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Minette Walters (*1949), geborene Minette Jebb, kam im englischen Bishop’s Stortford als Tochter eines Armeehauptmanns und einer Künstlerin zur Welt. Sie besuchte die Godolphin and Latymer School, verbrachte ein halbes Jahr als Freiwillige in Israel und absolvierte an der Durham University ein Französischstudium. Die Autorin, die mit ihrem Mann Alexander Walters zwei Söhne hat, arbeitete vor ihrer Laufbahn als Schriftstellerin als Zeitschriftenjournalistin in London sowie in der Parent Teacher Association (Eltern-Lehrer-Verband) und kandidierte bei der Kommunalwahl 1987.
Walters gehört zu den von der Kritik höchst gelobten neuen Autoren und Autorinnen, die in den neunziger Jahren zu schreiben begannen. Tatsächlich wurden ihre ersten drei Romane alle mit Preisen ausgezeichnet: The Ice House (1990; dt. Im Eishaus) bekam den John Creasey Award der British Crime Writers’ Association für den besten Erstlingsroman, The Sculptress (1993; dt. Die Bildhauerin) gewann den von den Mystery Writers of America ausgelobten Edgar für den besten Roman, und The Scold’s Bridle (1994; dt. Die Schandmaske) wurde von der Crime Writers’ Association der Gold Dagger Award für den besten Roman zugesprochen. Am häufigsten verglichen mit Ruth Rendell — deren Erfolg sie ihre eigenen Publikationsmöglichkeiten zuschreibt —, ist Walters eine Traditionalistin der besonderen Art: Zwar betont sie Familienbeziehungen und das klassische Rätselelement, lehnt die anheimelnde Note aber ab, ja verurteilt sie regelrecht.
Walters hat — abgesehen von einigen Liebesromanen in Kurzform, die sie als Zeitschriftenjournalistin unter nie aufgedeckten Pseudonymen verfasst hat — nicht sehr viele Kurzgeschichten geschrieben.
«Ein englischer Herbst «ist ein Beispiel für die ganz kurze Kurzgeschichte und zeigt eindrucksvoll auf, wie viel Charakter und Andeutungen sich in eine äußerst knappe Erzählung packen lassen.
Ich erinnere mich, dass ich dachte, Mrs.
Newbergs Problem sei weniger die Alkoholsucht ihres Mannes, als vielmehr ihr albernes Beharren darauf, ihrer Umwelt vorzumachen, er wäre ein maßvoller Mensch. Sie waren ein gut aussehendes Paar, beide groß und schlank, mit vollem schlohweißem Haar, stets teuer gekleidet in Kaschmir und Tweed. Gerechterweise muss ich sagen, dass er tatsächlich nicht wie ein Trinker aussah und sich auch nicht wie einer benahm, aber ich kann mich nicht erinnern, ihn in den zwei Wochen unserer Bekanntschaft je nüchtern erlebt zu haben. Seine Frau pflegte ihn mit Klischees zu entschuldigen, sprach andeutungsweise von Schlaflosigkeit, einem Todesfall in der Familie, einer alten Beinverletzung — aus dem Krieg natürlich —, die ihm das Gehen schwer mache. Dann und wann flog ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht, als hätte eine ihrer Bemerkungen ihn erheitert, aber die meiste Zeit saß er nur da und klammerte sich mit Blicken an irgendeinen festen Punkt, um das mühsam bewahrte Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Ich schätzte sie beide auf Ende siebzig und fragte mich, was sie so weit von zu Hause fortgetrieben hatte, mitten hinein in einen kalten englischen Herbst. Mrs. Newberg wich aus. Nur ein kleiner Urlaub, zwitscherte sie mit vogelheller Stimme, deren bei konsonantischen Lauten gelegentlich harter Klang an Nordeuropa gemahnte. Sie warf dabei nervöse Blicke auf ihren Mann, als hätte sie Angst, er könnte ihr widersprechen. Vielleicht sprach sie die Wahrheit, aber dass ein altes amerikanisches Ehepaar sich für einen Ferienaufenthalt im Oktober ausgerechnet ein menschenleeres Hotel in einem von Stürmen geplagten Badeort an der Küste von Lincolnshire aussuchen sollte, schien mir reichlich unwahrscheinlich. Sie wusste, dass ich ihr nicht glaubte, aber sie war schlau genug, sich nicht auf lange Erklärungen einzulassen. Vielleicht war ihr klar, dass meine Bereitschaft, mich mit ihr zu unterhalten, von ungestillter Neugier genährt wurde.
«Es war der Wunsch meines Mannes, hierher zu kommen«, sagte sie mit gesenkter Stimme, als wäre damit alles gesagt.
Der Badeort war aus der Mode und die Saison vorbei, und Mrs. Newberg fühlte sich offensichtlich einsam. Wem wäre es, auf die Gesellschaft eines wortkargen Alkoholikers beschränkt, nicht so ergangen? Gelegentlich erschien abends ein reisender Vertreter im Speisesaal, um schweigend sein Abendessen einzunehmen, bevor er zu Bett ging, aber die Gespräche mit mir waren eigentlich ihre einzige Quelle der Unterhaltung. Auf eine oberflächliche Art freundeten wir uns miteinander an.
Natürlich wollte sie wissen, was mich an diesen Ort geführt hatte, aber auch ich konnte ausweichend sein. Ich sei auf der Suche nach einem Domizil, erklärte ich.
«Wie schön«, sagte sie unaufrichtig.»Aber möchten Sie sich wirklich so weit von London entfernt niederlassen?« Es war ein Vorwurf. Für sie, wie für so viele, waren Großstädte gleichbedeutend mit Leben.
«Ich mag den Lärm nicht«, bekannte ich.
Sie schaute zum Fenster, wo der Regen gegen die Scheiben prasselte.»Vielleicht ist es eher so, dass Sie keine Menschen mögen«, meinte sie.
Ich widersprach aus Höflichkeit.
«Mit dem Einzelnen habe ich keine Probleme«, sagte ich mit einem Blick zu ihrem Mann,»nur mit der Masse.« «Ja«, stimmte sie vage zu.»Mir persönlich sind Tiere auch lieber.« Sie gab oft solche sprunghaften Antworten, und ein- oder zweimal fragte ich mich tatsächlich, ob sie vielleicht nicht ganz bei Verstand sei. Aber wenn das zutraf, wie hatten die beiden dann ihren Weg an diesen abgelegenen Ort gefunden, wo Mr.
Newberg schon Mühe hatte, sich zwischen den Tischen in der Bar zurechtzufinden. Die Antwort war einfach. Das Hotel hatte ihnen einen Wagen zum Flughafen geschickt.
«War das nicht sehr teuer?«, fragte ich.
«Es war im Preis Inbegriffen«, sagte Mrs. Newberg mit Würde.
«Der Direktor persönlich hat uns abgeholt.« Sie schüttelte den Kopf über meine erstaunte Miene.
«Das kann man ja wohl erwarten, wenn man den vollen Preis bezahlt.« «Ich bezahle auch den vollen Preis«, sagte ich.
«Das bezweifle ich«, widersprach sie und seufzte:»Wir Amerikaner werden doch überall ausgenommen.« In der ersten Woche ihres Aufenthalts sah ich die beiden nur einmal außerhalb des Hotelgeländes. Ich traf sie am Strand, wo sie in dicke Mäntel und wollene Schals vermummt in Liegestühlen saßen und zur stürmischen See hinausblickten, die von einem bitterkalten Ostwind aufgewühlt wurde. Ich zeigte mich überrascht, sie zu sehen, und Mrs. Newberg, die aus irgendeinem Grund annahm, meine Verwunderung beziehe sich auf die Liegestühle, erklärte, für einen kleinen Aufpreis bekomme man im Hotel alles.
«Kommen Sie jeden Morgen hierher?«, fragte ich sie.
Sie nickte.»Es erinnert uns an zu Hause.« «Ich dachte, Sie leben in Florida.« «Ja«, sagte sie vorsichtig, als versuchte sie, sich zu erinnern, wie viel sie bereits preisgegeben hatte.
Mr. Newberg und ich tauschten ein Lächeln wie zwei Verschwörer. Er sagte selten etwas, aber wenn er sprach, dann immer mit Ironie.»Florida ist berühmt für seine Hurricanes«, bemerkte er, ehe er sein Gesicht wieder in den eiskalten Wind wandte.
Danach mied ich den Strand, weil ich keinen noch engeren Kontakt mit ihnen wollte. Es war nicht so, dass ich sie nicht mochte. Im Gegenteil, ich hielt mich ganz gern in ihrer Gesellschaft auf. Ich kannte niemanden, der so wenig neugierig war wie diese beiden, und die langen Pausen des Schweigens, die sich bei unseren Gesprächen einstellten, waren nie unangenehm. Aber ich verspürte keinerlei Verlangen, meine Tage damit zuzubringen, geselligen Umgang mit Fremden zu pflegen.
Mrs. Newberg machte eines Abends eine Bemerkung darüber.
«Es wundert mich, dass Sie nicht nach Schottland gefahren sind«, sagte sie.»Ich habe gehört, dass man in Schottland stundenlang laufen kann, ohne einer Menschenseele zu begegnen.« «In Schottland könnte ich nicht leben«, sagte ich.
«Ach so, ja. Das hatte ich vergessen. «War das eine Spitze, oder bildete ich es mir nur ein?» Sie suchen ja ein Haus.« «Ein Domizil«, verbesserte ich sie.
«Schön, dann eine Wohnung. Spielt das eine Rolle?« «Für mich schon.« Mr.
Newberg starrte in sein Whiskyglas.»›Das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heißt gefährlich leben‹«, murmelte er in fließendem Deutsch.»Friedrich Nietzsche.« «Funktioniert es?«, fragte ich.
Ich sah ihn lächeln, heimlich und nur zu sich selbst.
«Nur wenn man Blut vergießt.« «Wie bitte?« Doch seine Augen schwammen in Alkohol, und er antwortete nicht.
«Er ist müde«, sagte seine Frau.»Er hat einen langen Tag hinter sich.« Wir schwiegen, und ich beobachtete, wie Mrs. Newbergs ängstlich angespannte Gesichtszüge sich entkrampften und wieder ihren natürlicheren Ausdruck resignierter Schicksalsergebenheit annahmen. Gut fünf Minuten verstrichen, ehe sie eine Erklärung anbot.
«Er war gern im Krieg«, teilte sie mir gedämpft mit.
«Wie so viele Männer.« «Es ist der Kameradschaftsgeist«, bestätigte ich, mich erinnernd, mit welcher Wärme meine Mutter stets von den Kriegsjahren erzählt hatte.»Die Not holt das Beste aus den Menschen heraus.« «Oder das Schlimmste«, sagte sie, den Blick auf ihren Mann gerichtet, der sich aus der Whiskyflasche nachschenkte, die jeden Abend, sobald sie leer war, durch eine neue ersetzt wurde.»Ich vermute, es kommt darauf an, auf welcher Seite man steht.« «Sie meinen, es ist besser zu siegen?« «Es ist sicher eine Hilfe«, sagte sie zerstreut.
Am nächsten Tag erschien Mrs. Newberg mit einem blau geschlagenen Auge zum Frühstück. Sie behauptete, sie sei aus dem Bett gefallen und habe sich das Gesicht am Nachttisch angeschlagen. Es gab keinen Anlass, an ihren Worten zu zweifeln, nur fiel mir auf, dass ihr Mann sich immer wieder die Knöchel seiner rechten Hand massierte.
Sie wirkte elend und niedergeschlagen, und ich forderte sie zu einem Spaziergang auf.
«Ihr Mann kann sich gewiss auch mal ein Stündchen allein unterhalten«, sagte ich mit einem missbilligenden Blick auf ihn.
Wir gingen die Promenade hinunter und beobachteten die Möwen, die unter dem Himmel dahinsegelten wie windgetriebene Stofffetzen. Mrs.
Newberg setzte eine dunkle Brille auf und sah aus wie eine Blinde. Sie ging langsam und blieb in regelmäßigen Abständen stehen, um Atem zu schöpfen. Ich bot ihr deshalb meinen Arm. Sie stützte sich schwer auf ihn, zum ersten Mal empfand ich sie wirklich als alt.
«Sie sollten sich nicht von Ihrem Mann schlagen lassen«, sagte ich.
Sie lachte kurz, sagte aber nichts.
«Sie sollten ihn anzeigen.« «Bei wem?« «Bei der Polizei.« Sie entzog mir ihren Arm und lehnte sich an das Geländer über dem Strand.»Und dann? Ein Strafverfahren? Gefängnis?« Ich stellte mich neben sie.»Eher würde ein Gericht ihm wahrscheinlich auferlegen, sein Verhalten zu ändern.« «Einem alten Hund kann man keine neuen Kunststücke beibringen.« «Er würde die Dinge vielleicht mit anderen Augen sehen, wenn er nüchtern wäre.« «Er trinkt, um zu vergessen«, sagte sie, über das Meer hinweg zu den fernen Küsten Nordeuropas blickend.
Ich zeigte Mr. Newberg von da an die kalte Schulter. Ich habe für Männer, die ihre Frauen prügeln, nichts übrig. Es änderte kaum etwas an unserer Beziehung; höchstens festigte meine Anteilnahme an Mrs. Newbergs Schicksal noch das Band zwischen uns dreien. Ich begann, die beiden ab und zu abends zu ihrem Zimmer hinaufzubegleiten, wobei ich keinen Zweifel daran ließ, dass mir Mrs. Newbergs Wohlergehen am Herzen lag.
Mr.
Newberg schien meine Fürsorge belustigend zu finden.»Sie hat kein Gewissen, das ihr das Leben schwer machen könnte«, sagte er einmal. Und ein andermal:»Ich habe mehr zu fürchten als sie.« In der zweiten Woche stürzte er auf dem Weg zum Frühstück auf der obersten Treppenstufe und war tot, als er unten ankam. Es gab keine Zeugen des Unfalls. Eine Kellnerin, die das Poltern auf der Treppe hörte, kam aus dem Speisesaal gerannt und fand den stattlichen alten Mann mit weit geöffneten Augen und einem Lächeln im Gesicht rücklings am Fuß der Treppe liegend. Niemand war sonderlich überrascht, wenn es auch, wie der Hoteldirektor bemerkte, verwunderte, dass es am Morgen geschehen war, zu einer Zeit, da der alte Mann gewöhnlich am nüchternsten gewesen war. Einige Stunden später traf ein Polizeibeamter ein, um Fragen zu stellen, aber nicht weil irgendein Verdacht auf ein Verbrechen bestand, sondern weil Mr. Newberg Ausländer war und Meldung gemacht werden musste.
Ich leistete Mrs. Newberg in ihrem Zimmer Beistand, während sie sachte ihre Tränen abtupfte und dem Beamten erklärte, sie habe am Toilettentisch gesessen und sich zurechtgemacht, als Mr. Newberg das Zimmer verlassen hatte, um nach unten zu gehen.
«Er ist immer zuerst hinuntergegangen«, sagte sie.»Er trank seinen Kaffee gern frisch.« Der Polizeibeamte nickte, als leuchte ihm diese Erklärung ein, und erkundigte sich dann taktvoll nach den Trinkgewohnheiten ihres Mannes. Eine Untersuchung habe einen hohen Alkoholgehalt im Blut Mr. Newbergs ausgewiesen, berichtete er. Sie lächelte schwach und sagte, sie könne nicht glauben, dass der bescheidene Whiskykonsum ihres Mannes etwas mit seinem Sturz zu tun haben könne. Sie wies darauf hin, dass es im Hotel keinen Aufzug gab und ihr Mann seit Jahren an einer alten Beinverletzung gelitten habe.»Amerikaner sind Treppensteigen nicht gewöhnt«, sagte sie, als wäre das Erklärung genug.
Der Polizeibeamte ließ sie in Ruhe und wandte sich mir zu. Er habe gehört, dass ich mit dem Ehepaar befreundet sei. Ob ich irgendetwas zur Erhellung der Umstände des Unfalls beitragen könne. Ich vermied es, Mrs. Newberg anzusehen, die den verblassten blauen Fleck an ihrem Auge geschickt mit Make-up kaschiert hatte.»Eigentlich nicht«, sagte ich und wunderte mich gleichzeitig, wieso mir nie die Narbe über ihrer Wange aufgefallen war, die aussah, als könnte sie von der spitzen Ecke eines Nachttischs stammen.»Er hat einmal zu mir gesagt, das Geheimnis eines erfüllten Lebens bestehe darin, gefährlich zu leben, vielleicht hat er also nicht so gut auf sich Acht gegeben, wie er das hätte tun sollen.« Er warf einen verlegenen Blick auf Mrs. Newberg.»Mit anderen Worten, er hat zu viel getrunken?« Mein kurzes Achselzucken nahm er als Zustimmung. Ich hätte darauf hinweisen können, dass Mr.
Newbergs Achtlosigkeit darin bestanden hatte, sich nicht umzusehen, aber ich konnte nicht einsehen, was das gebracht hätte.
Niemand zweifelte daran, dass seine Frau zur Zeit des Unfalls in ihrem gemeinsamen Zimmer gewesen war.
Sie neigte huldvoll den Kopf, als der Beamte sich verabschiedete.
«Sind englische Polizisten immer so nett?«, fragte sie, schon auf dem Weg zum Toilettentisch, um sich das schöne Gesicht zu pudern.
«Immer«, bestätigte ich,»solange sie keinen Grund zu einem Verdacht sehen.« Ein kurzer Blick aus dem Spiegel traf mich.»Was denn für ein Verdacht?«, fragte sie.