173675.fb2
Wie viele Stunden mag ich auf diese beiden Worte gestarrt haben?
Terra perioeci. Das Land der Periöken. Irgendwo unterhalb des Paradieses. Der Name dieses Landes war es, den der sterbende Heinrich von Lübeck mit seinem eigenen Blut auf das staubige Straßenpflaster geschrieben hatte. Hatte er gehofft, dorthin zu gelangen — wenn schon nicht direkt ins Paradies, dann doch wenigstens in seine Nähe? Doch dieser Gedanke schien mir absurd zu sein, geradezu ketzerisch, zumal von einem Dominikanermönch. Wir können doch nur hoffen, dass ER uns in SEINER Gnade dermaleinst ins Paradies aufnimmt. Das Paradies oder der Ort ewiger Verdammnis, diese beiden Ziele allein sind es, die am Tag des Jüngsten Gerichts einer jeden Seele offenstehen.
Venite benediciti patris mei possidete paratum vobis regnum a constitutione mundi. Discedite a me maledicti in ignem eternum qui paratus est dyabolo et angelis eius.
Doch wenn es sich bei diesem Land um eines von dieser Welt handelte - welches mochte es sein? Wer waren die Periöken? Und warum sollten die letzten Gedanken eines sterbenden Mönches ausgerechnet ihnen gelten?
Ich suchte auf der Weltkarte vergebens nach einem weiteren Hinweis auf dieses rätselhafte Land. Dann las ich den ganzen »Liber floribus«, Seite für Seite, Stunde um Stunde. Meine Rechte schmerzte, denn ich beschirmte mit ihr die kleine Kerze, auf dass so wenig Licht wie nur möglich durch den Spalt unter meiner Zellentür auf den Gang scheinen mochte. Meine Augen tränten. Ich las und las und entdeckte doch kein Wort, das mir weiterhelfen mochte.
Die Vigilien wurden geläutet - ich wankte in die Kirche, sang und betete, taumelte zurück - und dann las ich weiter. So gingen die Laudes dahin und die Prim und draußen wurde es hell, also löschte ich die Kerze und las und las. Doch ich fand nichts.
Zur Terz erhob ich mich mühsam. Mein Kopf dröhnte, Schweiß stand auf meiner glühenden Stirn und meine Augen waren so entzündet, dass ich alles wie durch einen roten Schleier sah. Schwankend stand ich in der Reihe der Mitbrüder — zu schwach, um den Hymnus zu singen.
Danach wollte ich mich zurückschleppen, kraftlos und verzagt, denn ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Doch ein Mönch trat mir in den Weg. Meister Philippe.
Rasch blickte ich demütig zu Boden, damit er mein Gesicht nicht sah, doch da war es schon zu spät.
»Du fieberst ja, Bruder Ranulf!«, rief der Inquisitor besorgt. Sollte ich ihm alles gestehen? Welchen Moment zur Beichte sollte ich nutzen, wenn nicht diesen, da mir Meister Philippe selbst das Fortkommen verwehrte? Ich zögerte. Wäre es nicht das Einfachste, ihm den »Liber floribus« zu übergeben, auf das seltsame Land mit dem unheilschwangeren Namen zu deuten und dann alles weitere dem Inquisitor zu überlassen?
Ich müsste nicht mehr nachdenken, nicht mehr grübeln, nicht mehr kämpfen. Ich könnte alles loslassen, mich ausruhen. Schlafen. Und doch schwieg ich. Denn ich wusste nicht, wie ich dem Inquisitor dies alles erklären sollte. Ich wollte nicht, dass auch nur die Namen von Klara Helmstede oder Lea, der Tochter des Nechenja ben Isaak, fielen. Doch welche Geschichte sollte ich dann Philippe de Touloubre erzählen? Nicht einmal zu einer Lüge hätte ich mich aufraffen können, denn dazu war ich zu erschöpft. Nein, so dachte ich bei mir, ich muss erst selbst mehr wissen, bevor ich mich offenbaren kann. Dann dachte ich gar nichts mehr.
So stand ich denn vor dem Inquisitor, schwankend vor Schwäche, und schwieg. Willenlos ließ ich mich von ihm und einem eilig herbeigerufenen Novizen zum Spital geleiten, wo ich auf einer Pritsche niedersank und in einen unruhigen Fieberschlaf fiel.
*
Ich musste viele Stunden so gelegen haben. Als ich die Augen das erste Mal wieder öffnete, konnte ich die helle Morgensonne wahrnehmen. Das Spital war ein hoher Raum, weiß gekalkt und von großen, spitzbogigen Fenstern erhellt, die Licht und Luft zur Linderung der Qualen hereinließen. In zwei Reihen entlang eines Mittelganges waren schmale, harte Pritschen aufgestellt, die Krankenlager. Zu beiden Seiten lagen mehrere Mitbrüder, die mit verschiedenen Leiden ins Spital geschickt worden waren. Zu meiner Rechten kämpfte ein alter Mönch, der aus der Bretagne bis nach Paris geflohen war, seinen letzten Kampf. Ich hörte seinen rasselnden Atem, doch war ich selbst zu schwach, um mich so weit zu erheben, dass ich zu ihm hinüberblicken konnte.
Durch die rötlichen Nebel des Fiebers nahm ich Bruder Malachias wahr, der gelegentlich nach mir sah. Er brachte mir eine heiße Gemüsesuppe zur Stärkung und flößte mir einen bitter schmeckenden, bräunlichen Kräutersud ein. Nachdem ich die Kelle in einem tiefen Zug geleert hatte, fiel ich in einen todesähnlichen Schlaf. Einmal glaubte ich auch, Meister Philippe am Kopfende meines Bettes sitzen zu sehen.
»Sorge dich nicht, Bruder Ranulf«, hörte ich seine Stimme. »Es gibt noch keine neuen Spuren. Doch werden wir die Sünder finden und bestrafen.«
Vielleicht redete er tatsächlich so beruhigend mit mir. Vielleicht war Meister Philippe aber auch gar nicht bei mir und ich bildete mir dies alles nur ein, verwirrt vom Fieber und zerquält von den vielen Geheimnissen, die ich inzwischen dem Inquisitor gegenüber verborgen hielt.
»Terra perioeci«, hallte es in meinem erhitzten Schädel wie eine magische Beschwörung. Erschrocken hielt ich mir irgendwann den Mund zu, denn ich hatte Angst, dass ich in meinem Fieberwahn diese Worte laut gesprochen hatte. Doch als ich mich mühsam umblickte, da sah ich nur die Kranken zu beiden Seiten und niemanden sonst. Gegen Abend, nach einem weiteren Teller Suppe und einem Löffel eines anderen, weniger bitter schmeckenden Kräutersuds aus der Apotheke von Bruder Malachias, spürte ich endlich, wie die Hitze aus meinem Kopf wich und einer großen, gleichwohl beruhigenden Mattigkeit wich. Während es draußen langsam dunkelte, fühlte ich mich, als hätte ich eine große, schwere Arbeit bewältigt. Ich blickte dem Novizen nach, der durch das Spital ging und einige Talglichter entzündete, welche die fahlen Gesichter von uns Kranken noch weißer schimmern ließen — so, als gehörten wir schon nicht mehr zu dieser Welt, sondern zu jenem Reich, dessen Grenze ein jeder von uns nur einmal überschreitet. Der rasselnde Atem neben mir ging flacher von Stunde zu Stunde. Plötzlich wusste ich, dass der Mönch neben mir die nun anbrechende Nacht nicht mehr überleben würde. Ich betete.
So gingen die ersten Stunden der Nacht dahin. Ich dämmerte, mal lag ich wach, dann schlief ich kurz und tief. Wie aus großer Ferne hörte ich die Glocke, die zu den Vigilien rief. Ein schwaches Läuten - mir, der ich den Atem des bretonischen Mönches hörte, schien es schon die Totenglocke zu sein.
Irgendwann, ich vermag die Stunde der Nacht nicht zu benennen, wurde ich plötzlich hellwach.
Regungslos lag ich auf meiner Pritsche und lauschte. Neben mir vernahm ich das Rasseln des alten Mitbruders, allerdings langsamer und schwächer als zuvor. Zwischen den leisen Atemzügen hörte ich zunächst nichts, doch dann ertönten Schritte. Dann wieder Stille. Lange lag ich so da und horchte. Schließlich hob ich vorsichtig den Kopf. Ich war sicher, dass auf dem Flur vor dem Spital jemand vorbeigeschlichen war, Richtung Kreuzgang.
Lautlos schob ich die kratzige Wolldecke zurück, dann richtete ich mich auf. Mir schwindelte kurz. Ich blickte zu dem bretonischen Mönch hinüber, dessen schlafende Gesichtszüge zerquält waren vom Schmerz. Ich schlug das Kreuz, wagte jedoch nicht, ein Gebet zu murmeln, aus Angst, dass selbst dieses leise Geräusch jemanden auf mich aufmerksam machen könnte. Vorsichtig stand ich auf. Ein Schauder erfasste meinen Körper, als meine nackten Fußsohlen den kühlen Steinboden berührten.
Dann schlich ich los. Wohl zwanzig Schritte waren es bis zur Pforte, die vom Spital auf den Gang hinausführte.
Die ersten zwei oder drei Schritte schwankte ich unsicher, doch dann ließ mein Schwindel nach. Ich sah mich um. Außerhalb der schwachen Lichtkreise, welche die Talgfunzeln warfen, lag das Spital im Dunkeln. Niemand regte sich. Noch zehn Schritte.
Vom Gang her war nichts mehr zu hören. Ich fragte mich, ob mich meine überreizten Sinne getäuscht hatten, doch musste ich mich vergewissern. Noch fünf Schritte.
Würde sich die Pforte geräuschlos öffnen lassen? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie es war, als mich Meister Philippe und der Novize an diesem Morgen in den Raum geleitet hatten, doch war ich zu fiebrig gewesen, als dass ich mich nun noch an Einzelheiten hätte erinnern können. Noch zwei Schritte. »Was machst du da, Bruder Ranulf?«
Gerade noch konnte ich einen Aufschrei unterdrücken. Ich fuhr herum, mein Herz hämmerte, Schweiß perlte auf meiner Stirn. Vor mir stand ein Mönch, die Kapuze weit über den Kopf geschlagen, sodass ich sein Gesicht im schummrigen Licht nicht einmal erahnen konnte.
Ich stotterte unzusammenhängende Worte. »Du fieberst noch«, sagte der unbekannte Mönch. »Wer bist du?«, brachte ich schließlich heraus - und fragte mich zugleich, woher er wusste, wer ich war.
»Ich habe Nachtdienst im Spital«, antwortete der Mönch, doch nannte er seinen Namen nicht. Seine Stimme war tief, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, sie je zuvor gehört zu haben.
Ich zitterte. Meine Zähne schlugen aufeinander und ich schämte mich dafür.
»Komm«, sagte der Unbekannte, »ich geleite dich zurück zu deiner Schlafstatt.«
Er fasste meinen rechten Arm. Seine Hand stützte mich, doch spürte ich, wie fest sein Griff war.
Ich gab auf und ließ mich von ihm zur Pritsche zurückführen. »Du bist gütig«, brachte ich heraus.
Der Unbekannte verneigte sich, als ich mich wieder hinlegte. Dann war er, geräuschlos, wie er erschienen war, wieder verschwunden. Doch ich wusste nun, dass er irgendwo im Dunkel des Spitals war. Keine meiner Bewegungen würde ihm entgehen. So lag ich denn auf dem Stroh und starrte mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit. War dies ein Zufall? War jener unbekannte Mönch tatsächlich der, der er zu sein vorgab? Nichts als ein besorgter, hilfsbereiter Pfleger im Spital?
Oder war er ein Wächter wie jener, dem ich schon einmal des nachts nur knapp entronnen war? Vielleicht gar derselbe? Und wenn ja: Wen oder was mochte er wohl beschützen?
Ich lauschte, ob ich noch einmal auf dem Gang Geräusche hören würde. Doch alles blieb still, Stunde um Stunde, bis es schon hell zu werden begann. Nichts konnte man mehr vernehmen. Irgendwann fiel mir auf, wie vollkommen diese Stille tatsächlich war. Die Atemzüge des bretonischen Mönches neben mir waren erloschen.
*
Den nächsten Tag verbrachte ich im Spital. Einige Brüder hoben den alten Mönch, der in der Nacht gestorben war, auf eine Bahre und brachten seinen Körper hinaus. Später hörte ich dann die Totenglocke läuten und noch später die Glocken, die zur Messe riefen. Unauffällig sah ich zu den Mönchen hinüber, die Dienst im Spital versahen. Ob einer von ihnen der Unbekannte jener letzten Nacht sein konnte?
Mir schienen sie alle zu klein und zu schmächtig dafür, doch sagte ich mir, dass im Dunkeln ein jeder Mensch größer erscheinen mochte, als er bei Tageslicht betrachtet tatsächlich war. Es gelang mir jedenfalls nicht, irgendjemanden als den nächtlichen Pfleger zu identifizieren. Doch ich wagte nicht, nach dem unbekannten Mönch zu fragen. Die Kräuter, die Bruder Malachias mir reichte, stärkten mich. Ich fühlte mich Stunde um Stunde besser. Gegen Abend erlaubte mir Bruder Malachias, die Nacht wieder in meiner Zelle zu verbringen. Ich war erleichtert, nicht noch einmal in der Dunkelheit im Spital ausharren zu müssen - und dabei womöglich wieder dem Unbekannten zu begegnen. Der Prior gab mir zudem einen Dispens für die Nacht, sodass ich nicht an den Gottesdiensten teilnehmen musste. So ging ich denn in meine Zelle zurück, wartete, bis das Kloster still wurde für die Nacht — und entzündete meine Kerze. Wieder studierte ich den
»Liber floribus«. Zugleich bemühte ich mich, auf den Gang hinauszulauschen, ob ich womöglich erneut verdächtige Geräusche hören würde. Vergebens.
Weder fand ich beim zweiten Lesen des Folianten eine Spur, die ich beim ersten Mal übersehen hatte, noch hörte ich im Kloster irgendetwas, das mir verdächtig vorkam.
Deshalb rief ich mich irgendwann zur Ordnung und ermahnte mich, meine Sinne nicht erneut zu überreizen. So fiel ich denn endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen aß ich das Morgenmahl mit meinen Mitbrüdern im Speiseraum, wo mich der eine oder andere mit einem freundlichen, aufmunternden Nicken bedachte. Ich ahnte, dass ich noch blass sein musste, doch erwiderte ich lächelnd die Gesten. Meister Philippe allerdings konnte ich nicht begrüßen, denn er war schon verschwunden — und niemand wusste, wohin.
Zur Terz ging ich wieder in die Kirche, doch danach ruhte ich in meiner Zelle. Ich musste wieder zu Kräften kommen, denn im Kloster würde ich die Geheimnisse, die meine Seele plagten, nicht lösen können. Dabei nutzte ich die stillen Stunden in dem kleinen, kahlen Raum zum Nachdenken.
Ich musste herausfinden, was es mit dem rätselhaften Land namens terra perioeci auf sich hatte. Welche Verbindung gab es von diesem Land — oder von einer Seekarte — zu Nechenja ben Isaak und Heinrich von Lübeck? Hatte Richard Helmstede etwas damit zu tun?
Welche Rolle spielte der Vagant Pierre de Grande-Rue, der den toten Mönch ausgeraubt hatte und der das Messer so beängstigend gut zu führen verstand? Wo mochte er sich versteckt halten? Warum musste der Domherr Nicolas d'Orgemont sterben?
Und hatte Jacquette, die unglückliche Schönfrau, mir wahrhaftig alles gesagt, was sie in jener Nacht gesehen hatte?
Was hatten all die nächtlichen Begebenheiten in meinem Kloster zu bedeuten? Oder war dies alles nur eine Vision meiner irregeleiteten Einbildungskraft?
»Terra perioeci«, murmelte ich. Irgendwie lag hier der Schlüssel zu allen Geheimnissen verborgen.
Ich seufzte und streckte mich auf der Pritsche aus. Am nächsten Tag, so beschloss ich, würde ich zum Kollegium de Sorbon an der Universität gehen. Dort befand sich eine der größten Bibliotheken der Christenheit. Wenn ich in diesen Werken keinen weiteren Hinweis auf die terra perioeci fand — wo dann?
*
Doch kam es am nächsten Morgen anders, als ich es geplant hatte. Es war der Peter-und-Pauls-Tag, der Juni neigte sich seinem Ende zu und die Hitze stand wie ein drückender, unsichtbarer Schleier in den Straßen.
Wieder halbwegs bei Kräften, verließ ich das Kloster und wandte mich nach rechts. Doch hatte ich noch keine drei Schritte getan, als ich die Dienerin von Klara Helmstede erblickte. Wie stets, so vermied sie es auch an diesem Tag, mir in die Augen zu blicken. Mir machte dies nichts aus, vielmehr schlug mein Herz vor Freude bis zum Halse. Sie hatte im Schatten eines Torbogens gestanden und wahrlich auf mich gewartet!
Nun eilte sie zu mir, besann sich dann jedoch darauf, dass es unschicklich und wohl auch zu auffällig wäre, einen Mönch auf offener Straße anzusprechen. So verlangsamte sie ihren Schritt, während auch ich, den Kopf gesenkt, wieder losmarschierte. Wer uns erblickte, mochte denken, dass wir nichts miteinander zu schaffen hatten und nur zufällig nebeneinander unseres Weges gingen. »Meine Herrin wünscht Euch zu sehen«, flüsterte die Dienerin.
»Wann?«, zischte ich zurück und vermochte meinen Jubel kaum zu bezähmen.
»Heute morgen noch«, antwortete sie, dann schritt sie eiliger aus. Ich musste ihr nur folgen, es war nicht nötig, dass wir weitere Worte wechselten.
Ich dachte nicht einen Augenblick daran, Klaras Wunsch nicht nachzukommen. Zwar musste das Kollegium de Sorbon nun warten und ich würde nichts Neues erfahren über die Geheimnisse der terra perioeci, doch größer noch als meine Sehnsucht nach Wissen war an jenem Tag mein Verlangen nach Klara. Ja, dieses hatte sich durch die beiden Tage, da ich krank daniederlag, sogar noch gesteigert — so als ob die Hinfälligkeit des eigenen Körpers, kaum überwunden, in uns eine geradezu unbezwingbare Sehnsucht nach Befriedigung aller körperlichen Gelüste entflammt, statt unseren Geist zu läutern. So folgte ich denn der Dienerin, wobei ich allerdings sorgfältig darauf achtete, stets einige Schritte hinter ihr zu bleiben, sie dabei jedoch nie aus den Augen zu verlieren. Wir gelangten rasch zum Katzenmarkt.
Die Frau ging um das »Haus zum Hahn« herum und betrat eine düstere, kleine Sackgasse. Dort öffnete sie einen Hintereingang zum Anwesen, schlüpfte hinein und ließ die Pforte einen Spalt breit offen. Ich wartete einen Moment, blickte mich rasch um, sah allerdings niemanden, der meiner geachtet hätte. Dann machte ich drei, vier eilige Schritte und schlich wie ein Dieb in Klaras Haus hinein. Drinnen wartete die Dienerin, führte mich eine Stiege bis in das Obergeschoss hinauf und geleitete mich in ein Zimmer. Dann verschwand sie, ohne noch ein Wort an mich zu richten. Ich sah mich um: Der Raum war nicht besonders groß, doch hell, da ein hohes, offenes, zweiflügeliges Fenster, das auf den Katzenmarkt wies, Licht und Luft hereinließ. Schwach drangen von unten die Geräusche der Straße herauf. Auf dem hell gefliesten Boden lag wohl ein Dutzend Schaffelle. Die Wände waren holzvertäfelt und mit schweren Tapisserien aus Brügge behängt, die Jagdszenen zeigten. An einer Wand stand ein mit kostbaren Intarsien verzierter kleiner Tisch, darüber hing ein Spiegel in goldenem Rahmen. Eine mit Blumen bemalte Waschschüssel und ein ebenso dekorierter Krug standen auf dem Tisch, daneben ein verschlossenes Kästchen aus Ebenholz und Elfenbein. Ein leichter, mit Leder bespannter Stuhl war die einzige Sitzgelegenheit. Auf der Fensterbank erblickte ich einen Zinnkrug, der zwölf weiße Rosen enthielt, deren süßer Duft das Zimmer erfüllte.
In der Mitte des Raumes erhob sich eine Bettstatt, wie ich, der Mönch, sie noch nie erblickt hatte: Vier gedrechselte Pfosten aus dunkler Eiche trugen ein mit rotsamtenen Kissen und Decken überladenes Bett, das wohl so groß war wie drei oder vier Klosterpritschen nebeneinander gestellt. Die Pfosten erhoben sich mehr als mannshoch, denn ein Baldachin überwölbte dieses Lager: Ein Dach aus rotem Samt, dessen schwere, mit Goldbrokat eingefasste Vorhänge zurückgeschlagen waren.
Auch wenn ich viele weltliche Dinge noch immer nicht kannte, dies wusste ich doch sofort: Ich stand im Schlafzimmer der Reedersgattin. Mein Herz schlug mir im Halse und ich schluckte schwer vor Aufregung. Doch glücklicherweise quälte mich meine Geliebte nicht lange mit ihrer Abwesenheit. Kaum hatte ich mich umgesehen, da öffnete sich leise die Tür — und Klara stand vor mir. Ich glaubte, etwas sagen zu müssen, doch wollten mir nicht die rechten Worte einfallen - so stotterte ich nur und rang verlegen mit den Händen.
Sie lächelte jedoch bloß und führte einen Finger an ihre Lippen und hieß mich so schweigen. Dann wollte ich sie in die Arme schließen. Doch wieder genügte eine Geste von ihr, um mich in die Schranken zu weisen. Auf einen Schritt durfte ich mich ihr nähern, sodass ich den Duft ihrer Haut einatmen konnte — doch anrühren durfte ich sie nicht.
Dann entkleidete Klara sich.
Mit zwei Schritten, so elegant, wie sie sonst wohl nur Tänzerinnen auszuführen vermochten, streifte sie ihre flachen Lederschuhe ab. Dann hob sie mit einer koketten Geste die Haube mit dem Spitzenschleier vom Haupt, sodass ihr langes, blondes Haar auf ihre Schultern floss. Nun erst sah ich ihr Gesicht ohne den Schleier — und sie lächelte und blickte mich unverwandt an. Dann glitt ihr samtenes Obergewand zu Boden, darauf folgte ihr weiter, schwerer, dunkelroter Rock. Mit einem eleganten Schritt tänzelte sie hinaus aus den Gewändern, die ihr wie eine Fessel um die Füße lagen. Langsam öffnete sie die Schnüre ihres Mieders, wobei sie den Blick nicht einen Augenblick von mir nahm. Zuletzt schwebte ihr Untergewand zu Boden, leicht und lautlos wie eine Feder.
Oh, welches Wunder schuf GOTT doch am Körper des Weibes! Nackt stand Klara Helmstede vor mir. Es war dunkel gewesen in der Gasse, in der ich sie das erste Mal geliebt hatte, sodass ich ihren Körper, wiewohl mir dünkte, ihn schon tausendfach geküsst und gestreichelt zu haben, noch nie wahrhaftig gesehen hatte. Klaras helle Haut war rein und glatt. Zwei Grübchen zierten ihre Schultern am Halsansatz. Ihr Körper war kräftig, doch verunstaltete kein Fett die kleine Wölbung ihres Bauches. Ihre Brüste waren groß und fest, ihre Hüften voll und wohlgeformt.
Noch immer hatte sie kein Wort an mich gerichtet. Nun hob sie in einer spielerischen Geste die Hand und ich verstand: Sie wollte, dass nun auch ich mich entkleidete.
Mir schoss die Röte ins Gesicht, doch war ich ihr zu Willen. Ungeschickt nestelte ich an meiner Kutte und wusste dabei sehr wohl, dass ich mich meines einzigen Gewandes längst nicht so elegant entledigte wie sie sich ihres halben Dutzends.
Doch schließlich stand auch ich so vor ihr, wie ER mich erschaffen hatte. Für einen Moment hielt ich schamhaft die Hände vor meine Männlichkeit, doch dann zog ich sie zurück. Klara sollte sehen, dass ich mich nach ihr verzehrte.
Sie bedeutete mir, mich auf ihr Bett zu legen. Erst als ich mich dort- selbst lang ausgestreckt hatte, kam sie näher. Sie ging langsam und wiegte sich in den Hüften, als genieße sie jeden Schritt. Dann kniete sie sich auf das Bett und ich spürte, wie Kissen und Decken unter ihrem Gewicht ganz leicht nachgaben. Schließlich schwang sie sich in einer fließenden, tänzerischen Bewegung über mich. Doch ihre Knie hatte sie weit gespreizt, ihre Hände ruhten auf zwei Kissen. So lag ich unter ihr, hörte ihren Atem, sah jede Pore ihrer weißen Haut, sog den Duft ihrer Haare ein - und hatte doch noch nicht einmal eine ihrer Fingerkuppen berührt.
Ich vermag nicht mehr zu sagen, wie lange sie sich wohl so über mich gebeugt hatte und mein wollüstiges und quälendes Verlangen genoss. Doch endlich, endlich erlöste sie mich mit einem Kuss und nahm all mein Sehnen in sich auf.
Unde enim scis mulier si virum salvum facies aut unde scis vir si mulierem salvam facies.
*
Für eine Zeitspanne, die man nicht zu messen vermag, nahm Klara mich mit in ein anderes Reich. Weit weg vom lauten, stinkenden Paris, von den Gerüchten über die schreckliche Krankheit im Lande, weit weg von meinem Orden, von Meister Philippe, ja sogar vom toten Heinrich von Lübeck und den quälenden Fragen, die sein Hinscheiden unbeantwortet gelassen hatte.
Später, da ich erschöpft und glücklich auf den Kissen lag und mich Klaras Duft noch einhüllte wie eine unsichtbare Decke, glitt die Reedersgattin aus dem Bett und ging zu dem kleinen Tisch an der Wand hinüber. Dort öffnete sie das kostbare Kästchen und holte einen Flakon aus rotem Glas hervor, der eine farblose Flüssigkeit enthielt. Damit benetzte sie sich zwischen ihren Beinen. »Was tust du da?«, fragte ich erstaunt.
Sie lächelte. »Keine Angst, mein Geliebter«, antwortete sie, »dies ist ein Kräutersud nach einem Geheimrezept meiner alten Magd. Er wird verhindern, dass aus Bruder Ranulf Vater Ranulf wird.« Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich den Sinn ihrer Worte verstanden hatte.
»Aber das ist Hexenkunst!«, rief ich dann — und war doch, ich gestehe es, zugleich erleichtert darüber, dass sie über derartige Zaubermittel verfügte. Denn wie groß erst wäre die Schande, wenn ich, der Mönch und Inquisitor, mit einer verheirateten Frau ein Kind zeugen würde? Und Klara hätte für immer Rang, Vermögen und Ehre verloren. Klara lachte, dann legte sie sich wieder zu mir und schlang einen Arm um mich. »Ihr Männer wisst nichts vom Liebeszauber«, flüsterte sie in mein Ohr. »Und ihr Mönche am wenigsten von allen.«
»Es stünde auch schlimm um die Welt, wenn es anders wäre«, erwiderte ich.
»Es stünde besser um die Welt«, antwortete sie mir schnippisch. »Kennst du viele Geheimnisse der Schwarzen Magie?« Sie richtete sich auf und blickte mir forschend ins Gesicht. »Fragst du mich dies als Inquisitor?«
»Nein«, wehrte ich erschrocken ab, »ich frage dies als dein Geliebter, der will, dass es um die Welt besser steht.«
Da lachte sie und liebkoste mich. »Jakobsmuscheln sind nicht nur Symbol der frommen Pilger. Ihr Fleisch stärkt auch die Leidenschaft«, flüsterte sie. »Und wenn sich ein Weib einen Mann erobern will, so soll sie an ihren unreinen Tagen ihr Blut auffangen, trocknen und es dem Mann ins Essen mischen. Unweigerlich wird er ihr alsbald verfallen.«
Ich blickte sie entsetzt an. »Das hast du getan?«, verwunderte ich mich und schauderte.
Klara lachte. »Oh nein. Zwar weiß ich um diese Künste, doch muss ich sie nicht anwenden. Ich kann auch ohne Magie einen Mann erobern, wenn er mir gefällt.«
»Hattest du etwa schon viele Männer?«, fragte ich und spürte den eisigen Dolch der Eifersucht in meinem Herzen.
Da lachte Klara wieder. Es war ein herausforderndes, wollüstiges Lachen. »Ranulf!«, rief sie. »Sei nicht zornig deshalb, sondern freue dich darüber: Bete für jeden Mann, der mir statt meines würdigen, doch alten Gatten das Bett gewärmt hat. Segne jede meiner begangenen Sünden. Denn wäre ich eine sittsame Kaufmannsfrau, würdest du dann hier an meiner Seite liegen? Und wäre ich unerfahren, wie sollte ich dich dann in der Liebe unterweisen? So gräme dich nicht wegen meiner Vergangenheit, sondern genieße meine Gegenwart!« Dann ließ Klara ihren Worten Taten folgen - und ich betete für ihre früheren Liebhaber, segnete all ihre Sünden und genoss ihre Gegenwart, ohne noch einen weiteren Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft zu verschwenden.
Der heiße Sommerwind wehte den Klang der Mittagsglocken ins Zimmer, als ich mich endlich aus Klaras Bett erhob. »Du musst dich eilen«, drängte meine Geliebte. »Mein Mann wird bald zum Mittagsmahl nach Hause kommen!«
Während wir uns hastig ankleideten, drangen all die Sorgen und Bedrängnisse, die Klara für ein paar Stunden vertrieben hatte, wieder in meinen Geist. Ich war schon fast an der Tür, als ich mich noch einmal umdrehte, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Kennst du ein Land, das man terra perioeci nennt?«, wollte ich wissen.
Falls es Klara erstaunte, dass ihr nach einem Liebesabenteuer eine derartige Frage gestellt wurde, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Sie folgte mir bis zur Zimmertür.
»Nein«, sagte sie, »davon habe ich noch nie gehört.« Doch sie sprach diese Worte zögernd aus, unsicher, so, als klänge dieser Name doch in ihrem Innern nach.
Ich küsste sie. »Denk darüber nach«, flüsterte ich. »Es ist sehr wichtig.«
»Nun«, seufzte sie, »wer sich einen Inquisitor zum Liebhaber erwählt, muss wohl mit solchen Fragen rechnen.«
Sie sinnierte lange. »Mir ist«, sagte sie schließlich, »als hätte ich diesen Namen doch schon einmal gehört. Ich kann mich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern, wann und wo das gewesen sein mag oder was er bedeuten soll.«
So wähnte ich mich denn an diesem Mittag zwar um vieles glücklicher, doch um nichts klüger als am Morgen. Wir nahmen kurz, doch zärtlich voneinander Abschied.
»Ich werde dir meine Dienerin schicken, wenn ich dich wieder empfangen kann«, versprach mir Klara.
»Und ich werde jeden Tag vors Kloster gehen und nach ihr Ausschau halten«, rief ich hoffnungsfroh.
Dann ging ich langsam die Stiege hinab, während meine Geliebte oben im Rahmen der geöffneten Tür stehen blieb und mir nachsah. »Ranulfl«, rief sie, als ich schon an der Hinterpforte war. Ich drehte mich um.
»Ich weiß es wieder«, sagte Klara. »Erinnerst du dich, dass ich dir sagte, dass wir alles verbrannten, was die ›Kreuz der Trave‹ nach ihrer unglückseligen Fahrt an Bord gehabt hatte?«
Starr blieb ich stehen. Mein Mund war plötzlich trocken, als wäre ich durch Ägyptens Wüste gezogen. Unfähig war ich, auch nur ein Wort hervorzustoßen. So nickte ich nur.
»Nun«, sagte Klara. »Wie ich dir erzählt habe, verbrannten wir auch einige Bögen Pergament. Was darauf war, weiß ich nicht, denn ich habe sie mir nicht genau angesehen. Doch an ein Blatt erinnere ich mich, da es mir aufgefallen war, als ich es in die Flammen schleuderte. Denn in großer, steiler Schrift — so, als ob jemand in aller Eile oder höchster Erregung etwas hatte festhalten wollen, jemand zudem, der womöglich nicht allzu häufig zur Schreibfeder griff - standen dort nur zwei Worte quer über der Seite.«
»Terra perioeci«, keuchte ich. »Terra perioeci«, antwortete meine Geliebte.
Wie gerne wäre ich die Treppe wieder hinaufgeeilt, um Klara nach Einzelheiten zu fragen! Doch in diesem Moment vernahm ich Geräusche, die vom anderen Ende des Hauses bis zu mir drangen. Dann sah ich am Ende eines dunklen Flurs das Gesicht der Dienerin. Sie sah mich erschrocken an, dann hob sie warnend die Hand. Es war nicht schwer zu erraten, dass Richard Helmstede soeben sein Haus betreten haben musste. Also schlich ich mich wie ein Dieb — der ich in gewisser Weise ja auch war — durch die Hinterpforte hinaus, während der Reeder vorne durchs Portal pompösen Einzug hielt. Wann würde ich Klara Helmstede wiedersehen? Draußen auf der Gasse blieb ich nicht lange, aus Angst, Richard Helmstede könnte zufällig aus einem Fenster blicken und mich erkennen. Er mochte vielleicht nicht vermuten, dass ich der Liebhaber seiner Gattin war, doch würde er womöglich glauben, dass ihm ein Inquisitor hinterherspionierte.
Erst als ich am Ufer der Seine war, verlangsamte ich meinen Schritt. Auf dem Grand Pont hörte ich zwei Marktweiber, die sich laut über die Seuche unterhielten. Glaubte man den beiden Schwätzerinnen, dann war sie schon in Orleans. Als ich den Namen dieser Stadt vernahm, dachte ich jedoch weniger an den Schwarzen Tod als vielmehr an die Schönfrau Jacquette, der Meister Philippe zur Strafe das Kloster dort angedroht hatte.
Jacquette, Klara Helmstede, Lea … Mir schien, dass die Schicksale dieser drei Frauen, die meiner Seele teuer waren, auf rätselhafte Weise mit meinem Geschick verwoben waren: Löste ich alle mir gestellten Aufgaben, so wären sie wohl behütet. Scheiterte ich, bedeutete es ihren Untergang.
Welch böser Scherz Satans, dass ausgerechnet ich, ein Mann des Glaubens und des Klosters, gleich drei Töchtern Evas beistehen musste, und dass ich glaubte, dies am besten tun zu können, indem ich gegen fast alle Regeln meines Ordens und der Inquisition verstieß! Ich lenkte meine Schritte zur Rue Coupe-Gueule, bis zur Universitas magistrorum et scolarium parisiensum, dem Kollegium des Robert de Sorbon.
Es war ein großer, finsterer Bau, mit wuchtigen Säulen und schmalen, hohen Fenstern. Auf dem Weg dorthin hatte ich mir bereits überlegt, wie ich mir Zugang zur Bibliothek verschaffen könnte. So ging ich nun selbstsicheren Schrittes auf einen Studenten zu, der am Eingang den Dienst als Pförtner versah. Er war ein junger Augustinermönch, der mich nicht eben freundlich musterte, als er meiner gewahr wurde. Die Brüder anderer Orden lieben uns Dominikaner nicht - doch ich gedachte, mir genau jene Mischung aus Abneigung und widerwilligem Respekt zunutze zu machen. »Fax vobiscum. Mein Name ist Ranulf Higden vom Kloster der Dominikaner in der Rue Saint-Jacques«, begann ich meine in Gedanken vorbereitete Rede. Ich bemühte mich, Respekt in meiner Stimme anklingen zu lassen, denn meist fühlen sich die Mönche anderer Orden von uns gering geschätzt.
»Pax vobiscum«, antwortete der Augustiner und deutete eine Verbeugung an. Sein Gesicht zeigte bereits freundlichere Züge. »Willkommen in unserem Kollegium. Womit kann ich dir dienen?«
»Der Inquisitor von Paris schickt mich, Meister Philippe de Touloubre«, log ich. »Ich soll in seinem Auftrag ein Buch studieren, das unsere Bibliothek nicht hat. Er glaubt, dass ich es hier finden könnte.«
Bei der Nennung von Meister Philippe war der junge Mönch blass geworden. Er verneigte sich. »Folgt mir zur Bibliothek, Bruder«, sagte er und sprach dabei unziemlich rasch. Fast war es mir, als wolle er mich so schnell wie möglich loswerden — so als glaube er, dass ich ihm Unglück bringe.
Wir eilten einen düsteren Gang hinunter, der auf einen schönen Innenhof führte, wo ein Springbrunnen murmelte und Rosen in mannshohen Büschen wuchsen. Am Ende dieses Hofes öffnete der Augustiner eine Pforte — und wir traten in einen hohen Raum ein: die Bibliothek.
Zu meiner Rechten, an einer der beiden Schmalseiten der langgestreckten, überwölbten Bibliothek, standen wohl zwei Dutzend eichene Schreib- und Lesepulte im rechten Winkel zu hohen Fenstern, sodass viel Licht auf sie fallen konnte. Bei ungefähr einem Viertel der Raumlänge trennte eine hohe, mit allerlei kundig ausgeführtem Schnitzwerk verzierte Schranke diesen vorderen Arbeitsbereich ab. Dahinter erblickte ich in langen Reihen Kisten über Kisten, mehr, als ich zu zählen vermochte. Alle waren mit schweren Beschlägen und großen Schlössern gesichert — und alle enthielten sie Dutzende Bücher. Hunderte Werke mussten hier liegen, vielleicht sogar ein paar Tausend.
Oh, es war der Himmel der Bücherfreunde, der sich so plötzlich vor mir aufgetan hatte! Endlich war ich im Kollegium des Robert de Sorbon — wenn auch aus ganz anderen Gründen, als ich sie mir erträumt hatte, seit mein Prior mir in Köln eröffnet hatte, dass ich nach Paris gehen durfte.
Ein älterer Mönch, ebenfalls im Habit der Augustiner, stand an einem der Pulte und studierte einen alten, schweren Folianten. Er würdigte mich keines Blickes, so versunken war er in den Text. An einem anderen Pult arbeitete ein junger Franziskaner. Er hatte ein Brevier aufgeschlagen und sich dazu einige Blätter Pergament bereitgelegt. Nun kopierte er den Text des Büchleins - ob er das ganze Werk abschrieb oder nur einige Sentenzen, das vermochte ich nicht zu sagen. Der Franziskaner starrte mich neugierig an, blickte dann jedoch rasch wieder auf sein Pult, als er bemerkte, dass ich ihn ebenfalls musterte.
Ein kleiner, hagerer, hinkender Mann unbestimmbaren Alters öffnete eine Tür in der Schranke und kam aus dem hinteren Teil des Raumes bis zu mir, der ich respektvoll an der Pforte gewartet hatte. Der Mann trug schlichte, schwarze Kleidung, gehörte jedoch nicht zum geistlichen Stand.
Der junge Augustiner an meiner Seite verneigte sich. »Magister Jean Froissart, der Bibliothekar unseres Kollegiums«, stellte er ihn mir vor. Dann zog er sich zurück und bemühte sich nicht länger, seine Erleichterung zu verbergen, meiner Gegenwart entkommen zu sein. Ich wiederholte meine Lüge und fragte dann höflich, ob ich ein Buch sehen dürfe.
»Selbstverständlich, Bruder Ranulf. Es ist mir eine Ehre, der Inquisition zu dienen«, antwortete Froissart.
Seine Stimme klang hoch und gebrochen. Ich hatte sofort den Verdacht, dass er lauter sprach als notwendig gewesen wäre, um den anderen beiden Mönchen anzuzeigen, dass nun ein Inquisitor im Raum sei.
Ich fühlte mich unbehaglich, versuchte jedoch, mir nichts anmerken zu lassen.
»Ich möchte gerne den ›Liber floribus‹ des Lambert von Saint-Omer studieren«, sagte ich.
Ich betete, dass kein Zittern in meiner Stimme mitklang, und hielt vor Aufregung den Atem an.
Froissart blickte mich erstaunt an. »Wie seltsam«, murmelte er. »Was ist daran so seltsam, Magister Froissart?«, stieß ich hervor, nun aufs Höchste nervös.
Der Bibliothekar schüttelte den Kopf. »Oh, denkt nicht darüber nach, Bruder Ranulf. Wahrscheinlich ist es bloß ein eigenartiger Zufall. Es ist nur so, dass dieses Werk wohl ein halbes Jahrhundert lang von niemandem hier gelesen wurde. Und nun seid Ihr schon der zweite innerhalb weniger Wochen, der es zu sehen wünscht.« Ich schwankte leicht, dann fing ich mich wieder. »Ein Zufall, sicherlich«, stieß ich gepresst hervor.
»Ich bringe Euch das Buch«, sagte Froissart und verschwand hinter der Schranke.
Währenddessen suchte ich mir ein Pult, das möglichst weit von jenen entfernt war, welche die beiden anderen Mönche mit Beschlag belegt hatten.
Konnte dies wahrhaftig ein Zufall sein? GOTT, so dachte ich, würfelt nicht. Nichts ist Zufall in dieser Welt. Alles folgt einer Bestimmung.
Doch konnte ich es wagen, Froissart nach jenem anderen Mann zu fragen, der den »Liberfloribus« zu sehen begehrt hatte? Wie sollte ich dies anstellen, ohne seinen Verdacht zu erregen? Ich beschloss, erst einmal das Werk gründlich zu studieren und dann vielleicht, so unauffällig wie möglich, die Identität jenes anderen Lesers zu lüften. Nach einer Weile brachte mir Jean Froissart den »Liberfloribus«. Dazu hatte er sich eine dicke Kladde unter den Arm geklemmt. Nachdem er das Werk auf mein Pult gelegt hatte, öffnete er diese Kladde und trug umständlich das Datum des heutigen Tages, den Titel des Buches und meinen Namen ein. Dann verneigte er sich und überließ mich meiner Lektüre.
Meine Hände zitterten leicht, als ich den »Liber floribus« aufschlug. Dies war ein Exemplar, das in edleres Leder gebunden war als das, welches Lea mir überreicht hatte. Die Initialen auf jeder Seite waren in roter Tinte ausgeführt, die Bildnisse und Zeichnungen feiner und mit sichererer Hand gezeichnet. Doch all dies interessierte mich nicht.
Ich hoffte, dass der Kopist dieser Ausgabe aufmerksamer gewesen wäre als jener, der sich mit dem »Liberfloribus« des Geldwechslers beschäftigt hatte. Denn es ist ja so, dass jedes Buch abgeschrieben werden muss, und wer hätte sich nicht über die Fehler und Nachlässigkeiten eines Kopisten erregt? Wie oft kommt es doch vor, dass ein Schreiber, ermüdet vom stundenlangen Tun und vielleicht auch von der Geistesschwere des Textes, den er zu kopieren hat, ein und dieselbe Zeile zweimal abschreibt und dafür eine andere auslässt! Unzählig die traurigen Beispiele, da selbst in heiligsten Texten Wörter vergessen oder durch andere, dem Schreiber geläufigere ersetzt werden. Manchmal fehlen gar ganze Seiten oder Kapitel, weil der Kopist am Morgen nicht mehr weiß, wo er am Abend zuvor seine Arbeit unterbrochen hat, und das Werk, aus dem er abschreibt, an falscher Stelle aufschlägt!
Ich hoffte sehr, dass auch beim »Liber floribus« aus der Bibliothek des Geldwechslers einem Kopisten ein misslicher Fehler unterlaufen sei. Und dass hier, in der edleren Ausgabe im Kollegium de Sorbon, doch vielleicht mehr zu lesen sei über das rätselhafte Land der Periöken.
Doch es dauerte nicht lange, da ward all meine Hoffnung mehr als bitterlich enttäuscht. Denn wie erschrocken war ich, als ich die Weltkarte aus dem »Liber floribus« aufschlug: Die terra perioeci fehlte! Ich rieb meine Augen und wollte es nicht glauben, doch die Karte zeigte dort, wo jenes Exemplar aus der Bibliothek des Nechenja ben Isaak Land gezeigt hatte, nur unbeschriebenes Pergament. Meine Knie drohten nachzugeben und so klammerte ich mich an das Lesepult und bemühte mich, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Als mein Atem wieder ruhiger ging, besah ich mir die Karte noch einmal genauer. Ich nahm den »Liber floribus« hoch und ließ das Licht aus den Fenstern durch das aufgeschlagene Pergament scheinen. Da erkannte ich es: Jemand hatte mit einem feinen Schabmesser an jener Stelle das schwere Pergament um eine Winzigkeit abgetragen — gerade genug, um die Tinte, mit der dort einst etwas verzeichnet war, auszulöschen.
Jemand hatte die terra perioeci aus der Landkarte des Buches getilgt. Ich betastete das Blatt und fuhr dann vorsichtig mit den Fingerkuppen über das Pergament. Kein Zweifel: Die Ränder an der Ausschabung waren noch hart. Wäre die Austilgung vor Dutzenden oder sogar Hunderten von Jahren gemacht worden, längst wäre die Stelle durch die Feuchtigkeit wieder leicht aufgequollen, längst wären die winzigen Ränder der Schabspuren durch das Gewicht vieler darüber liegender Seiten bis zur Unfühlbarkeit zusammengedrückt worden. Diese Tilgung jedoch war noch gut zu ertasten und konnte deshalb erst vor kurzem von jemandem vorgenommen worden sein. Vorsichtig schloss ich den Folianten und blickte starr geradeaus. Was sollte ich nun tun?
Mir schauderte und es war mir, als habe mich etwas Kaltes, Dämonisches gestreift, etwas unsagbar Finsteres und unendlich Böses. Etwas, das größer ist als der Mensch und doch nicht GOTTES ist. Wie lange ich so dastand und fröstelte, obwohl doch die Sommerhitze auch diese Halle erwärmte, weiß ich nicht mehr. Mich kümmerte nicht, ob mich die anderen Mönche anstarrten oder nicht. Endlich wachte ich aus meiner Erstarrung auf, griff mir den »Liber floribus« mit einer fast zornigen Geste und trug ihn vom Pult bis zur Schranke. Dort eilte mir Magister Froissart entgegen, die Kladde bereits unter dem Arm.
»Wer hat dieses Buch vor mir gelesen?«, fragte ich. Ich gab mir keine Mühe mehr, mir eine Täuschung auszudenken, es war mir gleichgültig, was der Bibliothekar von meinem Begehr hielt — solange er mir nur gehorchte.
Jean Froissart zögerte kurz, doch dann zuckte er mit den Achseln. »Ich werde es für Euch nachsehen, Bruder Ranulf«, sagte er kühl. Er blätterte eine Weile in der Kladde, dann nickte er und wies mit dem Finger auf eine Zeile.
»Da, seht!«, rief er. »Ich erinnere mich noch, denn es war außerordentlich spät am Abend, als jemand dieses Buch zu sehen wünschte. Ich selbst war nur noch durch einen Zufall hier und wollte gerade die Bibliothek abschließen. Doch er bestand darauf und so brachte ich es ihm.«
»Wer war es?«, fragte ich atemlos.
»Ein Dominikaner«, antwortete Froissart. »Sein Gesicht sah ich nicht, denn es war ja, wie ich Euch sagte, bereits spät. Nur Kerzen erhellten zu jener Stunde den Raum. Euer Mitbruder hatte seine Kapuze hochgeschlagen, sodass seine Züge im Dunkeln lagen, doch er hat mir ja seinen Namen gegeben. Lest selbst!« Und ich las: »Heinrich von Lübeck«.
*
Ich war nicht wirklich überrascht. Irgendwie hatte ich schon erwartet, diesen Namen zu finden. Wer sonst hätte es sein können? Doch brachte mich diese Erkenntnis der Lösung aller Rätsel auch nur einen Schritt näher? Nein, im Gegenteil: Es addierte nur ein neues Geheimnis zu jenen vielen hinzu, die mich bereits quälten.
Ich lächelte resigniert und wollte Jean Froissart schon danken und mich müden Schrittes aus der Bibliothek entfernen, ratlos und geschlagen — da stutzte ich.
»Gebt mir noch einmal Eure Kladde, Magister Froissart!«, bat ich den Bibliothekar.
Dieser reichte sie mir bereitwillig und ich studierte noch einmal den Eintrag über Ausgabe und Rücknahme des »Liber floribus«. Irgendetwas kam mir seltsam vor, obwohl doch alles seine Richtigkeit zu haben schien. Den Titel des Werkes las ich und den Namen seines Verfassers; dann Heinrich von Lübeck als denjenigen, der diesen Folianten zu lesen wünschte; dann das Datum, an dem er dies tat. Das Datum.
Der Eintrag war mit dem Tag des Sankt Quirinus datiert — jenem Tag, an dem wir den entseelten Körper Heinrichs von Lübeck gefunden hatten.
Wer auch immer an jenem späten Abend den »Liber floribus« ausgeliehen und darin den Hinweis auf das Land der Periöken getilgt hatte: Heinrich von Lübeck konnte es nicht gewesen sein, denn der war zu jener Stunde bereits tot.
Zum ersten Mal kam mir der Verdacht, dass Heinrich von Lübeck nicht allein gehandelt hatte. Bislang hatte ich geglaubt, dass es eine einsame Leidenschaft gewesen sein musste, die ihn angetrieben hatte. Eine Leidenschaft, die es zu ergründen galt, dann wäre auch das Rätsel um seinen Tod gelöst. Vielleicht, so vermutete ich bis zu jenem Augenblick, hatte allenfalls auch der Reeder Richard Helmstede seine Finger mit im Spiel gehabt.
Was aber, wenn stattdessen mehrere meiner Mitbrüder etwas mit jenen finsteren Geschichten zu tun hatten? Ich musste an die beunruhigenden nächtlichen Vorfälle im Kloster denken. War Heinrich von Lübeck Teilnehmer jener Treffen zur düsteren Stunde? Oder kam er diesen Versammlungen, gleich mir, eher zufällig auf die Spur — und musste deshalb sterben? Mir schauderte.
Doch selbst wenn ich glauben mochte, dass einer meiner Mitbrüder irgendwie in das Ende Heinrichs von Lübeck verwickelt war, so erklärte mir dies weder die anderen Untaten noch die Bedeutung jenes mysteriösen Landes terra perioeci.
Ich verabschiedete mich von Jean Froissart und verließ das Kollegium. Doch draußen wusste ich nicht weiter. Die Hitze drückte mich nieder. Ich hatte seit Stunden nichts gegessen und getrunken und fühlte mich deshalb schwach und ausgedörrt. Ziellos ging ich durch die Gassen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Doch ich kam nicht weit. Noch auf der Place Maubert gewahrte ich eine Menge. Ich hörte abscheuliche Worte und sah, wie ein paar Marktweiber faulige Apfel warfen. Neugierig trat ich näher — und erbleichte.
Ein paar junge Burschen hatten einen Mann gepackt, den ich zunächst für einen der ihrigen hielt - doch dann erblickte ich das gelbe, aufgenähte Judenmal auf seinem Wams. Die Umstehenden feuerten die Burschen an, die den Unglücklichen übel mit Schlägen und Tritten quälten.
»Sein Blut komme über ihn!«, schrie jemand. »Blut, Blut!«, riefen viele andere.
Und wahrhaftig floss dem Juden bald roter Lebenssaft aus einer Stirnwunde über das Gesicht. »Brunnenvergifter!«, hörte ich aus der Menge.
»Ihr schickt uns den Tod, weil ihr uns Christen hasst!«, keifte ein Marktweib und schleuderte, da ihr die fauligen Äpfel wohl ausgegangen waren, Dung nach dem Juden.
Die Burschen zerrten ihr Opfer bis zur Croix Hemon, dem großen, steinernen Kreuz auf dem Platz. Dort drückten sie sein Gesicht gegen das Bildnis und zwangen ihn so, das Kreuz zu küssen.
Es wäre wohl schlimm ausgegangen mit dem jungen Juden, wenn ich mir nicht ein Herz gefasst hätte und vorgetreten wäre.
Als sie meiner Kutte ansichtig wurde, verstummte die Menge. Die Burschen blickten verlegen zu Boden und ließen von dem Juden ab.
Ich war klug genug zu schweigen. Kein Wort des Vorwurfs oder der Ermahnung richtete ich an die Menschen. Wozu auch? Sie fürchteten sich vor der Seuche - und sie suchten jemanden, an dem sie ihre Angst auslassen konnten. Was hätten da Worte genutzt? Hätte ich denn die Seuche abwehren können? Hätte ich allen Sündern Vergebung versprechen dürfen?
So stand ich einfach da, das Haupt demütig gesenkt, die Hände gefaltet. Diese stumme Geste bewirkte wohl mehr, als es das wohlgesetzteste Wort vermocht hätte; sie säte Unsicherheit in die Herzen der Menschen und vielleicht auch Reue über ihr Tun. Der eine oder andere murmelte einige Sätze, die ich lieber überhörte, doch niemand hob mehr die Hand wider den Juden oder gar wider mich. Die Marktweiber waren die ersten, die zu ihren Ständen zurückkehrten, dann zerstreuten sich auch die anderen. Zuletzt machten sich die Burschen davon, in einer Eile, dass man schon sagen konnte, sie flohen vor mir.
Oh HERR, groß war noch immer die Respekt heischende Macht des Habits der Dominikaner und gefürchtet war die Inquisition! Gepriesen seist DU, dass DU mir in jenem Moment beistandest, obwohl ich doch der unwürdigste Mönch war im Orden des Heiligen Dominicus.
Der Jude stand benommen auf und wischte sich das Blut von der Stirn. Ich sah, dass er mir danken wollte, doch hob ich die Hand, bevor er den Mund öffnen konnte. Noch immer hatte ich kein Wort gesprochen und ich gedachte, meinen unfreiwilligen Auftritt nun auch schweigend zu Ende zu bringen. So segnete ich ihn, drehte mich um und ging langsam vom Platz in eine dunkle Gasse, die zur Seine hinunterführte.
Die Sünde des Hochmuts fraß an mir, denn ich war stolz auf mich. Ich glaubte, dass ich recht gehandelt hatte. Zugleich jedoch nagte Furcht an meinem Herzen, denn ich ahnte, dass mit jedem Tag, da die Krankheit Paris näherkam, der Hass der Menschen wuchs. Sollte GOTT nicht bald ein Wunder tun, dann würde auch ein Inquisitor nicht mehr helfen können — den Juden nicht und auch niemandem sonst.
*
Dieses unheilschwangere Abenteuer klärte aber immerhin auf geheimnisvolle Weise meinen Geist. Ich strebte nun eilig einem neuen Ziel zu, auch wenn sich mein Leib danach sehnte, endlich auf einer Pritsche ruhen zu dürfen.
Als ich den Hafen erreicht hatte, ging ich ohne Umschweife zur »Kreuz der Trave«. Nachdem ich mich mit einem Blick vergewissert hatte, dass Richard Helmstede nirgends an Deck zu sehen war, betrat ich die Planke, die an Bord der Kogge führte. Ich kümmerte mich dabei nicht um die erstaunten Gesichter einiger Matrosen, die eine große, eisenbeschlagene, doch - besah ich mir die Körperhaltung der Männer und ihre wenig angespannten Mienen — offensichtlich leere Truhe an Bord schleppten. Geradewegs ging ich auf den Steuermann Gernot zu, der auf dem Achterdeck stand und mich unsicher anstarrte — so, als schwante ihm Unheil.
»Ihr wollt Paris bald verlassen?«, fragte ich ihn nach einer kurzen Begrüßung. Ich wusste ja längst, dass die Kogge bereit gemacht wurde für eine lange Reise.
»Das mag wohl so sein, Herr«, antwortete Gernot zittrig. »Das mag wohl so sein«, ahmte ich ihn nach, ehrlich empört. »Meister Gernot, Ihr seid der Steuermann dieses Schiffes. Und Ihr wollt mir sagen, dass Ihr nicht einmal wisst, ob die ›Kreuz der Trave‹ demnächst die Leinen ablegt? Was tun denn Eure Matrosen seit einigen Tagen an Bord? Streichen sie nicht den Rumpf? Nähen sie nicht die Segel? Und sah ich nicht gerade noch einige Männer, die eine große Kiste an Bord brachten? Wozu das alles — wenn nicht, weil eine lange Reise bevorsteht?«
»Senkt eure Stimme, ich flehe euch an, Herr!«, antwortete da der Steuermann und rang die Hände. »Sonst laufen mir noch meine Männer weg!«
Ich sah ihn verwundert an. »Ihr wollt mir sagen, sie laufen davon, wenn sie einen Mönch hören, der die Stimme hebt?«
»Sie haben Angst, Herr. Sie — nein, wir alle haben Angst. Es ist so …« Er bat mich mit einer respektvollen Geste, ihm bis ans Ende des Achterschiffes zu folgen — so weit entfernt von den mittschiffs arbeitenden Matrosen wie möglich.
»Selbstverständlich weiß ich, dass wir die ›Kreuz der Trave‹ seeklar machen«, fuhr der Steuermann nun fort. »So lauteten ja auch die Anweisungen von Herrn Helmstede. Es ist nur so, dass …« Er zögerte lange und seufzte dann tief. »Dass wir weder wissen, wann wir ablegen sollen, noch, wohin die Reise geht. Und Ihr kennt ja die Geschichte von der letzten Fahrt dieser Kogge. Nun fürchten die Männer …«
»…eine Reise zur Hölle«, vollendete ich. »Nun, Gernot, seid versichert: Wenn Ihr einen Inquisitor anlügt, dann reist Ihr ganz sicher zur Hölle.«
Er hob abwehrend die Hände, dann schlug er hastig ein Kreuz. »Nein, ich schwöre es bei der Seele meiner Mutter: Ich weiß nicht mehr über diese Reise als das, was ich Euch bereits gesagt habe.« So kam ich denn, unauffällig genug, wie ich hoffte, auf das eigentliche Anliegen meines Besuches auf der Kogge zu sprechen. »Vielleicht segelt Ihr zum Land der Periöken?«, fragte ich. Gernot sah mich mit erstaunten Augen an. »Wo soll das liegen, Herr?«
»Ihr kennt es nicht?«, erwiderte ich enttäuscht. »Ich habe nie davon gehört.« Nun floss der Schweiß in dicken Strömen von seinem Haupt. »Sagt, ist dies das Land des Satans?«
»Nein«, rief ich hastig und schlug nun meinerseits das Kreuz. »Das glaube ich nicht. Ich hatte nur gehört, dass es ein fernes Land sei. Und da die ›Kreuz der Trave‹ für eine weite Reise vorbereitet wird, dachte ich, dass ihr Ziel vielleicht dort läge. Es war nur so ein Gedanke von mir, der ich noch nie zur See gefahren bin.«
Der Steuermann schüttelte den Kopf. »Ich habe von Meerjungfrauen gehört und von riesigen Kraken, die aus den Tiefen emporsteigen und Schiffe verschlingen. Von bretonischen Fischern hörte ich, die Wale jagen und mitten im Ozean tote Ratten treiben sahen. Und von Gras, das auf den Wogen wächst und Segler festhält, bis die Mannschaft an Bord verdurstet ist.
All dies habe ich selbst noch nie gesehen und hoffe auch, es niemals zu erleben. Doch gehört habe ich schon davon. Das Land der Periöken aber kenne ich nicht. Noch nie hat jemand zu mir von diesem Land gesprochen«, versicherte er erneut. »Und ich glaube nicht, dass Schiffe dorthin segeln. Zumindest keine Schiffe der Christenheit.« Ich nickte und dankte ihm. Niedergeschlagen wollte ich schon die Kogge verlassen, weil sich wieder eine Spur, der ich zu jenem geheimnisvollen Land der Periöken gefolgt war, in Nichts aufgelöst hatte.
Dann, einer Eingebung folgend, drehte ich mich an der Planke noch einmal um und rief den Steuermann mit einer Geste zu mir. »Traut Ihr mir, Gernot?«, fragte ich ihn mit leiser Stimme, sodass uns niemand belauschen konnte.
»Ja, Herr«, versicherte der vierschrötige Steuermann eifrig und nickte dabei so stark, dass sein wallendes, rotes Haar am Kopf züngelte wie Flammen.
»Gut, dann müsst Ihr mir etwas versprechen.«
»Alles, was Ihr befehlt, Herr!«
»Sorgt Euch nicht«, beruhigte ich ihn. »Ich möchte nur, dass Ihr mir eine Botschaft zukommen lasst, sobald Euch Herr Helmstede sagt, wann die Reise losgeht — und wohin sie Euch führen soll. Könnt Ihr nicht selbst kommen, dann schickt mir Euren vertrauenswürdigsten Matrosen. Der Segen des HERRN wird auf dieser Fahrt ruhen, wenn Ihr Euch nur rechtzeitig offenbart.«
»Das werde ich«, versprach Gernot der Steuermann und legte zur Bekräftigung seine massige Hand auf das Herz.
*
Müde schlich ich schließlich zurück zum Kloster in der Rue Saint-Jacques. Ermattet war ich von den Spielen der Sünde, zu denen mich Klara Helmstede verführt hatte; erschöpft an Geist und Seele von den immer neuen Rätseln, die sich mir auftaten; niedergedrückt von der Hitze und der Angst und dem Zorn, die in den Straßen herrschten. Doch später, in meiner Zelle, wollte ich keinen Schlaf finden. Ich hatte mich mit Wasser und Brot gestärkt und mit meinen Brüdern die vorgeschriebenen Gottesdienste besucht. Den Staub hatte ich mir von den Füßen gewaschen. Bruder Malachias hatte mir in Augen und Rachen geblickt und mich für wieder vollständig genesen befunden. Meister Philippe war nirgendwo zu sehen, niemand wusste, wo er sich befand. Ich hätte mich ohne schlechtes Gewissen auf meine Pritsche legen und meine müden Glieder ausstrecken können. Doch ich fand keine Ruhe. Während draußen das Dunkel der Nacht wie eine Decke Paris überwölbte, lauschte ich nach verdächtigen Geräuschen. Das Kloster jedoch schlief und war still wie eine Gruft. Ich dachte an die Reedersgattin und erinnerte mich unserer Stunden der Wollust. Doch selbst dies vermochte meinen unruhigen Geist nicht abzulenken. Ständig quälte mich die eine Frage: Was bedeutet terra perioecp.
Seeleute, so viel glaubte ich nun sicher zu wissen, kannten dieses Land nicht. War es also ein Reich, das nur in der Fantasie existierte? Aber warum hätte es dann jemand aus einem alten Manuskript tilgen sollen? Warum sollte ein sterbender Mönch gerade diesen Namen mit seinem Blut schreiben? Doch wenn es kein Land war, das Seeleute ansteuern konnten — was mochte sich dann dahinter verbergen? War es ein Rätselwort? Musste ich nur die Buchstaben anders ordnen, um zur wahren Bedeutung vorzustoßen?
Ich folgte diesem Gedanken eine Zeit lang und schrieb in meinem Geist wohl eine Stunde oder mehr die Buchstaben der beiden Wörter in immer neuer Reihenfolge nieder — vergebens. Schließlich wusste ich mir keinen anderen Rat, als zu hoffen, in anderen Büchern eine neue Spur zu entdecken. Wie viele Werke über Geografie mochte es geben? Ich hatte mich stets für die Theologie interessiert, weniger für die Beschaffenheit dieser Welt. So konnte ich die Zahl gelehrter Werke in diesem Feld nicht schätzen. Mochten es Dutzende sein? Hunderte?
Die Bibliothek des Nechenja ben Isaak, der solcherart Bücher, wie seine Tochter mir verraten hatte, zu schätzen wusste, umfasste wohl mehr als einhundert Folianten. Gerne wäre ich zu ihm gegangen und hätte sie in aller Ruhe studiert. Doch konnte ich es wagen, jetzt, da die Bürger jeden Juden mit mehr als nur dem althergebrachten Hass verfolgten, bei einem jüdischen Geldwechsler einzukehren? Was mochte geschehen, wenn mich jemand sähe?
Hätte ich eine offizielle Begründung gehabt, es wäre sicherlich einfach gewesen. Als Inquisitor hätte ich sagen können, dass ich weitere Spuren in den Todesfällen verfolgte. Doch ich hatte ja gerade versprochen, den Geldwechsler und seine Tochter, wenn es mir irgendwie möglich war, von den Händen der Inquisition fernzuhalten. Nein, ich durfte Lea und ihren Vater nicht gefährden. Also blieb mir nur, zum Kollegium de Sorbon zurückzukehren. Auch dort mochten wohl viele Werke über Geografie zu finden sein. Vielleicht, so hoffte ich, würde eines von ihnen mir einen neuen Hinweis enthüllen.
Es war wohl schon beinahe Mitternacht, da ich endlich Ruhe im Geiste fand. Ich griff zur Heiligen Schrift, um die Worte des HERRN in meine Seele zu lassen, bevor meine Augen sich schlössen. Über der Offenbarung des Johannes schlief ich endlich ein. Ich weiß noch, welche Sätze es waren, denn ich träumte gar viel von ihnen in jener Nacht. Da ich nicht an Zufälle glaube, war es sicherlich ein Zeichen GOTTES, das er mir sandte. Ich aber war blind und erkannte es damals nicht, obwohl es mir doch heute so deutlich scheint wie die Sonne am helllichten Tag:
Et vidi alium angelum fortem descendentem de caelo amictum nube et iris in capite eins etfacies eins erat ut sol et pedes eins tamquam columna ignis et habebat in manu sua libellum apertum et posuit pedem suum dextrum supra mare sinistrum autem super terram et clamavit voce magna quemadmodum cum leo rugit et cum clamasse locuta sunt septem tonitrua voces suas.