel Wichtigeres hereinbrechen als der Winter, als wäre die ganze Welt eins und würde gleich zu etwas ganz Neuem auseinander bersten. Cissy liebte die Prärie, und es verletzte sie ein wenig, dass es bei Janie nicht so war. Wie konnte jemand inmitten von so viel Schönheit leben, rätselte sie, und Angst davor haben?

«Eine bessere Chance kriegen wir nie. «Tess hakte die Argumente zugunsten des Abenteuers ab, indem sie die Finger an ihrer rechten Hand nacheinander hochhob, dicht vor dem verängstigten Gesicht ihrer Schwester.»Dad ist weg. Wir sind in der Scheune. Mom wird bald schlafen.

Und es ist Neumond. «Weil sie an der Hand nicht mehr genug Finger hatte, hob sie den linken Daumen.»Und die Hunde kennen uns.« «Die kriegen das raus!«, jammerte Mandy.

«Wer soll was rauskriegen?« «Na, Mom und Daddy!« «Ach Quatsch! Wer soll’s ihnen denn sagen? Der Tankstellenbesitzer? Meinst du, wir hätten eine Klopapierspur hinterlassen, der er von seiner Tankstelle bis hier rauf folgen könnte? Und dann ruft er den Sheriff an und sagt, he, Jungs, sperrt mal die Johnson-Mädchen ein, die haben mir mein Klopapier gestohlen!« «Ja!« Gemeinsam wanderten ihre Blicke — stolz und schlau bei der einen, stolz und beklommen bei der anderen — zu dem kleinen Heuhaufen hinüber, der ohne ersichtlichen Grund in einer dunklen Ecke der Scheune aufgeschichtet war.

Unter dieser Schicht lagerten ihre gehamsterten sechs Rollen Klopapier — eine neue, aus ihrem eigenen Wäscheschrank stibitzt und fünf teilweise angebrochene (einzeln gestohlen und unter ihren Schuljacken versteckt) aus der Damentoilette der Tankstelle in der Stadt. Dem Plan gemäß, den Tess ausgeheckt hatte, würden die beiden abends nach Einbruch der Dunkelheit das Haus ihrer Nachbarin mit Klopapier schmücken. Tess stellte es sich schon ganz toll vor, wie es aussehen würde — richtig geisterhaft und unheimlich würden die langen, weißen Papierbänder von den Ästen der Bäume flattern und schaurig in der Brise wehen.

«Du Trottel, in Kansas City machen sie so was andauernd«, behauptete Tess.»Und ich wette, die machen da nicht so ein Riesen-Heulsusen-Theater drum. «Sie wollte die erste in ihrer Klasse sein, die es machte, und hatte nicht vor, ihre Schwester kneifen zu lassen. Mit diesem Plan, da war Tess sich sicher, würde sie im weiten Umkreis berühmt, in mindestens vier Bezirken. Von den Erwachsenen würde keiner rauskriegen, wer es gewesen war, aber alle Kinder würden es erfahren, selbst wenn sie es ihnen selber verraten musste.

«Mom bringt uns um!« «Uns erwischt doch keiner!« «Es wird regnen!« «Wird es nicht.« «Wir sollen aber doch Plumpsy nicht allein lassen!« Beide sahen gleichzeitig zu dem Bullenkälbchen in einem der verschlage hinüber. Es stierte blind in die Richtung, aus der ihre stimmen gekommen waren, und versuchte sich aufzurappeln, war aber zu schwach dazu.

«Mensch, bist du doof. Wir lassen ihn doch andauernd allein.« Mandy seufzte.

Tess, die den Ton wohl kannte, mit dem ihre Schwester sich geschlagen gab, lächelte sie großherzig an.

«Du darfst auch die erste Rolle schmeißen«, bot sie ihr an.

In einer Raststätte in Emporia tunkte Mel Brown seine Bratensoße mit dem letzten Drittel seines Milchbrötchens auf. Er saß an einem Fenstertisch. Während er aß, ging sein zufriedener Blick nach draußen zu seinem Motorrad.

Wenn er den Kopf nur ein bisschen drehte, konnte er die Sonnenstrahlen auf dem Lenker reflektiert sehen. Er dachte daran, wie weich und warm und geschmeidig sich der Ledersitz und die Handgriffe anfühlen würden — wie eine Frau ganz in Leder —, wenn er später wieder aufstieg.

Bei dem Gedanken wurde ihm auch in der Schrittgegend richtig warm, und er lächelte.

Mann, wie er dieses Leben liebte!

Wenn er Hunger hatte, aß er. Wenn er müde war, schlief er. Wenn er geil war, suchte er sich eine Frau. Wenn er Durst hatte, machte er in einer Bar Station.

Momentan hatte Mel keine Lust, die gesamte Summe von fünf Dollar sechsundvierzig für dieses miese Frikadellengericht mit Kaffee zu bezahlen. Er zog vier Dollarscheine aus der Brieftasche und ein paar Vierteldollarmünzen aus der rechten Hosentasche und legte alles so auf den Tisch, dass das Geld unter der Rechnung hervorschaute.

Dann stand er auf und ging an der Kellnerin vorbei.

«Geld liegt auf dem Tisch«, sagte er ihr.

«Stückchen Kirschkuchen?«, fragte sie.

Weil es sich anhörte wie ein unmoralisches Angebot, erwiderte er grinsend:»Nä.«Wenn du nicht so hässlich wärst, dachte er, würde ich vielleicht sogar zum Nachtisch bleiben.

«Kommen Sie mal wieder«, sagte sie.

Hättest du wohl gern, dachte er.

Wenn sie ihn zurückriefen, würde er sagen, er hätte ihre Handschrift nicht lesen können. Selber schuld. MUSS sich nicht wundern, wenn sie kein Trinkgeld kriegt. Lächelnd nahm er sich einen Zahnstocher von der Kassentheke und salutierte damit dem Mann hinter der Ladenkasse.

«Danke«, sagte dieser.

«Alles klar.« Dann stand Mel draußen auf dem Parkplatz und reckte sich, stieß die Arme hoch in die Luft, damit ihn auch alle, die hinschauten, begutachten konnten. Nichts zu verbergen. Bin doch echt ein toller Hecht, eh, Baby. Dann schlenderte er zu seiner Maschine hinüber und kickte den Motorradständer mit der Ferse hoch. Er schob den Zahnstocher im Mund herum, spuckte ein Fitzelchen Fleisch aus und schnippte den Zahnstocher dann auf die Erde. Er stieg auf seine Maschine und seufzte zufrieden, als sein Hintern mit dem warmen Ledersitz in Berührung kam.

Genüsslich das langsame Anschwellen von Kraft spürend, das sich zwischen seinen Schenkeln aufbaute, beschleunigte Mel ganz allmählich.

Abends lag Jane Baum um halb elf im Bett, wieder einmal völlig erschöpft von ihrer eigenen Angst. Während sie so dalag im Doppelbett ihrer verstorbenen Tante, quälte sie der Gedanke, was für ein Fehler es doch gewesen war, an diesen schrecklichen, öden, gottverlassenen Ort zu ziehen.

Zwar hatte sie damit gerechnet, sich eine Zeit lang etwas nervös zu fühlen, so wie alle Stadtbewohner, die aufs Land ziehen. Aber dass sie krankhafte Angst verspüren würde — besessen wäre von einer Angst, die so stark war, dass sie jede einzelne ihrer Körperzellen besetzte, bis sie abends, jeden Abend einfach dachte, sie würde daran sterben —, das hätte sie nicht erwartet. Sie hatte nicht geahnt — wie hätte sie es auch ahnen können? — , dass sie zu den Leuten gehörte, denen die Weite der Prärie furchtbare Angst einflößt. Sie war nur als Kind ein paar Mal auf der Farm gewesen und hatte von diesen Besuchen nur noch warme, flaumige Sachen wie Raupen und Küken in Erinnerung. Nur ganz vage konnte sie sich daran erinnern, wie ameisenhaft sich ein menschliches Wesen in der Prärie vorkommt.

In der Zeit zwischen dem Tod ihrer Tante und ihrem eigenen Einzug war im Haus ihrer Tante zweimal eingebrochen worden. Diese Tatsache bot ihren Wahnvorstellungen ein Fundament von erschreckender Realität. Wenn Cissy sagte:»Das bildest du dir ein«, gab Janie zurück:»Es ist aber zweimal passiert! Zwei Mal!« Sie dachte es sich nicht bloß aus! Es gab tatsächlich fremde, brutale Männer — so stellte sie sich die Diebe vor, die Polizei hatte sie nie geschnappt —, die eingebrochen waren und genommen hatten was sie wollten: Konservendosen aus dem Schrank, das Radio aus der Küche. Es konnte wieder passieren, dachte Janie wie besessen, während sie im Bett lag. Es konnte wieder und wieder passieren. Mir, mir, mir.

Die Dunkelheit, die in der Prärie herrschte, war absolut, so kam es ihr jedenfalls vor. Es gab Millionen von Sternen, aber keine Straßenlaternen. Kojoten heulten, das Vieh brüllte. Gelegentlich surrten die großen Sattelschlepper vor dem Haus vorbei, die immer nachts unterwegs waren. Ihre Reifen- und Motorengeräusche schienen aus dem Nichts zu kommen, steigerten sich zu einem unerträglichen Jaulen und verschwanden dann auf unheimliche Weise plötzlich wieder. Die Fahrer stellte sie sich als große, grobschlächtige, kraftvolle Männer vor, voll gepumpt mit Aufputschmitteln. Eines Nachts, dachte sie verängstigt, würde sie hören, wie Lastwagenreifen in ihre Kieseinfahrt einbogen, ein Motor abgestellt wurde, eine Lastwagentür leise geöffnet und wieder zugeschlagen wurde und zögernde Schritte über ihren Kiesweg schlurften.

Ihre Angst war so immens geworden, so schlimm, dass sie sogar davor Angst hatte. Es war wie ein gigantischer Ballon, der sich mit jedem ihrer Atemzüge weiter füllte.

Jede Nacht wurde die Angst noch schlimmer, und der Ballon wurde größer. Inzwischen füllte er fast das ganze Schlafzimmer aus.

Im Schlafzimmer im Obergeschoss, wo sie lag, war es heiß, denn sie hielt die Fenster immer geschlossen und fest verriegelt und die Vorhänge zugezogen. Sie hätte das Zimmer mit einem Ventilator auf der Frisierkommode kühlen können, befürchtete aber, der Lärm des Ventilators könnte das Geräusch übertönen, falls im Erdgeschoss jemand einbrach und die Treppe hochkam, um sie zu überfallen. Sie hatte sich ein Bettlaken und eine Decke über Arme und Schultern bis knapp unters Kinn gezogen.

Sie schwitzte, als ob ihr vor Angst erstarrter Körper zerschmelzen würde, und doch fühlte es sich warm und beinahe behaglich an. Im Bett trug sie immer Schlafanzug und dünne Wollsocken, denn sie fühlte sich sicherer, wenn sie vollständig bekleidet war. Ganz besonders sicher fühlte sie sich in Schlafanzughosen, denn anders als bei einem Nachthemd konnte ihr die keine dreckige Hand auf den Bauch hochschieben.

Während sie nun wie eine Querschnittsgelähmte reglos und mit offenen Augen im Bett lag, ging Janie im Geiste noch einmal ihre Sicherheitsvorkehrungen durch. Alle Türen waren verriegelt, alle Fenster sowieso immer geschlossen und verriegelt, so dass sie sie nicht jeden Abend zu überprüfen brauchte. Alle Vorhänge waren zugezogen, das Licht auf der Veranda war ausgeschaltet und ihr Auto in der Scheune eingeschlossen, so dass kein Lastwagenfahrer auf die Idee käme, sie wäre zu Hause.

In letzter Zeit hatte sie sich angewöhnt, mit der geladenen Pistole ihrer Tante auf dem Kopfkissen neben sich zu schlafen.

Müde von der stundenlangen Buchhaltung, schlüpfte Cissy kurz vor Mitternacht ins Bett. Vorher war sie noch draußen in der Scheune gewesen, um nach ihren kichernden Mädchen und dem blinden Kälbchen zu sehen.

Sie hatte mit ihrem Mann gesprochen, als der aus Oklahoma City angerufen hatte. Nun dachte sie darüber nach, wie sie es anstellen sollte, Janie Baum allmählich aus ihrem Familienleben hinauszumanövrieren.

«Tut mir Leid, Janie, aber ich hab heute schrecklich viel zu tun. Du solltest also vielleicht nicht rüberkommen …« Ach, aber dann käme dieses unterwürfige, gemarterte Stimmchen, wie von einem Mäuschen, das jemanden braucht, der es bemuttert. Wie könnte sie dieses Bedürfnis nicht erfüllen? Sie hatte sowieso schon Schuldgefühle, weil sie Janies Bitte abgeschlagen hatte, bei ihnen zu übernachten.

«Ja, aber ich mach es. Ich mach es einfach und Schluss.

Wenn ich zu den jungen Mädchen vom Klub zukünftiger Hausfrauen Amerikas nein sagen konnte, als sie da waren und Früchtekuchen verkaufen wollten, kann ich auch bei Janie Baum öfter mal nein sagen. Sonst überwindet sie ihre Angst ja nie, wenn ich sie auch noch darin bestärke.« Etwas Ähnliches hatte Bob auch gesagt, als sie sich per Ferngespräch bei ihm beklagt hatte.»Cissy, damit hilfst du ihr auch nicht«, hatte er gesagt.»Damit lässt du nur zu, dass es schlimmer wird. «Und dann hatte er noch etwas Neues gesagt, was sie ziemlich beunruhigt hatte.

«Jedenfalls gefällt’s mir nicht, dass die Mädchen so viel um sie rum sind. Die wird mir allmählich zu wunderlich, Cissy.« Sie dachte an ihre Töchter — an die unerschrockene Tess und die liebe kleine Mandy — und wie sicher und schön es für Kinder auf dem Land doch war …

«Außerdem«, hatte Bob gesagt,» muss die ihre Hausarbeit öfter mal selber machen. Tess und Mandy müssen nämlich bei uns im Haus mehr mithelfen. Das geht nicht, dass sie dauernd zu ihr rennen und ihr den Rasen mähen und die Blumen pflanzen und die Kühe füttern und dem Pferd Wasser geben und ihr die Eier einsammeln, bloß weil die Angst davor hat, einer verdammten Henne unter den Hintern zu greifen …« Beim Aufzählen der Hausarbeiten schlief Cissy ein.

«Tess!«, zischte Mandy verzweifelt.»Warte!« Tess ging etwas langsamer, damit Mandy hinterherkam und das ältere Mädchen zur Beruhigung anfassen konnte.

Sie machten eine kleine Atempause und hockten sich im Schatten von Jane Baums Veranda auf die Erde. Tess trug drei Rollen Klopapier in einem behelfsmäßigen Beutel, zu dem sie das Vorderteil ihres schwarzen Sweatshirts umfunktioniert hatte (»Denk dran, wir müssen Schwarz tragen!«), und Mandy war ähnlich ausgestattet. Tess beschloss, dass nun der passende Moment gekommen war, die Bombe platzen zu lassen.

«Ich hab mir da was überlegt«, flüsterte sie.

Die wohl vertrauten, gefürchteten Worte trafen Mandy bis ins Mark. Sie erstarrte.»Was denn?«, stöhnte sie leise.

«Es könnte ja regnen.« «Hab ich dir doch gesagt!« «Dann ist es, glaub ich, besser, wir machen es drinnen.« « Drinnen? « «Pssst! Dann erschrickt sie sich zu Tode, das wird toll!

Das traut sich bestimmt sonst niemand, so was Tolles zu machen! Wir machen die Küche, und wenn wir Zeit haben, vielleicht noch das Esszimmer.« «O neeeiiin.« « Die meint, sie hat alle Türen und Fenster verrammelt, stimmt aber nicht!«, kicherte Tess. Sie hatte sich alles genau ausgedacht: Wenn Jane Baum am nächsten Morgen die Treppe herunterkäme, würde sie erst gucken, dann kreischen und in Ohnmacht fallen, und wenn sie wieder aufgewacht war, alle Welt verständigen. Ihr war zwar der Gedanke gekommen, dass Jane womöglich den Sheriff holen würde, aber weil sie Erwachsenen sowieso nicht zutraute, überhaupt irgendetwas Wichtiges herauszukriegen, machte sie sich keine Gedanken darüber, erwischt zu werden.»Als ich ihr die Eier reingebracht hab, hab ich das Fenster unten im Badezimmer aufgeschlossen!

Komm schon! Das wird bestimmt toll!« Das Band der Dunkelheit, das sich vor Mel Brown dahinzog, verlief inzwischen nicht mehr gerade, sondern war zu langen, abschüssigen Hügeln zusammengerafft.

Mit Hügeln hatte er nicht gerechnet. Niemand hatte ihm gesagt, dass es Teile von Kansas gab, die nicht flach waren. Er kam also nicht mehr so zügig voran und konnte auch nicht mit Vollgas dahinbrausen. Andererseits war er auch nicht in Eile, sondern raste bloß aus Jux. Das hier war jetzt viel interessanter und gefährlicher, und er genoss den Nervenkitzel. Wenn er jetzt einen Hügel hinaufraste, fuhr er immer dichter an die Mittellinie heran, spielte also eine Art Highway-Roulette, bei dem er der Gewinner war, solange alles, was aus der entgegengesetzten Richtung kam, die Scheinwerfer eingeschaltet hatte.

Als ihm das langweilig wurde, schaltete er seine eigenen Scheinwerfer aus und dröhnte nun wie ein dunkler Dämon an Autos und Lastwagen vorbei.

Dabei lachte er jedes Mal und dachte, wie überrascht sie bestimmt waren und wie erschrocken. Verrückter Typ, würden sie denken, fast wäre ich in ihn reingefahren …

Er hatte eigentlich vor überhaupt nichts Angst, außer vielleicht davor, wieder ins Gefängnis zu müssen, konnte sich aber nicht vorstellen, dass sie ihn wegen überhöhter Geschwindigkeit verknacken würden. Außerdem, wenn Kansas so war wie die meisten anderen Staaten, gab es jede Menge Landstraßen und kaum Verkehrspolizei …

Bergab zu donnern machte sogar noch mehr Spaß, weil es ihm so schön den Magen hob. Er kam sich vor wie ein Halbwüchsiger.

«Fuuuck«, schrie er aus vollem Hals, während er auf der anderen Seite hinunterraste. Schau mal einer an — eine gottverdammte Achterbahn, dieses Kansas!

Der Regen schien noch meilenweit entfernt zu sein.

Mel kam sich vor, als könnte er die ganze Nacht so weiterfahren. Bloß dass sich die Augen jetzt sandig anfühlten, das erste Anzeichen dafür, dass er wohl besser nach einem passenden Plätzchen für die Nacht Ausschau halten sollte. Er war nicht so scharf darauf, unter freiem Himmel zu schlafen, jedenfalls nicht, wenn sich ein Dach über dem Kopf finden ließ.

Tess wies ihre Schwester an, die Klopapierrollen unter dem Badezimmerfenster im Erdgeschoss von Jane Baums Haus aufzustapeln. Die sechs Rollen, allesamt weiß und in zwei Dreierreihen übereinander gestapelt, verschafften Tess die Höhe und Hebelwirkung, die sie brauchte, um die Scheibe mit den Handflächen hochschieben zu können.

Sie steckte die Finger an der unteren Kante hindurch und versuchte mühsam, das Fenster aufzubekommen, das wegen der vielen Farbschichten festsaß.

«Verdammt!«, rief sie aus und ließ die Arme sinken. Das Klopapier unter ihren Füßen wurde allmählich zusammengequetscht.

Als sie es erneut probierte, zeigte sich, wie stark sie vom Hochheben von Kälbchen und Heuaufwerfen geworden war. Farbe splitterte ab und Holz prallte dumpf auf Holz, als das Fenster nach oben glitt.

«Pssst!«Mandy hielt sich die Fäuste vors Gesicht und schlug vor lauter Aufregung die Knöchel aneinander. Ihre scharfen Ohren machten draußen auf dem Highway Motorenlärm aus, und sie wusste gleich, dass es der Sheriff war, der gekommen war, um sie und Tess zu verhaften. Verzweifelt zerrte sie ihre Schwester am rechten Unterschenkel.

Das Knacken des Fensters und das Geräusch des heranbrausenden Motorrads vermischten sich in Janes Bewusstsein im Schlaf miteinander, so dass sie sich beim Aufwachen aus angsterfüllten Träumen — ihre Augen flogen auf, der Rest ihres Körpers erstarrte — in einer Art konfuser Halluzination einbildete, jemand sei hinter ihr her und befände sich bereits im Haus.

Jane tat daraufhin das, was sie sich antrainiert hatte.

Weil sie es Abend für Abend immer wieder eingeübt hatte, waren ihre Bewegungen gleichsam instinktiv. Sie drehte ihr Gesicht zu der Pistole auf dem anderen Kissen hinüber und legte den Daumen an den Abzug.

Ihre Angst — vor Vergewaltigung, Folterqualen, Entführung, Todesangst, vor dem Tod — war wie ein Ballon, in dessen Mitte sie sich entsetzt schweben sah.

Aus dem Erdgeschoss waren dumpfe Schläge und andere Geräusche zu hören, die zu ihr in den Ballon drangen. Ein Motor dröhnte, dann war es auf einmal still, Reifen schleiften über ihre Kieseinfahrt, dann drangen auch diese Geräusche zu ihr in den Ballon. Als sie es schließlich nicht mehr aushielt, ließ sie den Ballon zerplatzen und schoss sich in die Stirn.

In der Einfahrt hörte Mel Brown die Schusswaffe losgehen.

Er schwang sein Bein wieder aufs Motorrad und donnerte wieder auf den Highway hinaus. Hatte das Haus eben nur unbewohnt ausgesehen. Hatte er sich eben geirrt.

Würde er sich eben was anderes suchen. Verdammte Scheiße aber auch. Nichts wie weg, verdammt noch mal.

Drinnen im Haus, im Badezimmer hatte Tess den Schuss ebenfalls gehört und ihn als Farmerkind auch sofort richtig erkannt, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, woher er gekommen war. Schimpfend und schluchzend kletterte sie über das Waschbecken und durchs Fenster hinaus und purzelte dabei, Kopf und Schultern voraus, auf die Klopapierrollen.

«Der Sheriff!«Mandy war außer sich.»Der schießt auf uns!« Tess packte ihre kleine Schwester am Handgelenk und zog sie vom Haus weg. Weinend stolperten die beiden davon. Sie rannten im Abflussgraben bis nach Hause und stürzten sich in die Scheune.

Mandy lief hinüber zu dem blinden Bullenkälbchen, um sich neben es hinzulegen. Sie legte den Kopf an Plumpsys Seite. Als er nicht reagierte, stand sie ruckartig auf. Sie funkelte ihre Schwester wütend an.

«Er ist tot!« «Halt’s Maul!« Cissy Johnson war ebenfalls aufgewacht, obwohl sie nicht recht wusste, warum. Etwas hatte sie aufgeschreckt, irgendein Geräusch. Und jetzt saß sie schwer atmend aufrecht im Bett und hatte aus irgendeinem ihr unerfindlichen Grund Angst. Wenn Bob zu Hause gewesen wäre, hätte sie ihn in die Scheune hinausgeschickt, um nach den Mädchen zu sehen. Aber warum? Mit den Mädchen war doch alles in Ordnung, bestimmt, das hier war bloß die Nachwirkung eines bösen Traums. Sie konnte sich aber gar nicht erinnern, schlecht geträumt zu haben.

Cissy stand auf und lief ans Fenster.

Nein, es war kein Gewitter, es hatte nicht angefangen zu regnen.

Ein Motorrad!

Das war es, was sie gehört hatte, davon war sie aufgewacht!

Rasch schlüpfte Cissy mit zitternden Fingern in einen Morgenmantel und zog Tennisschuhe an. Verflixt noch mal, Janie Baum, deine Ängste sind doch tatsächlich ansteckend. Da kam ihr plötzlich ein Gedanke: Wenn man keine Ängste hat, können sie auch nicht wahr werden.

Cissy rannte in die Scheune hinaus.