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Mein Plan, am nächsten Tag in Büchern nach dem Land der Periöken zu suchen, ging wieder nicht auf. Stattdessen musste ich durch Ströme von Blut waten. Nach dem Morgenmahl erblickte ich endlich wieder Meister Philippe. Der Inquisitor eilte auf mich zu; seine Kutte war staubbedeckt, sein Gesicht gerötet.
»Fühlst du dich wieder wohl, Bruder Ranulf?«, fragte er mich. »Ja«, antwortete ich. Freude und Schrecken zugleich durchfuhren mich. Freude, da ich ahnte, dass ich endlich wieder mit Meister Philippe auf die Jagd nach dem Verbrecher gehen durfte. Schrecken, weil es inzwischen so viele Dinge zu verheimlichen galt, dass ich mich schon fürchtete, mit dem Inquisitor zu sprechen — aus Angst, dass mich ein unbedachtes Wort verraten könnte.
Sollte ich ihm von der terra perioeci berichten? Doch wie ich es auch in meinem Geiste wenden mochte, mir fiel keine Geschichte ein, mit der ich ihm zwar von jenem geheimnisvollen Land hätte berichten können, gleichzeitig jedoch jede Anspielung auf die Tochter des Geldwechslers oder gar die Gattin des Reeders vermieden hätte. Es stellte sich allerdings sogleich heraus, dass ich auch gar keine Zeit hatte, mir eine Ausrede einfallen zu lassen. Denn der Inquisitor nickte nur erfreut und fasste meinen Arm, um mich aus dem Speisesaal zu drängen.
»Wir müssen uns eilen!«, flüsterte er.
»Warum?«, wollte ich wissen, während wir schon in unziemlicher Hast durch den Kreuzgang eilten und ich spürte, wie einige Mitbrüder uns misstrauische Blicke zuwarfen.
»Während du mit deiner Krankheit gerungen hast«, erklärte Philippe de Touloubre, ohne dabei jedoch seinen Schritt zu verlangsamen, »habe ich von einem der Spitzel, die regelmäßig für die Inquisition arbeiten, einen Hinweis auf Pierre de Grande-Rue erhalten.«
»Den Vaganten?«, fragte ich erstaunt. Ihn hatte ich inzwischen fast vergessen.
Meister Philippe nickte grimmig. »Endlich glaubt jemand, ihn gesehen zu haben. Er soll bei einem Fleischer untergekommen sein und sich in den großen Schlachthöfen verstecken.«
Ich verzog angeekelt den Mund. »Ein wahrhaft teuflisches Versteck, denn welcher Mensch würde schon freiwillig an solch einen grausigen Ort gehen?«
»Wir werden dorthin gehen. Und zwar sofort!«, verkündete der Inquisitor und bedachte mich mit einem sardonischen Lächeln. Ich schlug ein Kreuz und wappnete mich — meine Suche nach dem Land der Periöken musste ich wohl oder übel auf einen anderen Tag verschieben.
*
Während wir die Rue Saint-Jacques Richtung Seine hinuntereilten, fragte ich mich, ob der Vagant etwas mit der terra perioeci zu tun haben könnte. Doch was? Mochte es ein »Land der Vaganten« geben? Oder ein Lied, in dem jenes geheimnisvolle Reich beschrieben wurde? Wir eilten über den Petit Pont, die Insel im Schatten von Notre-Dame und schließlich den Grand Pont. Auf der anderen Seite der Seine wandten wir uns nach rechts, ließen die Place de Greve hinter uns und eilten einen schmutzigen, doch angenehm schattigen Weg entlang, der »Ufer der Ulmen« genannt wurde.
Unterwegs blickte ich mich unauffällig zum Hafen um: Dort ragte noch immer der Mast der »Kreuz der Trave« auf. Ich sah ein paar Matrosen an Deck stehen, doch hatten sie offenbar nichts mehr zu tun. Richard Helmstede und der Steuermann Gernot waren nirgends zu erblicken. Mein Herz schlug schneller vor Freude und Wollust, denn solange die Kogge in Paris blieb, solange durfte ich hoffen, die Gattin des Reeders wiederzusehen.
Je länger wir entlang der Seine stromaufwärts gingen, desto ärmlicher wurden die Häuser am Uferweg. Ginster, Brennnesseln und Brombeeren wucherten nun am Rande des Weges. Der Boden war schlammig und selbst in der Sommerhitze standen noch kleine Tümpel fauligen Wassers, deren Miasmen schrecklich stanken. Doch dies alles war nichts im Vergleich zu dem, was sich unseren Augen und Nasen schließlich bei den Schlachthöfen bot. Diese bestanden aus einigen großen, grob aus Ziegeln und Eichenbalken zusammengefügten Hallen am Ufer der Seine. An der dem FIuss abgewandten Seite öffnete sich ein unregelmäßig geformter, staubiger Platz vor den Gebäuden.
Hier erblickte ich Bauern, Stallknechte und allerlei zwielichtige Gestalten, die gebundene Rinder, Schweine, Ziegen, Kaninchen, Hühner und auch manches verletzte oder alte Pferd mit groben Worten und noch gröberen Schlägen zu den Schlachthöfen trieben. Noah selbst wird niemals ein derart erbärmliches Klagen vernommen haben! Die Protestlaute der größeren Tiere klangen mir wie das verzweifelte Flehen erwachsener Menschen in den Ohren, die Schreie der kleineren Tiere gemahnten mich an das Weinen von Kindern. Dieses animalische Klagen und die menschlichen Flüche und Spottworte, das Rumpeln eisenbeschlagener Karrenräder auf Steinpflaster und das markerschütternde Brüllen, das aus dem Innern der Schlachthöfe drang, bildeten zusammen einen derart infernalischen Lärm, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Noch schlimmer war jedoch die andere, die der Seine zugewandte Seite der Schlachthöfe. Denn hier war alles voller Blut: Aus offenen Steinrinnen und tönernen Rohren ergoss sich beständig der Lebenssaft der Tiere aus dem Gebäude auf den Uferstreifen, der wohl auf hundert Schritte Länge braunrot war und noch morastiger als andernorts. Auch sah ich überall Innereien und hin und wieder gar einen abgeschlagenen Ochsenschädel. Rot färbte sich das Wasser der Seine und dünne Blutfäden wurden von der Strömung mitgetrieben, Richtung Place de Greve und Notre-Dame.
Es stank so sehr, dass ich kaum zu atmen wagte. Dicke, schillerndschwarze Fliegen standen in großen, dunklen Wolken über dem roten Boden und den schauderlichen Hügeln aus verwesenden Gedärmen. »Lasst uns gehen und den Prévôt royal bitten, ein paar Sergeanten hierher zu schicken. Die mögen nach dem Vaganten suchen«, flehte ich Meister Philippe mit erstickender Stimme an. Doch der schüttelte nur grimmig den Kopf. Dann schlug er sich die Kapuze hoch und legte eine Falte des Stoffes über seinen Mund. »Sie würden sich schaudernd abwenden, wie du dich auch am liebsten abwenden würdest«, gab mir der Inquisitor schließlich zur Antwort. Seine Stimme klang dumpf hinter der groben Wolle seiner Kutte. »Die Sergeanten würden dann melden, dass sie niemanden gefunden haben, auf den die Beschreibung des Pierre de Grande-Rue zutrifft. Und sie hätten dabei nicht einmal gelogen - denn wer nicht sucht, der wird auch nichts finden.«
Er schüttelte den Kopf und kam näher. »Es hilft uns nichts und niemand: Wir selbst müssen hier nach dem Vaganten Ausschau halten.«
»Wo sollen wir anfangen zu suchen?«, fragte ich — und gleich darauf wurden meine schlimmsten Befürchtungen war. Der Inquisitor deutete auf die erste Halle der großen Schlachthöfe, aus deren Innern die Schreie sterbender Tiere erklangen und die Blutströme quollen, die in der Seine versickerten. »Pierre de Grande-Rue, so heißt es doch, versteht das Messer zu führen wie niemand sonst. Wenn er tatsächlich hier Unterschlupf gefunden hat - dann an dem Ort, wo Messerstecher gebraucht werden wie nirgends sonst!«, rief der Inquisitor grimmig. Keiner achtete zunächst unser, als wir uns den Schlachthöfen näherten und unsere Schritte auf eine kleine Pforte zu lenkten. Auch ich hatte mir inzwischen die Kapuze vors Gesicht geschlagen. Ich hatte gehofft, meinen Atem so lange als möglich anhalten zu können, sodass ich nur selten gezwungen war, einen neuen Zug jener infernalischen Luft in meinen Körper zu saugen. Doch ich war erregt und der Wollstoff vor meinem Mund hinderte mich. So keuchte ich denn heftig, als hätte ich große Anstrengung hinter mir. Die Pforte erschien mir, kaum, dass ich sie durchschritten hatte, wie ein Zugang zur Hölle. Düster war es hier, denn Licht fiel nur durch wenige, zudem verschmutzte Fenster hoch in den Wänden. Es war so heiß wie in einer Schmiede. Hunderte Männer erblickte ich, welche die Tiere, die den Tod rochen und in Panik davonstieben wollten, roh zu hölzernen Bänken zerrten. Menschen und Tiere schrieen so laut, dass ich glaubte, mein Kopf müsse platzen.
An den Schlachtbänken standen Männer, die nur mit zerlumpten Beinkleidern angetan waren. Ihre Gesichter, ihre Hände und Arme, ihre nackten Oberkörper waren blutrot, als wären sie Dämonen. Sie schwangen lange Messer oder kurzstielige Beile, mit denen sie rasch Kehlen durchschnitten oder Köpfe abschlugen - je nachdem, wie ihnen die Häscher das Tier darboten. Das Blut der sterbenden Tiere bespritzte die Schlächter. Was nicht auf ihrer Haut kleben blieb, das tropfte von den Bänken in steinerne Wannen, von denen die Rinnen gespeist wurden, die ich draußen erblickt hatte. Übelkeit stieg in mir hoch und ich glaubte, ich würde meine Sinne verlieren. Doch der Inquisitor sah sich ungerührt um, dann stieß er mich an. Er deutete auf einen der Schlächter.
»Pierre de Grande-Rue«, zischte Meister Philippe. Seine Stimme zitterte vor Triumph.
Auf den ersten Blick vermochte ich den Hünen in einer der hinteren Schlachtreihen kaum von den anderen unterscheiden, so über und über war auch er mit Blut bedeckt. Doch dann sah ich, dass er außergewöhnlich groß war, kräftig und dick, dass er rote Haare hatte und einen roten Bart; in seiner Rechten hielt er ein Messer, das noch länger war als das der anderen Männer, die hier ihrem finsteren Gewerbe nachgingen.
Doch kaum hatten wir einen Schritt tiefer hineingetan in den Schlachthof, da blickte der Mann zufällig auf. Als er unserer Kutten gewahr wurde, stieß er einen gurgelnden Schrei aus - und schleuderte sein Messer in unsere Richtung.
Für einen Moment, der kaum mehr als ein Augenzwinkern gedauert haben konnte und mir doch wie eine kleine Ewigkeit vorkam, sah ich das schillernde, scharfe blaue Eisen genau auf mich zufliegen. Ich war starr vor Schreck.
Dann spürte ich einen harten Stoß in die Rippen, der mich zur Seite warf. Ich stürzte auf den schmierigen Boden — und dort, wo ich eben noch gestanden hatte, steckte das lange Messer zitternd in einem Eichenbalken. »Bist du unverletzt?«
Ich sah das Gesicht des Inquisitors, der sich über mich gebeugt hatte. Zum ersten Mal zeigten seine Züge Angst.
»Ihr habt mir das Leben gerettet, Meister Philippe!«, keuchte ich, während ich mich zugleich mühte, wieder auf die Beine zu kommen. »Hättet Ihr mich nicht gestoßen, dann …«
Der Inquisitor hob die Hand. »Genug!«, rief er nur. »Wir müssen ihn fangen!«
Ich blickte zu den Schlachtbänken: Pierre de Grande-Rue war verschwunden.
»Hinterher!«, befahl Meister Philippe.
Wir achteten nicht länger unserer Würde, rafften die Kutten hoch und rannten los. Vorbei an schwitzenden Ochsen, lahmenden Pferden und wild flatternden Hühnern, vorbei an Bauern, die angstvoll das Kreuz schlugen oder uns Hohnworte hinterherschleuderten, vorbei an der Reihe der Schlächter, die in ihrem mörderischen Tun innehielten. »Wohin ist er gelaufen?«, schrie der Inquisitor sie an. Da deutete einer auf eine offene Pforte, die in die Rückwand eingelassen war, direkt neben einer Blutrinne.
Wir rannten dorthin, traten hinaus ins Freie und versanken im braunroten Morast.
Der Vagant war nirgends zu sehen.
»Dort entlang!«, rief der Inquisitor. Er deutete auf Fußspuren, die in dem weichen Boden deutlich auszumachen waren. Wir folgten ihnen entlang der Rückwand des Schlachthofes. Ich stolperte und fiel in den Schmutz. Meister Philippe eilte mir davon.
Doch selbst er blieb stehen, als er ans Ende der Wand gelangt war. Die letzte Spur zeigte an, dass Pierre de Grande-Rue auf den Vorplatz gerannt sein musste, doch im Gedränge aus Mensch und Tier war er nirgends auszumachen. Ratlos sahen wir uns um, dann gingen wir auf gut Glück über den Platz.
»Wir haben ihn verloren«, sagte ich schließlich resigniert. Meister Philippe nickte, doch schien er nicht sonderlich enttäuscht zu sein. »Geduld ist eine Tugend, die einem Inquisitor wohl ansteht«, ermahnte er mich. »Haben wir erst einmal eine Spur, dann haben wir auch irgendwann den Sünder. Ich habe Katharer und andere Ketzer zur Strecke gebracht — und ich glaube nicht, dass dieser Vagant hier verschlagener ist, als jene es waren. Wir werden ihn finden!«
So kehrten wir denn, besudelt mit Blut und Dreck und stinkend nach Tod und Verdammnis, zum Kloster zurück, nachdem wir das Messer des Vaganten aus dem Balken gezogen hatten. Auf dem Weg in die Rue Saint-Jacques wollte ich Meister Philippe noch einmal dafür danken, dass er mir durch seinen Stoß das Leben gerettet hatte, doch er lächelte nur, segnete mich und sprach: »Es war der HERR selbst, der meine Hände führte. Denn mein Geist wusste nicht einmal, was ich da tat, so schnell ging alles vonstatten. Mir scheint, als habe ER noch Großes mit dir vor. Warum sonst hätte ER dich behütet?«
*
Die nächsten beiden Tage führte mich Meister Philippe wieder zu den Schlachthöfen. Mir schauderte beim Anblick dieses finsteren Ortes und ich zitterte, wenn ich die Schlachtermesser sah. Außerdem brannte ich darauf, endlich die Spur vom Land der Periöken weiter zu verfolgen. Doch blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem Inquisitor zu fügen.
Wir fragten einige Schlächter und Knechte aus und erfuhren so, dass sich der Mann, der vor uns geflohen war, tatsächlich Pierre de Grande-Rue nannte. Niemand allerdings wusste mehr über ihn zu sagen, denn er arbeitete erst seit wenigen Tagen an den Blutbänken. Und niemand vermochte uns zu verraten, wo der Vagant wohnte. Ihn selbst erblickten wir in jenen beiden Tagen nicht. Auch die Männer, die wir befragten, schworen, dass sie ihn seit jener Flucht nicht mehr gesehen hatten.
»Es ist, als hätte er schon gestanden!«, sagte Meister Philippe trotzdem triumphierend am zweiten Abend unserer vergeblichen Suche in den Schlachthöfen. »Flieht jemand vor einem Inquisitor, dann gilt dies bereits als Eingeständnis seiner Schuld.«
»Ich würde jedoch gerne auch ein Geständnis in Worten hören«, wagte ich zu erwidern. »Denn ich bin gespannt auf das, was uns der Vagant zu berichten hat.«
Da lachte Meister Philippe und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Er wird uns alles erzählen, Bruder Ranulf. Nur Geduld!« Wir waren schon in der Rue Saint-Jacques, nur noch wenige Schritte von unserem Kloster entfernt, als ich im Schatten unter dem Erker eines Hauses einer Gestalt gewahr wurde: Dort stand eine schlanke, offensichtlich junge Frau, die trotz der drückenden Hitze einen hellen Schleier um das Haupt trug. Als ich an ihr vorbeischritt, hob sie mit ihrer Linken kurz den feinen Stoff — und ich erkannte Lea, die Tochter des Geldwechslers. Ich wäre vor Überraschung fast gestolpert.
»Verzeiht, Meister Philippe«, stammelte ich, »ich bin etwas ermüdet.« Der Inquisitor lächelte mir gütig zu. »Du wirst gleich ruhen dürfen, Bruder Ranulf«, erwiderte er.
Während wir an die Klosterpforte klopften, blickte ich mich rasch noch einmal um: Lea hatte den Schleier wieder vor ihr Gesicht gelegt. Sie wartete im Schatten des Hauses.
Ich sah, dass sie wieder keinen gelben Flicken auf ihrem Gewand trug. So fiel sie zwar weniger auf, wenn sie durch die Straßen ging, doch ausgerechnet vor dem Kloster der Dominikaner, der Heimstatt der Inquisitoren, ein derartiges Risiko einzugehen …! Sollte sie jemand erkennen, würde sie unweigerlich im Kerker enden. Schweiß brach mir aus, denn ich wusste, dass ich mich beeilen musste. Jeder Augenblick, den ich zögerte, vergrößerte die Gefahr für die junge Jüdin.
Also verabschiedete ich mich im Kreuzgang von Meister Philippe und ging gemessenen Schrittes in meine Zelle. Dort zählte ich im Geiste bis einhundert, dann spähte ich vorsichtig wieder auf den Gang. Niemand war zu sehen.
Also eilte ich zurück, durchmaß den Kreuzgang und grüßte an der Pforte den alten Portarius. »Meister Philippe schickt mich noch auf einen Botengang«, erklärte ich ihm, da mir auf die Schnelle keine bessere Ausflucht einfallen wollte. Dann war ich draußen. Gemessenen Schrittes ging ich die Rue Saint-Jacques hinunter Richtung Seine. Ich sah mich nicht um, doch spürte ich, wie sich Lea, kaum dass ich sie passiert hatte, aus dem Schatten an der Hauswand löste und mir dichtauf folgte.
»Ich bin so froh, dass wir kurz miteinander sprechen können«, flüsterte sie.
»Wir haben nur ein paar Augenblicke Zeit«, erwiderte ich. Dann setzte ich, weil dies so kaltherzig klang, eilig hinzu: »Aber auch ich freue mich, dich wieder zu sehen.« Und dies war keine Lüge.
Es war schön, die junge Tochter des Geldwechslers hinter mir zu wissen, auch wenn ich nicht wagte, den Kopf zu wenden. Nur gelegentlich, mit einem Blick aus den Augenwinkeln, erhaschte ich eine Bewegung ihres grazilen Körpers; ihre fein geschnittenen Züge waren unter dem Schleier gänzlich verborgen.
Vielleicht waren es diese Reize des Weibes, die mich, nachdem ich erst ein paar Schritte getan hatte, eine Entscheidung treffen ließen. Vielleicht war es aber auch ein Gefühl, das mir sagte, allein die kluge und mutige Jüdin könne mir nun noch helfen. Jedenfalls entschloss ich mich, Lea das zu enthüllen, was ich selbst dem Inquisitor Meister Philippe verschwiegen hatte.
In wenigen, hastigen Worten erzählte ich ihr, unter welchen Umständen ich den Namen terra perioeci gelesen hatte. Ich berichtete vom »Liberfloribus« aus der Bibliothek ihres Vaters — und von jener Handschrift aus dem Kollegium de Sorbon, in der jemand jeden Hinweis auf das geheimnisvolle Land getilgt hatte.
Wir waren bis zum Petit Pont gelangt, als ich mit meiner Geschichte zu Ende war. Ich verharrte einige Augenblicke am Ufer, dann ging ich langsam wieder zurück; Lea folgte mir stets. Ich konnte nur hoffen, dass wir keine Aufmerksamkeit erregten.
»Bruder Ranulf, ich danke Euch für das Vertrauen, das Ihr in mich setzt«, flüsterte die junge Jüdin und Freude durchströmte mich ob dieser lobenden Worte.
Memores estote uxoris Loth. Quicumque quaesierit animam suam salvare perdet illam et qui perdiderit illam vivificabit eam. »Was soll ich nun tun?«, setzte sie dann hinzu. »Ihr müsst mir helfen«, bat ich. »Geht in die Bibliothek Eures Vaters und studiert dort alle Bücher. Sucht nach der Terra perioeci. Auch der kleinste Hinweis mag wichtig sein. Auch der unbekannteste aller Gelehrten, ja selbst die der Häresie verdächtigen Autoren mögen uns etwas mitteilen, das uns helfen kann, das Geheimnis zu lösen. Eilt abends, so wie heute, vor das Kloster, wenn Ihr etwas entdeckt habt. Ich werde Euch finden und mit Euch sprechen können. Derweil werde ich die Bibliothek des Kollegiums de Sorbon aufsuchen und dort ebenfalls nach gelehrten Werken suchen, die ein Licht werfen könnten auf jenes Land.«
Lea schwieg, da uns gerade ein paar Marktweiber passierten, doch sah ich aus den Augenwinkeln, dass sie zustimmend nickte. »Noch etwas«, flüsterte ich, als die Frauen außer Hörweite waren. »Hat Euer Vater je etwas mit einem Vaganten zu schaffen gehabt, der sich Pierre de Grande-Rue nennt?«
Die junge Jüdin war so beherrscht, dass sie selbst bei dieser Frage, die ihr sicherlich seltsam dünkte, keine Überraschung zeigte. »Vaganten haben keine Scheu, mit Juden zu reden«, antwortete sie. »Und sie kommen viel herum. So zahlen Geldwechsler ihnen hin und wieder kleine Summen, damit ihnen das Fahrende Volk Neuigkeiten bringt. Über Armut und Reichtum in fremden Städten etwa oder wo sich gute Handwerker finden lassen oder welcher hohe Herr sich mit den Vaganten auf Glücksspiele und dergleichen einlässt. Auch mein Vater lädt manchmal Vaganten in sein Haus. Doch ich kenne deren Namen nicht, denn diese Leute stellen sich einer Frau nicht vor und mein Vater vermeidet es, mit mir über sie zu sprechen.«
»Ich meine einen Vaganten, der sehr groß und dick und dabei kräftig ist. Er hat feuerrote, wilde Haare und einen ebensolchen Bart. Wer ihn einmal gesehen hat, der vergisst seine Erscheinung nicht mehr.«
Lea dachte ein paar Augenblicke nach. »Nein«, gab sie schließlich zur Antwort, »ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Mann gesehen zu haben, auf den Eure Beschreibung zutrifft. Doch ich könnte versuchen, meinen Vater unauffällig nach seinem Wissen über die Vaganten auszufragen«, entbot sie.
»Tut das«, antwortete ich und hätte gerne noch mehr Worte an sie gerichtet.
Doch da sah ich zwei Mitbrüder, die mir entgegenkamen. Ich senkte das Haupt, ging jedoch weder schneller noch langsamer. Lea musste die Mönche ebenfalls gesehen haben — und verstand sofort. Sie folgte mir noch eine kurze Wegstrecke, dann bog sie in eine Seitengasse ein. So verschwand sie lautlos hinter meinem Rücken, ohne dass wir uns voneinander verabschieden konnten. Ich traf meine Mitbrüder genau vor der Klosterpforte. »Pax vobiscum«, murmelte ich. Zusammen mit den beiden Mönchen, die sich nicht überrascht zeigten, mich in der Abendstunde noch auf der Straße zu sehen, trat ich dann ein.
Doch als ich mich schon in Sicherheit wähnte, fuhr mir der Schrecken in die Glieder. Es war im Kreuzgang, den ich langsam durchschritt — und wo mir plötzlich Meister Philippe entgegenkam.
»Hast du noch einen kleinen Spaziergang unternommen, Bruder Ranulf?«, fragte mich der Inquisitor höflich. »Kannst du keine Ruhe finden?«
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Waren dies nur die freundlichen, besorgten Worte eines älteren Mitbruders oder hatte der Inquisitor etwas geahnt? Hatte er mich gar auf der Straße gesehen und bemerkt, wie mir die verschleierte junge Frau gleich einem Schatten gefolgt war? Würden sich seine scharfen Augen überhaupt von Leas Gewändern täuschen lassen? Hatte er mich also gar gesehen — und wusste zugleich, mit wem ich gesprochen hatte? Sollte ich ihm nun die Wahrheit sagen - oder sollte ich weiter lügen? Ich entschloss mich zur Lüge.
So murmelte ich denn etwas von meiner Besorgnis über die wirren und gefährlichen Ereignisse im Schlachthof und versicherte Meister Philippe, dass ich meine Ruhe nun jedoch wiedererlangt hätte. In unziemlicher Hast nahm ich dann meinen Abschied und eilte zu meiner Zelle. Dort lehnte ich mich an die Wand und atmete tief durch. Ich fühlte mich erschöpft. Und zugleich zitterte ich, denn dies war mir nun klar: Ich hatte den Verdacht des Inquisitors erregt.
*
Der nächste Tag war der des Apostels Thomas. Ein neuer, heißer Julimorgen brach gerade an. Ich war dankbar für die Kühle der Kirche, in der ich mich, noch schlaftrunken, zur Prim einfand. Doch kaum erklangen die Stimmen der Brüder zum ersten Hymnus, entstand Unruhe an der Pforte unseres GOTTEShauses. Ein Novize drängte sich herein, schlich zum Platz von Meister Philippe und flüsterte diesem etwas ins Ohr. Der Inquisitor unterbrach seinen Gesang, dann gab er mir mit der Hand ein Zeichen, ihm zum Ausgang der Kirche zu folgen.
Ich wagte nicht, ein Wort zu sagen, sondern ging schweigend hinter Meister Philippe her bis zum Kreuzgang. Als ich dort ankam, schauderte ich, als hätte ein Engel der Finsternis seinen eisigen Flügel über mein Gesicht hinwegschweben lassen. Denn dort stand jener große, bärtige Sergeant, der uns einst zum toten Heinrich von Lübeck geführt hatte.
»Verzeiht, dass ich Euch aus der Kirche holen lassen musste, Ihr Brüder«, begann er und verneigte sich. Sein Atem stank noch stärker nach Knoblauch, als ich es von unserer letzten Begegnung in Erinnerung hatte. Man sah ihm an, dass ihn ein schlechtes Gewissen plagte und vielleicht auch die Furcht vor uns oder jemand anderem. »Ich muss Euch sagen, dass wir soeben die Schönfrau Jacquette gefunden haben.«
Ich schloss die Augen und schickte ein stummes Gebet zu IHM.
Einen Moment war mir, als hätte sich meine Befürchtung bestätigt und die junge Dirne wäre in die Hände ihrer Häscher gefallen.
Doch es kam noch schlimmer.
»Sie ist tot«, setzte der Sergeant tonlos hinzu.
Ich schwankte, als hätte mir jemand aufs Haupt geschlagen.
»Fühlst du dich nicht wohl, Bruder Ranulf?«
Wie aus großer Ferne vernahm ich die Stimme des Inquisitors.
»Es ist nichts, Meister Philippe«, antwortete ich. »Mich schwächt nur die drückende Hitze.«
Von all den Lügen, die ich dem Inquisitor bis dahin schon erzählt hatte, war keine wohl weiter von der Wahrheit entfernt als diese. »Es ist nichts!« Dabei war mir, als habe man mir das Herz aus dem Leib gerissen. Denn wiewohl ich der jungen Dirne niemals beigewohnt, ja sie kaum einmal mit der Kuppe eines Fingers berührt hatte, war sie mir doch zur ersten Frau in meinem Leben geworden. Ja, bei ihrem Anblick hatte ich wie nie zuvor an die Sünde der Wollust gedacht, sie hatte mich, genau wie es unsere Kirchenväter beschrieben, auf den Abweg geführt, der nun mein Seelenheil bedrohte. Und doch: Ich war glücklich in ihrer Nähe gewesen und geehrt durch ihr Vertrauen. Ein Vertrauen, das sie mir vergebens entgegengebracht hatte. Denn ich hatte sie nicht schützen können. Ich hatte ihr keinen Ausweg gewiesen, nicht aus ihrer Seelenpein und nicht aus Paris, wo ein dunkler Schatten sie bedrohte. Stumm betete ich für ihre Seele und hoffte, dass Jacquette trotz aller ihrer Sünden in SEIN Reich eingegangen war und teilhatte an SEINER Herrlichkeit.
Dann ermannte ich mich. »Ich fühle mich stark genug für diesen Weg, Meister Philippe«, sagte ich laut. Meine Stimme zitterte, doch ich versuchte, energisch zu nicken.
»Gut«, antwortete der Inquisitor, nachdem er mich einen Augenblick lang gemustert hatte, »folgen wir dem Sergeanten!«
Der massige Uniformierte führte uns quer durch die Stadt. Fahl war der Himmel über Paris, noch gab kein Windhauch eine Erfrischung in der lastenden Hitze. Doch fern im Westen stand ein schwarzer Strich am Horizont — und ich hoffte, dass es Wolkentürme seien, die ein Gewitter bringen würden, das uns abkühlte.
Und uns von allem Schmutz und allen Sünden reinwusch.
»Sie haben sie am Baudets-Tor gefunden«, sagte der Sergeant. »Es ist noch keine Stunde her.«
»Wer hat Jacquette entdeckt?«, fragte Meister Philippe. »Ein Färber namens Durant de Brie«, bekam er zur Antwort. »Er wohnt im ›Haus zum Bären‹ neben dem Tor und hat sie gesehen, als er ans Fenster trat.«
»War sie da schon tot?«
Das Gesicht des Sergeanten rötete sich noch stärker als zuvor. »Das haben wir nicht gefragt, Herr. Doch wir haben den Färber festgehalten. Er wird Euch Auskunft geben können.«
Wir legten den Rest des Weges schweigend zurück. Es ging über die Seine, vorbei an Notre-Dame, wo ich Jacquette das erste Mal gesehen hatte. Am anderen Ufer schritten wir bis zur Rue Saint-Antoine, wo wir uns gen Osten wandten. Kurz vor der Stadtmauer führte uns der Sergeant in eine Gasse, die parallel zur großen Straße bis zur Befestigung lief und dort in ein kleines Tor mündete. »Die Porte Baudets«, sagte der Uniformierte und deutete nach vorne. Wir waren im Viertel der Gerber und Färber und es stank nach verwesendem Fleisch, nach fauligem Leder und nach Urin und all den anderen Ingredienzen, mit denen Tierhäute zu feinen Schuhen, weichen Handschuhen und zu Pergament verarbeitet werden. Nur ein paar Schritte entfernt Richtung Seine-Ufer lagen die Schlachthöfe, wo wir Pierre de Grande-Rue aufgespürt und wieder aus den Augen verloren hatten.
»Da liegt sie«, sagte der Sergeant. »Wir haben sie nicht angerührt.« Ich wollte die Augen schließen und konnte es doch nicht. Wie durch böse Magie gebannt starrte ich zu jener Stelle: Es war eine Nische in der Stadtmauer, kaum zwei Armlängen tief und nur wenig breiter, ein paar Schritte neben dem Baudets-Tor.
Jacquette lag dort auf dem staubigen Boden. Die junge Schönfrau war auf dem Rücken ausgestreckt, beide Arme waren vom Körper weggebogen. Man hätte denken können, sie schliefe tief - wären ihre Augen nicht weit aufgerissen gewesen und hätten starr in die Unendlichkeit geblickt. Ihr wirres, offensichtlich seit Wochen ungewaschenes braunes Haar hatte sich wie ein Schleier um ihr Haupt gelegt. Ihr Körper erschien mir noch magerer als das letzte Mal, da ich sie gesehen hatte. Doch das mochte auch daran liegen, dass sich ihr Brustkorb nun nicht mehr hob und senkte. Ihre rechte Brust war entblößt, denn das schäbige Gewand war dort zerfetzt, doch erkannte ich dies erst bei genauerem Hinsehen. Braunrot eingetrocknetes Blut hatte sich darüber ergossen. Es war aus einem tiefen, breiten Stich oberhalb der Brust geflossen.
Qui enim mortuus est iustificatus est apeccato. »Verzeih mir, Jacquette!«
So sprach ich in Gedanken zu ihr, während der Inquisitor ihren toten Körper schweigend umkreiste. »Du warst die geringste aller Dirnen - und doch hätte ich dich freudiger beschützt als selbst den Papst. Doch ich habe versagt. Ich war zu schwach, um dir beizustehen in deiner Stunde der Not. Ich war nicht klug genug, den dunklen Schatten aufzuspüren, der dich belauert hat. Aber ich schwöre dir bei allen Heiligen: Ich werde diesen Schatten finden und er soll auf dem Scheiterhaufen brennen!«
Während ich dies dachte, zuckte kein Muskel in meinem Gesicht. Meister Philippe sollte denken, dass ich schweigend und bewegungslos wartete, bis er seine Beobachtungen abgeschlossen hatte. Als der Inquisitor sich endlich wieder aufrichtete, trat auch der dünnere der beiden Sergeanten zu uns, den ich ebenfalls schon am Schauplatz jenes Mordes getroffen hatte, der mich in die düsteren Verwicklungen von Paris hineingezogen hatte.
»Sie wird in der Nacht gestorben sein«, sagte Meister Philippe leise. Dann gab er dem neu hinzugetretenen Sergeanten einen Wink. »Geh und hol mir den Bader Nicolas Garmel! Er mag noch mehr sehen als ich es hier tue.«
Während sich der Uniformierte eilig auf den Weg machte, wandte sich Meister Philippe an mich. »Was denkst du, Bruder Ranulf? Was ist geschehen?«
Ich schluckte und hoffte, dass meine Stimme weder Trauer noch Rachedurst verriet. »Jacquette mag versucht haben, durch eines der kleineren Stadttore aus Paris zu entkommen«, antwortete ich. Je länger ich sprach, desto ruhiger wurde ich. Es war, als würden mir die klaren Überlegungen den Kopf frei machen von den Nebeln der Leidenschaft. War dies vielleicht der Grund, warum der Inquisitor mich um meine Meinung bat?
»Wenn sie fliehen wollte, dann hat sie vielleicht jemand abgefangen und umgebracht. Vielleicht hat sie sich auch all die Tage im Viertel der Gerber und Färber versteckt gehalten. Schließlich sind die Miasmen hier ungesund, vor allem im Sommer mit seiner Hitze. Hier werden die Sergeanten weniger genau gesucht haben als andernorts. Trotzdem ist es von hier aus kein allzu langer Weg zu den Gassen um Notre-Dame, wo sie die Männer fand, die für ihre Dienste zahlten. Dann mag es Zufall sein, dass sie am Baudets-Tor erstochen wurde. Kein Zufall jedoch ist ihr Tod. Er zeigt uns, dass derjenige, der sie gesucht hat, sie am Ende auch fand.«
Ich holte tief Luft. »Und wer immer der Schönfrau nach dem Leben trachtete: Es war jemand, der mit einem Messer zustach. Diesmal, anders als bei Heinrich von Lübeck, zeigen die Hände keine Wunden. Mag sein, dass die Dirne ihren Mörder kannte und nicht erwartete, dass dieser eine Waffe zückte. Vielleicht hat sie ihn für einen der Männer gehalten, denen sie zu Willen sein musste.
Es mag aber auch sein, dass der Mörder sie überraschte und ihr keine Zeit mehr blieb, sich zu wehren. Zum Beispiel…« Lange zögerte ich, dann sprach ich meinen Verdacht aus. »Zum Beispiel, indem er mit dem Messer nicht zustieß - sondern es warf. Die Schlachthöfe sind nicht weit. Und so, wie Pierre de Grande-Rue dort das Messer nach mir geschleudert hat, so könnte er es auch nach der Schönfrau geworfen haben. Nur dass sie keinen Freund hatte, der sie aus der tödlichen Bahn der Waffe stieß.«
Ich konnte nicht mehr weitersprechen, denn nun überkamen mich doch Reue und Scham.
Der Inquisitor nickte. »Du hast viel gelernt, mein junger Bruder. Bedenken wir noch, dass auch der sündige Domherr Nicolas d'Orgemont aus dem Leben gerissen worden ist, dann bleibt nur eine Schlussfolgerung: Der Mörder Heinrichs von Lübeck hat diejenigen umgebracht, die Zeugen seiner schändlichen Tat waren.«
»Allerdings haben weder der Domherr noch die Schönfrau sagen können, wer Heinrich von Lübeck erstochen hat«, wagte ich nach kurzer Überlegung einzuwerfen.
Meister Philippe nickte. »Das ist wohl gesprochen. Doch weiß dies auch der Unhold, den wir suchen? Immerhin hat uns Jacquette doch so viel sagen können, dass wir auf die Spur des Vaganten Pierre de Grande-Rue gekommen sind. Ist er also der Mörder?«
»Es scheint mir so zu sein«, antwortete ich nachdenklich. »Er hat zudem sein Messer nach uns geschleudert. Mich schaudert es, doch mag es sein, dass er auch uns, die wir ihm auf den Fersen sind, nach dem Leben trachtet. Die Kutten werden uns nicht schützen. Er hat schon bewiesen, dass er nicht einmal davor zurückschreckt, einen Mönch zu erstechen. Und einen Domherren von Notre-Dame, falls er auch diese Untat begangen hat.«
Der Inquisitor strich sich bedächtig über die Wange. »Nur eines verstehe ich nicht«, murmelte er. Dann leuchtete wieder die Jagdlust in seinen Augen auf. Sein Gesicht und seine Stimme verrieten, welche Freude er daran hatte, dass sich ihm ein neues Rätsel auftat, kaum dass wir glaubten, ein altes gelöst zu haben.
»Warum«, fuhr Meister Philippe schließlich fort, »sollte Pierre de Grande-Rue diese schrecklichen Taten verübt haben? Die Morde am Domherren und an der Schönfrau - gut, da mag er unliebsame Zeugen für immer zum Schweigen gebracht haben. Doch warum die allererste Todsünde? Warum sollte ein Vagant aus der französischen Provinz, der eher zufällig nach Paris gelangt ist, einen Dominikaner aus Deutschland, der auch erst seit kurzer Zeit in der Stadt weilt, niederstechen? Zumal es dem Täter offenbar nicht um Geld ging, denn die Münzen — ein weiteres Rätsel - trug Heinrich von Lübeck ja noch bei sich.«
In diesem Moment kamen gleich mehrere Männer auf uns zu: Der hagere Sergeant in Begleitung des Baders Nicolas Garmel. Und aus Richtung der Rue Saint-Antoine stürmte, gefolgt von einigen Wachen, Ambroise de Lore auf uns zu. Dem Prévôt royal stand die Zornesröte im Gesicht, sodass seine Züge leuchteten wie Blut — ebenso wie seine scharlachrote Amtstracht.
»Ist dies die Hure, die den Mord an dem Mönch beobachtet hat?«, fragte er, kaum dass er angelangt war. In seiner Erregung hielt es der Prévôt nicht für notwendig, einen von uns zu grüßen. »Dies war die Schönfrau Jacquette. Sie war die beste Zeugin, die wir hatten«, antwortete der Inquisitor gelassen.
»Wer hat ihr das angetan?«, wollte de Lore wissen. »War es der Verfluchte, der auch den Dominikaner entseelt hat?«
»Das ist möglich«, gab Meister Philippe zurück. Da fluchte der Prévôt so lästerlich, wie es seiner Stellung wahrlich nicht geziemte. »Meister Philippe!«, rief er. »Ihr wisst doch, wie es in Paris gärt! Ihr kennt die Gerüchte von der Seuche draußen im Land. Ihr wisst, dass das Volk Blut sehen will - von den Juden oder von sonst jemandem. Wenn es nach mir ginge, könnten sie ruhig alle Juden verbrennen, doch Ihr wisst, dass es dabei nicht bleiben wird, wenn das Volk erst einmal Gefallen gefunden hat am Töten und Plündern. Und Ihr wisst, dass viele Bürger glauben, all das Unglück habe mit der ungesühnten Mordtat an einem Mann GOTTES begonnen.
Was, glaubt Ihr, wird nun geschehen, wenn das Gerücht die Runde macht, dass der Mörder des Mönches wieder zugeschlagen hat? Dass er nicht nur frei herumläuft, sondern auch noch neue Opfer sucht? Ihr wisst, dass ich keine Boten mehr über Land schicken kann, weder zum König noch zum Papst. Zu unsicher sind die Straßen in Frankreich geworden, zu allgegenwärtig ist der Tod. Doch ich schwöre Euch: Wenn Paris brennen sollte, dann müsst auch Ihr Mönche ans Sterben denken! Denn der Zorn des Volkes wird dann keine Grenzen kennen.«
»Dessen bin ich mir bewusst«, antwortete der Inquisitor — und ich meinte, eine Spur von Spott in seiner Stimme zu vernehmen. »Misitque et decollavit Iohannem in carcere et adlatum est caput eins in disco et datum est puellae et tulit matri suae.
Wollen wir unterdessen den Bader befragen? Mag sein, dass er Spuren sieht, die uns zum Mörder führen, bevor Euer Palast und unser Kloster in Flammen aufgehen.«
Meister Philippe wandte sich an Nicolas Garmel. Er erzählte ihm kurz, welchen Verdacht wir hegten. Besonders betonte er, dass die Schönfrau möglicherweise nicht durch ein gestoßenes, sondern durch ein geworfenes Messer niedergestreckt worden war.
»Sieh dir die Schönfrau gut an«, ermahnte er ihn schließlich. »Gut möglich, dass es hier noch mehr zu entdecken gibt.«
In diesem Moment ließ uns ein machtvolles, lang gestrecktes Grollen erzittern. Dann wurde der Himmel finster — so finster, möchte ich glauben, wie er zur letzten Stunde war, da unser Heiland noch am Kreuze leiden musste.
»Das Gewitter ist da«, flüsterte der Prévôt und schlug ein Kreuz.
Die ersten, schweren Regentropfen klatschten auf das Pflaster. »Eile dich!«, ermahnte der Inquisitor den Bader. »Bevor das Wasser Spuren wegwäscht.«
»Ich muss die Tote dafür entkleiden, Meister Philippe«, gab Garmel zu bedenken. Der dicke Bader schwitzte stark - ob vor Anstrengung in der drückenden Hitze oder vor Aufregung, das vermochte ich nicht zu sagen.
»Dann tue es hier, auf der Straße. Sofort! Wir werden uns ein paar Schritte zurückziehen, auf dass wir ihren entblößten Körper nicht in Augenschein nehmen müssen.«
Mit diesen Worten gab der Inquisitor uns ein Zeichen. Der Prévôt und ich folgten ihm bis unter das Baudets-Tor, wo wir vor dem Regen ein wenig geschützt waren. Die Uniformierten schlugen ihre Mäntel schützend über ihre Häupter und bildeten einen Kreis um den Bader und die Tote, auf dass kein Neugieriger ihnen zu nahe käme. Doch diese Maßnahme war überflüssig, denn wieder grollten Donner heran. Blitze zuckten über den schwarzen Himmel. Wie aus dem Nichts kam plötzlich ein kühler Wind auf, der uns erschauern ließ. Dann öffneten sich die Schleusen des Himmels. Der Regen stürzte dicht und schwer zu Boden - so dicht, dass ich den Bader kaum noch sehen konnte und den Körper der dahingeschiedenen Schönfrau gar nicht mehr. Er war so schwer, dass ein Klatschen und Dröhnen einsetzte, das alle anderen Laute erstickte. Wie verlorene Statuen standen die verhüllten Wächter bewegungslos im Unwetter. Und wir drei Gestalten, die wir uns unter das Tor drängten, verharrten in tiefstem Schweigen.
Wohl eine halbe Stunde mochte vergangen sein, bevor der Bader zu uns kam. Nicolas Garmel war nass, als wäre er in die Seine getaucht worden, doch trotz des Regens und der Kühle glühte sein Gesicht rot. »Es ist, wie Ihr gesagt habt, Meister Philippe«, verkündete er. »Die Schönfrau ist erstochen worden. Es ist gut möglich, wenn auch durch nichts zu beweisen, dass das tödliche Messer geschleudert wurde.« Der Inquisitor nickte. »Ist die Wunde von dem gleichen Messer gerissen worden wie bei Heinrich von Lübeck?«
Der Bader kratzte sich am Haupt. »Das kann ich nicht sagen, Herr.
Ganz sicher war es auch diesmal ein Messer, kein Schwert, keine Lanze, kein Spieß, keine Axt. Doch ob es tatsächlich dieselbe Waffe war - das zu bestimmen vermag ich nicht.«
»Hast du sonst noch etwas gefunden?«
»Die Schönfrau muss Hunger gelitten haben, denn sie war sehr mager. Ich entdeckte zudem etliche Wunden und Narben von älteren Verletzungen, vor allem an den Armen und am Rücken. Doch ich fand nichts, das ihr in den letzten Stunden ihres Lebens beigebracht worden wäre.«
»Trug sie etwas bei sich?«, wagte ich einzuwerfen. Nicolas Garmel schüttelte den Kopf. »Nein, nicht einmal einen Sous. Auch keinen Schmuck. Nur die elenden Gewänder, die sie am Leibe hatte. Nicht einmal Schuhe.«
Das verwunderte mich. Denn die wenigen Male, die ich Jacquette gesehen hatte, war sie zwar ärmlich gekleidet, doch hatte sie stets Holzpantinen an den Füßen gehabt.
»Also wollte sie nicht aus Paris fliehen«, sagte ich zu dem Inquisitor. »Denn hätte sie dies vorgehabt, dann wäre sie doch sicherlich nicht ohne Schuhe losgezogen.«
»Aber warum sollte sie ohne Schuhe durch Paris gegangen sein?«, wandte Meister Philippe ein.
Ich dachte nach — und plötzlich hatte ich ein ebenso klares wie schreckliches Bild vor meinem inneren Auge. Ein Bild, das mich schaudern ließ.
»Jacquette ist verfolgt worden!«, rief ich. »Jemand hat ihr irgendwo aufgelauert oder sie bedroht. Da ist sie geflohen. Und um besser laufen zu können, hat sie die Holzpantinen abgestreift. Sie ist gerannt, bis …«
»… sie zur Stadtmauer kam und in der Falle saß«, vollendete der Inquisitor. »Gut möglich, Bruder Ranulf. Doch hätte sie sich dann nicht gewehrt? Müssten wir davon nicht Spuren sehen?« Dann gab er dem Bader einen Wink. »Du kannst gehen, vielen Dank«, murmelte er. Zum Prévôt gewandt sagte er: »Lasst Eure Wächter die Tote zum Friedhof bringen. Begrabt sie in geweihter Erde«, setzte er hinzu.
»Wir hingegen«, verkündete der Inquisitor schließlich, »wollen nun das ›Haus zum Bären‹ besuchen. Ich nehme an, dass es der Färber Durant de Brie nicht verlassen durfte?«
Der dicke Sergeant nickte eilfertig. »Wir haben ihm befohlen, sich für Euch zur Verfügung zu halten, Meister Philippe.« Die Wucht des Gewitters war inzwischen einem Nieselregen gewichen, der uns benetzte, doch niemandem mehr Furcht einflößte. So gingen wir zu einem schäbigen kleinen Haus, das sich ein paar Schritte neben dem Baudets-Turm schief an die Stadtmauer lehnte. Ich warf noch einen letzten Blick auf Jacquette. Ich sah, wie zwei Uniformierte die Kleider, kaum mehr als Lumpen, nachlässig über den weißen, mageren Körper warfen, bevor sie ihn anhoben. Ihre Blöße bedeckten sie nicht, doch breiteten sie ein Gewand über ihren Kopf, sodass man ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Verstohlen schlug ich das Kreuz. Ich betete, dass Jacquette ins Paradies eingehen mochte und dort vielleicht ihren Gatten und all die anderen ihr teuren Menschen fand, die der schreckliche Krieg mit den Englischen und Burgundischen schon vor ihr aus dem Leben gerissen hatte. Ich betete, dass sie, wo immer sie nun weilte, glücklicher war als in unserer Welt der Sünder und Sterblichen. Und ich betete, dass GOTT mir die Klugheit und die Stärke schenkte, den Mann zu finden, der ihr Leben, so elend es auch war, geraubt hatte. Als ich mich gerade abwenden wollte, fiel mein Blick zufällig auf Nicolas Garmel. Der Bader stand bereits einige Schritte abseits von uns. Auch er starrte auf die Tote, doch bemerkte er nicht, dass ich ihn ansah. Garmels Gesicht verriet Trauer — und da war noch etwas anderes. Ich brauchte wohl ein, zwei Augenblicke, bis ich wusste, was mich so verwunderte: Nicolas Garmel sah aus wie ein Mann, den ein schlechtes Gewissen plagte.
Während ich mich rasch umwandte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und Meister Philippe und dem Prévôt folgte, fragte ich mich, was uns der Bader wohl verschwiegen hatte. Und warum er dies getan haben mochte.
Durant de Brie erregte, kaum dass er uns die Pforte seines armseligen Hauses geöffnet hatte, meinen Widerwillen. Der HERR möge mir mein rasches und ungerechtes Urteil verzeihen, doch traf ich nur selten in meinem Leben einen Menschen, der mir schon beim ersten Anblick so wenig Vertrauen einflösste wie er.
Der Färber war unbestimmbaren Alters, doch sicherlich schon jenseits der dreißig. Er war weder groß noch klein, dazu sehr hager, außerdem ging er gebeugt und hinkte. Nur wenige, fahle Haarsträhnen klebten an der schrundigen Haut seines Schädels; seine Stirn war niedrig, die Augen schienen so hellblau, dass sie fast durchsichtig wirkten und ihm das Aussehen eines Blinden oder gar eines Toten gaben. Seine Nase war lang und schmal, seine Lippen warfen sich auf, die meisten Vorderzähne fehlten. Betrachtete ich sein Gesicht, so musste ich unwillkürlich an ein Wiesel denken.
»Willkommen in meinem bescheidenen Heim, ihr Herren!«, rief er und verbeugte sich tief. Seine Stimme klang brüchig wie das Rascheln schlecht gepflegten Pergaments. Er stank nach Urin und anderen scharfen Gerberstoffen.
Durant de Brie führte uns in eine Stube, die mit einigen schiefen Holzstühlen, einer Bank und einem wackeligen Tisch nur kärglich eingerichtet war. Geistesabwesend schlug er nach einer großen Kakerlake, die an einer Wand hochkroch, während wir eintraten. Ich betrachtete den dunklen Fleck, den das tote Tier auf der schmutzigen Wand hinterlassen hatte.
»Warum, HERR, hast du diesen Menschen geschickt, als Jacquette in der Stunde der größten Not war? Warum ihn? Warum nicht mich? Hätte ich ihr denn nicht viel besser beistehen können als jener elende Färber?«
Dann ermahnte ich mich, dass diese meine Gedanken die Sünde des Hochmutes in sich trugen. War ich, der wollüstige und lügnerische Mönch, nicht viel nichtswürdiger, als es jener Färber je sein könnte? War nicht Jesus Christus bei jenen Menschen eingekehrt, die von allen anderen verachtet wurden? War ich nicht wie ein Pharisäer? So ermahnte ich mich, nicht meinem Kleinmut und meinem düsteren, doch vorschnellen Urteil nachzugeben — und stattdessen Durant de Brie so aufmerksam und großherzig zuzuhören, wie es einem jeden Menschen geziemt.
Meister Philippe stellte sich und uns nur kurz vor, hielt sich ansonsten jedoch nicht lange mit Vorreden auf. »Was hast du in der letzten Nacht gesehen?«, fragte er.
»Gesehen habe ich zunächst nichts, Herr«, antwortete der Färber und rang verlegen seine Hände. Er hatte uns gebeten, Platz zu nehmen, doch niemand von uns wollte sich auf die schmutzigen Stühle niedersetzen. So standen wir denn alle in der kleinen Stube. »Ich konnte in der letzten Nacht wegen der drückenden Hitze nicht einschlafen«, fuhr Durant de Brie fort. »Ich lag am offenen Fenster, um wenigstens einen Hauch frischer Luft zu atmen. Da hörte ich einen schrecklichen Schrei.«
»Wann war das?«, unterbrach ihn Meister Philippe. »Das kann ich nicht sagen. Es war noch ganz dunkel draußen. Es muss Mitternacht gewesen sein oder noch später.« Der Färber leckte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und sprach dann nur zögernd weiter. Man sah ihm an, dass er sich noch immer fürchtete, wenn er an die letzte Nacht dachte.
»Ich stand auf«, sagte er leise, »und trat zum Fenster. Meine Schlafstube liegt im Obergeschoss. Zunächst konnte ich nichts erkennen. Ich wollte mich schon wieder hinlegen, da brach der Mond zwischen zwei Wolken hervor. Sein fahles Licht fiel auf die Stadtmauer und da …« Er verstummte.
»Da sahst du, wie die Schönfrau niedergestochen wurde?«, fragte der Inquisitor.
Der Färber schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein. Ich sah die Frau am Boden liegen. Auf dem Rücken. Blut entströmte ihrer Brust, so viel Blut. Oh, es war schrecklich anzusehen!«
»Und bist du nicht nach draußen geeilt, um ihr zu helfen?«, fragte ich empört.
»Ich fürchtete mich«, gestand der Färber und blickte zu Boden. »Denn im Zwielicht an der Mauer sah ich noch jemanden …«
»Wen?«, fragten Meister Philippe, der Prévôt und ich gleichzeitig. »Den Teufel!«, flüsterte Durant de Brie und bekreuzigte sich.
Wir prallten zurück, als hätte er uns allen einen Schlag versetzt. Die Wachen, die dem Prévôt bis zum Eingang der Stube gefolgt waren, schlugen das Kreuz und flüsterten. Der Inquisitor blickte den Färber mit strenger Miene an.
»Du willst Satan gesehen haben?«, fragte er. »Woran hast du ihn erkannt?«
»Es war ein Schatten da«, die Stimme de Bries war so schwach geworden, dass wir ihn kaum noch verstehen konnten. Trotzdem fuhr mir ein kalter Schauder in den Leib, kaum, dass ich diese Worte vernommen hatte.
»Ein Schatten«, fuhr er fort, »groß wie ein Mann, doch ohne Gesicht. Er verharrte kurz am Rand der Mauer, dann war er im Dunkel der Nacht verschwunden. Oh, wie zitterte und zagte ich! Ich wagte nicht, mich zu rühren, bis dass der Tag angebrochen war. Dann rief ich einen Sergeanten. Dieser Schatten muss der Engel der Finsternis gewesen sein! Ich spürte ihn, den kalten Hauch des Todes und auch die Schrecken der Hölle.«
»Das heiße Eisen des Folterknechtes wird dir den kalten Hauch schon wieder aus den Knochen treiben und die Schrecken der Hölle werden dir wie das Paradies erscheinen, liegst du erst einmal auf der Streckbank!«, polterte da Ambroise de Lore los. Die Zornesröte hatte das Gesicht des Prévôt entflammt. »Was redest du da vom Teufel?« Dann wandte er sich an den Inquisitor. »Das fehlt mir noch, dass jemand vom Satan faselt, der durch die Straßen von Paris schleicht und Frauen niedersticht! So viele schädliche Gerüchte laufen schon um in der Stadt. Ein falsches Wort genügt und Paris wird brennen! Und da erzählt mir dieser stinkende Färber etwas vom schwarzen Engel der Finsternis!«
Der Prévôt trat nahe an Durant de Brie heran, der sich vor Schreck duckte und einen Schritt nach hinten auswich. »Eher vermute ich, dass du selbst diese junge Dirne geholt hast, um deine schlaflose Nacht zu versüßen, und ihr danach eigenhändig ein Messer in die Brust gestoßen hast, als dass ich glaube, der Teufel höchstselbst habe sich hierher bemüht, bloß um eine elende Hure in sein finsteres Reich zu holen!«
Ambroise de Lore winkte zwei Sergeanten zu sich. »Führt diesen Kerl ab. Wir wollen sehen, ob er auch im Kerker noch vom Teufel faselt!«
Durant de Brie schrie auf, doch eine der beiden Wachen schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, dass ihm Blut aus seiner aufgeplatzten Oberlippe tropfte. Dann wimmerte er nur noch und ließ sich aus seinem Haus zerren.
Mit einem Nicken verabschiedete sich der Prévôt von uns. »Harte Zeiten verlangen nach harten Maßnahmen!«, rief er, dann folgte er den Sergeanten und seinem Gefangenen.
Ich war sprachlos vor Empörung. Der Färber mochte ein wenig vertrauenswürdiger Mann sein, doch diese Ungerechtigkeit, glaubte ich, hatte er nicht verdient.
»Wollt Ihr das wirklich zulassen?«, fragte ich Meister Philippe, als der Prévôt außer Hörweite war und wir noch in der Stube des Färbers standen.
Der Inquisitor blickte mich an. Plötzlich sah er sehr müde aus. »Bruder Ranulf«, antwortete er. »Ich glaube so wenig wie du, dass der elende Färber etwas mit dieser Untat zu tun hat. Oder dass er uns unter der Folter noch mehr sagen könnte, als er uns jetzt bereits berichtet hat.
Doch in einem gebe ich dem Prévôt, wenn auch höchst widerwillig, Recht: Ich glaube nicht, dass Satan selbst die arme Schönfrau geholt hat — wiewohl ich nicht ausschließen mag, dass sie nun in seinem Reich schmachtet. Wenn Ambroise de Lore den Färber hätte gehen lassen, dann hätte dieser überall herumerzählt, er habe den Teufel gesehen. Das ist nun, da jedermann sich vor der Seuche und vor bösen Omen fürchtet, geradezu ein Verbrechen. Fast könnte man meinen, jeder, der so etwas tut, könnte auch gleich zur Revolte gegen den Prévôt und jede Obrigkeit aufrufen.
Bedenke, wie viele Menschen wohl zu Schaden kämen, würde sich das Volk von Paris tatsächlich erheben und in blinder Wut auf jeden losgehen, in dem es den Schuldigen an seiner erbärmlichen Lage zu erblicken glaubt!«
Ich dachte an den jungen Juden, der auf der Place Maubert beinahe erschlagen worden wäre. Und ich dachte an Leas Worte und ihre Angst. Laut sagte ich: »Wir opfern also einen Menschen, obwohl wir wissen, dass er unschuldig ist. Um so das Leben vieler anderer Unschuldiger zu retten.« Der Inquisitor nickte. »So ist es.«
Dann legte er mir die Hand auf die Schulter. »Doch es mag sein, dass die Wut des Prévôt verraucht, bis er zu seinem Palast zurückgekehrt ist. Dann wird er den armen Färber zwar eine Zeit lang einsperren, damit dieser seine Geschichte vom Teufel nicht weitererzählen kann, doch er wird kaum einen Folterknecht mit seinem Gefangenen beschäftigen.«
*
Schweigend legten wir den Weg zum Kloster zurück, denn es gab am Baudets-Tor nichts mehr für uns zu tun. Das Gewitter hatte keine Erleichterung gebracht, im Gegenteil: Die Luft war heiß und drückend wie zuvor. Vom regenglänzenden Straßenpflaster und aus den schlammigen Gassen stiegen weißliche Nebel auf, die schwer über die Haut meines Gesichts strichen wie die erschlafften Blätter verwelkter Blumen. Das Atmen wurde zur Qual, jede Bewegung trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Mücken, Schmeißfliegen und allerlei anderes Getier schwirrte durch die schwere Luft - stets darauf lauernd, uns Menschen das Blut auszusaugen.
Und doch war ich dankbar für die bedrückenden Nebel, denn eine ungewöhnliche Stille hatte sich über Paris gelegt. Es waren kaum Menschen auf den Straßen zu sehen, da jeder, der konnte, in dieser Hitze im Innern eines kühlen Hauses ruhte. Die feuchten Schleier verbargen zudem mein Gesicht. So konnte ich mich nicht durch eine unbedachte Regung verraten.
Trauer nagte in mir wie eine schreckliche Krankheit. Immer wieder glaubte ich, in den Nebeln das Gesicht von Jacquette aufleuchten zu sehen. Ich hätte gerne eine Messe zu ihrem Andenken lesen lassen, doch selbst dies war mir verwehrt. Weder hatte ich Geld, um eine Messe — und sei es eine stumme — in Auftrag zu geben, noch hätte ich Meister Philippe oder dem Prior zu enthüllen gewagt, warum ich überhaupt für eine sündige Schönfrau etwas Derartiges erbeten wollte.
Ich war der einzige Mensch auf GOTTES Welt, der um Jacquette trauerte. Und da selbst ich nicht einmal hoffen durfte, ihrer Beerdigung beizuwohnen, wusste ich nicht, wo ihr Grab zu finden sein mochte. Nichts mehr würde an die junge, unglückliche Frau erinnern, nur die Bilder in meinem Herzen.
Dann schweiften meine Gedanken zu den beiden anderen Frauen, die das Schicksal hier in Paris mit meinem Lebensweg verwoben hatte. Würde ich wenigstens Klara und Lea schützen können? Oder — ich wagte kaum, mir dies einzugestehen — war ich vielleicht gar derjenige, der ihnen das Unglück brachte? Würde Jacquette noch leben, hätte sie sich mir nicht offenbart? Bedrohten die Geheimnisse, die mir die Reedersgattin und die Tochter des Geldwechslers anvertraut hatten, nun auch deren Leben? Was sollte ich bloß tun, um ihnen beizustehen?
Verzweiflung wollte mich übermannen. Ich fühlte mich hilflos in einem Gespinst aus düsteren Geheimnissen und unlösbaren Rätseln. Wusste ich mehr über die terra perioeci als noch vor einigen Tagen? Nein. Hatte ich Pierre de Grande-Rue gestellt? Nein. Wusste ich, ob Nechenja ben Isaak etwas mit dem Vaganten zu schaffen hatte? Nein. Wusste ich, wer jener Schatten war, vor dem sich Jacquette so sehr fürchtete und dem sie schließlich erlag? Nein.
Ein Novize war ich in der heilbringenden, doch ungemein verwirrenden Arbeit der Inquisition. Es war mir nur ein schwacher Trost, dass auch ein Meister wie Philippe de Touloubre diese Geheimnisse bisher nicht entschleiern konnte.
Geheimnisse, zu denen sich mir nun ein neues gesellte: das des Baders Nicolas Garmel. Hatte ich mich nur getäuscht, als ich sein Gesicht für einen ungestört geglaubten Moment beobachtete? Oder hatte er tatsächlich etwas verschwiegen?
Ich fragte mich, was er an der toten Schönfrau gesehen hatte, das ich nicht wahrgenommen hatte.