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Die nächsten sieben Tage wurden mir zur Qual: sieben Tage, in denen ich jeden Morgen mit Meister Philippe zum Viertel rund um die Schlachthöfe ging, nun stets begleitet von einem Sergeanten. Wir suchten nach Pierre de Grande-Rue und befragten bis in die Stunden der Dunkelheit wohl drei Dutzend und mehr Schlachter, Träger, Färber und liederliche Frauenzimmer jeden Tag. Manche erinnerten sich an den Vaganten - und fast schien mir, als hätten sie alle Angst vor ihm -, doch niemand hatte ihn gesehen, seit er uns entflohen war.
Meister Philippe ließ auch elende und ehrlose Gestalten zu sich kommen, die mir zunächst eines Dominikaners und erst recht eines Inquisitors unwürdig schienen: Bettler, fahrende Messerschleifer, Lumpenhändler, ja Dungsammler und Leichenträger und sogar einen Henker. Viele von ihnen schien er, zu meinem nicht geringen Erstaunen, gut zu kennen. Er fand freundliche Worte für jeden. Dann schickte er sie wieder fort, zurück zu den Orten, wo sie ihren wenig erbaulichen Gewerben nachgingen. Jedem gab er den Auftrag mit: »Suche nach Pierre de Grande-Rue! Wenn du ihn siehst, so eile zum Dominikanerkloster und melde dich bei mir! Wie spät die Stunde auch sein möge, ja selbst während einer Messe — zögere nicht einen Augenblick, dich mir zu offenbaren! GOTTES Segen und mein Wohlwollen werden dir sicher sein.«
So entließ Meister Philippe die Elenden und Schmutzigen in die Gossen von Paris. Und langsam begriff ich, dass sie, auf die niemand ein Auge warf, ihrerseits die Augen der Inquisition waren. Ich bewunderte Meister Philippe dafür nur noch umso mehr - und fürchtete ihn doch auch zugleich. Denn ich erinnerte mich schamhaft meiner Abenteuer in der Stadt und fragte mich nun des Öfteren, ob nicht auch ich den tausend Augen der Inquisition schon aufgefallen war. Doch blieben diese Momente der Unsicherheit selten, denn zumeist trieb mich die Unrast eines gefangenen Tieres. Ich wollte nach dem Land der Periöken forschen — und durfte es doch nicht. Lea hatte sich nicht einmal vor dem Kloster blicken lassen. Vielleicht hatte sie noch nichts entdeckt. Gut möglich aber auch, dass sie gesehen hatte, wie ich täglich mit dem Inquisitor auf die Straße trat. Da mochte sie sich gefürchtet haben und hielt sich verborgen, um nicht Meister Philippes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Kein Wort auch von Klara.
Auf meinem Weg zum Viertel der Schlachthöfe passierte ich morgens und abends die Seine-Insel und sah auf den Hafen. Dort lag die Kogge unbeweglich wie eine schwimmende Burg. Die Arbeiten der Matrosen schienen eingestellt worden zu sein, doch ich wusste nicht, ob ich dies als gutes oder schlechtes Zeichen zu deuten hatte. Waren die Vorbereitungen für eine große Reise bereits abgeschlossen und musste ich deshalb jede Stunde mit dem Auslaufen der »Kreuz der Trave« rechnen? Oder war, im Gegenteil, diese Abreise auf unbestimmte Zeit verschoben worden?
Gerne hätte ich die Reedersgattin wiedergesehen. Warum es verschweigen? Ich wollte ihr nicht nur Fragen stellen, ich sehnte mich auch nach ihrem Körper und ihren Liebkosungen. Ihr Bild erschien mir oft im Schlaf — und stets waren es wollüstige Träume, die mich dann übermannten. Wie froh war ich nun, dass ich nicht im Schlafraum mit Dutzenden Mitbrüdern nächtigen musste! Denn was hätten die wohl gedacht, hätten sie mich im Schlaf stöhnen gehört wie einen brünstigen Hirschen?
Doch war meine Scham über diese sündigen Nachtgesichter nicht halb so groß wie meine Erleichterung an jedem Morgen, da ich gewahr wurde, dass ich von Klara geträumt hatte.
Denn in den Nächten, in denen ich nicht von meiner Geliebten fantasierte, sah ich im Schlaf das leere Gesicht der toten Jacquette, über das sich ein Schatten beugte, von dem eine Furcht erregende Kälte ausging. Trotz dieser Kälte, die mir ins Herz fraß, wachte ich dann stets schweißgebadet auf und konnte nicht wieder Ruhe finden, bis mich die Glocke zur Prim rief.
So verstrichen meine Nächte mal in sündigen, mal in Schrecken erregenden Träumen, in denen stets eine Frau meine Seele gefangen nahm. Und in den hellen Stunden wuchs meine Unruhe. Denn wurde nicht mit jedem Tag, der nutzlos verstrich, die Gefahr auch für die beiden Frauen größer, deren Schicksal mir nicht nur am Herzen lag, sondern das ich auch noch mitzugestalten hoffte? Vielleicht verfolgte der Schatten nicht Lea oder Klara, doch konnte ich da sicher sein? Da ich nicht wusste, warum er tötete, wusste ich auch nicht, ob der Tochter des Geldwechslers oder der Gattin des Reeders — oder gar beiden — der Tod drohte.
Die einzige Abwechslung in jenen langen, zäh dahinfließenden, erschöpfenden, drückenden sieben Tagen waren die Bauern aus dem Umland, die frisch geschnittenes Heu für das Vieh nach Paris brachten. Überall, so schien mir, stapelten sich nun Ballen, vor Häusern, auf Marktplätzen und am Seine-Ufer. Der herbe, doch frische Geruch nach Heu milderte den Gestank der sommerheißen Stadt, selbst im Viertel der Färber und Gerber.
Doch Meister Philippe betrachtete die Männer und Frauen vom Land sorgenvoll. »Es sind weniger als in den Jahren zuvor«, murmelte er, »viel weniger. Die Ernte muss schlecht sein dieses Jahr. Oder es gibt nicht genug Bauern, sie einzubringen.«
»Wo mögen die Bauern sein?«, fragte ich.
Doch darauf gab der Inquisitor keine Antwort und schlug nur das Kreuz.
*
Am achten Tage kam in aller Frühe ein Diener zum Kloster. Er trug das Wappen des Bischofs von Paris.
»Damit habe ich schon längst gerechnet«, seufzte Meister Philippe, als er des Boten gewahr wurde.
Und tatsächlich: Der Diener überreichte uns ein Schreiben, in dem wir - in ebenso höflicher wie unmissverständlicher Sprache - aufgefordert wurden, uns sofort bei Magister Jean Courtecuisse zu melden, dem ehrwürdigen Bischof von Paris.
»Bringen wir dies schnell hinter uns«, sagte der Inquisitor so leise, dass es der Bote nicht hören konnte.
»Ist es nicht eine Ehre, von Seiner Eminenz empfangen zu werden?«, fragte ich.
»Seine Eminenz führt zwar auch den Titel eines gelehrten Mannes, doch beherrscht er in Wahrheit so wenig Latein, dass er nicht einmal die Heilige Schrift lesen kann«, antwortete Meister Philippe und lächelte dünn.
»Der Oberhirte der Christenheit zu Paris ist, das muss ich leider einräumen, ein Mann eher von dieser Welt als von der jenseitigen. Er verkauft Pfarreien wie gewöhnliches Land, er handelt mit Pfründen, als wären es bloße Stoffballen.
Jean Courtecuisse ist der jüngste Spross einer mächtigen Adelsfamilie. Wiewohl er keine zwei Sätze zu lesen vermag, ist er doch verschlagen und auf eine gefährliche Art klug. Nimm dich also in Acht und hüte deine Zunge, sobald du ihm gegenübertrittst!« Eine gute Stunde später standen wir im bischöflichen Palais, einem mit Säulen, Giebeln und hohen Fenstern gar schön geschmückten Haus neben Notre-Dame. Ein Diakon führte uns in das erste Obergeschoss, wo er uns durch eine hohe Halle geleitete, wo Tapisserien, die Szenen der Jagd verherrlichten, an den Wänden hingen. Trotz der dicken Mauern des Palastes war es im Innern warm und stickig. Daher war ich erleichtert, als uns der Diakon den Weg bis zum Ende der Halle wies, wo eine Tür auf eine Loggia führte, die mit filigranen, gedrehten Säulen und steinernen Fabelwesen verziert war. Hier saß der Bischof auf einem mit rotem Samt ausgeschlagenen, hochlehnigen Stuhl. Seine in Seidenpantoffeln steckenden Füße ruhten auf einem ebenso gepolsterten Fußbänkchen. Jean Courtecuisse war sicherlich an die sechzig Jahre alt und ungeheuer dick. Sein Gesicht war rot und glänzte wie ein polierter Spiegel. Sein Ornat war aus feinsten Stoffen gewirkt. Ein rot-grün karierter, pelzbesetzter Mantel lag um seine Schultern, trotz der drückenden Hitze des Sommers. Ein diamant- und rubinglänzender Gürtel spannte sich um seinen mächtigen Wams. Doch trug er, was mir seltsam dünkte, das kahle Haupt unbedeckt. An jedem seiner zehn fetten Finger steckte ein großer, goldener Ring, sodass der Ring des Bischofs inmitten dieser glitzernden Pracht kaum auszumachen war.
Mit seiner geschmückten Rechten griff er in eine Schale aus Kristallglas und klaubte sich einige kandierte Birnen und Kirschen heraus, die er mit einem Schwung in seinen riesigen Schlund warf. Ein sehr junger, weißgesichtiger Priester hielt ihm die Obstschale hin, dann zog er sich diskret einige Schritte zurück, blieb jedoch im Schatten der Gaube stehen.
Der Bischof reichte uns mit müder Geste seine Hand, auf dass wir ihm den Ring küssten. Wir taten dies mit aller gebotenen Ehrerbietung.
Zunächst schien es so, als ob er bloß mit uns plaudern wolle. Seine Stimme war tief und klang überaus angenehm. Jovial erkundigte er sich nach der Gesundheit unseres Priors und nach dem Stand der Dinge im Kloster. Er bot uns kandierte Früchte an. Meister Philippe antwortete höflich, lehnte jedoch — zu meinem heimlichen Bedauern — die dargebotenen Köstlichkeiten ab, sodass auch ich nicht von ihnen zu nehmen wagte.
Doch nachdem sich dieses unverbindliche Gespräch einige Zeit dahingezogen hatte, wechselte Jean Courtecuisse plötzlich das Thema. »Sagt, Meister Philippe«, hub er an, »mir sind da Vorkommnisse zu Ohren gekommen. Unangenehme Vorkommnisse.« Dann ließ er seine Stimme verklingen und sah uns aufmerksam an. »Eure Eminenz meinen den getöteten Mönch und den ebenso dahingeschiedenen Dekan der Domherren, den ehrwürdigen Nicolas d'Orgemont«, antwortete der Inquisitor ernst.
Der Bischof nickte, sagte jedoch nichts. Seine dunklen Augen glitzerten plötzlich wie die eines Wolfes. Ich begann, mich vor dem Bischof zu fürchten.
»Wir wissen, wer der Täter ist«, fuhr Meister Philippe ungerührt fort. »Zumindest gibt es einen Mann, von dem wir annehmen können, dass er der Unhold ist. Wir wissen auch, in welchem Viertel er sich versteckt hält. Wir jagen ihn. Wir werden ihn bald finden.«
»Das freut mich zu hören«, antwortete der Bischof und stopfte sich wieder eine Handvoll kandierter Früchte in den Mund, nachdem er den jungen Priester mit einer Geste an seine Seite beordert hatte. Dabei strich er mit seinen fetten Fingern kurz und wie zufällig über die Hand des Geistlichen. Weder Meister Philippe noch mir entging indes diese Berührung. Wir wechselten einen raschen Blick und der Inquisitor bedeutete mir, keine Regung zu zeigen. »Es ist überaus beruhigend zu wissen, dass die Inquisition die festeste Stütze der Kirche ist. Gerade in diesen Zeiten«, fuhr Jean Courtecuisse fort. »Ihr wisst so gut wie ich, was das Volk von Paris glaubt; welche Gerüchte in den Straßen geflüstert werden; was von der schrecklichen Krankheit erzählt wird, die angeblich schon fast an unsere Stadtmauern herangekrochen ist; und wie schnell in solchen Tagen Hitzköpfe zu Schwert und Brandfackel greifen könnten. Dies, zumindest, möchte ich als guter Hirte in meiner Herde vermeiden.« Er blickte uns wohlwollend an, doch traute ich seiner Freundlichkeit nicht.
»Also werde ich am nächsten Sonntag in Notre-Dame eine feierliche Messe zelebrieren. Ich werde selbst predigen. Von der Kanzel werde ich den treuen Christenmenschen dieser Stadt verkünden, dass der Sünder, welcher zwei Männer GOTTES meuchelte und deshalb SEINEN Zorn auf die gute Stadt Paris gelenkt hat, nun sicher im Kerker der Inquisition seiner verdienten Strafe harrt.«
Meister Philippe wurde noch eine Spur blasser als sonst. »Sonntag ist schon in zwei Tagen«, gab er zu bedenken.
»Ich vertraue dem Scharfsinn und der unnachgiebigen Jagdkunst der Inquisition«, antwortete der Bischof. Dann reichte er uns den Ring, auf dass wir ihn erneut küssten. »Ihr dürft Euch zurückziehen«, verkündete er.
»Also haben wir noch zwei Tage«, sagte Philippe de Touloubre, als wir den Palast verlassen hatten. »Sonst machen wir uns den Bischof von Paris zum unversöhnlichen Feind. Und wer weiß, was dann geschehen mag.«
»Fürchtet Ihr Euch nicht, Meister?«, fragte ich zaghaft. Da wandte er sich mir zu — und er lächelte so kalt, dass mir ein Schauder in die Glieder fuhr.
»Nein«, verkündete er. »Bei meinem Seelenheil: Wir werden Pierre de Grande-Rue finden. Und der Bischof wird am Sonntag etwas zu predigen haben, dass seine Gemeinde nicht so schnell vergisst!«
*
Fast schien es mir, als habe GOTT den Inquisitor vernommen. Denn am nächsten Tag — es war der Tag des Heiligen Benedikt, des Vaters aller Mönche — kam direkt nach der Prim, da Meister Philippe und ich uns gerade bereit machten, wieder ins Viertel der Färber und Gerber zu gehen, ein gar seltsamer Bote zu uns. Der Portarius brachte uns einen Bettler, der irgendwann bei einem schrecklichen Vorkommnis beide Beine verloren hatte und der seither auf einem kleinen Karren daherrollte, auf dem er hockte und den er mit seinen schwieligen Fäusten über den Boden schob. Ich hatte ihn erst wenige Tage zuvor gesehen — er war eines der »Augen« der Inquisition. »Herr«, meldete er, »ich habe den Mann gesehen, den Ihr sucht: Der Vagant versteckt sich in einem Schuppen an der Porte Saint-Honore.«
»Bist du dir da ganz sicher?«, erwiderte der Inquisitor. »Das ist nicht in der Nähe der Schlachthöfe.«
»Nein, Herr, das ist bei der Festung des Louvre, am anderen Ende der Stadt. Doch ich schwöre es: Es war Pierre de Grande-Rue, den ich dort erblickte, als ich mich eben zum Betteln am Tor einrichten wollte.« Meister Philippe segnete daraufhin den elenden Krüppel, warf ihm ein paar Kupfermünzen zu und gebot dem Koch des Klosters, ihm ein reiches Morgenmahl aufzutragen. Dann eilten wir auf die Rue Saint-Jacques hinaus, wo uns der dicke Sergeant erwartete, denn er tat heute Dienst.
»Auf.«, rief ihm der Inquisitor zu. »Zur Porte Saint-Honore!« Wir eilten, so schnell uns unsere Füße trugen, bis zum jenseitigen Teil der Stadt. Dort wandten wir uns direkt am Ufer nach links und liefen weiter — ungeachtet der verwunderten Blicke, die uns zugeworfen wurden.
Schon von Weitem erkannte ich den Louvre. Atemlos erreichten wir das Tor im Schatten der Festung, die Porte Saint-Honore, und sahen uns um.
»Sollen wir uns aufteilen und in verschiedenen Richtungen suchen, Meister?«, fragte der Sergeant keuchend.
Der Inquisitor schüttelte den Kopf. »Das ist zu gefährlich. Einzeln können wir gegen Pierre de Grande-Rue nicht bestehen. Wir müssen zusammenbleiben.«
So näherten wir uns denn vorsichtig dem schäbigen Verschlag an der Innenseite des großen Stadttores, wo traditionell die Bettler Almosen erbaten von allen Reisenden. Bauern mit von Ochsen gezogenen, hoch aufragenden Heuwagen rumpelten über das Pflaster und nahmen uns die Sicht, dazu kamen Lastenträger, Boten und ein paar Flüchtlinge. Doch der Menschenstrom war nicht so groß, dass er unsere Sinne verwirrte.
Der Sergeant winkte einen der beiden Torwächter heran, einen jungen Mann mit einer Hellebarde. Meister Philippe erklärte ihm in hastigen Worten, wen wir jagten.
»Der große Rothaarige?«, sagte der Torwächter. »Der sucht schon seit Tagen Händler oder Vaganten, die ihn mitnehmen könnten. Doch in dieser unsicheren Zeit verlässt ja niemand mehr Paris. Wir werden ihn am Sammelplatz der Reisegruppen finden, direkt außerhalb des Stadttores, neben der Straße.«
Und tatsächlich: Kaum hatten wir die Porte Saint-Honore durchquert, erblickten wir Pierre de Grande-Rue, der im Schatten unter einer Ulme saß und döste.
»Da ist er!«, rief der Sergeant — was nicht nur überflüssig war, da wir doch alle den Vaganten schon erblickt hatten, sondern auch dumm. Denn Pierre de Grande-Rue öffnete die Augen, kaum dass er den Ruf vernommen hatte, sprang auf — und rannte davon. »Hinterher!«, rief der Inquisitor. »Ewige Verdammnis droht Euch, wenn Ihr ihn wieder entkommen lasst!«
GOTT selbst hatte uns den jungen Wächter geschickt. Denn wir waren, nachdem wir bereits durch ganz Paris geeilt waren, außer Atem und müde in den Beinen. Doch der Soldat war ausgeruht und flink.
Mit großen Sprüngen rannte er uns davon. Und ich, der ich mich keuchend mühte, sah, dass er auch schneller war als der massige Vagant.
Die Straße war jenseits der Stadtmauern ungepflastert. Gelber Staub wurde vom heißen Sommerwind aufgewirbelt und verklebte uns die Augen und kratzte in der Lunge. Doch wir ließen nicht nach. Ich dachte an Jacquette und die schreckliche Wunde in ihrer Brust und verdoppelte meine Anstrengungen. So schnell wie der Torwächter war ich nicht, doch schneller als der Sergeant und selbst als Meister Philippe — und schneller als Pierre de Grande-Rue. »Du wirst für deine Untaten büßen!«, dachte ich und ein Zorn, der eines Christen und eines Mönches erst recht nicht würdig ist, loderte in meiner Seele.
So eilten wir wohl einige Hundert Schritte dahin, bis der Mann, den wir jagten, plötzlich nach rechts von der Straße abbog. Pierre de Grande-Rue hatte sich mehrmals nach uns umgesehen und wohl erkannt, dass wir ihm immer näher kamen. Ich sah, dass etwas in seiner Rechten blitzte.
»Er hat ein Messer!«, schrie ich mit letzter Kraft dem Torwächter zu, damit dieser gewarnt war. Doch der hob im Lauf nur seine Hellebarde und rief etwas Unverständliches.
Der Vagant taumelte, dann sprang er vom Weg hinunter in einen staubigen, roterdigen Schlund am Rand der Straße: Wir waren in den Tuilerien, den Gruben, in denen Ziegel aus Ton geformt und in großen, rauchenden Ofen gebrannt wurden. Wir erblickten ein paar Arbeiter, die schweren, feuchten Ton in hölzerne Formen pressten. Schwitzende Lastenträger kamen uns entgegen, die auf ihren Rücken Paletten gebrannter Steine schleppten.
Und einer jener Träger besiegelte das Schicksal des Vaganten. Denn Pierre de Grande-Rue rannte einige Schritte weit durch die Grube, blickte sich kurz nach uns um, kam dabei jedoch ins Stolpern— und stieß mit einem der Ziegelschlepper zusammen. Beide Männer stürzten, wobei Dutzende Ziegel polternd auf den Flüchtenden fielen.
Der Vagant wand sich blutend und benommen im Staub - zu schwach, um wieder auf die Beine zu kommen. Sein Messer lag einige Schritte neben ihm im Dreck. Er wollte noch dorthin kriechen, um es zu ergreifen — und hätte es wohl unweigerlich nach dem ersten von uns geschleudert, wenn der Wächter nicht schneller gewesen wäre. Mit Riesensätzen sprang er heran, schrie unartikuliert auf - und schlug Pierre de Grande-Rue mit dem eisenbeschlagenen Stiel seiner Hellebarde auf den Kopf, dass der Vagant das Bewusstsein verlor und in den Staub sank.
»Meinen Segen - und zwei Livres Belohnung für dich, mein Sohn!«, rief der Inquisitor keuchend, als er uns ein paar Augenblicke später erreicht hatte. Wir alle standen außer Atem um den Vaganten. Der Sergeant beeilte sich, das todbringende Messer an sich zu nehmen. »Fesselt ihn, dann holt Verstärkung«, befahl Meister Philippe. »Wir wollen ihn fortschaffen.«
»Wohin?«, fragte der Sergeant.
»Ins Kloster Saint-Martin-des-Champs«, kam die Antwort. »Zum Kerker der Inquisition.«
Da bekreuzigten sich die beiden Bewaffneten und sprachen fortan kein Wort mehr.
»Esto consentiens adversario tuo cito dum es in via cum eo ne forte tradat te adversarius iudici et iudex tradat te ministro et in carcerem mittaris. Amen dico tibi non exies inde donec reddas novissimum quadrantem«, sagte Meister Philippe zu mir und klopfte sich den Staub aus der Kutte.
»Was geschieht nun?«, fragte ich und mühte mich, wieder zu Atem zu kommen. Mein Herz raste - und das nicht nur wegen der Verfolgungsjagd.
»Wir werden zum Kloster Saint-Martin-des-Champs gehen, wie es Mönchen geziemt«, antwortete der Inquisitor, »würdig, langsam und im stillen Lobpreis GOTTES.
Der Sergeant und der junge Torwächter, dessen Schaden dieses Abenteuer nicht sein soll, werden sich um den Vaganten kümmern und ihn gebunden dorthin führen. In Saint-Martin-des-Champs werden wir dann die Zeit finden, uns ausführlich mit Pierre de Grande-Rue zu unterhalten.«
Er lächelte dünn. »Ich danke IHM fürwahr für SEINE Gnade, dass er uns endlich jenen Mann in die Hand gegeben hat. Vielleicht, wer weiß, gelingt es uns gar, die gute Stadt Paris doch noch vor SEINEM Zorn zu schützen - jenem Zorn, der schon ganz Frankreich, ja das ganze Abendland, so hört man, verheert hat.«
Ich schlug das Kreuz und folgte dem Inquisitor. Es war ein langer Weg, für den wir wohl zwei Stunden oder mehr brauchten. Zunächst gingen wir bis zur Porte Saint-Honore zurück, doch betraten wir nicht die Stadt, sondern hielten uns außerhalb der Mauer an einen staubigen Weg, der in einem großen Bogen links von der Seine wegführte. So wanderten wir durch Felder und Obstgärten. Weiß und rosafarben blühten noch manche Apfel- und Birnbäume, in den meisten reiften schon rote und gelbe Früchte zwischen den Blättern. Mich hungerte und dürstete, doch wagte ich es selbstverständlich nicht, mir eine dieser Köstlichkeiten zu pflücken.
Der Inquisitor, der meinen Blick deuten konnte, lächelte mir aufmunternd zu. »Gedulde dich, Bruder Ranulf«, sprach er. »Saint-Martin-des-Champs ist weit mehr als nur ein Gefängnis der Kirche. Es ist ein Kloster außerhalb der Stadtmauern - und es untersteht der Abtei von Cluny, der reichsten des Landes. Die Brüder dort werden sich unserer annehmen. Wir werden ausgeruht und gestärkt das Verhör des Vaganten beginnen.«
So folgte ich ihm denn durch die Hitze und durch den Staub. Selten nur erblickten wir einen Bauern auf den Feldern, kaum je einen Boten oder Händler auf einer der nach Paris führenden Straßen, die wir kreuzten.
Zwei Hunde sah ich, die tot und mit aufgeblähtem Bauch im Graben lagen, umschwirrt von schwarzen Wolken aus Schmeißfliegen. Mir dünkten sie ein böses Omen und wieder schlug ich das Kreuz - wiewohl hastig, damit mich der Inquisitor nicht dabei ertappte und vielleicht über meinen Aberglauben spottete.
Endlich gelangten wir auf die große Rue Saint-Nicolas, die genau nordwärts aus Paris führte. Hier lag das ummauerte Kloster Saint-Martin-des-Champs wohl einige Hundert Schritte jenseits der Wälle der Stadt.
Wahrhaftig, der Inquisitor hatte nicht übertrieben: Die Mauer um das Kloster wäre einer mittleren Stadt würdig gewesen, so hoch und mächtig war sie — dabei war sie jedoch weiß gekalkt und rein, sodass sie das Licht reflektierte, bis mir die Augen schmerzten. Ein junger Kluniazensermönch ließ uns ein. Meister Philippe zeigte ihm an, dass demnächst ein Gefangener der Inquisition zu erwarten sei, und bat ihn, alle nötigen Vorbereitungen zu treffen. Derweil sah ich mich um und staunte nicht schlecht. Die Gebäude des Klosters lagen inmitten großer, wohlgepflegter Kräutergärten, die betäubend dufteten. Das Gesumm unzähliger Bienen, welche um die Blüten aller Farben tanzten, erfüllte die Luft. Die Kirche war so groß, dass sie wohl an die tausend Mönche aufnehmen konnte. Eine große Rosette und viele fein gearbeitete Skulpturen zierten ihre Front; ein Glockenturm mit glänzendem, kupferbeschlagenem Dach ragte in den Himmel und selbst das Kreuz auf seiner Spitze war vergoldet. Zwei Novizen eilten uns durch die Gärten entgegen, grüßten ehrerbietig und geleiteten uns in ein kühles, helles Gästehaus. Dort wuschen sie uns die Füße und reichten uns anschließend Obst und weißes Brot, Käse und erquickendes, klares Brunnenwasser. Ich schloss die Augen, hörte von irgendwoher das beruhigende Plätschern eines Springbrunnens, lauschte dem Gesumm der Bienen und dem Gesang der Vögel und dankte dem HERRN, dass er mir diese kleine Rast gönnte.
Ich musste in Schlummer gefallen sein, denn irgendwann vernahm ich die Stimme von Meister Philippe: »Mach dich bereit, Bruder Ranulf! Wir haben lange genug geruht.«
Schuldbewusst blickte ich mich um und erhob mich. »Wohin gehen wir?«, fragte ich, noch schlaftrunken.
»Wir werden in den Kerker hinabsteigen. Der Vagant ist angekommen«, antwortete der Inquisitor.
Sein Gesichtsausdruck war derart, dass ich nicht mehr wagte, das Wort an ihn zu richten.
*
Kein Mönch geleitete uns. Es war nur zu deutlich, dass Meister Philippe den Weg kannte, den wir nun einzuschlagen hatten. Wir durchquerten den Garten, gingen um den weiten Kreuzgang von Saint-Martin-des-Champs und passierten schließlich wieder die Klosterkirche.
Hinter dem Hause GOTTES erhob sich ein wuchtiger Bau mit mächtigen Mauern und wenigen Fenstern in plumpen, runden Bögen. Mit einem Blick erkannte ich, dass dieses finstere Haus, das eher an eine Festung gemahnte, weit älter sein musste als die anderen, so kunstvollen und lichten Monumente des Klosters.
Meister Philippe schritt zum einzigen Portal, einer schweren, eichenen Tür. Dort erwarteten uns bereits zwei Bewaffnete. Ihre Gewänder zierten die Insignien der Heiligen Inquisition. Die beiden Hellebardenträger verneigten sich schweigend und während der eine am Tor zurückblieb, führte uns der andere hinein ins düstere Innere. Ich folgte ihm und meinem Meister durch einen langen, fensterlosen Gang. Dann öffnete sich ein gemauerter Bogen zu einer engen, gewundenen Treppe, die in die Tiefe führte. Dumpfe Luft und ein Gestank nach heißem Eisen und anderen Dingen, die ich zu jener Zeit noch nicht zu deuten wusste, schlugen uns entgegen. Ich zog den Saum meiner Kapuze über Mund und Nase, während der Wächter eine Fackel entzündete, bevor er weiter voranschritt. Tief ging es hinab, mir wollte es scheinen, als führte diese Treppe bis in die Hölle. Die mit schwarzem Schimmel überzogenen Wände schwitzten Wasser aus und mit jeder Stufe nahm die Hitze zu, roch die Luft modriger.
Endlich gelangten wir wieder auf einen Gang. Hier steckten im Abstand von jeweils mehreren Schritten Fackeln in eisernen Ringen an den Wänden und warfen ein unruhiges, rotes Licht auf den Boden, der mit fauligem Stroh bedeckt war. Ein Wesen, dunkel und wohl so lang wie mein Unterarm, huschte leise raschelnd davon: die größte Ratte, die ich je gesehen hatte. In unregelmäßigen Abständen waren zu beiden Seiten des Gangs Eichentüren in die Wände gelassen — so niedrig, dass ein erwachsener Mann bestenfalls tief gebeugt, eher nur auf Knien hindurchkommen mochte. Ich glaubte, während ich voranschritt, hinter mancher der verschlossenen Pforten Schmerzensstöhnen zu vernehmen, doch das mochte ich auch meinen überreizten Sinnen zuschreiben. Einen Menschen sah ich jedenfalls nicht — bis wir am anderen Ende des Ganges in ein überraschend hohes, von wohl einem Dutzend Pfeilern getragenes Gewölbe traten. Zwei kräftige, in kurze Ledergewänder gehüllte Männer verbeugten sich schweigend und traten respektvoll zurück, als Meister Philippe ihnen dies mit einem Wink gebot. Zu meiner Überraschung gewahrte ich im Hintergrund des hohen Raumes den Bader Nicolas Garmel, den der Inquisitor offensichtlich ebenfalls hierhin befohlen hatte. Auch er verneigte sich, doch gab er sich nicht würdevoll wie die beiden anderen Männer, sondern war blass und zitterte, als erwarte er jeden Augenblick seinen Tod.
Im Gewölbe schimmerte das Licht noch rötlicher, hier war die Luft noch stickiger, denn neben den Fackeln in eisernen Ringen strahlte ein großer Rost mit einem Berg glühender Kohlen Licht und Hitze aus.
Doch nicht deshalb stockte mir der Atem.
Mitten im Gewölbe stand ein großer Tisch aus dunklen Eichenbalken. Auf diesem lag, nackt und von einigen Hieben ein wenig zerschunden, Pierre de Grande-Rue.
Der mächtige Körper des Vaganten war immer noch Furcht einflößend, obwohl der Gefangene ausgestreckt war und sich nicht mehr rühren konnte. Seine Hand- und Fußgelenke umklammerten eiserne Zwingen, die wiederum mit schweren Ketten an Ringen befestigt waren, die tief im Eichentisch verschraubt waren.
Außer den unbedeutenden Wunden, die ihm bei seiner Gefangennahme zugefügt worden waren, schien mir Pierre de Grande-Rue unverletzt zu sein. Schweiß glänzte allerdings auf seiner Haut und ließ seine langen, roten Haupt- und Barthaare verkleben; sein Atem ging schwer. Er sog die Luft ein wie nach einem Hieb, als er den Inquisitor erblickte.
»Mein Sohn«, sagte Meister Philippe, »du wirst schwerer Verbrechen und großer Sünden bezichtigt. Es sind Taten, die du nicht mehr rückgängig machen kannst. Noch aber ist es nicht zu spät zu bereuen und zu gestehen. Wenn du ohne Falsch redest und uns ehrlichen Herzens alles sagst, was du getan hast, ohne auch nur eine Winzigkeit verbergen zu wollen, dann mag der HERR dir dies dereinst zu deinen Gunsten anrechnen. Und ich verspreche dir, dass auch ich es dir zu deinen Gunsten auslegen werde, wenn du uns Zeit und dir selbst unnötige Pein ersparst.«
Dann gebot mir Meister Philippe, mich an ein Pult zu stellen, das einige Schritte neben dem Tisch stand, auf dem der Gefangene lag. Auf diesem Pult fand ich eine Feder, ein Fass Tinte und etliche Bögen guten Pergaments.
»Bruder Ranulf, du wirst das Protokoll führen und alles getreulich aufzeichnen, was der Gefangene sagt.« Ich nickte gehorsam.
Schließlich wandte sich der Inquisitor in freundlichem, doch festem Ton wieder an Pierre de Grande-Rue. »Nun rede!«, forderte er ihn auf. Dann fragte er ihn, ob er Heinrich von Lübeck erstochen habe. Pierre de Grande-Rue hob den Kopf, so weit es ihm die eisernen Fesseln erlaubten. Alles Wilde war aus seinem Gesicht gewichen. Furchtsam blickte er zu uns auf, einem großen, verstörten Kind ähnlicher als dem Messer werfenden Berserker, der mir noch vor einigen Tagen im Schlachthof beinahe das Leben geraubt hatte.
Für einen Moment wollte mich Mitleid gegen ihn ankommen, doch dann dachte ich an Jacquette und dies wappnete mein Herz. Kalt blickte ich auf ihn hinab, nahm die Feder zur Hand und wartete darauf, was er uns zu sagen hatte.
»Gnade, Herr!«, hub der Vagant an. Seine Stimme war tief, doch hörte ich ein Zittern in ihr.
»Es liegt allein an dir, wie groß die Gnade der Inquisition ist«, erwiderte Meister Philippe. »Also befehle ich dir ein zweites Mal: Rede!«
»Ich habe den Mönch nicht getötet«, rief daraufhin der Vagant - und ich schrieb dies nieder, obgleich sich mir bei diesen Worten die Feder sträuben wollte.
»Den Mönch habe ich gesehen, das ja«, fuhr er fort, »doch da war er schon tot. Es war nachts, als ich an Notre-Dame vorbeischritt, die genaue Stunde vermag ich nicht zu sagen.«
»Was hattest du dort zu suchen«, unterbrach ihn Meister Philippe, »zu einer Stunde, die du nicht benennen magst oder kannst, die aber doch sicherlich schon ungewöhnlich spät war?«
Kurz zögerte der Vagant und ich sah, wie er in seinem Innern mit sich rang. Dann seufzte er vernehmlich. »Verzeiht mir, Herr, dass ich Eure Ohren mit einer Sünde beleidige. Ich wusste, wie jedermann es weiß, dass stets Schönfrauen im Schatten von Notre-Dame ausharren, auch in der Nacht. Ich hatte in einer Taverne Glück im Würfelspiel gehabt. Da wollte ich ein paar Sous von meinem gewonnenen Geld zu einer Dirne tragen und mir den Rest der Nacht versüßen.« Der Vagant schluckte schwer, da er diese Sünde gestand. Doch Meister Philippe blickte ihn bloß aufmerksam an, seine Gesichtszüge blieben undurchdringlich. Die beiden Folterknechte und der Wächter sahen starr vor sich hin und schienen, wenn überhaupt eine Regung in ihnen auszumachen war, ein wenig gelangweilt. Der Bader Nicolas Garmel hatte sich an einen Pfeiler gelehnt und wirkte so, als würde er am liebsten mit dem Stein verschmelzen, um sich unsichtbar zu machen. Ich kritzelte eifrig mit der Feder über das Pergament und ließ nur kurz mein Auge über die Runde schweifen. Statt erleichtert darüber zu sein, dass sich niemand über diese Sünde empörte, flackerte neue Angst auf in den Zügen des Vaganten. Vielleicht verstand er erst in jenem Moment, dass diese Sünde, so schrecklich sie war, uns lässlich schien angesichts jener Sünden, die wir gekommen waren zu hören.
Pierre de Grande-Rue räusperte sich. »Darf ich einen Schluck Wasser haben, Herr? Mich dürstet.«
Der Inquisitor nickte. Da trat einer der Folterknechte gleichmütig zu einem offenen Wasserfass, in dem eine Holzkelle schwamm. Mit der brachte er einen Schluck an die Lippen des Gefangenen, dann zog er sich wieder zurück.
»Ich wollte also zu nächtlicher Stunde die Kathedrale passieren«, setzte der Vagant seine Geschichte fort. »Da erblickte ich an deren Seite, vor jenem kleinen Portal, etwas Dunkles auf dem Boden. Ich hielt es zunächst für ein paar Lumpen, die jemand verloren hatte. Doch als ich näher kam, da gewahrte ich, dass es ein Mensch war, der dort ausgestreckt auf dem Boden lag. Ein Toter.«
»Heinrich von Lübeck?«, fragte der Inquisitor.
»Den Namen kenne ich nicht, Herr«, sagte der Gefangene eilfertig. »Ich weiß nur, dass es ein Mönch war, der dort die Seele ausgehaucht hatte.«
»Und du bemerktest sofort, dass er tot war?«
»Ja, er rührte sich nicht. Ich blickte mich um, als ich sah, dass er aus einer Messerwunde blutete, denn ich fürchtete in jenem Augenblick, dass auch ich von demjenigen angegriffen werden könnte, der diese Untat verübt hatte. Doch niemand zeigte sich mir, ich vernahm auch kein Geräusch.
Eine Zeit lang stand ich so unschlüssig da und wusste nicht, was ich tun sollte. Versteht Ihr, Herr?«, fragte er flehentlich, doch der Inquisitor starrte ihn nur an.
»Ich wusste doch nicht, wen ich hätte rufen sollen«, fuhr Pierre de Grande-Rue mit kläglicher Stimme fort. »Für einen Arzt war es zu spät. Das Kloster der Dominikaner war weit. Und wenn ein Vagant wie ich bei den Sergeanten einen niedergestochenen Mönch gemeldet hätte, ich wäre doch sofort in den Kerker geworfen worden!«
»In den Kerker des Prévôt royal wärest du gekommen«, erwiderte Meister Philippe daraufhin nüchtern. »Dafür schmachtest du nun im Kerker der Inquisition.«
Der Vagant schluckte schwer ob der unterschwelligen Drohung in diesen Worten. »Ich beging eine Sünde, oh verzeiht mir Herr!«, flehte er. »Als ich bei dem Toten stand und nicht wusste, wen ich rufen sollte, und sah, dass sich weit und breit niemand zeigte, da wollte ich sehen, ob ich bei dem Mönch nicht etwas holen konnte.«
»Du wolltest den toten Mönch bestehlen?«, hielt der Inquisitor fest. Pierre de Grande-Rue wandt sich, so weit es seine Fesseln erlaubten. »Ich dachte, dass er die Dinge dieser Welt nun sowieso nicht mehr brauchte. Er war ja schon ins Paradies eingegangen!« Da vernahm ich zum ersten Mal, dass einer der beiden Folterknechte leise murrte. Mir schien, dass er langsam die Geduld verlor. Meister Philippe jedoch zeigte sich unbeeindruckt. »Was hast du an dich genommen?«
»Ein Buch, mehr nicht«, antwortete der Gefangene hastig. »Es war das Erste, was ich in einer Falte der Kutte finden konnte. Ich begann gerade erst, den Toten abzutasten, da vernahm ich plötzlich aus einer der Seitengassen neben Notre-Dame ein Geräusch. Furcht überkam mich - und ich eilte davon, ohne noch einmal Hand an den Mönch gelegt zu haben.«
»Du hast kein Geld geraubt?«, wollte der Inquisitor wissen. Der Vagant sah ihn überrascht an. »Nein, Herr, ich habe kein Geld bei ihm gefunden. Ich hatte den Toten ja auch kaum angefasst.«
»Und das Buch? Was ist damit?«
»Ich weiß nicht, was es für ein Buch ist, Herr. Ich kann nicht lesen. Doch ich hoffte, dass ich es vielleicht für gutes Geld verkaufen mochte, also versteckte ich es.
Dann jedoch vernahm ich, dass Inquisitoren nach dem Mörder jenes Mönches suchten; und dass sie sich nicht einmal scheuten, Schönfrauen zu befragen und in Tavernen zu gehen. Freunde berichteten mir beiläufig davon, denn es kommt ja nicht alle Tage vor, dass man Dominikaner bei den Huren und Trinkern erblickt. Niemand ahnte zunächst, dass auch ich etwas mit dem toten Mönch zu tun hatte, doch dann erzählte ich im Rausch irgendjemandem in einer Taverne davon. Ich wusste sofort, dass mir nun Gefahr drohte. Also versteckte ich mich. Gerne hätte ich auch Paris verlassen, doch wagte ich nicht, allein zu fliehen, aus Angst vor der Krankheit, die, wie man sich erzählt, draußen im Land wütet und gar fürchterlich sein soll. Spielleute oder Händler oder irgendjemanden sonst, der Paris verlassen wollte und dem ich mich hätte anschließen können, habe ich jedoch nicht mehr getroffen.«
»Hast du an jenem Abend, da du den toten Mönch ausgeraubt haben willst, noch eine junge Schönfrau mit Namen Jacquette erblickt? Man ruft sie auch ›das Täubchen‹.«
»Nein, Herr, ich bin weggelaufen, so weit und so schnell ich konnte. Zu den Schönfrauen bin ich in jener Nacht nicht mehr gegangen.«
»Und einen Domherrn von Notre-Dame, hast du den vielleicht gesehen? Sein Name ist Nicolas d'Orgemont.«
Der Vagant schüttelte den Kopf. »Ich kenne doch keinen so hohen Herrn«, antwortete er bestimmt. »Und ganz sicher habe ich in jener Nacht keinen Mann der Kirche gesehen. Außer dem toten Mönch selbstverständlich.«
»Das ist also alles, was du zu sagen hast?«, fragte der Inquisitor. Seine Stimme klang plötzlich müde.
»Ja, Herr.« Der Vagant, der spürte, dass Meister Philippe nicht mit ihm zufrieden war, zitterte am ganzen Leibe, obwohl es im Gewölbe heißer und immer heißer wurde, denn hin und wieder ging einer der Folterknechte zum Rost und legte noch mehr Kohlen auf. »Du elender Lügner!«, donnerte der Inquisitor plötzlich so laut, dass uns allen der Atem stockte — selbst den beiden Folterknechten. Die allerdings erholten sich als Erste von dieser Überraschung und warfen sich einen wissenden Blick zu. Einer fing an, seine Hände zu massieren. Der andere entfachte noch mehr Glut auf dem Rost. »Du willst mir also sagen«, fuhr Meister Philippe fort, »dass du den unglücklichen Heinrich von Lübeck nur zufällig erblickt hast. Du warst auf dem Weg zu einer Dirne, da lag er dir im Weg. Finster war die Nacht, so finster, dass du den Toten zunächst mit einem Haufen Lumpen verwechselt hast. Doch kaum bist du näher herangetreten, da weißt du nicht nur unzweifelhaft, dass der Mönch tot ist, nicht einfach nur besinnungslos, ohnmächtig oder verletzt, nein, du weißt sogar genau, woran er gestorben ist: einem Messerstich! Das hast du gerade selbst gesagt.«
»Ich habe schon viele Messerwunden gesehen!«, fuhr Pierre de Grande-Rue auf, doch seine Stimme klang heiser.
»Nicht genug damit«, Meister Philippe hatte sich wieder beruhigt und tat, als hätte er den Einwurf des Gefangenen nicht vernommen. »Du willst uns weismachen, dass du den Toten ausrauben wolltest. Doch einen ganzen Beutel voller Gold- und Silbermünzen lässt du liegen. Dafür stiehlst du ein Buch - obwohl du nicht einmal lesen kannst!«
»Aber das ist die Wahrheit!«, flehte der Vagant. »Mir blieb keine Zeit, den toten Mönch länger zu durchsuchen.«
»Ja, weil diese unglückselige Nacht so still war, bis du plötzlich Geräusche aus einer Gasse vernommen haben willst. Einer Gasse, in der, wie ich Grund habe zu vermuten, sich in jenem Augenblick entweder der Domherr Nicolas d'Orgemont oder die Schönfrau Jacquette oder gar beide aufgehalten haben. Zwei Menschen, die du nie gesehen haben willst — vor denen du jedoch geflohen bist, so schnell und so weit du konntest!«
»Es war doch so finster!«, stammelte der Gefangene. »Und finster ist auch die Aussicht für dich, verstockter Sünder«, verkündete der Inquisitor.
Meister Philippe nickte den Folterknechten zu. »Zeigt ihm die Instrumente!«, befahl er.
Da nahmen die beiden Männer eiserne Zangen zur Hand, dornengespickte Peitschen, Daumenschrauben und Stricke und hielten dem Gefangenen eine glühende Kohle nahe ans Gesicht. Pierre de Grande-Rue weitete angstvoll die Augen. »Gnade!«, kreischte er. »Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen weiß!« Darauf seufzte Meister Philippe, schloss die Augen und betete. Da er stumm blieb und nur die Lippen bewegte, vermag ich nicht zu sagen, welches Gebet er sprach. Doch als er die Augen wieder auftat, schlug er das Kreuz. »HERR, schenke uns Kraft«, murmelte er. Dann blickte der Inquisitor die beiden Folterknechte an und nickte. »Fangt an!«
*
Selbst jetzt, so viele Jahre später, sträubt sich mir die Feder, all das niederzuschreiben, dessen Zeuge ich nun werden musste. Wohl hatte ich in Köln und auch in Paris schon gar manchen Bettler, Verbrecher oder Häretiker gesehen, der im Kerker geschmachtet und die Folter erduldet hatte, später jedoch, dank der Gnade der Richter, wieder freigelassen worden war. Ich hatte Narben auf der Haut gesehen, ausgerenkte Arme, ausgeschlagene Augen und verkrüppelte Hände. Doch hatte ich stets rasch den Blick von diesen Sündenmalen abgewendet. Es waren Verletzungen einer früheren Zeit gewesen, abscheulich anzusehen zwar, doch längst verheilt, so gut es eben ging.
Nun sah ich jedoch, wie diese Wunden geschlagen wurden. Und ich muss gestehen, auch wenn mir die Schamesröte das Gesicht verbrennt, dass ich mit einem Schauder Zeuge wurde — einem Schauder, den nicht nur die Angst in mir hervorrief. Es ging eine seltsame, schreckliche Faszination aus von diesem Schauspiel menschlicher Qualen, von der Farbe des Blutes und vom Geräusch reißender Sehnen, vom Stöhnen des Gefangenen und vom Geruch verbrannter Haut. An Jacquette dachte ich und an Rache, wiewohl mir doch zugleich graute vor dem, was ich miterleben musste. Der Tisch, auf dem Pierre de Grande-Rue gefesselt lag, war in Wirklichkeit gar kein Tisch. Nun erst gewahrte ich seinen wahren Zweck: Es war eine Streckbank. Einer der beiden Folterknechte kam mit schweren runden Hölzern an, die er in eiserne Walzen steckte, die unterhalb der Platte in eichenen Lagern aufgehängt waren. Anschließend begab sich ein Folterknecht zur Walze am kopfseitigen Ende der Streckbank, der andere verharrte an jener der Fußseite — und dann kurbelten beide Männer auf ein leises Kommando hin in entgegengesetzte Richtungen.
Der Gefangene heulte auf wie ein getretener Hund, als seine gefesselten Arme in die eine, seine Füße in die andere Richtung gezogen wurden. Immer straffer spannte sich sein Körper. Sein Gesicht wurde zuerst rot, dann blass. Er schrie, dass ich im Innern meiner Seele zitterte. Doch dann war sein Körper so ausgestreckt, dass die Haut auf seiner Brust und seinem Bauch straff war wie ein Trommelfell. Der Vagant atmete nur noch japsend und hatte keine Luft mehr für Schmerzensschreie. Blut quoll aus seinen Hand- und Fußgelenken, die unbarmherzig von den eisernen Klammern gehalten wurden. Dann erscholl ein Geräusch, als zerreiße jemand einen Streifen Leder - und der linke Oberarm des Gefangenen kam mit einem Ruck wohl zwei Fingerbreit weit aus der Schulter. Pierre de Grande-Rue brachte ein Wimmern zustande, trotz aller Atemnot. Und Nicolas Garmel, der Bader, der doch schon so viele Tote gesehen haben musste, würgte und hustete und wandte sich ab.
Die Folterknechte lösten die Walzen. Seufzend entspannte sich der Körper des Gefangenen ein wenig, während ihm einer seiner Peiniger mit der Kelle Wasser über den Kopf goss. Doch dies war beileibe keine Geste der Barmherzigkeit, wie mir sogleich klar wurde. Vielmehr sollte Pierre de Grande-Rue nur wieder zu Kräften kommen, um die nächste Qual umso länger erdulden zu können.
Der Vagant blieb ausgestreckt und gefesselt, wie er war. Nun jedoch kam einer der Folterknechte mit einer Zange und hielt dem Gefangenen eine glühende Kohle unter den rechten Fuß. Ich vernahm für einen Moment ein leises Zischen und roch den scharfen Gestank verbrennender Haut, dann erfüllte nur noch das Geheul des Vaganten meinen Kopf. Pierre de Grande-Rue schrie und zuckte in seinen Fesseln, doch es nützte ihm nichts. Langsam wurde zunächst seine rechte Fußsohle schwarz gebrannt, dann auch seine linke. Er brüllte und lästerte uns in gar fürchterlichen Worten, doch seine Stimme wurde schwächer und schwächer.
Philippe de Touloubre, welcher der ganzen Prozedur bis dahin mit unbeweglicher Miene zugesehen hatte, gab Nicolas Garmel einen Wink. Der Bader musste vortreten und dem Gefangenen einige scharf riechende Kräuter, die er aus seiner Medizintasche hervorholte, unter die Nase halten. Denn wieder sollte Pierre de Grande-Rue zu Kräften kommen.
»Gestehst du nun?«, fragte der Inquisitor, als die Augen des Vaganten nicht länger glasig waren und man vermuten konnte, dass er wieder bei Sinnen war.
Doch Pierre de Grande-Rue hub nur wieder das Fluchen an und sagte uns in vielen Worten, die GOTT so sehr lästerten, dass ich es nicht wagte, sie ins Protokoll aufzunehmen, dass er uns nicht mehr gestehen könne, als er es bereits getan habe.
»Gut«, erwiderte da Meister Philippe, »dann lasst uns weitermachen.« Da kamen die Folterknechte mit schmalen, langen Zangen an. Ich starrte auf diese Marterwerkzeuge und zitterte plötzlich, sodass ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Ich hatte ihren Zweck erkannt: Sie sollten dem Gefangenen die Fingernägel herausreißen. Meister Philippe sah, wie es um mich stand und warf mir einen mitleidigen Blick zu. Dann fasste er mich am Arm. »Wir wollen in den Garten gehen«, sagte er zu mir. »Die beiden Folterknechte werden die Arbeit machen, für die GOTT sie erwählt hat. Nicolas Garmel wird aufpassen, dass der Gefangene nicht stirbt, bevor er uns alles gestanden hat. Ich glaube, dass es bald so weit sein wird.
Ruft uns herbei, wenn er bereit ist!«, befahl er dann einem der beiden Peiniger.
Fast willenlos ließ ich mich von dem Inquisitor aus dem Gewölbe führen. Ich war erleichtert, dass ich die Folter nicht länger mitansehen musste, doch zugleich spürte ich eine brennende Scham in mir. Ich wusste selbst, dass dies ein absurder Gedanke war, und doch: Ich kam mir vor, als würde ich Pierre de Grande-Rue im Stich lassen. Es war mir, als würde ich meine Pflicht als Mönch und Christenmensch nicht erfüllen.
Als wir einige Schritte weit den düsteren, unterirdischen Gang entlanggewandelt waren, hörten wir hinter unserem Rücken einen wilden, eher einem Tier denn einem Menschen entspringenden Schrei. Mir schauderte und ich ahnte, dass Pierre de Grande-Rue soeben seinen ersten Fingernagel verloren hatte.
Eiligen Schrittes strebte ich nach oben und bekümmerte mich nicht einmal mehr darum, dass ich mich am Inquisitor vorbeidrängte. Ich wollte nur noch hinaus, an die frische Luft und unter GOTTES gnädige Sonne.
Erst im lieblich duftenden Garten des Klosters besann ich mich meiner Würde wieder und verlangsamte meinen Schritt. Schamvoll blickte ich zu Boden, als der Inquisitor, der gemessenen Ganges gewandelt war, nach einigen Augenblicken zu mir aufgeschlossen hatte. »Verzeiht mir meine Schwäche, Meister«, murmelte ich. Da hob Philippe de Touloubre die Hand und segnete mich. »Es ist keine Schande, dem Anblick der Folter zu fliehen«, tröstete er mich. »Es ist vielmehr die natürliche Reaktion eines jeden Christenmenschen auf Qual und Blut. Nur wir Inquisitoren dürfen unser Haupt nicht abwenden. Dies erschwert die Bürde unseres Amtes, doch es ist eine Pflicht, die GOTT uns auferlegt hat: Wir müssen der Hitze der Flamme standhalten, denn mit dem Feuer brennen wir die kranken Stellen im Leib der Kirche aus, auf dass der große, strahlende Körper der Christenheit rein und gesund bleibe.«
»Das weiß ich, Meister«, erwiderte ich betrübt, »doch war es für mich bislang stets nur ein Ding des abstrakten Wissens. Jetzt jedoch, da ich die Folter nicht mehr nur in der Theorie durchdacht habe, sondern auch in der Wirklichkeit erleben musste, jetzt, ich gestehe es, ist mein Fleisch schwach geworden, wiewohl mein Geist nach Gerechtigkeit und Ausmerzung der Sünden dürstet.«
»Mein junger Bruder«, Meister Philippe ergriff meinen Arm, eine Geste der Vertraulichkeit, die ich von ihm noch nie erleben durfte. »Mein junger Bruder«, wiederholte er, »die Folter dient zweierlei Zwecken: Sie hält die Mutter Kirche rein und sie öffnet selbst dem verstocktesten Sünder den Weg zur Rettung seiner unsterblichen Seele. Sie hält die Kirche rein, nicht nur, weil wir Häretiker und Verbrecher mit ihrer Hilfe aufspüren. Vielmehr verhindert sie auch, dass die Inquisition und damit die Kirche je ein ungerechtes Urteil spricht und damit selbst sündig wird.
Denn, wie du sehr wohl weißt, niemand kann verurteilt werden, sofern er nicht gestanden hat. Nur das Geständnis zählt vor den Richtern dieser Welt und erst recht vor jenem einen Richter, vor dem wir uns einst alle werden verantworten müssen. Was aber, wenn ein Sünder trotz erdrückender Beweise gegen ihn nicht gestehen will? Sollen wir ihn wieder freilassen? Sollen wir wahrhaftig einen Wolf, einmal gefangen, wieder auf die Herde christlicher Lämmer loslassen?« Ich schüttelte den Kopf. Der Inquisitor blickte mich ernst an. »Unsere oberste Pflicht«, fuhr er fort, »ist es, diese Herde christlicher Lämmer zu schützen. Denke immer daran! Wir sind die DOMINI canes. Haben wir einmal einen Wolf gestellt, dann dürfen wir ihn nicht wieder entkommen lassen.
Und doch gehen wir mit Sündern gnädiger um als der Jäger mit dem Wolf. Denn was ist dieses irdische Leben denn schon anderes denn ein kurzes, von Pein und Angst gezeichnetes Jammertal vor jenem ewigen Leben, dem wir alle teilhaftig sind? Gewiss, die Folter erhöht die Pein, die wir erdulden müssen. Doch wie lange mag sie andauern? Ein paar Stunden, im schlimmsten Fall vielleicht ein paar Tage. Was ist diese kurze körperliche Qual angesichts der Ewigkeit der Höllenqual der Seele? Denn siehe, mein junger Bruder, mit glühenden Zangen mögen wir dem Körper Leid zufügen - doch wir öffnen damit selbst dem verstocktesten Sünder den Weg zurück zu IHM, in dem allein unsere Hoffnung lebt.
Hätten wir jenen Vaganten dort, dessen Schreie dich aus dem Kerker getrieben haben, nicht gestellt und gefangen, was wäre sein Schicksal gewesen? Ihm wäre die Folter erspart geblieben bis zum Ende seiner Tage. Dann jedoch wäre seine sündige Seele unversöhnt in SEIN Reich eingegangen und wäre vor SEINEN Richterstuhl gekommen! Was hätte ER zu Gunsten von Pierre de Grande-Rue in die Waagschale werfen können? Nichts!
Doch so, Bruder Ranulf, wird der Vagant gestehen, früher oder später. Mehr noch: Er wird gestehen und bereuen - und nach seinem Geständnis wird er der gerechten, doch irdischen Strafe zugeführt. Wie aber wird dann die Seele dieses Unglückseligen in SEIN Reich eintreten? Er wird kommen als reuiger Sünder und als jemand, der bereits in unserer Welt Buße getan hat für seine Untaten. Das mag die Waagschale seiner Sünden anheben!
Indem wir Pierre de Grande-Rue also foltern lassen, fügen wir seinem Körper Pein zu — doch wir retten seine Seele. Mit einigen Stunden der irdischen Qual öffnen wir ihm den Weg zur ewigen Seligkeit!« Mit diesen und vielen weiteren, wohlgesetzten Worten linderte der Inquisitor meine Gewissensnot. Ich dankte ihm und bat ihn noch einmal um Vergebung - welche er mir auch großmütig aussprach. Und doch plagten mich im tiefsten Innern meiner Seele Zweifel und Ängste, die ich bis heute nicht zu benennen vermag. Jedenfalls ergriff mich ein Schauder, als einer der beiden Folterknechte zu späterer Stunde im Klostergarten an uns herantrat, sich ehrfürchtig verneigte und nur einen kurzen, unheilvollen Satz sprach: »Der Vagant ist nun so weit, Ihr Herren.«
*
Ein Würgen überkam mich, als ich wieder in jenes finstere Verlies trat, das ich einige Stunden zuvor gleich einem Fliehenden verlassen hatte. Schon auf dem Gang zur Folterkammer wehte mir ein Odem aus Kot und Schweiß und verbranntem Fleisch entgegen, der mir schier den Atem nahm. Dann erblickte ich Pierre de Grande-Rue, der noch immer auf der Streckbank gefesselt lag, wiewohl die Folterknechte die Bänder gelockert hatten. Die Arme und Beine des Vaganten waren schrecklich verdreht, seine Hände - ich wagte nicht, sie mir genau anzusehen - glichen blutroten Klumpen. Blut war ihm auch aus Mund und Nase getreten und ihm in breiten Strömen bis auf den Körper geflossen. Der einst mächtige Brustkasten sah eingefallen aus wie der eines alten Mannes. Sein Blick war verschleiert, als er mühevoll den Kopf in unsere Richtung wandte.
»Gnade, Ihr Herren« flehte er. Seine Stimme klang so schwach, dass ich ihn kaum noch verstehen konnte.
Der Bader Nicolas Garmel stand an der Streckbank und rieb den Körper des Unholds mit stark nach Thymian und Wacholder riechenden Tüchern ab, die den Gefangenen erfrischen sollten. »Willst du nun gestehen?«, fragte Meister Philippe. Seine Stimme klang streng.
Als der Vagant nickte, gebot mir der Inquisitor, wieder ans Schreibpult zu treten und mich bereit zu machen, den Bericht getreulich niederzuschreiben.
Mit brechender Stimme — oft musste ihn Philippe de Touloubre ermahnen, deutlicher zu reden — gestand Pierre de Grande-Rue, dass er, erhitzt vom Besuch bei einer Schönfrau, Heinrich von Lübeck erstochen habe, als er diesen zufällig im Schatten von Notre-Dame getroffen hatte. Sein Motiv war die Gier nach Geld, denn bei der käuflichen Frau war er all seine Taler los geworden und suchte sich nun Ersatz zu verschaffen.
Nach seiner grausigen Tat beugte er sich über Heinrich von Lübeck und begann, dessen Kutte zu durchsuchen. Ein Manuskript zog er zuerst hervor, denn es war der größte Gegenstand, den der Mönch bei sich getragen hatte. Den Geldbeutel konnte er allerdings nicht mehr an sich nehmen, denn bevor er weitere Durchsuchungen anstellen konnte, bemerkte er Jacquette und den Domherrn in einer Nebengasse.
Eilig floh Pierre de Grande-Rue vom Platz - nicht ohne sich die Gesichter der beiden Zeugen zuvor einzuprägen und sich vorzunehmen, sie so bald als möglich zu ermorden, um mögliche Zeugen auszuschließen. Was er denn auch tat.
Den Text, den er dem toten Mönch geraubt hatte — und den er nicht zu lesen vermochte —, versteckte er in einem aufgegebenen, halb verfallenen Haus in der Rue Portefion, direkt neben dem Temple. Dort fänden wir es, da es bis zur heutigen Stunde unangetastet geblieben sei, unter der fünften Bodendiele nach dem Eingang, die er gelockert habe.
Warum Heinrich von Lübeck in seinen letzten Momenten »Terra perioeci« geschrieben habe — das konnte oder wollte Pierre de Grande-Rue jedoch auch nach langer Folter nicht sagen. So schrieb ich denn getreulich alles Wesentliche dieses Geständnisses nieder und erschauderte, da ich gezwungen war, noch einmal all der grausigen Taten zu gedenken, die dieser Mann begangen hatte. Heiße Trauer um Jacquette stieg in mir auf, deren zufällige Anwesenheit an jenem düsteren Ort ihr Todesurteil gewesen war. Doch ich bezwang mich und ließ mir keine Regung anmerken. Ich spürte, dass mich Meister Philippe hin und wieder verstohlen beobachtete und wollte mir keine weitere Blöße erlauben. Derweil war die Stimme des Vaganten schwächer und schwächer geworden. Nach den letzten Worten, die ich so getreulich mitgeschrieben hatte, brach er plötzlich ab, keuchte vernehmlich - und fiel dann in eine tiefe Bewusstlosigkeit. Auch als einer der Folterknechte mit einer glühenden Zange kam und ihm damit in die Lenden brannte, stöhnte er zwar, wachte jedoch nicht wieder auf. Nicolas Garmel eilte zu Pierre de Grande-Rue, zwang den Mund des Gefangenen auf und flößte ihm eine durchdringend riechende, ölige Flüssigkeit ein. Auch dies brachte allerdings keine Besserung. Da erhob sich der Inquisitor und gebot mir, das Protokoll zu unterschreiben und zu datieren. »Ich glaube, wir haben genug gehört. Wir werden Pierre de Grande-Rue wieder vernehmen, wenn er sich etwas erholt hat. Dann mag er sein Geständnis unterzeichnen und warten, bis ein Richter ihm den Prozess macht. GOTT möge ihm gnädig sein.« Er schlug das Kreuz über dem bewusstlosen Gefangenen. »Derweil«, fuhr Philippe de Touloubre dann fort, »werden wir einen kurzen Ausflug unternehmen.«
»Wohin, Meister?«, fragte ich.
»Zur Rue Portefion!«, befahl er. »Ich möchte sehen, was dort unter dem fünften Bodenbrett nach der Pforte versteckt ist.«
So eilten wir Richtung Temple - jener alten, finsteren Burg der Templer, wo einst das Herz dieses mächtigen Ritterordens schlug und wo, so geht die Legende, ihr sagenhafter Schatz gelagert lag. Vom Kloster Saint-Martin-des-Champs aus waren es kaum mehr als ein paar Dutzend Schritte Richtung Norden bis zum Temple. Wir liefen einen Weg entlang, an dem einige ärmliche Hütten standen, umgeben von Feldern. Zu unserer Rechten schimmerte die Stadtmauer von Paris in der dunstigen Hitze des golden heraufdämmernden Abends. Dann bogen wir auf die Rue Portefion, die sich vom Weg, den wir zunächst gegangen waren, nur dadurch unterschied, dass sie etwas breiter war.
Doch mussten wir hier, so kurz vor unserem Ziel und fast schon im Schatten der mächtigen Mauern des Temple, unsere ungeduldigen Schritte einhalten, denn eine Prozession der Dozenten und Studenten der Universität zog an uns vorüber.
Ich weiß nicht, zu welcher Reliquie, zu welcher jenseits der Stadtgrenzen liegenden Kirche die wohl vierhundert oder fünfhundert Gelehrten gezogen waren, doch wunderte ich mich gar sehr, dass selbst sie, die weisesten und klügsten Männer von Paris, kein anderes Mittel der Hilfe gegenüber der drohenden Krankheit mehr sahen als die Prozession. So waren, im Angesicht der Not, die gelehrtesten Professoren und Doctores doch nicht besser als die einfachsten Bauern, die sich auch nicht anders zu helfen wussten als durch Fürbitte, Fasten und Prozession.
In Zweierreihen zogen sie an Meister Philippe und mir vorüber: Die ältesten Professoren zuvorderst, Kerzen in Händen haltend, dann die jüngeren, dann die Studenten, getrennt nach ihren Kollegien. Alle waren sie barfuß und alle sangen sie fromme Hymnen. Der Inquisitor segnete sie.
Ich erblickte jedoch plötzlich einen Schatten am Wegesrand - und erbleichte. Zu beiden Seiten der Prozession zogen Ratten durch den Straßenstaub. Fast schien es mir, als hätten sie sich dem Zug der frommen Büßer beigestellt in satanischem Hohn. Dann erkannte ich die gewöhnlichen Ratten mit braunem Fell, wie man sie stets in allen Städten und Dörfern trifft. In ihrer Mitte jedoch krochen auch die fast unterarmlangen schwarzen Ratten mit, die doch sonst die Todfeinde der braunen Tiere sind und die nur auf den Feldern und in den Wäldern leben. Vielen Tieren, ob braun oder schwarz, quoll Blut aus dem Maul. Sie fürchteten die Menschen nicht mehr — und die Professoren und Studenten, fromme Lieder singend, schienen sie nicht zu sehen.
Ich schlug das Kreuz und flüsterte ein PATER noster. Und selbst Meister Philippe, der zunächst mich ansah, dann meinem Blick folgte und so ebenfalls der Ratten gewahr wurde, tat es mir gleich. »Wir wollen zum Versteck des Vaganten eilen«, sagte er düster. »Ich glaube, unsere Zeit wird knapp.«
*
Wir fanden ohne Schwierigkeiten das verfallene Haus, das uns Pierre de Grande-Rue beschrieben hatte. Die Rue Portefion führte an der Mauer des Temple entlang, im rechten Winkel zu der Straße, auf der ich mit Bruder Anselm von Köln kommend gen Paris gewandert war. Im Umkreis von einigen Dutzend Schritt rund um die finstere Festung stand kein Haus — so, als ginge von der Burg ein Fluch aus, der Fluch der Templer; so, als müssten nicht nur der König und der Papst vor diesem Fluch zittern, sondern auch die Bauern und Knechte, welche die Felder um die strahlendste Stadt Frankreichs bestellten. Einzig eine Hütte erhob sich nur wenig über das hohe, fast erntereife Getreide: kaum mehr als ein schäbiger Verschlag, flach, mit schiefem, hinten eingefallenem Dach, ohne Fenster, mit einer leeren Höhle in der Straßenseite statt einer Tür. Disteln und Brombeeren hielten die morschen hölzernen Seitenwände umklammert - und vielleicht verhinderten sie allein, dass diese erbärmliche, wohl schon vor vielen Dutzend Jahren aufgegebene Behausung nicht schon längst ganz zusammengestürzt war.
Kein Mensch war weit und breit zu sehen, im dornigen Gestrüpp regte sich keine Ratte, keine Eidechse huschte über die sonnenwarmen Wände, nicht einmal der Gesang eines Vogels war hier zu vernehmen.
Mir kam es wie eine Mahnung GOTTES vor, dass ER uns schließlich bis hierhin geführt hatte. Da stand, fast zum Greifen nah, der Temple vor unseren Augen, die Festung des einstmals mächtigsten Ritterordens der Menschheit. Und, da die Templer legendär reich gewesen waren, das größte Schatzhaus des Abendlandes. Den Schatz hatte niemand je gefunden, denn sein Versteck hatte der Großmeister des häretischen Ordens nicht einmal unter der Folter und auf dem Scheiterhaufen preisgegeben. Es gab nicht wenige, die ihn noch immer irgendwo in den Mauern der Burg verborgen glaubten. Doch nicht zu diesem legendenbehafteten Ort hatte ER unsere Schritte geleitet - sondern zu einer schäbigen Hütte, die so ärmlich war, dass nicht einmal Tiere sich in ihr verirrten. Hier sollten wir unseren Schatz finden, nicht in der Burg der stolzen Templer. »Ein gut gewähltes Versteck«, sagte der Inquisitor und so etwas wie Anerkennung schwang in seiner Stimme mit.
Wir traten ein. Es dauerte einige Augenblicke, bis meine Augen sich an das Halbdunkel in der Hütte gewöhnt hatten. Hätte ich nicht gewusst, dass Pierre de Grande-Rue sich diesen Ort erwählt hatte, mir wäre nicht aufgefallen, dass er einem Menschen als Versteck diente. Ich sah zwar sofort viele verwischte Fußspuren im dicken Staub, der den Boden bedeckte, doch wie alt diese Spuren waren, das vermochte ich nicht zu sagen. Ich hätte wohl gedacht, dass-sich hier vielleicht ein Bettler oder Wandersmann für eine Nacht ein ruhiges Plätzchen gesucht hätte.
Nun aber, da ich wusste, was der Vagant gestanden hatte, bemerkte ich, wie sorgfältig er seine Bleibe getarnt hatte: Ein paar Armvoll altes Stroh, wie zufällig an einer Seitenwand hingeworfen, erkannte ich als Schlafstatt, die nicht nur leidlich bequem war, sondern von der aus ein Liegender auch durch die Öffnung in der Hüttenfront einen Blick auf den Weg hatte, ohne dabei selbst sofort entdeckt zu werden. Im schiefen, aus groben Blöcken gemauerten Kamin lag Asche, die nicht mit jener feinen Staubschicht bedeckt war, welche doch den Boden mit graubraunen Schleiern überzog — ein Indiz dafür, dass hier vor noch nicht allzu langer Zeit ein Feuer gebrannt haben musste. Eine morsche Truhe, deren teilweise zerbrochene Bretter den Blick auf ihr leeres Inneres freigaben, stand nur scheinbar zufällig fast direkt an der Türöffnung.
Der Inquisitor hatte einen raschen Blick zum Boden geworfen und lächelte dünn. »Die Truhe steht genau über dem fünften Bodenbalken. Wir wollen sie ein wenig verrücken«, sagte er und packte so rasch zu, dass ich, obwohl ich ihm beisprang, keine Hilfe mehr leisten konnte: Kaum hatte Philippe de Touloubre die Truhe beiseite gezerrt, blickten wir auf ein Brett, das nur lose auf dem Boden auflag. Der Inquisitor bückte sich, hob das Holz hoch und griff in die dunkle, längliche Öffnung, die sich darunter auftat.
»Die Wahrheit ist Preis und Segen der Folter, Bruder Ranulf!«, rief er triumphierend und holte einen in dickes, braunes, schon brüchiges Leder gebundenen Kodex hervor.
Doch als der Inquisitor den Umschlag aufschlug, erkannte ich, dass es gar kein normales Buch war. Ich rang erschrocken nach Luft: Es war ein Werk der Geografie.
Langsam blätterte Meister Philippe die Seiten um. Und wiewohl ich nicht wagte, ohne eine Aufforderung von ihm näher heranzutreten, sah ich doch, dass es zwölf Landkarten waren, die, geschickt gefaltet, in einem Kodex zusammengebunden waren. Ich warf flüchtige Blicke auf Länder und Meere, auf Gebirge, Flüsse und Städte, auf verwirrende Linien und feine Zeichnungen, auf ein Gewirr aus schwarzen, roten, grünen, gelben, blauen und hellroten Farbflecken, die ich auf die Schnelle nicht zu deuten vermochte.
Der Inquisitor hatte den Kodex in der Mitte geöffnet, etwas darin geblättert und hatte dann erst die erste Seite aufgeschlagen. Ich, der ich meine Neugier kaum noch zu beherrschen wusste, streckte mich und wollte einen Blick auf jenes erste Blatt erhaschen. Einen Ozean sah ich dort verzeichnet, ich konnte allerdings nicht sehen, welches Meer es sein sollte.
Darüber prangte in großer Schrift der Titel des Werkes, den ich ebenfalls nicht zu lesen vermochte. Immerhin jedoch gelang es mir, den Namen des Kartografen zu entziffern, denn der war noch größer und zudem in auffälliger roter Schrift geschrieben. Er hieß Castorius aus Ravenna - und ich, der ich mir doch noch vor wenigen Wochen auf meine Studien und meine Gelehrsamkeit so viel eingebildet hatte, hatte diesen Namen noch nie vernommen.
Ich zermarterte mir noch mein Gehirn und suchte in meinem Gedächtnis vergebens nach irgendwelchen Erinnerungen an diesen Gelehrten, da bemerkte ich, wie der Inquisitor blass wurde. Die Hände von Meister Philippe zitterten, doch sagte er kein Wort. Ich war überrascht, ja erschrocken und versuchte, noch einen letzten Blick auf jenes erste Blatt des Kodex zu erhaschen, bevor der Inquisitor den Band mit einer raschen, heftigen Geste zuschlug. Und da erzitterte auch ich: Denn in jenem Ozean auf dem ersten Blatt, den ich nicht zu deuten vermochte, da lag ein großes Land. Quer über Berge und Flüsse hatte Castorius, der unbekannte Kartograf, diesen Namen geschrieben: terra perioeci.
*
Meister Philippe und ich starrten uns eine endlos lange Zeit schweigend an. Es war nicht nötig, dass wir Worte wechselten. Wir wussten beide, was wir soeben gesehen hatten.
Schließlich seufzte der Inquisitor. Dann nahm er den Kodex und verstaute ihn in einer ledernen Tasche, die er am Gürtel seiner Kutte trug. Das Werk des Castorius schlug er nicht noch einmal auf. Enttäuscht blickte ich ihn an, doch Meister Philippe schüttelte den Kopf.
»Wir wollen dieses Buch nicht hier studieren«, beschied er mir entschieden. »Und nicht jetzt. Später werden wir die Muße dazu haben. Nun wollen wir zum Kloster Saint-Martin-des-Champs zurückeilen. Die Mönche dort sollen Boten zum Prévôt royal und zum Bischof von Paris entsenden und den edlen Herren sagen, dass wir den Mörder des Heinrich von Lübeck und des Nicolas d'Orgemont gefangen und überführt haben.
Doch vor allem wollen wir diesen Mörder selbst noch einmal dringlich befragen, wenn es sein muss, auch unter der Folter. Ich glaube nun nämlich nicht mehr, dass Pierre de Grande-Rue des Lesens nicht kundig ist. Ich will noch heute Abend wissen, was er uns über ein Land erzählen kann, das terra perioeci genannt wird.« So gingen wir denn in ebenso unziemlicher Hast unseren Weg zurück, wie wir ihn gekommen waren. Doch unsere Eile war vergebens: Als wir in Saint-Martin-des-Champs anlangten, erblickten wir die beiden Folterknechte und Nicolas Garmel im Garten. Die zwei Knechte ließen einen Weinschlauch kreisen und blickten gleichmütig in die rote Abendsonne, der Bader jedoch war blass und zitterte am ganzen Leib. »Das bedeutet nichts Gutes«, flüsterte der Inquisitor, als wir der drei Männer ansichtig wurden.
»Der Gefangene ist tot«, meldete uns einer der Folterknechte denn auch sofort. Sein Gesicht blieb reglos.
»Wie konnte das geschehen?«, fragte Meister Philippe den Bader streng.
Nicolas Garmel fiel auf die Knie, Tränen rannen über seine Wangen. »Verzeiht mir, Herr«, flehte er. »Ich konnte den Vaganten nicht länger in diesem Leben halten. Ich wollte ihm einen stärkenden Trank einflößen, doch gelang es mir nicht, seinen Geist wieder zu wecken. So kippte ich ihm zwar den Trank in den Mund, doch Pierre de Grande-Rue konnte ihn nicht mehr hinunterschlucken. Er wurde rasch schwächer und schwächer und starb schließlich.«
»Er hat nicht noch einmal das Bewusstsein erlangt?«, vergewisserte sich der Inquisitor. Zorn und Enttäuschung schwangen in seiner Stimme mit.
Der Bader zitterte noch stärker. »Nein, Herr.«
»Hat er, da sein Geist schon umnachtet war, trotzdem noch etwas gesagt? Hat er Worte gemurmelt - Worte, die dir vielleicht sinnlos erschienen sind? Lateinische Worte?«
Nicolas Garmel schüttelte den Kopf und auch die beiden Folterknechte verneinten.
»Gut«, sagte der Inquisitor und holte tief Luft. »So war es denn GOTTES Wille, dass Pierre de Grande-Rue sein letztes Geheimnis mit ins Grab nehmen durfte. Wir wollen sehen, dass wir dieses, das letzte Rätsel auf anderen Wegen zu lösen vermögen. Auch wenn es nun vielleicht gar nicht mehr wichtig ist, denn der Täter hat seine irdische Strafe schon gefunden. Ich segne Euch und vergebe Euch den Tod des Gefangenen.«
Dann wandte sich Meister Philippe an mich. »Ich werde zum Prior von Saint-Martin-des-Champs eilen und ihn bitten, die Boten zum Prévôt royal und zum Bischof unverzüglich loszuschicken. Ich werde zuerst meinem Prior einen Bericht erstatten und dann den beiden hohen Herren selbst einen ihnen sicherlich nicht unwillkommenen Besuch machen.
Du wirst dich vergewissern, dass Pierre de Grande-Rue auch wirklich dies irdische Jammertal verlassen hat. Dann wirst du seinen Tod im Protokoll festhalten. Dieses Protokoll wirst du dann ins Kloster bringen. Dort werden wir uns zu späterer Stunde wieder treffen. Ich werde es unterschreiben und siegeln. Damit ist der Fall abgeschlossen - auch wenn wir beide wissen, dass es noch eine Frage gibt, die ihrer Beantwortung harrt.
Für den Prévôt royal, den Bischof und auch unseren Prior jedoch mag es schon reichen, dass der Täter gefunden und für immer unschädlich gemacht worden ist. Nun eile dich!«
Er segnete mich, dann gebot er mir mit einer Geste, noch einmal ins finstere Verlies hinabzusteigen.
Ich gehorchte dem Inquisitor, wiewohl mir wieder das Herz bis zum Halse schlug. Die Folterknechte blieben in der Sonne sitzen, doch der Bader musste mich begleiten, denn ich wollte einen sachkundigen Mann an meiner Seite haben, wenn ich den Toten erblickte. Auch wollte ich, ich muss es gestehen, nicht allein diesen düsteren Ort betreten.
Schweigend standen Nicolas Garmel und ich einige Augenblicke später an der Streckbank. Pierre de Grande-Rue lag noch immer in Fesseln dort, doch war diese Maßnahme längst überflüssig. Denn ohne Zweifel war der Vagant tot.
Selbst wenn er noch gelebt hätte, er wäre nicht mehr fähig gewesen, die Streckbank aus eigener Kraft zu verlassen. Ich blickte auf seine ausgerenkten Gliedmaße, die verkohlten Füße, die Brandmale überall an seinem Körper, die blutigen Hände, das fahle, selbst noch im Todesschlaf vom Schmerz gezeichnete Gesicht.
»Quält Euch nicht, Herr Garmel«, sprach ich dem Bader respektvoll Trost aus. »Selbst der Leibarzt des Papstes hätte diesen Mann wohl nicht mehr von der Schwelle des Todes fortzerren können.«
»Da irrt Ihr Euch, Bruder Ranulf«, widersprach er mir da und seufzte tief.
Ich blickte ihn überrascht an. »Wie könnt Ihr das sagen?«, fragte ich. »Welcher Mensch könnte solche Verletzungen überleben?«
»Ich«, wisperte da der Bader so leise, dass ich zunächst glaubte, mich verhört zu haben. »Ich«, wiederholte er dann mit festerer Stimme, »habe diese Qualen überlebt.«
»Ihr seid gefoltert worden?«, stieß ich ungläubig hervor.
Der Bader nickte, dann setzte er sich auf einen Schemel, überwältigt von Schwäche und seinen Erinnerungen.
»Oh, Bruder Ranulf«, gestand er mir, »ich war ein Ketzer, so sündig wohl wie dieser Vagant. Zwar habe ich nie einen Menschen getötet, doch war ich einst in meiner Jugend, als ich noch Badergehilfe in der schönen Stadt Carcassonne war, ein Anhänger jener Häretiker, die heute kaum noch einer kennt und deren Namen niemand mehr auszusprechen wagt, ohne zu erzittern.«
»Ihr wart«, ich zögerte, »Ihr wart Katharer?«
Der Bader nickte schmerzlich. »Ja. Und ich muss Euch wohl nicht sagen, welcher Inquisitor meinen Sünden schließlich auf die Schliche kam.«
Lange schwiegen wir beide und hingen unseren Gedanken nach. Ich wagte nicht, Nicolas Garmel nach Einzelheiten zu fragen. Doch schließlich ergriff der Bader von selbst wieder das Wort. »Meister Philippe verfuhr gnädig mit mir. Ich lag auf der Streckbank einst wie dieser Unglückliche heute. Ich leugnete, wie Pierre de Grande-Rue geleugnet hatte. Ich wurde gefoltert wie er — und ich gestand schließlich meine Sünden wie er, als die Qualen meine Verstocktheit lösten.
Doch GOTT war gnädiger mit mir als mit diesem Vaganten: Drei Tage lag ich nach meinem Geständnis wohl auf der Schwelle des Todes, doch ER ließ mich ins Leben zurückkehren. Dabei wollte ich dies gar nicht mehr, denn inmitten meiner Qualen und Fieberfantasien glaubte ich, dass einem Häretiker wie mir der Scheiterhaufen gewiss war. Das wisst Ihr doch, Bruder Ranulf, nicht wahr? Überführte Ketzer werden verbrannt. Wer seine Untaten gesteht — so wie ich es tat -, dem wird wenigstens die Gnade gewährt, nicht lebenden Leibes verbrannt zu werden.«
Ich nickte, denn davon hatte ich gehört. »Geständige Katharer wurden erwürgt, bevor man ihre Körper den Flammen übergab. Wer jedoch bis zum Ende verstockt blieb, der musste ohne diese Gnade auf den Scheiterhaufen.«
Nicolas Garmel nickte. »So wünschte ich denn in jenen drei Tagen, ER möge mich gleich in SEIN Reich holen, auf dass mir das Würgeisen und der Scheiterhaufen erspart blieben.
Meister Philippe kam zu mir in meine Zelle und sprach gütig mit mir. Er fragte mich, ob ich alle meine Sünden bereute und fortan als getreuer Sohn der Mutter Kirche leben wollte. Gehorsam bejahte ich. Da sagte er mir, dass die Inquisition Männer wie mich benötige, denn ich sei ein des Heilens kundiger Mann, kundig auch in allen anderen Dingen des menschlichen Körpers. Als reuiger Sünder hätte ich in die Hölle geblickt — und würde mich fortan viel gewissenhafter auf dem allein selig machenden schmalen Pfad der Tugend halten als ein gewöhnlicher Christenmensch, der nie dem Reiz der Häresie und der Qual der Folter ausgesetzt worden war.«
Der Bader nickte und lächelte schmerzlich. »Die Gnade, die mir Meister Philippe gewährte, war so groß, dass ich halb ohnmächtig zu Boden sank und seine Hand küsste. Mir, der ich den sicheren Tod vor Augen glaubte, öffnete sich unversehens wieder eine Tür zum Leben! Zu einem Leben als Diener der Kirche, zu einem GOTT gefälligen Leben, in dem mir Zeit gegeben wurde, alle meine früheren Sünden durch fromme Werke wieder auszugleichen.
So diente ich denn fortan der Inquisition. Als Meister Philippe aus dem Süden fortging und nach Paris kam, da nahm er mich mit. Hier bin ich zum angesehenen Bader geworden, hier habe ich das Bürgerrecht erworben. Kein Nachbar weiß, welche Torheiten ich einst begangen habe.
Wann immer Meister Philippe meiner Dienste bedarf, kann er sich auf mich verlassen. Ich untersuche die Toten, deren Schicksal die Inquisition interessiert. Ich sehe Besessene an. Wenn ein Inquisitor vermutet, dass sich in der Tracht eines Christenmenschen ein Jude versteckt, dann holt er mich, auf dass ich begutachte, ob der Verdächtige beschnitten ist oder nicht. Wann immer Meister Philippe dies befiehlt, stehe ich den Folterknechten bei, auf dass ein Verdächtiger nicht vorzeitig ins Jenseits entflieht. Dies, ich gestehe es, tue ich mit unruhigem Gewissen, denn meine Heilkunst dient ja in solchen Fällen nur dazu, die Qual eines Gefangenen zu verlängern. Doch dann sage ich mir stets, dass dieser Sünder es verdient hat zu leiden - und dass für mich, den größten Sünder unter allen, die Folter der Weg war zurück zu einem rechtschaffenen Leben.«
»In diesem Fall hätte deine Kunst den Gefangenen jedoch nicht gerettet«, erwiderte ich. »Denn selbst wenn du Pierre de Grande-Rue für heute am Leben gehalten hättest: Seine Sünden waren dergestalt, dass er auf jeden Fall hingerichtet worden wäre. Wer drei Menschen den Tod bringt, der verdient selbst nichts anderes als den Tod.«
»Aber was ist, wenn Pierre de Grande-Rue diese Untaten nicht begangen hat?«, fragte der Bader. Seine Stimme war zu einem Hauch geworden.
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Entsetzt starrte ich ihn an. »Was redet Ihr da, Herr Garmel? Der Vagant hat alles zugegeben!« Nun zitterte der Bader wieder am ganzen Leib. »Ja, das stimmt«, antwortete er. »Und Meister Philippe, das weiß ich sehr wohl, ist erleichtert, in ihm den Mörder gefunden zu haben. So kann er es dem Prévôt royal und dem Bischof melden, denn lange hat er ja vergebens nach dem Sünder gesucht.
Meister Philippe hat mir immer große Gnade erwiesen, sodass ich ihn nicht enttäuschen mag. Und doch: Es quält mein Gewissen, sodass ich es wenigstens Euch, einem Mann GOTTES, anvertrauen muss. Doch schwört, dass Ihr es niemals dem Inquisitor verraten werdet!« Mir schauderte. Doch dann versprach ich dem Bader, sein Geheimnis niemandem zu enthüllen.
Ich habe mein Wort gehalten bis zu diesem Tag, da ich dies niederschreibe und alle Menschen, die jene Geschichte betrifft, längst in SEIN Reich eingegangen sind.
»Erinnert Ihr Euch der Wunden, die Heinrich von Lübeck und die Schönfrau Jacquette gezeichnet hatten?«, fragte mich der Bader. Mit Schrecken dachte ich daran zurück und nickte. »Es waren klaffende Wunden auf der Brust. Messerstiche, so sagtet Ihr.«
Nicolas Garmel nickte. »Ja, Bruder Ranulf, Messerstiche. Doch beide Wunden waren auf der rechten Seite der Brust.« Und plötzlich verstand ich.
Mir war, als würde sich der Boden unter mir auftun und mich in den feurigen Schlund der Hölle zerren. Mir war, als könnte ich nicht mehr atmen. Mir war, als würde sich Pierre de Grande-Rue von der Streckbank erheben und mit zermartertem Finger anklagend auf mich weisen.
»Ja«, flüsterte der Bader heiser, als er meines Entsetzens gewahr wurde, »das ist es, was mein Gewissen quält: In beiden Fällen — und auch bei Nicolas d'Orgemont, dessen Leiche Ihr nicht sähet, die ich jedoch ebenfalls untersuchte — klaffte die Wunde auf der rechten Brustseite.
Wenn man nun annimmt, dass der Mörder jener Unglücklichen vor ihnen gestanden hatte, dann deutet dies darauf hin, dass der Messerstoß mit der linken Hand geführt worden ist. Der Unhold, den die Inquisition sucht, muss ein Linkshänder sein.«
Ich sah jene Szene im Schlachthof wieder vor meinem geistigen Auge, da Pierre de Grande-Rue das Messer nach mir warf und ich glaubte, dass ich im nächsten Moment sterben würde. »Der Vagant jedoch war Rechtshänder«, murmelte ich.
*
Lange saßen wir danach schweigend vor der Streckbank und blickten auf den Leichnam von Pierre de Grande-Rue. Je länger ich grübelte, desto größer wurde meine Überzeugung, dass dessen erstes Geständnis der Wahrheit entsprach - nicht das, was er uns nach der Folter gesagt hatte.
Schließlich musste ich mir selbst gegenüber zugeben, dass der Vagant uns nicht belogen hatte: Jener Mann, dessen Qualen ich als Zeuge hatte mitansehen müssen, mochte ein Sünder gewesen sein. Wohl auch hatte er versucht, die Leiche des Heinrich von Lübeck auszurauben. Außerdem hatte er den gestohlenen Kodex in der Hütte beim Temple versteckt. Doch getötet hatte er den Mönch nicht. Und auch nicht Jacquette oder den Domherrn.
Heiße Scham stieg in mir auf, da ich mich meiner Rachsucht erinnerte, als der Vagant leiden musste. Er wurde, wie Jesus am Kreuz, gequält, ohne schuldig zu sein. Und ich, ich war kaum besser als jener Schreiber, der wohl einst dem Hohepriester Kaiphas das Protokoll geführt hatte, da er unseren Heiland bezichtigte. Zur Scham kam die Angst: Denn wenn Pierre de Grande-Rue nicht der Mörder war — wer war es dann? Wie sollte ich ihn jetzt noch finden können? Jetzt, da Meister Philippe den Fall für gelöst erklärt hatte? Jetzt, da selbst der Bischof von Paris den Vaganten in einer Messe in Notre-Dame vor allem Volk zum Schuldigen erklären würde? Niemand würde mehr nach dem wahren Täter fahnden. Der Bader mochte meine Gedanken erraten haben. Denn plötzlich fragte er mich: »Werdet Ihr weitersuchen, Bruder Ranulf?« Ich blickte ihn an, dann nickte ich langsam. »Ja, Herr Garmel, ja, das werde ich.«
»GOTT segne Euch, Bruder Ranulf«, murmelte er. »Euch auch, Herr Garmel«, antwortete ich. Dann beteten wir gemeinsam an der Streckbank, auf der Pierre de Grande-Rue sein Leben ausgehaucht hatte.
Als wir danach zurück ans Tageslicht stiegen, nahm ich den Bader im Klostergarten beiseite. »Kein Wort darüber zu irgendjemanden!«, flüsterte ich ihm zu.
Da lächelte Nicolas Garmel bitter. »Bruder Ranulf«, sagte er, »dieses Versprechen kann ich Euch nicht geben. Ich werde schweigen, doch lag ich schon einmal auf der Streckbank. Sollte Meister Philippe mich befragen, so werde ich ihm keine Lüge erzählen, denn ein zweites Mal will ich nicht den Folterknechten in die Hände fallen. Ich kann Euch nur zusagen, dass ich nicht ungefragt dieses Geheimnis ausplaudern werde.«
»Das ist immerhin etwas. Ich danke Euch, Herr Garmel, und GOTTES Segen sei mit Euch.« Mit diesen Worten wandte ich mich um und strebte dem Kloster in der Rue Saint-Jacques zu, verwirrt an Geist und Seele.
*
Auf dem Weg zurück achtete ich nicht der Menschen auf den Straßen. Und so, als spürten sie, dass ich etwas in mir trug, das Schrecken verursachte, so, als hätte mich die Folter, deren Zeuge ich an diesem Tag geworden war, mit einem unguten Miasma umgeben, so machten mir alle eilig Platz.
Ich grübelte unentwegt über das, was ich gesehen und vernommen hatte, doch meine Gedanken glichen Raben, die in wilden Bögen um einen Toten kreisten, nicht dem geraden Flug der Zugvögel, die ein festes Ziel vor Augen haben — und es auch erreichen. Welche Spur mochte mich jetzt noch zu dem Linkshänder führen, den außer mir niemand mehr suchte? Mochte das Geld, das Heinrich von Lübeck bei sich getragen und das der Vagant nicht gefunden hatte, der Grund für sein schreckliches Ende gewesen sein? War es vielleicht doch mehr als ein Zufall, der das Schicksal des Mönches mit dem von Jacquette und dem des Domherrn verwoben hatte? Doch welche Verbindung mochte es, außer der unaussprechlichen Sünde, zwischen einem Dominikaner und einer Schönfrau gegeben haben?
So sehr ich alle Fragen in meinem Geiste auch drehte und wendete, stets kam ich zu einer einzigen zurück: Was bedeutete terra perioecp. Zum zweiten Mal hatte ich an diesem Tag jenen geheimnisvollen Namen gelesen. Doch was verbarg sich hinter diesem Land? Warum mochte Heinrich von Lübeck jene zwei Worte in seinem Todeskampf niedergeschrieben haben?
Ich blieb mitten auf der Straße stehen, als hätte mich der Schlag getroffen. Denn plötzlich musste ich mir eingestehen, was ich schon lange geahnt, jedoch nicht bis ins Innerste meiner Seele gelassen hatte: Meister Philippe verschwieg mir etwas, er wusste mehr darüber, als er mir gesagt hatte.
Der Inquisitor hatte doch ohne Zweifel auch den rätselhaften Namen auf der Landkarte gelesen. Er wusste doch, dass er jenes Buch in Händen hielt, mit dem unser unglückseliger Mitbruder in jener Nacht durch die Straßen von Paris geeilt war, in der sich sein Schicksal erfüllte. Hätte Meister Philippe da nicht überrascht sein müssen? Verwirrt, so wie ich es war? Hätte er nicht sofort jenes Werk, dessen Verfasser ich nicht kannte, aufblättern und auf der Stelle nach neuen Spuren durchsuchen müssen?
Nein, er hatte es rasch zugeschlagen und eingesteckt - so, als wüsste er bereits, was dessen Inhalt war. Wenn der Inquisitor das jedoch wusste, was mochte dies bedeuten? Kannte er den wahren Grund für die letzte Botschaft des sterbenden Mitbruders? Fürchtete er sich, mir dessen Geheimnis anzuvertrauen? Oder misstraute er mir, weil er mehr von meinen heimlichen Wegen wusste, als mir lieb sein konnte? Würde er sich gar, ich erschauderte, nun, da er einen Sünder überführt glaubte, einem anderen zuwenden: mir?
Zweifel, Fragen und Furcht trieben mich um und verwirrten meinen Geist. So sehr war ich mit ihnen beschäftigt, dass ich Klaras Dienerin nicht bemerkte, obwohl sie in der Rue Saint-Jacques vor dem Kloster auf mich wartete. So sehr war ich in meinen Gedanken gefangen, dass ich erschrocken zusammenzuckte, als sie plötzlich an meine Seite trat und sich demütig vor mir verneigte.
Schweigend steckte sie mir einen Pergamentbogen zu, der so oft gefaltet war, dass er in ihre Handfläche passte. Auch ich verlor kein Wort, als sie ihn mir überreichte und sich dann von mir abwandte und eilig die Straße hinunterstrebte, Richtung Seine. Mein Herz schlug mir im Halse. Eben noch verwirrten mich die Fragen um den Tod des Heinrich von Lübeck. Nun wusste ich, dass mir Klara Helmstede einen Brief hatte zukommen lassen — und das Bild meiner Geliebten verdrängte alle meine Sorgen aus meinem Geist. Rasch ging ich ins Kloster und erkundigte mich beim Portarius, ob Meister Philippe schon gekommen wäre. Als der verneinte, nickte ich und zog mich erleichtert in meine Zelle zurück. Dort entfaltete ich den Brief und las:
Geliebter!
Ich habe nur wenige Augenblicke Zeit, um dir diese Zeilen zu schreiben. Die »Kreuz der Trave« wird in vier Wochen Paris verlassen. Es ist ein Geheimnis, das nicht einmal der Steuermann kennt. Mein Mann wollte es auch vor mir verschweigen, doch verriet er sich in einem unbedachten Moment.
Ich weiß nicht, ob er auf eigene Faust lossegeln will oder ob ihm jemand einen Auftrag gegeben hat. Wir haben keine Fracht geladen, nur viele Vorräte. Ich vermute trotzdem, dass es jemanden gibt, der meinem Gatten Befehle geben kann. Nie hätte ich so etwas gedacht! Und doch: Mein Mann scheint jemandem zu gehorchen, ja, er scheint ihn zu fürchten.
Ich vermag weder zu sagen, wer dieser Geheimnisvolle sein könnte, noch weiß ich, wohin unsere Kogge segeln soll. Ich kenne nicht das Ziel der Reise und nicht ihre Dauer. Sicher ist nur dies: Wir laden Vorräte ein, Tag um Tag. So weiß jeder Matrose an Bord, so weiß jeder Diener im Haus, dass es bald losgehen soll. Nur, wie gesagt, niemand weiß wann genau und wohin.
Geliebter - verzeihe mir, dass ich deinen Namen nicht niederschreibe, doch sollte dieser Brief jemals in falsche Hände gelangen, dann wird er nur mich der Schande anheimgeben, nicht dich — ich sehne mich nach dir! Doch meine Sehnsucht muss ich bezähmen. Und auch du musst dich noch ein wenig in Geduld üben. In acht Tagen werden wir Gäste des Bischofs von Paris sein. Der hohe Herr hat meinen Gatten und mich in seinen Palast eingeladen. Ich weiß nicht, warum, doch mein Mann ist seither noch nervöser als zuvor.
Wir kleiden uns neu ein. Täglich ist eine Schneiderin da, die mir Maß nimmt oder mir Stoffe präsentiert. Es kann meinem Gatten nicht kostbar genug sein, ich werde aussehen wie eine Fürstin! Dann bringen uns Goldschmiede feinstes Geschmeide vorbei, manches für mich, das meiste jedoch als Geschenk für den hohen Herrn, dessen Gäste wir die Ehre haben zu sein.
So bin ich keine Stunde allein, nie bin ich unbeobachtet. In neun Tagen erst, wenn wir aus dem bischöflichen Palais zurückgekehrt sein werden und Ruhe wieder einkehrt in unser Haus, wird unsere Stunde kommen!
Bis dahin muss ich mich damit begnügen, dein Bild in meiner Seele zu tragen und die Stunden zu zählen, die mich noch von dir trennen. Da ich deine Neugier kenne — und ich selbst natürlich neugierig bin—, werde ich versuchen, mehr herauszufinden über das Ziel der »Kreuz der Trave«, ohne dabei den Verdacht meines Gatten zu erregen. Mag sein, dass ich dir in neun Tagen ein neues Geheimnis ins Ohr flüstern kann.
Meine Dienerin Magdalena, die dir diesen Brief überbringt, wird dann zur Mittagszeit vor dem Kloster auf dich warten und dich zu mir führen. Gedulde dich also noch eine kleine Weile!
Klara
Neun Tage! Wie lang würde mir diese Zeit werden! Denn nicht länger war es die Wollust allein, die mich verzehrte, sondern nun auch die brennende Ungeduld, wieder nach dem Mörder des Mönches zu suchen.
Meister Philippe würde keine weiteren Nachforschungen betreiben, das glaubte ich nun sicher zu wissen. Wahrscheinlich würde er mit mir nicht einmal über das Buch sprechen, das der Vagant Heinrich von Lübeck geraubt hatte, und auch nicht über das geheimnisvolle Land terra perioeci, wenn ich auch nicht wusste, warum er diese Dinge mir gegenüber verschwieg. Ich war auf mich allein gestellt.
Doch nicht ganz: Zwei Helferinnen hatte ich, die gleich mir nur heimlich auf die Suche gehen konnten. Lea durchforschte noch immer die Bibliothek ihres Vaters nach Hinweisen auf die terra perioeci. Nun, da ich mit eigenen Augen, wenn auch nur schmerzlich kurz, diesen Namen in einem weiteren Werk gelesen hatte, war ich noch sicherer als zuvor, dass irgendwo in einem anderen Buch ein weiterer Hinweis auf dieses Land zu finden sein müsse.
Und Klara? Sie würde, geschickt wie sie war, nach dem Geheimnisvollen Ausschau halten, der ihrem Gatten Befehle geben konnte, und sie würde versuchen, das Ziel der Kogge zu ergründen. Die »Kreuz der Trave« würde bald ablegen. Es sollte eine lange Reise werden. Konnte das alles ein Zufall sein?
Ruhelos warf ich mich auf meiner harten Pritsche hin und her. Ich hatte keinen Beweis, ja nicht einmal einen vagen Hinweis, und doch: Konnte es möglich sein, dass das Ziel der Kogge jenes mir unbekannte Land war, das terra perioeci hieß?