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Schon seit langem gibt es Autoren, die sowohl Science-Fiction als auch Kriminal- und Spannungsliteratur produzieren, doch handelt es sich bei den meisten frühen Namen, die einem dazu einfallen (Poul Anderson, Anthony Boucher, Fredric Brown, Isaac Asimov) um Männer, aus dem einfachen Grund, dass in den Anfangsjahren wenig Frauen Science-Fiction geschrieben haben. Inzwischen betätigen sich natürlich zahlreiche Frauen auf diesem Gebiet, von denen eine ganze Reihe — Kate Wilhelm zum Beispiel — auch zur Kriminalliteratur beigetragen haben.
Kristine Kathryn Rusch (*1960) wurde in Oneonta, New York, geboren, besuchte die Universität von Wisconsin und den Clarion Writers Workshop, ein Autorenseminar, und lebt heute in Oregon. Zu Anfang ihrer Karriere war sie freie Journalistin, Redakteurin und Rundfunk-Nachrichtenchefin und gab von 1991 bis 1997 die angesehene, von Anthony Boucher gegründete Zeitschrift The Magazine of Fantasy and Science Fiction heraus.
Zusammen mit ihrem Ehemann Dean Wesley Smith gründete sie den Verlag Pulphouse Publishing (1987-92).
Rusch ist als Science-Fiction-Autorin bekannter denn als Autorin von Kriminalromanen — 1991 gewann sie den renommierten John W. Campbell Award für neue Autoren —, doch hat sie in beiden Genres beachtliche Erfolge erzielt. Zu ihren Science-Fiction-Werken zählen Romane für die Star-Trek- und Star-Wars-Reihen, erstere in Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann. Afterimage (1992), ein genreübergreifender Titel, den sie gemeinsam mit Kevin J. Anderson verfasste, ist ein Fantasykrimi um einen Serienmörder. Ihr Kriminalroman Hitler’s Angel (1998) wurde von der Kritik hoch gelobt, und 1999 landete sie gar einen Hattrick, indem sie von drei verschiedenen Journalen die Reader’s Choice Awards (Publikumspreise) gewann: von Science Fiction Age, Isaac Asimov’s Science Fiction Magazine und (für die im Zweiten Weltkrieg angesiedelte Kriminalgeschichte» Details«) von Ellery Queen’s Mystery Magazine.
«Die Jungen sollen Gesichte sehen und die Alten Träume haben «erschien erstmals im Pendant zu EQMM, Alfred Hitchcocks Mystery Magazine.
Nell reibt eine Hand an ihren Knickers und nimmt den Schläger fest in den Griff. Ihr Haarknoten löst sich auf. Sie kann Haarsträhnen vor dem Drahtgestell ihrer Brille herunterhängen sehen.
«Was ist los, Brillenschlange? Bist wohl nervös?« Sie konzentriert sich auf den Ball in Petes rechter Hand statt auf die Jungs, die über den staubigen Hinterhof verteilt stehen. Er wird jeden Augenblick werfen, und wenn sie an den Ball denkt statt an die Namen, wird sie ihn auch treffen.
«Du hältst den Schläger wie ein Mädchen«, sagt T.J. vom ersten Base herüber.
Nell starrt unbeirrt auf den Ball, auf dessen Oberfläche sie die Nähte erkennen kann, auf der schmutzigen Oberfläche, die jetzt in Petes Faust verschwindet.»Das liegt daran, dass ich ein Mädchen bin«, sagt sie. Es ist ihr egal, ob T.J. es hört. Es kommt bloß drauf an, dass sie was gesagt hat.
«Na, wirf schon!«, schreit Chucky von der grasbewachsenen Seitenlinie her.
Pete spuckt aus, und Nell zieht eine Grimasse. Sie hasst es, wenn er spuckt. Mit einem ruckartigen Schnippen des Handgelenks lässt er den Ball los. Der fliegt im Bogen auf sie zu. Sie weicht ihm mit einem Sprung aus und schwingt gleichzeitig den Schläger. Der Ball kommt auf dem dünnen Teil des Schlägers ganz dicht bei ihren Fingern auf und hüpft vorwärts.
«Looos!«, brüllt Chucky.
Sie lässt den Schläger fallen und rennt los, die Luft bleibt ihr im Hals stecken. Im Laufen ist sie nicht so gut; irgendjemand schafft es immer, sie mit dem Ball in der Hand zu berühren, bevor sie das Base erreicht. Doch das erste Base, ein mit einem Pullover umwickelter Stein, kommt immer näher, und sie hört immer noch keinen hinter sich rennen. Das letzte kurze Stück springt sie in einem Satz und landet mitten auf dem Stein, wobei sie einen großen Fußabdruck in der Wolle hinterlässt. Ein paar Sekunden später knallt der Ball in T.J.s Handfläche.
«Du hättest nicht weg müssen«, sagt T.J.»Der Ball hätte dich sowieso getroffen.« «Das macht Pete immer, damit ich nicht schwingen kann. «Nell zupft an ihrer zerrissenen, hochgeschlossenen Bluse.»Der weiß, dass ich besser schlage als ihr alle miteinander, drum schummelt er. Und überhaupt, letztes Mal, wo er das gemacht hat, hatte ich eine Woche lang Prellungen. Papa wollte mich gar nicht mehr spielen lassen.« T.J. zuckt die Achseln; seine Aufmerksamkeit gilt schon dem nächsten Schlagmann.
«Nell?« Sie sieht hoch. Hinter dem dritten Base steht Edmund.
Sein Dreiteiler ist staubig, und er sieht müde aus.
«Auweia«, sagt sie tonlos.
«Was?«, erkundigt sich T.J.
«Nichts«, sagt sie.»Ich muss gehen.« «Wieso? Das Spiel ist noch nicht vorbei.« «Ich weiß. «Sie schiebt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
«Ich muss aber trotzdem gehen.« Sie geht quer über das Spielfeld, am Wurfmal vorbei, wo der Pitcher steht. Pete spuckt aus und verfehlt ihren Schuh nur knapp. Sie bleibt stehen und hebt langsam den Blick, ahmt bewusst den Furcht erregendsten Ausdruck ihres Vaters nach.
«Was soll das denn jetzt?«, fragt er.
«Ich geh. «Obwohl ihr die Brille auf die Nasenspitze gerutscht ist, schiebt sie sie nicht hinauf. Sie anzufassen würde ihn wieder dran erinnern, dass sie nicht besonders gut sieht.
«Das geht nicht. Du bist auf dem ersten Base.« «Chucky kann ja auf meinen Platz.« «Kann er nicht, der muss gleich schlagen.« Sie schaut zu Chucky hinüber. Der ist so weit weg, dass er nichts hört.»Kann ich auch nichts machen, Pete. Ich muss gehen.« Pete zieht seine Kappe über die Augen herunter und blinzelt sie an.»Dann kannst du nicht mehr mit uns spielen. War sowieso Quatsch, ein Mädchen mitspielen zu lassen.« «Das ist kein Quatsch! Du bist auch schon mal mitten im Spiel heimgegangen. «Sie kann Pete nicht leiden. Eines Tages wird sie ihm schon zeigen, dass ein Mädchen genauso gut sein kann wie ein Junge, sogar beim Baseball.
«Nell. «Edmund klingt genervt.»Gehen wir.« «Der ist doch nicht dein Pa«, sagt Pete.»Wieso musst du mit dem mit?« «Er ist der Freund meiner Schwester. «Sie schiebt die Brille mit dem Fingerknöchel hoch und trottet auf die andere Seite des Hofes. Als sie zu Edmund kommt, nimmt er ihren Arm, und sie gehen los.
«Wieso spielst du mit denen?«, fragt er leise.»Baseball ist doch kein Spiel für junge Damen.« Das fragt er sie immer, und einmal hat er sie sogar angebrüllt, weil sie die Knickers trug, die Karl ihr geschenkt hatte.»Puppen spielen mit Louisa, dazu hab ich keine Lust.« «Würde mir wahrscheinlich auch nicht besonders gefallen«, sagt er. Als sie vom Spielfeld weit genug weg sind, bleibt er stehen und dreht sie zu sich um. Er hat tiefe Schatten unter den Augen, und sein Gesicht wirkt verkniffen.»Ich bringe dich nicht bis ganz nach Hause.
Ich bin bloß hergekommen, weil ich’s versprochen hatte.« «Gehst du denn nicht zu Bess?« Er schüttelt den Kopf, greift dann in seine Hosentasche und zieht den schmalen Ring hervor, der ihn drei Monatsgehälter gekostet hat. Der Brillant glitzert im Sonnenlicht.»Karl ist wieder da«, sagt er.
Nell fuhr mit dem Finger über das Namensschild. Karl Krupp. Sie hatte es sich also nicht eingebildet; der Name verschwand nicht wie so viele andere Dinge unter ihrer Berührung. Ihre Finger mit den geschwollenen Knöcheln und den brüchigen Knochen wirkten wehrlos neben diesem Namen. Langsam ließ sie die Hand wieder auf die kalte Metallkante ihrer Gehhilfe sinken. Wie alt wäre er denn inzwischen? Als sie zehn gewesen war, war er fünfundzwanzig gewesen — bei einem Altersunterschied von fünfzehn Jahren wäre er jetzt … fünfundneunzig. Sie sah zu seiner Zimmertür hinüber. Die hatte seit seiner Ankunft nie offen gestanden, stellte sie frustriert fest. Sie wollte sehen, wie sehr das Alter ihn verändert hatte.
Nicht allzu sehr, nahm sie an, da er in Hausgemeinschaft 5 wohnte. Die anderen Bewohner waren geistig und körperlich noch einigermaßen rüstig — abgesehen von Sophronia. Die hatten die Pflegerinnen allerdings sofort weggebracht, als ihre Senilität offensichtlich wurde.
Wegen ihrer eigenen mentalen Aussetzer und der wachsenden Neigung zum Tagträumen machte Nell sich Sorgen. Sie wusste nicht, wie viel sich die Pflegerinnen bieten ließen, bevor sie sie in eine restriktivere Hausgemeinschaft verfrachteten.
Nell hob ihre Gehhilfe und rückte von der Tür weg. Karl sollte sie nicht beim Herumschnüffeln erwischen. Sie trug zwar einen anderen Namen und sah überhaupt nicht mehr aus wie der magere Wildfang, den er damals gekannt hatte, doch er sollte nicht wissen, dass sie ihn beobachtete, ehe sie genau wusste, was sie machen wollte.
Karl lümmelt träge auf dem Sofa, die langen, vor sich ausgestreckten Beine an den Fesseln überkreuzt, den linken Arm über die Lehne drapiert und den fein geschnittenen Kopf gegen die gepolsterte Rückenlehne gelegt. Er sollte sich nicht behaglich fühlen, tut es aber offensichtlich.
Bess sitzt ihm gegenüber im Sessel, beugt sich vor. Die zerzausten Haare umrahmen ihr gerötetes Gesicht, ihre Augen funkeln, und ihre Hände — die ohne Edmunds Ring nackt wirken — spielen nervös an ihrem besten Rock herum.
Nell lässt die Tür zuschwingen. Karl dreht sich bei dem Klicken nicht um, sondern sagt bloß in seinem tiefen, vollen Bariton:»Ist das meine Nell?« Sie erstarrt; mit der Gefühlsaufwallung, die seine Stimme in ihr hervorruft, hat sie nicht gerechnet. Sie stellt sich vor, dass sie auf ihn zuläuft und ihr Gesicht an seinem Hals vergräbt, zurückweicht und ihm mit voller Wucht eine Ohrfeige verpasst.
«Nelly, Karl ist da. «Bess kann den glücklichen Ton in ihrer Stimme kaum verhehlen.
«Ich weiß«, sagt sie und schnippt getrocknete Erde von ihrem Daumen. Sie ist schweißüberströmt, ihre Brille ist verdreckt, und ihr Haarknoten löst sich auf. Sie sieht wahrscheinlich überhaupt nicht aus wie ein kleines Mädchen.
«Nelly …« Der Kosename ist ihr fast so zuwider wie Bess’ Tonfall.
«Ich geh mich erst mal waschen.« «Aber vorne herum, damit du keinen Dreck auf den Fußboden machst.« Nell unterdrückt einen Seufzer und wendet sich wieder zur Tür. In dem Augenblick kommt ihr Vater herein, umweht vom Duft von Tabak und Haarwasser. Ohne auf den Aufzug seiner jüngsten Tochter zu achten, will er ins Wohnzimmer gehen.
«Wem gehört denn der schnittige Modell T da draußen?
Ist das deiner, Edm — ?« Er bleibt gleich am Eingang stehen, und Nell tritt einen Schritt vor, um alles sehen zu können. Karl springt auf und streckt die Hand aus. Bess beißt sich auf die Unterlippe, und Papa ist tiefrot angelaufen.
«Ich hab dir doch verboten«, sagte er in seinem leisesten, ärgerlichsten Ton,»jemals wieder über meine Schwelle zu treten.« «Mr. Richter, jetzt ist alles anders.« «Ist mir egal, und wenn du der reichste Mann der Welt geworden bist. Du bist hier nicht erwünscht. «Papas Stimme wurde sogar noch leiser.»Und jetzt raus hier.« «Bitte, Sir — « «Raus … hier! Oder brauchst du eine Extraeinladung?« Mit einer geschmeidigen, elastischen Bewegung nimmt Karl seinen Hut vom Tisch und setzt ihn sich verwegen auf. Er nickt Bess kurz zu, geht um Papa herum und zaust Nell beim Hinausgehen die Haare.
Papa regt sich erst wieder, als er hört, wie das Auto draußen angelassen wird. Dann sagt er mit gepresster Stimme zu Bess:»Du weißt, dass er hier nicht rein darf.« «Er ist aber jetzt anders. Er hat eine neue Arbeit in Milwaukee, Papa, und gute Aussichten für die Zukunft.« «Schön und gut. Dann soll er sich ein anderes Mädchen suchen.« Nell lehnt sich gegen die Tür. Sie haben vergessen, dass sie auch da ist.
«Papa. «Bess steht vom Sessel auf. In ihren Knöpfstiefeln ist sie fast so groß wie ihr Vater.»Jetzt ist alles besser. Er hat es versprochen.« «Ach ja? Hat er versprochen, dich nicht mehr zu schlagen, oder hat er bloß vom Geld geredet?« Bess wirbelt herum und schaut aus dem Fenster.»Papa, das ist nicht fair.« «Nein, fair ist es nicht. «Papa zieht seine Taschenuhr heraus, klappt sie auf und schließt sie wieder, ohne aufs Zifferblatt zu gucken.»Ich will ihn aber nicht mehr hier haben. Nachdem er dich geschlagen hat, hab ich gehört, wie Nelly sich jede Nacht in den Schlaf geweint hat.« Nells Gesicht wird ganz warm. Und sie hatte geglaubt, niemand hätte was gemerkt.
Papa steckt die Taschenuhr wieder zurück und zieht sich die Weste zurecht.»Und jetzt will ich was zu essen.« Nell schlüpft zur Haustür hinaus und geht hinten herum zur Wasserpumpe. Sie zittert am ganzen Körper. Sie erinnert sich an Bess’ geschwollenes Gesicht, die blauen Flecken, aber sie erinnert sich auch daran, wie viel Spaß sie hatten, als sie mit Karl vorn auf der Veranda saßen und lachten. Die Tränen hatte sie in diesen Nächten nicht bloß um Bess vergossen, sondern auch um diese Sommernachmittage, erfüllt von Gelächter, Limonade und Karl, der ihr die Haare zauste!
Obwohl es ihr schwer fiel, ging Nell gern zu Fuß. Sie hatte das Gefühl, jeder langsame Schritt würde ihr Leben um eine Minute verlängern. Ohne ihre Gehhilfe müsste sie im Rollstuhl sitzen — und der Rollstuhl war ein Zeichen von Hinfälligkeit. Wenn sie die Gehhilfe anhob und einen Schritt machte, verspürte sie das gleiche Gefühl von Sicherheit wie früher nach einem Homerun, wie Karl ihn ihr beigebracht hatte.
Manchmal verbrachte sie den ganzen Tag damit, über die Korridore zu wandern. Ins Freie kam sie nur bei jenen seltenen Gelegenheiten, wenn Verwandte zu Besuch kamen. Die brachten sie nach draußen, um sich nicht mit ihr unterhalten zu müssen.
Jede Hausgemeinschaft hatte eine andere Farbe.
Hausgemeinschaff 5 war in Rotkehlcheneierblau gestrichen, und an den Wänden hingen von den Bewohnern gefertigte Bilder. Kurz nach Karls Ankunft war ein Bild von einer vielfarbigen Spirale neben seiner Tür angebracht worden.
Nell spürte, wie ihr Blick von dem Bild angezogen wurde. Sie schob die Brille hoch, um es genau betrachten zu können. Die Spirale hatte Sprossen wie eine Leiter.
Statt der Signatur stand am unteren Bildrand eine Bezeichnung vermerkt, etwas, das bei ihr eine nur vage Erinnerung hervorrief: Desoxyribonukleinsäure. Sie las den Ausdruck zweimal, bevor sie erschrocken feststellte, dass Karls Tür offen stand. Die Klänge einer Chopin-Etüde drangen auf den Korridor. Fasziniert beugte sie sich näher.
Man ermunterte die Bewohner, ihre Zimmer mit persönlichen Dingen auszustatten. Die meisten Zimmer hatten einen Fernseher, einen Polstersessel mit gesteppter Überdecke und ein an auffallender Stelle angebrachtes Kruzifix. In Karls Zimmer waren an den Wänden jedoch Bücherregale, und die Bücherregale waren voll. Karl stand, ein Buch in der Hand, neben der Tür.
«Ah, die hübsche Frau von gegenüber. «Seine Stimme hatte sich nicht verändert. Sie war immer noch voll und wohl tönend und jagte ihr immer noch Schauer über den Rücken. Sein schwarzes Haar war silbern geworden, und seine Haut war von feinen Linien durchzogen. Vom Alter gebeugt war er nicht. Er streckte die Hand aus. Seine Bewegungen waren so geschmeidig wie früher.»Möchten Sie einen Augenblick hereinkommen?« Nell merkte, dass sie wie gebannt auf seine Hand starrte.
Als sie sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie voller Blut gewesen.
«Nein, danke«, sagte sie.»Ich mache nur meinen Spaziergang.« «Aber Sie haben doch sicher einen Augenblick Zeit, äh?«Er neigte den Kopf zu ihr hinüber und wartete darauf, dass sie ihm ihren Namen nannte.
«Eleanor«, sagte sie.
«Eleanor?«Er trat einen Schritt zurück, um sie vorbeizulassen. Sie zögerte, lächelte dann ein wenig über sich selbst, als sie daran dachte, dass dies der Mann war, der ihr gezeigt hatte, was Charme bedeutete.
«Aber nur ganz kurz. «Als sie ihre Gehhilfe umkehrte und auf ihn zuging, kam sie sich zum ersten Mal seit Jahren unbeholfen vor.
Er beobachtete ihre schlurfenden Bewegungen.
«Arthritis?« Sie schüttelte den Kopf.»Ich habe mir beide Hüften gebrochen, als ich mal 1975 bei ein paar Spielen in der Little League eingesprungen bin. Die Ärzte sagten, ich würde nie wieder gehen können.« «Haben Sie gewonnen?« Sie warf einen Blick zu ihm hoch und erschrak, dass sie plötzlich direkt vor ihm stand.»Na, ich bin doch auf den Beinen, oder nicht?« Er kicherte.»Nein, nein. Ich meine das Spiel.« «Ach so. «Sie schob die Gehhilfe durch die Tür. Wegen der Bücherregale war der Durchgang schmal. Sein Zimmer roch nach Tinte und alten Büchern.»Um drei Runs haben wir verloren.« «Schade«, sagte er nur.»Sein letztes Spiel sollte man immer gewinnen.« Sie blieb am Fenster stehen. Er hatte einen Blick auf den hinteren Parkplatz.»Wer behauptet, dass es mein letztes Spiel war?« Dann drehte sie sich um und sah sich sein Zimmer genauer an. Es war voller Bücher. In der Mitte stand ein mit Papieren übersäter Schreibtisch, und eine Stereoanlage wie die, auf die ihre Enkelin so stolz war, nahm in einem der Bücherregale ein ganzes Regalbrett ein. Das Bett hinten in der Ecke war ordentlich gemacht und mit einer fertig gekauften Tagesdecke bedeckt.
«Möchten Sie sich setzen?«Er rückte ihr einen Stuhl her. Nell schüttelte den Kopf.
«Einen Tee?«Er griff hinter sich und steckte eine Kaffeemaschine ein. Neben der Maschine befanden sich Tassen, Behälter und Röhrchen mit flüssigem Inhalt.
«Was machen Sie eigentlich hier?«Die Frage war Nell einfach so herausgerutscht. Er fuhr herum und musterte sie aufmerksam. Nell spürte, wie sie errötete.»Ich meine, Sie sehen nicht so aus, als müssten Sie hier sein.« Als er lächelte, vertieften sich die Fältchen zu Runzeln.
«Mein Großneffe leitet dieses Haus. Er meint, ich werde allmählich zu alt zum Alleinleben.« «Es gibt aber doch andere Heime, wo man leben kann, wenn man noch gesund ist. Sie brauchen offensichtlich keine medizinische Pflege.« «Noch nicht. «Er hakte die Daumen in seinen vorderen Hosentaschen ein und lehnte sich an den Türrahmen. Nell überlegte, ob er sie wohl aufhalten würde, wenn sie gehen wollte.»Ich helfe ihm bei ein paar Forschungen.« Nell blickte wieder auf den Schreibtisch hinüber. Auf einigen der Papiere, die dort lagen, war die gleiche Spirale abgebildet wie auf dem Bild neben der Tür.
«Wir wollen eine Methode finden, mit der sich der Alterungsprozess verzögern lässt«, sagte er.»Haben Sie schon mal von Leonard Hayflick gehört?« «Nein.« «Hayflick ist ein Biologe, der entdeckt hat, dass Zellen eine ganz klar definierte Lebensspanne haben. Er dachte, die Lebensspanne werde von der Anzahl der Zellteilungen bestimmt und nicht vom chronologischen Alter. Aber manche Zellen verfallen schon, bevor sie ihre maximale Anzahl von Teilungen erreicht haben. Und das, glauben manche, bewirkt die Alterung. Können Sie mir folgen?« Nell merkte, dass sie ihn verständnislos angestarrt hatte.
«Tut mir Leid.« «Oder einfach ausgedrückt«, sagte er,»jeder Mensch kann ein gewisses maximales Alter erreichen, aber wegen des körperlichen Verfalls erreicht dieses Alter nicht jeder.
Wir versuchen jetzt, diesen körperlichen Verfall zu verhindern, damit die Menschen ihr gesamtes Leben durchleben können.« «Was ist denn das maximale Alter?«, wollte Nell wissen.
«Wissen wir nicht«, meinte Karl achselzuckend.»Es gibt aber Leute, die behaupten, sie wären weit über hundert.
Und ich habe gerade von einer Frau gelesen, deren Taufurkunde beweist, dass sie hundertzwanzig ist.« «Wieso erzählen Sie mir das?« «Weil du gefragt hast, Nelly.« Nell wurde am ganzen Körper kalt. Sie hielt sich an ihrer Gehhilfe fest und überlegte, wie sie bloß aus dem Zimmer kommen könnte.
Als er auf sie zutrat, wich sie erschrocken zurück.
«Entschuldige«, sagte er sanft.»Ich hätte dir gleich sagen sollen dass ich weiß, wer du bist. Meine Familie ist in Wisconsin geblieben, Nell. Sie haben mir gesagt, was in deinem Leben so vor sich ging. Ich wusste, dass du hier bist, bevor ich herkam.« «Und was willst du jetzt machen?«Ihre Stimme zitterte.
Er machte noch einen zögernden Schritt auf sie zu.
«Also, als Erstes will ich dir das mit Bess erklären, Nelly.« «Nein«, sagte sie, und ihre Angst war so echt wie an jenem sonnenbeschienen Julimorgen, als er ihr mit seiner blutigen Hand den Mund zugehalten hatte.»Wenn du mich nicht hier raus lässt, fange ich an zu schreien.« «Nelly — « «Ich mein’s ernst, Karl, ich fange an zu schreien.« Er breitete die Hände aus.»Du kannst ruhig gehen, Nell.
Wenn ich dir wehtun wollte, hätte ich es schon längst tun können.« Sie schob die Gehhilfe wie einen Schutzschild vor sich her. Ihre Hände rutschten auf dem Metall ab. Als sie an Karl vorbeikam, sah sie ihn nicht an.
Die Wände schienen enger beieinander und der Abstand bis zu ihrem Zimmer viel zu kurz. Als sie drinnen war, machte sie die Tür zu und wünschte, man könnte sie abschließen. Und doch wusste sie, dass ihre Angst zum Teil irrational war. Viel konnte ihr ein fünfundneunzigjähriger Mann hier nicht anhaben, doch nicht in diesem hell erleuchteten Heim voller junger Pflegerinnen. In Hausgemeinschaft 5 wurden Schreie nämlich nicht ignoriert.
Nell zupft an ihren Knickers herum. Egal wie eng sie sie bindet, um die Taille herum bleiben sie immer unangenehm locker. Sie hat sich nicht getraut, in ein Base zu rutschen, wie Chucky wollte, weil sie Angst hat, dass sie dann ihre Hosen verliert.
Sie nimmt den Weg quer durch Kirschmans Apfelgarten.
Mr. Kirschman kann es zwar nicht leiden, wenn die Kinder die Abkürzung durch seinen Obstgarten nehmen, aber sie machen es trotzdem.
Als sie um die Ecke biegt und in die Gartenmitte will, hält ihr jemand mit der Hand den Mund zu und zerrt sie mit dem Rücken gegen einen Baum. Die Hand ist fest und glitschig. Sie riecht nach Eisen.
«Nelly, versprichst du mir, nicht zu schreien, wenn ich dich loslasse?« Es ist Karls Stimme. Sie nickt. Langsam lässt er sie los.
«Was soll denn das?« Er hebt einen verschmierten Finger an die Lippen. Sein dunkles Haar hebt sich deutlich ab von seiner blassen Haut.»Ich will nicht, dass du da weitergehst, okay? Ich will, dass du umkehrst und sofort deinen Vater holst.
Versprochen?« Nell nickt erneut. Sie starrt sein fleckiges weißes Hemd an und begreift, dass es voller Blut ist. Sie wischt sich über den Mund; ihre Hand ist danach ebenfalls blutig.
«Nell — « Sie dreht sich um und fängt an zu rennen und merkt erst, als sie um die Ecke gebogen ist, dass sie Karl nicht gehorcht hat. Dort, quer über dem Gartenweg, liegt ihre Schwester. Bess’ Haar ist wild um sie gebreitet, und ihre Bluse ist voller Blut.
«Nell, es wird doch alles gut, bloß —« Nell schreit los. Karl steht hinter ihr. Sie stößt ihn weg und rennt den Gartenweg hinunter nach Hause. Diesmal fällt ihr das Rennen viel leichter, obwohl ihr die Luft immer noch im Hals stecken bleibt. Sie kann Karl nicht hinter sich hören, und als sie sich dem Haus nähert, weiß sie, dass sie in Sicherheit ist. Karl wird ihr nicht wehtun, Karl würde ihr nie wehtun. Die Einzige, der Karl wehtut, ist Bess, und Bess ist selber schuld, weil sie nicht auf Papa hört, und jetzt ist es zu spät, es ist alles zu spät, weil Nell sie dort liegen gelassen hat, blutend und hilflos, bei Karl, dem Mann, der ihr wehtut, dem Mann, dessen Hände voller Blut sind.
«Habe ich dir eigentlich erzählt, dass meine Schwester ermordet wurde?« Anna strich ihren bereits ordentlichen Rock glatt und seufzte.
«Ja, Mutter. «Ihr Ton sagte: Tausend Mal, Mutter.
MUSS ich es mir schon wieder anhören?
Nell umklammerte die Hände im Schoß und überlegte, ob sie fortfahren sollte. Anna würde es ihr nie glauben.
Obwohl sie schon fünfundfünfzig war, hatte Anna selten etwas Ernsthafteres im Kopf als Kleider und Make-up.
Und natürlich hatte sie ihre Tante Bess nicht gekannt.
«Ich habe den Mann gesehen, der sie getötet hat.« Plötzlich verkrampfte sich Anna, und ihr Blick heftete sich auf irgendetwas hinter Nells Schulter.
Nells Herz pochte heftig. Elizabeth, ihre Älteste, hätte zugehört. Aber Bess war seit sechs Jahren tot.»Ich glaube, das habe ich dir schon einmal erzählt«, sagte Nell.»Der Mann, der sie getötet hat — Karl hieß er —, hat auch ihren Verlobten Edmund getötet. Er wurde nie gefasst. Früher hatte ich immer Angst, weil ich dachte, eines Tages kommt er und macht das Gleiche mit mir.« «Das ist doch schon so lange her, Mutter. «Annas Stimme klang genervt.
«Ich weiß. «Nells Finger waren kalt geworden.»Ich würde es dir aber jetzt nicht erzählen, wenn es nicht wichtig wäre.« Anna sah ihrer Mutter direkt ins Gesicht, mit einem tiefen, durchdringenden Blick.»Wieso ist es jetzt wichtig?« «Weil er hier ist«, flüsterte Nell. Die Worte klangen zu melodramatisch, doch sie konnte sie nicht zurücknehmen.
«Hier auf dem Korridor mir gegenüber.« Anna atmete tief durch.»Mutter, selbst wenn er hier wäre, könnte er doch nichts machen. Wahrscheinlich erinnert er sich nicht mal an dich.« «Er erinnert sich«, erwiderte Nell.»Ich habe mit ihm gesprochen.« «Trotzdem. «Anna nahm Nells Hand in die ihre. Ihre Handfläche fühlte sich warm und feucht an.»Er ist ein ziemlich alter Mann. Der lebt bestimmt nicht mehr lang.
Wenn wir die Polizei rufen und die bestätigen, was du sagst, hält er vermutlich nicht mal bis zum Prozess durch.
Ich meine, wer außer dir weiß denn noch von dem Mord?« «Mein Vater wusste es und — « «Jemand, der noch am Leben ist?« «Nein. «Tränen traten ihr in die Augen. Sie zwinkerte heftig.
«Dann stünde Aussage gegen Aussage. Ehrlich gesagt, Mutter, ich glaube, das lohnt sich nicht. Was hast du denn jetzt noch davon? Der wird sowieso bald sterben, und dann brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen.« «Nein. «Eine Träne suchte sich ihren Weg über Nells Wange und verharrte auf ihren Lippen. Sie leckte sie rasch weg und hoffte, dass Anna sie nicht gesehen hatte.»Der wird nicht so bald sterben.« Anna runzelte die Stirn.»Warum denn nicht?« «Der arbeitet an einem Experiment, um sein Leben zu verlängern.« «Ach, du liebe Zeit, Mutter. «Anna zog ihre Hand weg.
«Wem hast du diesen Unsinn noch erzählt?« «Ich habe nicht — « Es klopfte an die Tür, und eine Pflegerin trat ein. Sie stellte Nell ein Tablett neben den Sessel.»Ich komme mit Ihrer Medizin, Nell.« Nell griff nach dem Papierbecherchen. Die Flüssigkeit darin war braun.»Das sieht aber nicht aus wie meine Medizin.« Sie hob den Kopf und sah gerade noch, wie Anna mit einem Kopfschütteln zu der Pflegerin hinüberschaute.
«Trinken Sie es einfach runter, Nell«, sagte die Pflegerin mit ihrer künstlich süßen Stimme,»und dann ist es gut.« Nell schnupperte kurz an dem Becherchen. Der Inhalt roch bitter.»Will ich aber wirklich nicht.« «Mutter«, fuhr Anna sie an. In vertraulichem Ton wandte sie sich dann an die Pflegerin:»Mutter hat heute einen schlechten Tag.« «Die letzten Tage waren schwierig«, sagte die Pflegerin.
«Sie ist nicht zu den Mahlzeiten gekommen und wollte überhaupt nicht aus ihrem Zimmer heraus.« «Stimmt das, Mutter?« Nell schwenkte die Flüssigkeit in dem Becherchen herum. Auf dem Becherboden schwammen Ablagerungen.
Plötzlich begriff sie, dass es sowieso egal war. Wen scherte es schon, wenn Karl sie vergiftete! Sie setzte den Becher an die Lippen, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte.
Die Flüssigkeit fühlte sich auf der Zunge scharf an wie selbst gebrannter Whisky. Sie hustete kurz und stellte den Becher ab.»Ich verstehe gar nicht, warum du das wissen willst«, sagte sie.
Anna schürzte die Lippen.»Mutter, also wirklich.« Nell rieb die Zunge am Gaumen, konnte den Geschmack aber nicht loswerden. Sie hielt sich seitlich am Stuhl fest und stand auf Ihre Hüften knackten leicht, als sie zum Stehen gekommen war. Die Pflegerin hielt ihr die Gehhilfe hin.
«Wo wollen Sie hin, Nell?« Nell gab keine Antwort. Sie manövrierte die Gehhilfe zum Waschbecken hinüber und holte sich einen Schluck Wasser.
«Ich fürchte, meiner Mutter geht’s nicht gut«, sagte Anna leise.
«Sie hat mir gerade erzählt, der Mann von gegenüber hätte ihre Schwester ermordet und sie hätte nun Angst, dass er auch hinter ihr her ist.« «Mr.
Krupp? Glaube ich nicht. Der ist seit seiner Ankunft bettlägerig.« «Vielleicht sollten Sie was zu ihr sagen. «Als Nell sich umdrehte, verstummte Anna. Nell bewegte sich zum Sessel zurück. Die Pflegerin nahm ihren Arm, als sie sich wieder setzte.
«Nell, ich habe gehört, der Mann von gegenüber macht Ihnen Angst.« Nell blickte in das runde Gesicht der Pflegerin und versuchte sich an ihren Namen zu erinnern, ohne auf das Namensschildchen zu schauen.»Nein. Wie kommen Sie denn auf die Idee?« «Ihre Tochter sagte gerade, er macht Sie nervös.« Auf dem Namensschildchen stand DANA, LPN — staatl. gepr. Krankenschwester.»Ich habe ihn noch nicht mal gesehen, er ist auch sehr ruhig. Wieso sollte er mich nervös machen?« Die Pflegerin lächelte und nahm das Tablett.»Ich wollte nur mal hören, Nell.« Anna wartete, bis die Pflegerin gegangen war, bevor sie fragte:»Wieso hast du sie angelogen, Mutter?« «Ich weiß gar nicht, wieso du mich besuchen kommst«, erwiderte Nell.
Anna schob ihren Stuhl zurück und stand auf.»Das weiß ich manchmal auch nicht. Aber ich komme bestimmt wieder. «Sie nahm ihren Mantel und hängte ihn sich über die Schulter.»Übrigens, Mutter, es ist doch besser für dich, wenn du ein bisschen unter die Leute gehst, statt immer nur in deinem Zimmer zu hocken. Wenn du mit Leuten redest, kommst du auf andere Gedanken und fantasierst nicht bloß herum.« Sie ging. Nell wartete, bis das Klacken von Annas hohen Absätzen auf dem gefliesten Boden nicht mehr zu hören war.»Ich fantasiere nicht herum«, murmelte sie. Aber die Pflegerin hatte gesagt, Karl sei bettlägerig, während er auf sie so einen gesunden Eindruck gemacht hatte. Nell seufzte und runzelte dann die Stirn. Was hatte er in Hausgemeinschaft 5 zu suchen, wenn er nicht einmal aufstehen konnte?
Nell greift nach dem Schläger und vollführt einen Übungsschwung. Ihr Kleid schwingt mit, die Knickers, die ihr Karl geschenkt hat, will sie nicht tragen. Seit einer Woche ist Bess tot, und Nell fühlt sich einsam.
«Was willst du denn hier?«, fragt Chucky. Sie sind allein. Die anderen Jungs sind noch nicht da.
«Spielen«, sagt sie.
Er guckt skeptisch.»In einem Kleid? Wo sind denn deine Hosen?« «Hab ich weggeschmissen. «Sie haut mit dem Schläger in den Sand, wie sie es bei Pete gesehen hat.
«In einem Kleid kannst du nicht rennen.« «Kann’s ja versuchen. «Sie stößt es wütend und scharf hervor. Seit Bess gestorben ist, kann sie sich überhaupt nicht mehr beherrschen.»Tut mir Leid.« Chucky zieht den Kopf ein und schaut beiseite.»Schon okay.« «Tut mir Leid«, sagt sie noch mal und schaut aufs Spielfeld. Das Gras um die Bases herum ist inzwischen ruiniert. Manchmal denkt sie, Baseball ist der einzige Traum, den sie noch hat. Jetzt, wo Bess tot ist und Karl verschwunden, scheint auch der unmöglich geworden.
«Dann geh ich eben nach Hause.« «Nein«, sagt Chucky.»Ich mein, du kannst spielen.« Sie lächelt leicht und schüttelt den Kopf.»Aber nicht in einem Kleid. Du hast schon Recht.« «Warte. «Er stupst sie am Arm und läuft dann zu sich nach Hause, lässt die Gartentür hinter sich zuknallen. Sie geht zum Homebase und schwingt den Schläger erneut, tut so, als hätte sie einen Homerun geschafft. Fühlt sich gut an, den Ball so über den Bach pfeifen zu lassen. Für sie gibt es nichts Schöneres. Wenn sie doch ein kleiner Junge wäre, dann könnte sie immer und ewig Baseball spielen!
Karl hatte ihr mal weisgemacht, wenn sie sich am Ellbogen küsste, könnte sie ein Junge werden. Sie probierte es wochenlang, bis sie merkte dass es unmöglich war, sich selber am Ellbogen zu küssen. Ein Junge wird sie nie sein, aber gut Baseball spielen wird sie sicher.
Chucky ist wieder da. Er streckt ihr ein Stoffbündel hin.
«Hier «sagt er.
Sie faltet es auseinander. Er hat ihr ein Paar ausgefranste, notdürftig geflickte Knickers gegeben.
«Chucky?« «Mir passen sie nicht mehr. Vielleicht passen sie dir.« «Aber sollte die nicht dein Bruder kriegen?« «Nö«, sagt er, schaut sie dabei aber nicht an.
«Wenn du jetzt Ärger kriegst, will ich sie nicht.« «Krieg ich nicht. «Er mustert sie, merkt, dass sie nicht recht überzeugt ist.»Pass auf, du bist der beste Schlagmann im Team. Ich will dich nicht verlieren.« Sie lächelt, diesmal ein echtes Lächeln, eins, das sie wirklich empfindet.»Danke, Chucky.« Nell nahm ihre Spaziergänge wieder auf und achtete darauf, dass sie sie immer dann machte, wenn die Medizin verteilt wurde.
Karls Tür blieb tagelang geschlossen, aber dann überraschte sie ihn doch auf dem Gang dabei, wie er die Papierbecherchen auf den Tabletts austauschte.
«Du vertauschst meine Medizin«, sagte sie. Sie stand aufrecht auf ihre Gehhilfe gestützt, wohl wissend, dass er ihr in den Korridoren nichts anhaben konnte.
«Ja, genau«, erwiderte er.
Sie schluckte schwer. Sie hatte nicht erwartet, dass er es freimütig zugeben würde.»Warum?« «Ich habe irgendwie das Gefühl, als wäre ich dir was schuldig, Nell.« «Dafür, dass du Bess umgebracht hast?« Er stellte den Becher auf das Tablett mit ihrer Zimmernummer. Seine Hand zitterte.»Ich habe Bess nicht umgebracht«, sagte er ruhig.»Ich habe Edmund umgebracht.« «Du lügst.« Er schüttelte den Kopf.»An dem Morgen wollte ich mich mit Bess im Obstgarten treffen. Wir wollten zusammen weglaufen. Edmund war vor mir dort und hat sie umgebracht. Also habe ich ihn umgebracht.« Nell konnte die Gewalt jenes Morgens spüren, das Sonnenlicht auf ihrer Haut, seine blutigen Finger auf ihren Lippen.»Warum — hast du es keinem gesagt?« « Einen Mord hatte ich immerhin begangen, Nelly.« Deshalb hatte er gesagt, sie solle ihren Vater holen.
Deshalb war er nie zurückgekommen, um sie auch zu töten.»Warum — «Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ihn dadurch frei bekommen.
«Warum bist du wieder hierher zurückgekehrt?« «Wisconsin ist meine Heimat, Nell. «Er stützte sich auf das Rollwägelchen.»Ich wollte zu Hause sterben.« «Und dein Experiment?« Er lächelte.»Ich habe die meisten meiner Geschwister um gut zwanzig Jahre überlebt. Dabei war die Zusammensetzung am Anfang nicht ganz richtig für mich.
Wir haben sie geändert, deine ist gleich von Anfang an besser.« «Meine?« «Nelly. «Er neigte leicht den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch das dichte Silberhaar. Bei der Geste musste sie an den alten Karl denken, der ihr das Lachen beigebracht hatte und wie man einen Homerun schaffte.
«Was dachtest du denn? Dass ich dich vergiften will?« Sie nickte.
«Ach was, ich probiere die Arznei an dir aus. Ich weiß, ich hätte dich fragen sollen, aber du hast mir ja nicht getraut, da war es einfacher so.« «Warum ich?«, fragte sie.
«Da gibt’s viele Gründe. «Das Wägelchen glitt ein Stück vorwärts, und er musste sich festhalten, um nicht hinzufallen.»Ich kenne nicht viele Leute, die mit siebzig noch Baseball spielen. Oder Wieder laufen lernen, wenn die Ärzte sagen, es geht nicht. Du bist stark, Nelly. Du hast erstaunliche innere Kräfte.« «Aber was ist, wenn ich gar nicht länger leben will?« «Tust du aber, sonst wärst du nicht hier draußen, um mich zu erwischen.« «Ich habe dich erwischt. «Der Korridor war menschenleer. Normalerweise war er voller Leute, die dort auf und ab gingen.
«Ich weiß«, sagte Karl.»Was willst du tun? Eine Pflegerin rufen, denen sagen, sie sollen mich festnehmen?
Für Mord gibt’s keine Verjährung, weißt du.« Nell musterte ihn eine Weile. Er war dünn, und seine Haut war bleich. Er war fünfundneunzig. Wie lange könnte er wohl noch leben?
«Ich will nichts mehr von deiner Medizin«, sagte sie.
Er stand reglos da und wartete, dass sie noch etwas sagte.
Sie schob ihre Gehhilfe voran, auf die andere Seite des Wägelchens.»Und ich will auch nicht mehr reden.« Sie gestattete sich nicht, sich umzudrehen, als sie langsam den Korridor entlang davonging. Sich vorzustellen, sie könnte ohne Gehhilfe laufen, ohne Schmerzen. Sich vorzustellen, sie könnte länger leben als ihr Vater, der mit achtundneunzig gestorben war. Sie war noch nicht bereit, das Leben aufzugeben. An manchen Tagen kam es ihr so vor, als hätte sie gerade erst damit angefangen.
Als sie ihre eigene Tür erreichte, blieb sie stehen und wandte sich zu Karl um. Früher hatte sie an Karl und seine Wunder geglaubt. Das tat sie heute nicht mehr.
Die Welt ist zu dem Ball zusammengeschrumpft, den Pete fest in der Hand hält.
«Wirf ihn geradeaus«, schreit Chucky.
Pete spuckt aus. Nell bemerkt es kaum. Sie fixiert diesen Ball, weiß, wenn er ihn wirft, wird sie ihn mit all ihrer Kraft treffen. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen, als der Ball auf sie zugeschwirrt kommt. Sie weiß, wie er fliegen wird, wo er landet, und schwingt den Schläger hinunter, um ihn abzufangen. Erfreut hört sie das Knacken, als der Ball auf den Schläger trifft, dann beschleunigt sich die Zeit wieder.
«Menschenskind!«, schreit Chucky, aber Nell achtet nicht auf ihn und lässt den Schläger fallen. Aus dem Augenwinkel sieht sie den Ball über den Bach fliegen. So schnell sie kann, läuft sie los. Mit dem rechten Fuß berührt sie das erste Base und läuft weiter, fliegt wie der Ball. Der verschwindet im hohen Gras hinter dem Bach, als ihr linker Fuß das zweite Base erreicht. Als ihr zwischen dem zweiten und dritten Base die Brille von der Nase hüpft, orientiert sie sich nach den Farben. Ihre Lunge brennt, als ihr linker Fuß auf dem Stein aufkommt, dem dritten Base.
«Los, Nelly! Los!« Sie läuft auf die verschwommenen Umrisse hinter dem Homebase zu. Obwohl sie Seitenstechen hat und ihr alles wehtut, rennt sie weiter. Mit einem Satz landet sie auf dem Homebase, und ihre Mannschaft jubelt, aber sie kann nicht aufhören. Sie ist so gelaufen, dass sie nicht gleich aufhören kann, und knallt mit Chucky zusammen, der sie umarmt.
«Prima!«, sagt er.»Das war prima!« Sie steht da und kostet den Augenblick aus. Karl wäre stolz auf sie gewesen. Aber Karl würde es nie erfahren.
Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und sagt:»Ich hab meine Brille verloren.« Während Chucky loszieht, um sie ihr wieder zu holen, wird ihr klar, dass sie es höher nicht schafft. Ihr zierlicher Mädchenkörper wird sie daran hindern weiterzukommen, trotz ihrer Schlaggenauigkeit. Doch das ist ihr egal. Wenn sie schon nicht in einer richtigen Mannschaft spielen kann, wird sie Homeruns schaffen, bis sie hundert ist, wenn diese Jungs hier schon längst tot sind.
«Das war prima, Nelly«, sagt Chucky und händigt ihr die Brille aus.»Wirklich prima.« Sie überprüft die Gläser, die nicht gesprungen sind, und biegt das Gestell wieder zurecht.»Nicht schlecht für ein Mädchen«, sagt sie mit einem Seitenblick auf T.J. Dann geht sie zum Grasstreifen hinüber und setzt sich an den Rand der Linie, in der Hoffnung, beim Schlagen noch mal dranzukommen.
Nell wurde vom Geräusch trappelnder Füße geweckt. Das Geräusch kannte sie schon. Jemand war gestorben oder lag gerade im Sterben und sollte nun rasch hinausgeschafft werden, bevor die anderen Bewohner davon Wind bekamen.
Sie griff nach ihrer Brille, stand auf und arbeitete sich behutsam bis zur Tür vor. Sie hatten sich vor Karls Tür versammelt. Zwei Männer rollten eine fahrbare Trage heraus. Der Leichnam war festgeschnallt und das Gesicht zugedeckt. Rasch schoben sie ihn aus dem Blickfeld.
Sie überquerte den verlassenen Korridor. Der Fliesenboden unter ihren Füßen fühlte sich kalt und etwas sandig an. Sie hatten Karls Tür offen gelassen, und sie blieb kurz davor stehen, den Geruch des Todes unter dem Duft von Tinte und Büchern erahnend.
«Nell?«Eine Pflegerin kam über den Korridor auf sie zu.
«Ist er tot?«, fragte sie.
«Mr. Krupp? Ich fürchte, ja. Tut uns Leid, wenn es Sie gestört hat.« «Nein, hat es eigentlich nicht«, sagte Nell. Sie zog ihren Morgenmantel fester um die Brust zusammen. Ihr wurde allmählich kalt.
«Vielleicht hätte er gar nicht in diese Hausgemeinschaft gehört«, meinte die Pflegerin.»Er war viel zu krank, aber seine Familie wollte ein Privatzimmer für ihn.« Nell fragte sich, wie die Pflegerin eigentlich darauf kam, dass sie ihr das glaubte. Ein Blick in Karls Zimmer genügte, um zu wissen, dass er nicht bettlägerig war. Nell betrachtete das Zimmer noch einmal. Die Schreibtischplatte war leer, die Röhrchen waren verschwunden, aber sonst sah alles gleich aus.
Dann stand auch die Pflegerin neben ihr. Nell erkannte sie als die mit dem runden Gesicht, die ihr immer ihre Medizin verabreichte: Dana, LPN.
«Wie sind Sie denn hierher gekommen?«, fragte Dana, LPN.
«Gelaufen«, sagte Nell.
Perplex schaute Dana, LPN sie an.»Na, dann wollen wir aber schnell wieder rüber ins Bett, ja?« Sie legte Nell den Arm um die Taille und half ihr zurück ins Zimmer. Die Unterstützung war unnötig, bis sie an die Tür kamen. Als Nell ihre Gehhilfe am gewohnten Platz neben dem Bett stehen sah, knickten ihre Knie ein.
«Nell?« Nell richtete sich auf und machte sich vom Griff der Pflegerin los. Sie gelangte bis ans Bett und tippte ihre Gehhilfe ganz leicht mit der Hand an.»Es geht schon«, sagte sie.
Sie stieg ins Bett und blieb liegen, bis sie die Schritte der Pflegerin auf dem Gang widerhallen hörte. Dann stand sie auf und ging langsam im Zimmer umher. Du bist stark, Nelly, hatte er gesagt. DU hast erstaunliche innere Kräfte.
Sie ging zur Tür und blickte zu Karls leerem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors hinüber. Die Zeichnung, auf der sich die Spiralen wie eine missgebildete Leiter wanden, hing noch dort. Sie empfand eine Art betäubte Freude, hatte aber gleichzeitig ein frustriertes Gefühl im Magen. Sie würde nie erfahren, ob es an ihrer eigenen Zielstrebigkeit gelegen hatte oder an Karls bitterer Medizin, dass sie wieder laufen konnte, ebenso wie sie nie erfahren würde, ob er ihre Schwester tatsächlich nicht getötet hatte oder ob es gelogen war. Sie wollte gern glauben, dass es an ihren eigenen inneren Kräften gelegen hatte, doch ihr innerer Heilungsprozess brauchte seine Zeit. Schon ein paar Tage nachdem ihr die Medizin verabreicht worden war, hatte sie angefangen zu laufen.
Nell ging wieder hinüber und setzte sich aufs Bett. Dabei fragte sie sich, was Anna wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass ihre Mutter wieder laufen konnte. Nell kam zu dem Schluss, dass es egal war. Was zählte, war dies: Ihre Füße, die von Base zu Base gelaufen waren, die zwei Kindern hinterhergerannt waren, die sie jahrzehntelang durchs Leben getragen hatten, funktionierten wieder.
Einmal hatte sie sich geschworen, Homeruns zu schaffen, bis sie hundert war. Und vielleicht, ja vielleicht, würde sie es auch hinkriegen.