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10DAS LAND UNTERHALB DES PARADIESES

Am nächsten Morgen wachte ich in aller Frühe auf, noch vor der Prim. Es war der Tag des heiligen Johannes des Täufers - ob er mich wohl mit dem Wasser des Jordan besprengt hätte, um mir meine Sünden abzuwaschen?

Ich wusste, dass ich mich gegen SEINE Gebote vergangen hatte. Hatte nicht sogar Jesus am Berg viel lässlichere Vergehen getadelt? Audistis quia dictum est antiquis non moechaberis. Ego autem dico vobis quoniam omnis qui viderit mulierem ad concupiscendum eam iam moechatus est eam in corde suo.

Auch hatte ich lange genug studiert, um die Bußbücher, in denen jede Sünde verzeichnet war, und auch, wie sie zu sühnen sei, zu kennen. Regino von Prüm etwa, der strenge Zuchtmeister, hatte in seinem Werk für die schlimmsten Formen der Wollust sieben Jahre Buße gefordert - genauso viel wie für denjenigen, der einen anderen Menschen erschlagen hatte.

Als wir im Kloster das Buch studierten, da wiesen uns die älteren Mitbrüder besonders auf die Gefahren der Sodomie hin und auf die Sünde Onans, denn diese beiden Formen der Wollust sind es ja vor allem, welche uns Mönche bedrohen.

Doch an jenem Morgen erinnerte ich mich, dass Regino von Prüm auch flammende Worte wider Mann und Weib gefunden hatte, wenn sie sich nicht der Natur gemäß vereinten. Wenn die Frau etwa in den Mund nahm, was nicht für den Mund bestimmt war, dann forderte das Buch sieben Jahre Buße. Auch wenn das Weibe auf dem Manne lag, wenn also zur Sünde der Wollust noch die schändliche Umkehrung der Verhältnisse zwischen Herrscher und Beherrschter hinzukam, musste man sich sieben Jahre kasteien, musste pilgern und fromme Werke tun.

Danach hätte ich schon nach dieser einen Nacht mindestens zweimal sieben Jahre Buße tun müssen. Und doch dachte ich,-wenn ich mich der Sünden erinnerte, die Regino von Prüm so sehr geißelte, mit wohligem Schauer zurück. Fast vermeinte ich gar, wieder den Duft von Klaras Haut zu atmen und zu entflammen unter ihren erfahrenen Liebkosungen.

Und trotzdem: Ein Teil meiner Seele wurde zerfressen von Reue und Scham. Ich fragte mich, ob ich beichten sollte, wagte es dann aber doch nicht. Als ich endlich zur Prim schritt, da blickte ich nicht einmal auf zum Altar, aus Angst, von IHM auf der Stelle zerschmettert zu werden.

Auch an die düstere Gestalt dachte ich, vor der ich letzte Nacht geflohen war. Wer sonst mochte es sein, denn Satan? War ich nicht für immer verloren? Wandelte ich nicht schon mit einem Fuß im Reich der Finsternis?

Doch noch während meine Seele sich in Qualen wand, gaukelte sie mir Bilder vor von Klara, von ihren blonden Locken, die auf helle Haut fielen. Meine Fingerkuppen zitterten, weil ich wieder die Brüste zu spüren vermeinte, die ich noch vor wenigen Stunden umfasst hatte. Hatte sie nicht versprochen, mich wiederzusehen? Wann würde sie mich wieder beglücken?

So war ich denn am Boden zerstört und schwebte doch zugleich im Himmel, war reuig und demütig wie nur irgendein Mönch sein kann — und erging mich doch im Augenblick danach in wollüstigen Schwärmereien wie ein verwöhnter Edelmann.

Ich blickte mich um und forschte verstohlen in den Gesichtern meiner Mitbrüder, die den Hymnus zur Prim anstimmten, ob ihnen wohl an mir Merkwürdiges, ja Alarmierendes auffallen möge. Doch niemand achtete meiner. Sorgfältig ließ ich meinen Blick noch einmal über die dunkel gewandeten Mönche wandern - plötzlich schauderte ich.

Philippe de Touloubre fehlte in den langen Reihen der betenden Dominikaner.

*

So hatte ich denn, wiewohl dies kaum ein Trost sein konnte, etwas, das mich von meinen Gedanken an Wollust und Sünde fortführte. Ich fragte mich, während ich sang und betete und dabei doch nur Worte formte, die meinem Herzen nichts bedeuteten, ob der Inquisitor schon zu so früher Stunde das Kloster verlassen hatte. Oder war er womöglich seit gestern gar nicht zurückgekehrt? Ich erschauderte und hatte einen Augenblick lang die Vision, dass Meister Philippe für meine Sünden büßen musste: Denn was wäre, wenn ihm gestern Abend oder in der vergangenen Nacht etwas zugestoßen war? Was wäre, wenn der Finstere ihn geholt hatte, nicht mich, weil er in der Nacht den Mönchshabit des Inquisitors mit dem meinen verwechselt hatte?

Vermisste schon jemand Philippe de Touloubre? Sollte ich mit dem Prior reden? Oder wäre es eher im Sinne des Inquisitors gewesen, wenn ich nicht mit Bruder Carbonnet sprechen würde, um ihn gar nicht erst auf das Fehlen von Meister Philippe hinzuweisen? »Oh HERR«, murmelte ich, »sende mir ein Zeichen. Was soll ich tun?«

Doch GOTT erhörte mein Flehen nicht. Die Prim ging zu Ende und nichts gab es, das ich als SEIN Zeichen hätte deuten können. So beschloss ich, dem Prior zwar nichts zu sagen, das Kloster jedoch zu verlassen, um in der Stadt nach Meister Philippe Ausschau zu halten. Es gelang mir ohne Schwierigkeit, vom Prior die Erlaubnis einzuholen, mit einem Bruder, dessen Name Malachias war, zum Einkaufen heilkräftiger Kräuter entsandt zu werden. Jener Malachias war aus Toulouse nach Paris geflohen. Wir hatten schnell herausgefunden, dass er sich besser noch als unser Apotheker auf das Mischen von allerlei heilenden Aufgüssen und lindernden Tees verstand. Doch da ein Geschwür seine Oberlippe aufgerissen hatte, sprach er sehr undeutlich; auch wollten viele Marktweiber gar nicht mit ihm reden, weil sie ihn für verflucht hielten. Deshalb entbot ich mich denn, Bruder Malachias zu begleiten.

Da seine Lippe ihn so sehr hinderte, sprach Bruder Malachias nicht mehr Worte, als unbedingt notwendig war. So verließen wir schweigend und noch zu früher Stunde das Kloster in der Rue Saint-Jacques. Nach dem Gewitter war die Luft kühl, klar und angenehm frisch. Das Straßenpflaster glänzte sauber, da der Unrat vom Wolkenbruch in die Seine gespült worden war. Nur die überall niedergebrannten Scheiterhaufen störten den Eindruck von Reinheit: Schwarz und stumpf war das Holz und es roch bitter nach nassem Rauch. Auf der Straße war es ruhiger, als ich es je zuvor erlebt hatte. Viele Bürger lagen nach den Tänzen, der Musik und wohl auch anderen Vergnügungen der Johannisnacht, noch in ihren Betten. Mönche und Priester gingen zahlreich hierhin und dorthin, Marktweiber strebten den großen Plätzen zu, auch ein paar Diener und dazu Bauern, die Hühner und Kirschen verkaufen wollten. Dann und wann taumelte, noch benommen vom Wein, ein Zecher aus einer dunklen Gasse, blinzelte in der Sonne und machte sich rasch auf den Heimweg. Doch all dies war nichts im Vergleich zum lärmenden Durcheinander normaler Pariser Tage - und erst recht nichts im Vergleich zum Gedränge, das in den letzten Wochen geherrscht hatte.

Plötzlich machte ich noch eine Feststellung, die mich mindestens genauso beunruhigte: Es gab an jenem Tag keine neuen Flüchtlinge mehr, die zuvor doch stetig durch eines der vielen Stadttore hineingeströmt waren. Es war, als wäre eine menschliche Flut von einem Tag zum anderen versiegt.

Manchmal blickte ich mich unauffällig um — stets hoffend, dass irgendwann doch die ersten Bauern, die ersten Bürger anderer Städte beladen mit Habseligkeiten hinter Karren und Wagen durch die Straßen wanken würden. Doch niemand kam. Paris lag still da und, so unglaublich dies klingen mag, beinahe leer. Es war, als gäbe es im Land um die Stadt keine Menschen mehr.

Bruder Malachias und ich schritten die Rue Saint-Jacques hinab Richtung Seine, bogen allerdings schon vor der Kirche Saint-Severin nach rechts ab. Es war nicht sehr weit von dort bis zur Place Maubert, einem Platz, geformt wie eine riesige Pfeilspitze, deren scharfes Ende stadtauswärts wies. Sein einziger Zierrat war die Croix Hemon, ein großes, steinernes Kreuz. Mich schauderte, denn es sah aus, als hätte Jesus leibhaftig dort hängen können, so düster und groß war es. Überhaupt war die Place Maubert übel beleumundet, lag hier, an der kleinen, auf den Platz führenden Rue Coupe-Geule, doch das Kollegium, das der königliche Kaplan Robert de Sorbon vor über einem Jahrhundert für mittellose Studenten der Theologie gestiftet hatte. Berühmt war es und gerne hätte ich dort meine Studien betrieben. Doch inzwischen war ich lange genug in Paris, um zu ahnen, dass ich so bald nicht dort arbeiten würde. Inzwischen wusste ich auch, dass zumindest die weltlichen Studenten bei den Bürgern wenig angesehen waren. Sie galten als dem Weine übermäßig zugetan, als anmaßend und rauflustig.

Da an der Universität, deren Kollegien fast alle an der Place Maubert lagen, auch Medizin gelehrt wurde, war der dortige Markt auf dem Platz auch dann noch eine Quelle für Heilkräuter, wenn es andernorts keine mehr gab. Bruder Malachias war einige Male hierher gekommen — bis eine abergläubische Bauersfrau, die Pflanzen aus dem Wald angeboten hatte, ihn mit Steinen und Unrat beworfen hatte, um ihn zu vertreiben; zu sehr hatte sie sein Gesicht gefürchtet. Nun hatte sich Bruder Malachias die Kapuze so eng um den Kopf geschlungen, dass sie Lippen und Kinn verbarg. Er ging einige Schritte hinter mir und gab mir nur halblaut Anweisungen, bei welchem Stand ich stehen zu bleiben hatte. Dann deutete er auf ein bestimmtes Kraut, einen getrockneten Pilz oder ein paar Blüten, bezahlte widerspruchslos jeden geforderten Preis und schritt weiter, seine neueste Errungenschaft bereits in einem großen Lederbeutel verstauend, den er am Gurt um seine Kutte trug.

So gingen wir wohl eine Stunde über den Markt. Ich bemühte mich, unauffällig nach Meister Philippe Ausschau zu halten, doch konnte ich ihn nirgendwo erblicken. Warum auch, denn was hätte er ausgerechnet hier suchen mögen?

Als ich schon verzweifeln wollte, denn mein Mitbruder hatte alle Heilkräuter gefunden, bedeutete mich Malachias zu sich.

»Der Prior hat mir aufgetragen, das Blindenhospiz zu besuchen«, lispelte er und sprach dabei so undeutlich, dass ich nachfragen musste. »Wir sollen tatsächlich zu den Blinden gehen, ins Quinze-vingt?« Malachias nickte nur. König Ludwig der Heilige hatte es einst gegründet als Hospiz für fünfzehn mal zwanzig Blinde, daher sein Name. Es lag am anderen Ufer der Seine, vor der Porte Saint-Honore. »Wir sollen den Blinden einige Kräuter bringen«, erklärte mir Malachias. »Der ehrwürdige Vater will es so, auf dass das Volk in uns Dominikanern mildtätige Brüder sehe, nicht nur herzlose Inquisitoren.« Er hielt erschrocken inne und senkte dann den Blick. »Verzeiht mir, Bruder Ranulf«, murmelte er.

»Ihr sprecht recht: Jedermann furchtet die Inquisition. Das muss auch so sein. Doch auch dies ist recht, dass wir Dominikaner der Herde GOTTES mehr sein müssen als Hirtenhunde. Wir müssen auch die Qualen der Körper lindern«, sprach ich und war stolz auf meine weisen Worte.

Im Geheimen zürnte ich Bruder Malachias zwar wegen seiner Äußerung über die Inquisitoren, doch ließ ich mir nichts anmerken, denn der Weg zum Blindenhospiz würde uns quer durch die Stadt führen und mir Gelegenheit bieten, nach Meister Philippe Ausschau zu halten - und nach einer stolzen, blonden Frau, die gerne allein durch die Gassen von Paris schritt.

Doch erblickte ich in den nächsten beiden Stunden weder den Inquisitor noch sah ich Klara Helmstede. Ich war enttäuscht und hoffte, dass Bruder Malachias mir dies nicht ansah.

Was die Gattin des Reeders wohl gerade tat? Wie verzehrte ich mich schon nach ihr, kaum dass ich ein paar Stunden ohne ihre Gegenwart ertragen musste! Nur dass die Kogge noch immer an ihrem Platz lag, das erleichterte mich ein wenig.

Die Blinden wurden von Zisterzienserinnen gepflegt, deren Abtei Saint-Antoine-des-Champs dem Hospiz gegenüber lag. Quinze-vingt und das Kloster lagen im Schatten vor der Stadtmauer, nur die Rue Saint-Honore trennte sie voneinander, eine breite Straße, die nach Osten lief - und auf der niemand zu sehen war. Bruder Malachias und ich blickten uns an, als wir durch das Stadttor auf die menschenleere Straße hinausschritten, wir sprachen jedoch kein Wort.

Dann überbrachten wir den Schwestern die Kräuter. Sie boten uns Wasser und Brot zur Stärkung an, doch da mein Begleiter freundlich, aber bestimmt ablehnte, verneinte auch ich — obwohl mein Mund trocken war und mein Bauch grollte.

Auf dem Rückweg, wir waren schon fast am Grand Pont, kamen wir an einem Lager der Zigeuner vorbei. Jedermann weiß, dass es sich dabei um Christen aus Unterägypten handelt, die von den Sarazenen einst niedergeworfen und zum muslimischen Glauben bekehrt worden waren. Später zwar kehrten sie zum wahren Glauben zurück, doch müssen sie seither zur Buße durchs Land ziehen, ohne je in einem festen Haus schlafen zu dürfen.

Ihre Männer trugen silberne Ringe im Ohrläppchen und hatten sich mit Zauberkünsten schwarze Farbe auf die Haut im Gesicht und an den Armen gemalt, die man niemals wieder abwischen konnte. So sahen sie gar fürchterlich aus, doch grüßten sie uns freundlich, als wir vorübergingen. Eine alte Frau, mir dünkte sie wie eine Hexe, griff nach meiner Hand. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich begriff, dass sie mir mit schwarzer Magie meine Zukunft aus der Hand lesen wollte.

Erschrocken zog ich meine Rechte zurück, denn zu meinen vielen Sünden wollte ich diese nun nicht auch noch hinzufügen. Da ich die Alte jedoch nicht beleidigen wollte, hob ich die Hand, die ich ihr soeben entzogen hatte, zum Segen und murmelte »Pax vobiscum.« Die Alte war höchlich erfreut und verneigte sich, wobei sie mir in einer Sprache antwortete, deren Worte ich nicht verstand. Rasch ging ich weiter. Bruder Malachias war eiliger ausgeschritten, als er der Zigeuner ansichtig geworden war, und war schon etliche Schritte voraus. Ich eilte hinter ihm drein über die Brücke und war fast auf dem Platz von Notre-Dame, wiewohl aber immer noch ein gutes Stück hinter meinem Mitbruder, als ich eine Hand an meiner Kutte spürte.

Ein Schauder durchfuhr mich, denn ich glaubte, der Unbekannte der letzten Nacht sei nun gekommen, um mich zu holen.

Doch als ich mich umwandte, erblickte ich nur eine gebeugte Frau unter einem alten Umhang. Ich dachte, dass eine Zigeunerin mir gefolgt war, und wollte sie schon mit einer Geste fortscheuchen - eher erleichtert darüber, dass mich nicht der Finstere angehalten hatte, denn wütend über diese Aufdringlichkeit -, da richtete sich die Frau auf und sah mir geradeheraus ins Gesicht. Es war Lea.

Ich blickte in ihr schmales Gesicht, ihre dunklen Augen, sah, wie sie ihr blauschwarzes Haar unter dem schäbigen Tuch mühsam zurückgebunden hatte. Ihre Kleidung war zerschlissen und von undefinierbarer Farbe. Nirgendwo konnte ich den gelben Judenflicken sehen, den sie doch allezeit tragen musste. Ich hätte sie verhaften lassen müssen, doch dachte ich in jenem Augenblick nicht einmal daran. Noch bevor ich einen erstaunten Ruf ausstoßen konnte, hob Lea schnell die Rechte an die Lippen und bedeutete mir mit dieser Geste zu schweigen.

Rasch sah ich mich um: Bruder Malachias schritt weiter, als hätte er mich vergessen. Ich wusste, dass ihn alles zum Kloster zog, wo er die Kräuter, die er gekauft hatte, zu seiner Medizin verrühren konnte. Ihn drängte der Wille zu helfen, mich hielten Neugier und Sünde zurück.

Die junge Jüdin hielt mich nicht länger auf, als man braucht, um eine Zeile des PATER noster zu beten. Auch sie blickte sich rasch um, dann holte sie unter ihrem Gewand ein Paket hervor, das in ein altes, dunkelbraunes Tuch eingeschlagen war. Es war so lang wie mein Unterarm, so breit wie ein Laib Brot und so schwer wie ein Ziegel. »Nehmt das, Bruder Ranulf, dann werdet Ihr vielleicht so manches verstehen!«, flüsterte Lea atemlos. »Versteckt es gut, niemand darf Euch damit sehen. Nun eilt Euch!«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief rasch die nächste Gasse hinunter, wo sie nach wenigen Augenblicken hinter einer Hauswand verschwand.

Ich unterdrückte meinen Wunsch, nach ihr zu rufen, ja, ihr hinterherzueilen. Eben noch dachte ich an Klara Helmstede und die letzte Nacht, nun galten alle meine Gedanken Lea und ihren Worten.

Ich schob das Paket in die weite Öffnung meines rechten Ärmels. Ich hätte es nirgendwo anders verstecken können, denn in meinen am Gurt hängenden Beutel passte es nicht. Damit es nicht herausfiel, verschränkte ich beide Unterarme ineinander. Mit meiner Linken umklammerte ich sodann das Paket, das an meinem rechten Unterarm lag. Es brannte wie Feuer in meiner Hand, während ich Bruder Malachias hinterhereilte.

Nie war mir der Weg durch Paris länger vorgekommen als zu jener Mittagsstunde, nie trug ich etwas, das schwerer wog als dieses Paket, nie waren meine Hände ungeschickter als in diesem Moment, da ich versuchte, die Gabe Leas in meiner Kutte verborgen zu halten. Wie atmete ich auf, als wir endlich das Kloster erreicht und unsere Kräuter in der Apotheke abgegeben hatten. Bruder Malachias verbeugte sich vor mir, dann eilte er zur Krankenstube, um sich der Pflege der daniederliegenden Mönche zu widmen. Ich murmelte einen Segenswunsch, doch wagte ich nicht, meine Hände aus den Ärmeln zu ziehen und ihm den Segen auch mit der Rechten zu erteilen. Ich hoffte, dass er dies nicht bemerken würde.

Ich bezwang mich und ging gemessenen Schrittes den Kreuzgang entlang, obwohl ich doch am liebsten gerannt wäre wie ein Knabe, der einen Streich begangen hat und nun nach Hause eilt. Kurz blickte ich mich um, ob ich irgendwo Meister Philippe sehen mochte. Diesmal war ich erleichtert, dass dem nicht so war, denn ich wagte gar nicht, mir auszumalen, wie es wäre, wenn ich mit dem versteckten Paket dem Inquisitor unter die Augen getreten wäre. Hätte dieser es nicht sofort entdeckt? Wie hätte ich die Situation dann erklären können, ohne nicht zugleich einen Verdacht auf Lea zu lenken? Den ganzen Rückweg hatte ich mich schon gefragt, warum Lea mir dieses Paket überreicht haben mochte — und was es wohl enthielt. Sie hatte ihren Judenflecken verborgen. Ich glaubte nicht, dass ihr Vater davon wusste. Vielleicht, so sagte ich mir, hatte sie mich und Bruder Malachias erblickt, als wir zum Blindenhospiz gegangen waren, denn auf dem Weg dorthin mussten wir ja an der Kathedrale Notre-Dame und mithin in der Nähe des Judenviertels vorbeiwandern. Dann hatte sie sich einen unauffälligen Mantel übergeworfen und mich erwartet, da sie ja nun hoffen konnte, mich früher oder später auf dem Rückweg wieder abzufangen.

Was mochte sie mir gegeben haben? Mit meiner Linken hatte ich unterwegs das Paket abgetastet, während ich es umklammert hielt - und ich glaubte schon zu wissen, was es enthielt: ein schweres Buch. Sollte es eine jüdische Schrift sein? Ein ketzerisches Werk? Was geschähe mir, fände man es hier, im Kloster der Dominikaner? Und was erst würde man mit Lea und ihrem Vater machen? Endlich war ich in meiner Zelle angelangt, blickte mich auf dem Gang noch einmal um, schlüpfte dann hinein und schloss sorgfältig die Tür. Ich setzte mich auf die Pritsche und schlug mit zitternden Fingern den Stoff um das Paket auf. Wie vermutet, fand ich ein Buch und einen Brief.

Ich versuchte, meine Ungeduld zu beherrschen, und öffnete zuerst den Brief. Es war ein halbes Blatt Pergament, das aussah, als wäre es irgendwo anders herausgetrennt worden, vielleicht aus einem Buch. Ganz schwach konnte ich noch eine kleine, schwarze Schrift erkennen, die mit einem feinen Messer sorgfältig herausgeschabt worden war und nur noch wie ein geisterhafter Schatten auf dem Pergament zu schweben schien. Quer zum gelöschten alten Text hatte jemand einen neuen geschrieben. Die Handschrift war groß, schwungvoll und klar. Ich musste nicht rätseln, wer die Buchstaben so geschickt zu setzen verstand.

Diesen Brief habe ich über all die Jahre aufbewahrt. Auch auf meinen vielen Reisen habe ich mich niemals von ihm getrennt, denn er ist mir lieb und teuer. Und so liegt er nun, Jahrzehnte später, vor mir, gelb ist das Pergament geworden und brüchig und fast schon geisterhaft ist auch die schwungvolle Schrift, so wie die ursprüngliche endgültig verblasst ist. Ich streiche die schwärzlich verfärbten Knickstellen glatt und schiebe den Brief näher zur Kerze. So kann ich ihn abschreiben, Wort für Wort, und ihn in meinen Bericht einfügen:

Bruder Ranulf,

JHWH möge mit Euch sein auf all Euren Wegen und Euch beistehen bei all Euren Taten, auf dass ER Euch einst zählen wird zu den Gerechten. Ich schreibe Euch wieder, diesmal ausführlicher, denn ich weiß mir keinen anderen Rat, als Euch — und nur Euch, ich flehe Euch an, darüber kein Wort gegenüber dem Inquisitor zu verlieren! — die Dinge so darzulegen, wie sie mir zu sein scheinen. Urteilt dann selbst.                     

Mein Vater hat Euch nicht die Wahrheit gesagt, als er Euch versicherte, dass der Mönch aus Lübeck, JHWH möge sich seiner erbarmen, wegen Gelddingen bei ihm vorgesprochen habe. Nechenja ben Isaak ist ein gerechter Mann, doch ihn plagte die Furcht vor der Inquisition - besonders vor Fragen, die Ihr an ihn stellen könntet, die er aber nicht zu beantworten vermag. Ich werde Euch nun berichten, wie es sich tatsächlich zugetragen hat, denn ich will meinen Vater nicht der Gefahr aussetzen, zu Les Halles geführt zu werden und dort am Galgen zu baumeln oder gar, wie es vor einigen Monaten mit gefangenen Landsknechten hier geschehen ist, gefesselt in die Seine gestoßen zu werden, um dort zu ertrinken wie eine schwarze Katze, die angeblich Unglück bringt.

Mein Vater sammelt seit vielen Jahren schon geografische Werke. Schon immer, fragt mich nicht nach den Gründen dafür, ich kenne sie nicht, strebte er danach, Landkarten, Atlanten, Reiseberichte und dergleichen zu erwerben, seien sie nun Werke der Alten oder Früchte heutiger Gelehrsamkeit. Seine Sammlung hat meinem Vater einen gewissen Ruhm eingetragen, zumindest im Kreise der Männer, die solcherart Gelehrsamkeit zu schätzen wissen — Christen wie Juden. An jenem Abend nun suchte uns Heinrich von Lübeck auf und begehrte, die Bibliothek meines Vaters zu sehen. Mein Vater war überrascht - und auch, verzeiht, Bruder Ranulf, erschrocken, denn jeder Dominikaner ist in seinen Augen zugleich auch ein Inquisitor -, als der Mönch an unsere Pforte klopfte. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, wohl aber von ihm gehört.

Sein Sohn, mein Bruder, ist ja, wie Ihr wisst, Rabbiner in Lübeck und erwähnte gelegentlich auch Heinrich von Lübeck, da dieser in seiner Heimat ein geachteter Mann ist und ein verehrter Prediger. Selbst die Juden zu Lübeck schätzten seine Gelehrsamkeit und die Großmut, die er uns gegenüber stets gezeigt hat.

Also ließ mein Vater ihn ein. Heinrich von Lübeck stellte sich uns kurz vor, machte ansonsten jedoch nicht viele Worte, er schien mir in Eile zu sein. Er sagte, dass er ein bestimmtes Werk über Geografie lesen wolle und fragte, ob es im Besitz meines Vaters sei. Als Grund führte Heinrich von Lübeck an, er wolle etwas für seinen Freund Richard Helmstede nachsehen, den Reeder und Kapitän aus Lübeck, den Ihr, Bruder Ranulf, inzwischen sicherlich gut kennt. Verzeiht mir die ungeheuerlich klingende Unterstellung: Ich glaube, dass der Mönch in diesem Punkte nicht die Wahrheit sprach, auch wenn ich ihn nicht einer Lüge habe überführen können. Ich denke jedoch, dass er eher für sich selbst denn für Herrn Helmstede dieses Werk zu sehen wünschte.

Wie dem auch sei: Mein Vater jedenfalls besaß dieses Werk und zeigte es dem Mönch. Heinrich von Lübeck war erregt, ja fast außer sich, wie es einem Mönch wohl kaum geziemt. Er wollte das Buch, kaum, dass er es aufgeschlagen und eine Seite gelesen hatte, gleich wieder zuklappen und mitnehmen. Er bot meinem Vater viel Geld dafür, doch mein Vater gibt niemals ein Buch her, das er einmal erworben hat. Er verehrt Folianten und Pergament kaum weniger als die Thora. Er blieb auch standhaft, als Heinrich von Lübeck abwechselnd flehte und drohte.

Schließlich einigten sie sich darauf, dass Heinrich von Lübeck wiederkehren sollte. Mein Vater erlaubte ihm, das Buch in seiner Bibliothek - und unter seinen wachsamen Augen, auch wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt wurde - zu kopieren. Heinrich von Lübeck dankte ihm, er segnete uns, dann verabschiedete er sich. Das war ein paar Stunden, bevor seine Seele zu JHWH einging. Mein Vater hat nie mit mir über diesen Besuch gesprochen, meine Fragen ignorierte er. Mit keinem Wort erwähnte er das Buch oder was daran so Besonderes wäre, dass es jener Mönch unbedingt in seinen Besitz bringen wollte. Ich glaube, mein Vater weiß selbst nicht, was Heinrich von Lübeck an diesem Werk so in Erregung versetzte, vielleicht sogar in Furcht.

Ich vermag es auch nicht zu sagen. Doch mich ängstigt dieses Buch nun. Allein deshalb habe ich es heute, da ich Euch auf dem Platz vor Notre-Dame erblickte, heimlich an mich genommen, um es Euch zu übergeben.

Mein Vater darf davon nichts wissen. Ich bitte Euch: Seht es an, studiert es, sucht es nach ketzerischen Stellen ab. Ihr seid ein Mann der Gelehrsamkeit und Ihr seid Dominikaner. Wer außer Euch könnte herausfinden, warum Heinrich von Lübeck gerade jenes Werk lesen, kopieren und am liebsten besitzen wollte?

Vielleicht gibt Euch dieses Werk gar eine Spur, die zu dem Mann führt, der Euren Mitbruder erdolchte.

Auch Meister Philippe würde wohl eine Verbindung zwischen dem Werk und Eurem Mitbruder herzustellen wissen, doch unweigerlich würde er, der oberste Inquisitor von Paris, meinen Vater in den Kerker werfen lassen. Ihr wisst selbst am besten, dass ein Jude, der einmal im Kerker der Inquisition sitzt, aus diesem niemals wieder freikommt. Zumal in diesen Tagen, da Menschen nach Paris strömen und von einer schrecklichen Seuche berichten - und uns Juden schon böse Blicke zuwerfen. Ich weiß sehr wohl, dass viele Bürger flüstern, wir würden die Brunnen der Christen vergiften. Euch aber vertraue ich. So gebt mir, ich flehe Euch an, Nachricht, wenn Ihr etwas findet, das Licht in diese dunkle Sache bringen könnte. Ich weiß, dass ich Schwieriges von Euch erbitte, ja, dass ich Euch geradezu anflehe, ungehorsam zu sein gegenüber Eurem Orden. Doch Ihr seid ein Mann nach dem Sinn von JHWH. Ich spüre, dass Ihr in ehrlicher Empörung den Mörder Eures Mitbruders verfolgt und ihn seiner gerechten Strafe zuführen, jedoch keine Unschuldigen im Kerker schmachten lassen wollt.

So lege ich denn das Schicksal meines Vaters — und mein eigenes — in Eure Hände. Entdeckt in jenem Buch den einen Faden, der alles zu entwirren vermag, und entdeckt ihn rasch, denn die Zeit drängt! JHWH behüte Euch. Ich harre Eurer Antwort.

Lea bas Nechenja, Tochter des Nechenja ben Isaak

Ich starrte auf den Brief und las ihn dann ein zweites Mal. Lea bat mich darin, in der Tat, um Ungeheures.

Würde ich ihren Wünschen nachkommen, ich liefe Gefahr, selbst zum Häretiker zu werden. Doch zweifelte ich nicht einen Augenblick daran, dass es für mich keinen anderen Weg gab, als ihrem Flehen nachzukommen.

Also nahm ich vorsichtig das Buch in die Hand. Es war ein gewichtiger, wohl fast dreihundert Seiten mächtiger Foliant, gebunden jedoch in unscheinbares, vom Alter dunkel gewordenes Leder. Sein Einband war intakt, ja fast wie neu - als habe nur sehr selten jemand darin geblättert.

Ich schlug das Buch auf — und musste mich bezwingen, nicht erstaunt auszurufen.

Was eigentlich hatte ich erwartet? Ich vermag es bis heute selbst nicht genau zu sagen. Ein uraltes Werk der Katharer oder anderer Ketzer? Eine der rätselhaften Schriften der Kabbalisten? Eine andere jüdische Schrift? Ein Werk der Griechen oder Römer, jedenfalls aus heidnischer Zeit? Nun, es war nichts davon — sondern ein christliches, geachtetes, wahrhaft frommes Buch.

»Der ›Liber floribus‹ des Lambert von Saint-Omer«, murmelte ich. Ich hatte von dem Werk und seinem Autor gehört, wiewohl ich es nie zuvor in Händen gehalten hatte. Lambert war ein französischer Kanonikus gewesen, Chorherr im Kapitel der Kathedrale zu Saint-Omer. Er war, wenn ich mich recht entsann, schon seit über zweihundert Jahren tot.

Der »Liberfloribus« war eine nützliche Sammlung weltlichen Wissens, die Lambert, der ein sehr neugieriger Mann gewesen sein muss, am Ende seines Lebens zusammengetragen hatte. Ein Buch, in dem er aus der Heiligen Schrift, den Werken der Kirchenväter und den Schriften der Alten zitiert hatte. Darin, so hatte ich gehört, fanden sich Beschreibungen der Gestirne und Anleitungen zum richtigen Rechnen, Darstellungen von bekannten und fremden Tieren und Pflanzen und allerlei anderen nützlichen Wesen und Dingen. Nie jedoch hatte ich davon gehört, dass der »Liber floribus« im Ruch der Ketzerei stünde oder gar offiziell von der Inquisition verdammt worden wäre. Ja, noch nie war er irgendeinem meiner Lehrer so wichtig erschienen, dass er mich angehalten hätte, ihn auch nur flüchtig zu studieren.

Was also mochte es sein, dass Heinrich von Lübeck schon nach einer kurzen Lektüre derart in Erregung versetzt hatte? Ich schlug die ersten Seiten auf - und staunte nicht schlecht. Denn zum Text gesellten sich Dutzende, Hunderte farbige Bilder von wahrhaft seltsamen und doch feinen Wesen. Ich erblickte eine kompliziert verflochtene Spirale, in deren Mitte ein Fabelwesen lauerte, halb Stier, halb Mensch. »Minotaurus in laberintho«, las ich. Ich sah Blüten — und erkannte wohl manche wieder, die Bruder Malachias und ich erst vor wenigen Stunden auf dem Markt gekauft hatten. Hier erfuhr ich ihre Namen und lernte, welche Leiden sie linderten.

Lambert hatte auch Tiere beschrieben, wie man ihrer wohl kaum je im Abendland ansichtig würde: Ich staunte über ein Rhinozeros und ich lernte, wie ein Einhorn aussah, eine Hyäne, ein Cameleopardis und ein Krokodil.

Die apokalyptischen Monster sah ich, von welchen der Prophet Hiob so schauerlich gesprochen hatte: Behemoth schritt über das Pergament, geritten vom Teufel, und Leviathan, geritten vom Antichristen. Schaudernd blätterte ich um, so lebensecht dünkten mich die Bilder, dass ich Angst hatte, die Bestien könnten lebendig werden und dem Buch entspringen.

Doch nichts davon ergab für meine Suche einen Sinn. Was hatte Heinrich von Lübeck oder — falls Lea sich doch täuschte und das mochte ich durchaus nicht ausschließen - was hatte Richard Helmstede mit apokalyptischen Monstern, seltsamen Tieren und heilkräftigen Pflanzen zu schaffen? Je mehr Seiten ich umschlug, desto ratloser, ja verzweifelter wurde ich. Eine Darstellung der Sonne. Eine Anweisung zur Addition. Eine Beschreibung von Bergen. Welchen Nutzen mochte sich mein toter Mitbruder davon versprochen haben? Die Glocke läutete schon zur Vesper und ich hätte den »Liber floribus« schon beinahe zugeklappt, um ihn unter meiner Pritsche zu verstecken, da blätterte ich noch einmal um. Vor mir lag eine Karte der Welt.

»Mappamundi«,           

murmelte ich und sah Küsten und Meere, vom einen Rand der Welt zum anderen.

Oh, wie gerne hätte ich sie in jenem Moment studiert, hätte mich eingeschlossen und die Welt vergessen! Doch ich durfte das Risiko nicht eingehen, im Kloster anwesend zu sein, jedoch nicht zur Vesper zu erscheinen. Unweigerlich hätte ein Bruder nach mir gesehen und gefragt, ob ich mich auch wohl fühle.

Also riss ich mich vom »Liber floribus« los, wickelte ihn in Leas Tuch und schob ihn tief unter meine Schlafstatt. Ihren Brief jedoch faltete ich zusammen und verbarg ihn unter meiner Kutte. Dann eilte ich zur Kirche, ein demütiger Schatten unter vielen.

*

Wie froh und doch zugleich erschrocken war ich, da ich in der Kirche endlich wieder Meister Philippe erblicken durfte! Der Inquisitor sah müde und erschöpft aus, stand nahe beim Prior und nickte mir nur zu, als er meiner ansichtig wurde. Wir waren zu weit voneinander entfernt, um sprechen zu können.

Ich freute mich, dass ihm nichts zugestoßen war, wo immer er in den letzten Stunden gewesen sein mochte. Zugleich fürchtete ich mich jedoch davor, dass er mir irgendwie auf die Spur kommen könnte. Sollte ich dem Inquisitor alles sagen? Sollte ich verraten, dass Richard Helmstede sich Seekarten zeichnen ließ von Juden aus Spanien? Ketzerische Karten? Und sollte ich ihm vom »Liberfloribus« im Besitz des Nechenja ben Isaak erzählen, in dem ich soeben — mochte das noch Zufall sein? - auch eine Weltkarte entdeckt hatte? Vielleicht hatte Lea ja recht und Meister Philippe erkannte mit einem Blick die Spur, die zur Aufklärung all unserer Rätsel führen würde? Doch würde er nicht auch sofort die Spur entdecken, die von mir zu Klara Helmstede führte? Denn natürlich würde er mich fragen, wie ich von den Seekarten des Reeders erfahren hatte - und könnte ich Meister Philippe anlügen?

Außerdem hatte mich Lea ausdrücklich angefleht, sie zu schützen! Selbstverständlich wusste ich, dass die Bitte einer Jüdin ein Nichts ist im Angesicht der Pflichten eines Inquisitors. Und doch: Ich wollte sie nicht verraten.

Also schwieg ich. Ich nickte Meister Philippe einen kurzen Gruß zu, dann senkte ich demütig den Blick und vermied es, während der Vesper noch ein weieres Mal zu ihm hinüberzusehen. Dann zählte ich die Worte der Hymnen und Gebete und maß mir so die verstreichende Zeit ab. In mir brannte eine sengende Sehnsucht nach meiner Zelle, wo ich dieses Buch wieder hervorzerren und in Ruhe lesen wollte! Diese Leidenschaft war kaum weniger stark als jene Wollust, die mich noch wenige Stunden zuvor entflammt hatte. So brannte ich und nahm schon in diesem Leben die ewigen Qualen vorweg, die mich dermaleinst wegen all meiner Sünden noch erwarten werden für alle Ewigkeit.

Doch so sehr mich die Leidenschaft plagte, so bewahrte ich mir doch noch einen Rest Klugheit, zumindest Vorsicht: Am Ende der Vesper war ich nicht der erste Mönch, der aufstand und dem Ausgang zustrebte. Ich betete noch ein PATER noster, dann erst, als einer der Letzten, schlich ich demütig zur Pforte der Kirche. Dort traf ich auf Meister Philippe, der in ein leises Gespräch mit dem Ehrwürdigen Prior vertieft war. Für einen Moment setzte mein Herz aus, doch der Inquisitor nickte mir nur zu, segnete mich mit müder Geste und wandte sich dann wieder Bruder Carbonnet zu. So gelangte ich denn endlich unbehelligt wieder in meine Zelle. Dort schloss ich die Tür und holte mit zitternden Händen den rätselhaften Schatz, den mir die junge Jüdin überbracht hatte, aus seinem Versteck.

Die Weltkarte war schön gemalt: die Berge rote Dreiecke, die Flüsse mäanderten gleich grünen Schlangen durch die Länder. Ein Rahmen aus Tierkreiszeichen zierte die Darstellung. Doch mich konnten der feine Strich und die leuchtenden Farben, der kriegerische Schütze, der brüllende Löwe, nicht einmal die schöne Jungfrau auch nur für einen Moment ablenken.

»HERR, hilf mir«, murmelte ich und schlug das Kreuz. Lambert von Saint-Omer, das war selbst für einen der geografischen Künste Unkundigen wie mich unschwer zu erkennen, glaubte offensichtlich, dass unsere Welt keine Scheibe sei. Sondern eine Kugel. Selbstverständlich war das Pergament flach und also glich auch diese Mappamundi einer Scheibe. Doch ich sah, dass sie eigentlich einen perfekten Ball darstellen sollte.

»Aber das ist Ketzerei«, keuchte ich. War dies nie jemandem aufgefallen? Hatte nie ein gelehrter Bruder Anstoß genommen? Wenn die Erde nämlich tatsächlich eine riesige Kugel wäre, müssten dann nicht Menschen und Tiere auf der unteren Seite hinabstürzen ins Firmament? Und wäre dann noch Jerusalem der Mittelpunkt der Welt, wo doch die Oberfläche einer Kugel gar keinen Mittelpunkt haben konnte? Hätte GOTT SEINE Welt so schaffen wollen? Ich mochte es nicht glauben.

Der Text, der diese Karte erläuterte, fand sich auf den folgenden Seiten. Lambert von Saint-Omer ließ keinen Zweifel daran, dass er, so wie schon Aristoteles - das zumindest behauptete der Verfasser —, die Erde für eine riesige Kugel hielt. Er entschuldigte sich nicht einmal für diese Häresie, frech klang dieser Chorherr, wie nur je ein Ketzer frech seine Irrlehren verkündet haben mochte.

Ich wollte das Buch zuklappen und angeekelt zu Boden werfen. Ja, ich spielte kurz mit dem Gedanken, es in das Tuch zu wickeln, unauffällig in die Küche zu schaffen und im Herdfeuer zu verbrennen. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass Meister Philippe mich gelehrt hatte, dass man auf das Werk der Sünde blicken, ja es studieren musste, wenn man die Sünde ausmerzen wollte. Hatte er sich nicht auch die grausigen Verletzungen Heinrichs von Lübeck angesehen? Hatte er davor zurückgescheut, mit einer Schönfrau zu reden? Durfte ich da diese ketzerische Karte in die Flammen werfen? Nein, ich musste sie betrachten. Ich musste mir jede Einzelheit einprägen - denn irgendwo in jener ketzerischen Mappamundi mochte der Schlüssel verborgen liegen zu den abscheulichen Verbrechen, die unseren Orden plagten.

Also schlug ich den »Liber floribus« wieder auf und zwang mich, die Karte zu studieren, als sei es die Heilige Schrift. Ganz rechts hatte Lambert von Saint-Omer den Südkontinent eingezeichnet - größer, als ich ihn je in einer Karte gesehen hatte.

»Gemäßigt ist er im Klima«, schrieb er dazu, »doch unbekannt den Söhnen Adams. Nichts hat er mit der menschlichen Rasse gemein. Das Äquatormeer, das hier die Welt zerteilt, ist nicht dem menschlichen Auge sichtbar. Die volle Kraft der Sonne heizt diesen Ozean auf und erlaubt keine Reise zu oder von der südlichen Zone. Dort aber, so glauben manche Philosophen, lebt die Rasse der Antipoden, ganz verschieden von den Menschen wegen der Unterschiede der Regionen und des Klimas. Denn wenn wir geplagt werden von Hitze, leiden sie unter der Kälte. Und die nördlichen Sterne, die wir unterscheiden können, sind ihnen gänzlich verborgen. Tag und Nacht haben sie von gleicher Länge. Doch die Eiligkeit der Sonne am Ende der Wintersonnenwende führt dazu, dass sie jedes Jahr zwei Winter erdulden müssen.«

Woher mochte Lambert von Saint-Omer diese Dinge wissen, die mir zudem reichlich verworren zu sein dünkten — wenn doch, wie er selbst schrieb, noch nie ein Mensch jenen legendären Äquatorozean gen Süden überquert hatte? Satan mochte ihm dies eingeflüstert haben, denn wer sonst hätte sich durch diese Hitze wagen können? In der Mitte der Karte waren mir die Länder hingegen vertraut. Ich erkannte Europa, Asien und Afrika, dazwischen das Mittelmeer. »Gallia, Comata, Troja«, las ich die Namen von Ländern und Städten. Bei Afrika hatte Lambert von Saint-Omer eine Insel namens Tritonia eingezeichnet, bei Spanien die Balearics. Nördlich der Säulen des Herkules lag die Insel Betanica, wie der Verfasser England getauft hatte. Und wiederum nördlich von England lagen die dreiunddreißig kleinen Inseln mit Namen Orcades und noch weiter Gotha, das Land ewiger Kälte.

Links, weit im Westen also, genau gegenüber von Europa und Afrika, lag inmitten eines Ozeans das Paradies — zumindest glaubte dies Lambert von Saint-Omer. Wenn auch die meisten Männer von Gelehrsamkeit den Garten Eden irgendwo in Asien vermuteten, für immer unzugänglich für die Nachfahren Adams und Evas. Ich wollte schon den »Liber floribus« zuklappen, um ungestört darüber nachzudenken, was diese Weltkarte mit dem Tod Heinrichs von Lübeck zu tun haben mochte - denn wiewohl sie ein ketzerisches Werk war, so fand ich doch nichts, das mir die Untat verständlicher gemacht hätte -, da zögerte ich.

Ganz links hatte Lambert von Saint-Omer noch ein Land eingezeichnet, unterhalb des Paradieses. Die Schrift dort war verwischt, als hätte jemand erst vor kurzem mit dem Finger darübergestrichen. Ich beugte mich näher zum Pergament, hielt das Buch schließlich hoch, sodass das Sonnenlicht aus dem kleinen Fenster meiner Zelle genau auf die Seite fiel. Dann konnte ich den Namen jenes geheimnisvollen Landes lesen: terra perioeci.