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Der Juli wich dem August. So wie der alte brachte auch der neue Monat Hitze, lähmende Feuchtigkeit und Gewitter von einer Heftigkeit, wie sie wohl kaum je ein Mensch in dieser Stadt gesehen hatte. Ich verbrachte meine Tage endlich auf die Art und Weise, wie ich mir meine Zeit in Paris immer vorgestellt hatte: im Studium.
Dennoch war alles anders, als ich es mir erhofft hatte. War das Kloster in der Rue Saint-Jacques nicht einst Heimstatt des Albertus Magnus gewesen? Hatte er hier nicht den heiligen Thomas von Aquin unterrichtet, der zum größten Gelehrten von allen heranreifte? Ich zweifelte, ob ich dieser Meister würdig war. Denn statt stolz erhobenen Hauptes in die Bibliothek zu schreiten und heilige Schriften zu studieren, schlich ich mich am Portarius vorbei, ohne ihm mein Ziel zu nennen. Nicht die Bibel las ich oder die Werke der Kirchenväter, um die Ewige Welt zu ergründen, sondern Bücher über die Geografie dieser unserer vergänglichen Welt — und manches obskure Werk eines heidnischen Autoren dazu, das eines Mönches wohl kaum würdig war.
Nur, wen kümmerte dies noch? Es war, als würde die Welt, in der ich lebte, vor meinen Augen zerfallen. Die strenge Disziplin des Klosters war dahin. Den ehrwürdigen Prior sah ich kaum noch. Die Mitbrüder flüsterten, er liege stundenlang in seiner Zelle und starre geistesverloren zur Decke und niemand wage es, ihn anzusprechen.
Meister Philippe mied ich, wo immer ich konnte. Auch dies fiel mir nicht schwer, denn man sah ihn selten in den Gottesdiensten und noch seltener im Kreuzgang, in der Bibliothek oder im Skriptorium. Niemand wusste, wo er seine Stunden verbrachte. Es gab darüber auch keine Gerüchte bei den Mönchen - zumindest kamen mir keine zu Ohren.
Da alle Brüder wie ermattet waren — so, als erwartete ein jeder resigniert das Unvermeidliche, ohne doch sagen zu können, worin dieses sich denn ausdrücken möge —, kümmerte sich auch der Portarius nicht sonderlich um mich.
Am frühen Morgen, direkt nach der Prim, passierte ich stets seine Stube, nickte ihm gemessen zu, schwieg jedoch über meinen Weg. Er hob müde die Hand und ließ mich hinaus.
Auf der Rue Saint-Jacques harrte ich dann immer einige Zeit aus, nervös im Schatten einer Seitengasse hin und her schreitend — in der Hoffnung, Magdalena zu sehen, die Dienerin, die mich zu meiner geliebten Klara führen könnte. Doch stets wartete ich vergebens und mein Herz wurde schwer darüber.
Dann ging ich hinunter zur Place Maubert und betrat das Kollegium de Sorbon — allerdings nicht ohne zuvor einen Abstecher bis zur Seine-Insel gemacht zu haben, um einen Blick auf den Hafen zu werfen. Dass ich die Kogge sah, beruhigte mich ein wenig, auch wenn ich wusste, dass jeder Tag, der verstrich, mich der unvermeidlichen Abreise der »Kreuz der Trave« und meiner Geliebten näher brachte. Noch immer kannte ich weder Ziel noch Zweck der heimlich geplanten Seefahrt.
Magister Jean Froissart, der hinkende Bibliothekar im Kollegium, begrüßte mich in den ersten Tagen höflich, doch misstrauisch. Nach einiger Zeit jedoch wurde er freundlicher zu mir — war ich doch oft der einzige Mensch, der sich zwischen den Lesepulten verirrte. Je länger dieser drückende Sommer andauerte, desto wilder wurden die Gerüchte über die Seuche, die irgendwo vor den Mauern von Paris lauerte. Jeder wartete auf den Ausbruch der Krankheit, fast schien es, als würden alle Bürger erleichtert sein, bräche das Schreckliche nur endlich hervor. Doch nichts geschah.
So wanderten Männer und Weiber wie ruhelos durch die Straßen. Die Bäcker buken kaum noch Brot und gar keinen Kuchen mehr, die Schneider beschränkten sich auf das Flicken von Gewändern, nähten jedoch keine neuen, die Schlächter und Gerber ließen ihre unreinen Gewerbe ruhen, die Lumpenhändler zogen nicht mehr durch die Gassen. Für die Bettler waren dies goldene Tage, denn viele Bürger waren freigebiger als sonst, da sie ihre letzten Tage fürchteten. Ertragreich war diese Zeit auch für die Waffenschmiede, denn ein jeder kaufte sich Dolche, Spieße, gar Schwerter, wenn auch niemand genau wusste, wozu sie dienen sollten — die Englischen und Burgundischen rührten sich nicht mehr. Man sagte, dass auch in ihren Lagern die Seuche mehr Landsknechte holte als jede Schlacht. Auch die Schönfrauen profitierten von der seltsamen Stimmung in der Stadt und versteckten sich nicht mehr im Schatten von Notre-Dame, sondern gingen selbst am helllichten Tage ohne Furcht über die Straßen und sprachen Männer an: mulierespublice infamatae. Viele Männer waren nur zu willig, ihren Verlockungen zu erliegen. Ich dachte an Jacquette und dieser Gedanke betrübte mich sehr. Ihr Tod blieb ungesühnt.
Auch die Bedrohung der Inquisition, die düster über dem Haupt des jüdischen Geldwechslers schwebte, wollte nicht weichen, so sehr Lea auch kämpfen mochte.
Dazu würde Klara bald die Stadt verlassen und ich ahnte nicht einmal, wohin. So fühlte ich mich denn verlassen und erfolglos und musste mich ermannen, nicht in Mitleid gegen mich selbst zu versinken.
Ich verließ die Bibliothek des Kollegiums, wenn die Glocken der Kirchen zur Vesper, zur Terz und zu all den anderen Gottesdiensten riefen. Magister Jean Froissart musste mich für einen sehr gewissenhaften Mönch halten.
Tatsächlich jedoch ging ich zwar jedes Mal zurück zur Rue Saint-Jacques, doch drückte ich mich dort nur irgendwo in eine Gasse vor dem Kloster, um mich zu verbergen. Ich hoffte, dass ich einmal auf Magdalena treffen würde - doch stets ging ich nach einiger Zeit allein zurück zu meinen Büchern.
In der Bibliothek des Kollegiums ließ ich mir zuerst das Werk des Castorius kommen. Es überraschte mich nicht mehr, als mir Magister Froissart sagte, dass sich Jahre lang niemand um das Werk bekümmert hatte - und dass ich nun schon der zweite war, der es in der letzten Zeit zu sehen wünschte.
Es überraschte mich auch nicht, dass er zwar wusste, dass ein Dominikaner dieses Buch zuvor ausgeliehen hatte — dass er jedoch nicht zu sagen vermochte, wer der Mönch gewesen sei. Als ich die Ausleihliste studierte, bemerkte ich, dass jener unbekannte Mönch einen Namen verwendet hatte, den ich noch nie gelesen hatte. Genauso wenig überraschte es mich, dass im Werk des Castorius die erste Landkarte mit einem scharfen Messer entfernt worden war. Lange starrte ich auf den Fetzen Pergament, der mir anzeigte, dass hier noch vor kurzem eine Spur gewesen war, die mich vielleicht zur terra perioeci geführt hätte. Was sollte ich nun tun? Ich fühlte mich müde und besiegt.
Doch dann sagte ich mir, dass der HERR mir zürnen würde, ließe ich mich von meiner Schwäche überwältigen. Also studierte ich, wiewohl ich keine große Hoffnung hegte, die Seiten des Castorius, welche die unbekannte Hand unangetastet gelassen hatte. Es war, wie ich befürchtet hatte: Nichts stand dort vom Land der Periöken, noch fand ich irgendetwas anderes, das mir hätte weiterhelfen können. So beschloss ich denn, da endlose Stunden vor mir lagen, dass ich meine Nachforschungen systematischer gestalten müsse. Die größte Autorität der Alten war der Philosoph Aristoteles. Noch Albertus Magnus und Thomas von Aquin hatten ihn, wiewohl ein Heide, in höchsten Tönen gepriesen. »Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben«, hatte der Philosoph verkündet.
Wiewohl mir dies lange ein höchst zweifelhafter, ja gefährlicher Satz dünkte, so glaubte ich nun, dass er das Wesen der Wahrheit enthielt. Unbestechlich war die Logik des Aristoteles, unvergleichlich sein Wissen — und sein Werk so groß, dass ich hoffen durfte, dort etwas zu finden, das dem Unbekannten, welcher alle Bücher heimsuchte, entgangen war.
Das erste Buch, dem ich mich deshalb nun zuwandte, war die Studie »Vom Himmel« des Aristoteles. »Die Form der Erde ist notwendigerweise kugelförmig«, las ich da.
Dies hatte ich schon bei Lambert von Saint-Omer im »Liber floribus« gelesen - jenem Werk des gelehrten Domherrn, das Heinrich von Lübeck kurz vor seinem Tod aus der Bibliothek des Nechenja ben Isaak ausleihen oder doch wenigstens kopieren wollte. So stimmte es also, dass dieser Christ sich auf den Heiden berief und dass sehr viele Gelehrte glaubten, dass die Erde eine Kugel sei.
Es fiel mir schwer zu glauben, dass ich auf der Oberfläche einer großen Kugel herumwanderte. Hatte nicht der ehrwürdige Kirchenvater Lactantius in seinem Buch »Divinae institutiones« verkündet, dass die Erde eine Scheibe sei? Sprach nicht der Augenschein dafür? Doch wenn die Erde eine Kugel war, dann mochte es doch wohl möglich sein, dass irgendwo jenseits des gekrümmten Horizonts ein Land zu finden sei, das unserem Blick bislang entgangen war. Sollte die Erde eine Scheibe sein, dann würde derjenige, der über ihr Ende hinaussegelte, unweigerlich in den schrecklichsten Abgrund stürzen. War sie jedoch eine Kugel, dann mochte man mit einem Schiff wohl überall hin gelangen, wo Wasser zu finden war.
Andererseits war mir damit allein noch nicht geholfen. Aristoteles wusste wohl viele kluge Worte zu gebrauchen über die Form der Erde, der Sphären und der Sterne - doch von einem Land der Periöken schwieg er. Auch fand ich in seinen Büchern, so sehr ich auch suchte, keine verräterischen Stellen, die darauf hingedeutet hätten, dass jemand eine Seite herausgeschnitten haben mochte. Also bat ich den Bibliothekar, nach vielen langen Stunden mit den Werken des Aristoteles, mir die dreizehn Bücher des Ptolemaeus zu bringen. Auch er war Heide gewesen, doch ohne Zweifel der größte Geograf der Alten. Schon als Kind in der Klosterschule hatte ich seine Texte studieren müssen. Bis in unsere Zeit gilt er doch als der größte Kundige von der Beschaffenheit der Erde, der je gelebt hat. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis Magister Jean Froissart zurückkehrte. Noch dazu kam er mit leeren Händen und einem Gesicht, das vor Blässe glänzte wie ein Totenschädel, zurück.
»Der Ptolemaeus ist verschwunden!«, verkündete er mir mit gebrochener Stimme.
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Was redet Ihr da, Meister Froissart?«, erwiderte ich. »Acht große Bücher umfasst das Werk des Ptolemaeus. Ihr werdet doch sicherlich mehr als eine Abschrift davon aufbewahrt haben?«
Der Bibliothekar nickte, dann hielt er sich am Schreibpult fest, denn Schwäche erfasste seinen Körper. »Alle Bücher sind verschwunden«, flüsterte er.
»Ich habe in der Truhe nachgesehen, in der wir sie aufbewahrt haben, und noch in etlichen anderen, weil ich zunächst dachte, dass sie möglicherweise verlegt worden sein mochten. Doch es ist wahr: Das Werk des Ptolemaeus ist aus dieser Bibliothek verschwunden, als hätte es hier nie existiert.«
»Wer hat sich die Bücher zuletzt ausgeliehen?«, fragte ich und hoffte, dass meine Stimme nicht die Angst verriet, die mich gepackt hatte. Magister Jean Froissart schüttelte jedoch nur den Kopf und seufzte. »Niemand. Zumindest nicht in den vergangenen Wochen. Der letzte Eintrag in meinen Büchern ist schon über ein Jahr alt. Seither hat niemand mehr nach dem Ptolemaeus verlangt. Der HERR allein mag wissen, wann die Bücher in den letzten Monaten verschwunden sind - und wie.« Der Bibliothekar schlug das Kreuz. Er sah so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
»Wer war es denn, der das Werk vor so langer Zeit zu sehen wünschte?«, hakte ich nach, als Magister Froissart sich wieder gefangen zu haben schien. »Wisst Ihr noch seinen Namen?«
»Es war einer Eurer Mitbrüder«, sagte da der Bibliothekar leise, »und vielleicht der berühmteste Dominikaner von Paris: Philippe de Touloubre.«
Nun war es an mir, mich an das Pult zu klammern, um nicht, gelähmt vor Angst, zu Boden zu stürzen.
»Was redet Ihr da?«, fragte ich keuchend.
»Es gibt keinen Zweifel«, versicherte Magister Froissart, »Philippe de Touloubre verlangte im letzten Sommer einen Band des Ptolemaeus zu sehen, den zweiten.«
»Die anderen nicht?«
Der Bibliothekar schüttelte den Kopf. »Darüber habe ich zumindest keine Einträge gefunden.«
»Könnt Ihr Euch noch an jenen Tag erinnern?«, drängte ich. »War Meister Philippe lange in Eurer Bibliothek? War er allein?« Magister Froissart dachte lange nach. »Nun«, antwortete er schließlich zögernd, »ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern. »Ich glaube, dass er damals wohl zur Mittagszeit hierher gekommen ist und das Buch von mir erbat. Begleitet wurde er von niemandem. Dann studierte er das Werk viele Stunden lang. Ich weiß noch, dass es draußen bereits dunkelte und dass alle Studenten den Lesesaal …«
Er hielt inne und fasste sich mit zitternder Hand an den Kopf. »Was habt Ihr?«, fragte ich und ahnte Böses.
»Es war spät«, flüsterte Magister Froissart, »jetzt erinnere ich mich wieder. »Ich musste viele Folianten wegräumen. Niemand sonst war mehr zugegen, außer Philippe de Touloubre und mir. Da erbot sich dieser, den Band des Ptolemaeus selbst in die Truhe zurückzutragen, da ich doch so beschäftigt sei. Dankbar nahm ich dieses Anerbieten an. Nicht im Traum misstraute ich ihm, denn er war schließlich Inquisitor!«
»Habt Ihr Meister Philippe gesehen, als er Eure Bibliothek verließ?«, fragte ich.
Magister Froissart schüttelte den Kopf. »Nein, ich achtete seiner nicht mehr.«
»Wie viele Abschriften hatte Eure Bibliothek von dem Werk des Ptolemaeus?«
»Wir besaßen zwei Exemplare von jedem Band. Eine Abschrift, die wohl schon dreihundert Jahre alt ist, und eine, die wir erst vor einigen Jahren haben anfertigen lassen, da bei den alten Bänden langsam das Pergament mürbe wurde und die Schrift verblasste.«
»Sechzehn Bände sind viel«, murmelte ich. »Doch ich erinnere mich meiner Zeit, da ich den Ptolemaeus studieren musste: Jeder einzelne Band war schmal und hatte kaum so viele Seiten wie ein Psalter. Ein Mann allein mag diese Bände schleppen können, wenn er einen Lederbeutel oder etwas Ähnliches bei sich trägt - und dieser ließe sich gut unter einer Kutte verstecken.«
Magister Froissart blickte mich entsetzt an. »Sagt nicht laut, dass Ihr einen Inquisitor des Diebstahls verdächtigt!«, flehte er mich an. »Das ist gefährlich. Außerdem ist es durch nichts zu beweisen. Warum sollte ein Dominikaner außerdem alle Werke des Ptolemaeus stehlen?«
»Das«, flüsterte ich, »ist eine gute Frage.«
*
Ich verbrachte noch so manchen Tag in der Bibliothek. Doch je mehr ich las, desto höher türmten sich vor mir die Rätsel auf, bis ich glaubte, dass mein Geist von allen Seiten eingemauert sei, und ich mich lebenden Leibes begraben fühlte.
Da ich den Ptolemaeus nicht lesen konnte, beschloss ich, andere Werke der heidnischen Autoren zu studieren, auf dass ich dort vielleicht Spuren fände, die mir weiterhelfen konnten. Doch je länger ich las, desto größer wurde die namenlose Furcht, die in mir wuchs. Ich ließ mir den Livius kommen und Cassius Dio, Plutarch und Sueton, Cicero und Marcus Aurelius. Doch nirgends wurde auch nur der Name des berühmtesten Geografen der Alten erwähnt. Keine Zeile las ich über Ptolemaeus, keinen Hinweis auf sein Werk, kein Zitat.
Ich wurde immer unruhiger und wandte mich den Kirchenvätern alter Zeit zu: Tertullian und Augustinus las ich, Lactantius und Eusebius. Schließlich studierte ich den Isidor von Sevilla, der doch das ganze Wissen seiner Zeit zusammengetragen hatte. Nichts, nichts und wieder nichts! Dicit ei Pilatus quid est veritas?
Was ich jedoch entdeckte, waren - mal in diesem Buch, mal in jenem — herausgetrennte Seiten; Stellen, die jemand, wie mir schien erst in jüngster Zeit, mit schwarzer Tinte unleserlich gemacht hatte; Zeilen, die mit einem Schabmesser aus dem Pergament gelöscht worden waren.
Stets ging es auf diesen Seiten um Geografie und um die Gestalt der Welt, der Meere und der Länder.
War es möglich, dass jemand alle Bücher genommen und überall den Namen des Ptolemaeus gelöscht hatte? So, als hätte es ihn und sein Werk nie gegeben? Warum las ich zudem nie von einem Castorius aus Ravenna? Weshalb gab es in keinem Werk eine Beschreibung der terra perioecp.
Die kalte Faust der Angst schloss sich um mein Herz, als ich an einem Vormittag nicht zum Kolleg de Sorbon gegangen war, sondern mich in die Bibliothek des Klosters in der Rue Saint-Jacques zurückgezogen hatte.
Den Ptolemaeus auszuleihen wagte ich nicht, aus Angst, dass dies die Aufmerksamkeit Meister Philippes erregt hätte. Doch ich ließ mir von einem Novizen einige der anderen Werke der Alten bringen — überall waren dieselben Seiten herausgetrennt, die gleichen Zeilen gelöscht worden.
Waren in ganz Paris die Texte auf gleiche Art von unbekannter Hand verstümmelt worden? Oder gar überall im Abendland? Wer vermochte Derartiges zu tun — wenn nicht die Inquisition? Die Mönche der Heiligen Inquisition waren gelehrt, sie kannten vielerlei Schriften, sie hatten Zugang zu jeder Bibliothek. Sie waren wohl organisiert in vielen Ländern der Christenheit. Doch warum sollte die Inquisition Bücher verändern? Weshalb vernichteten sie Texte über Geografie? Selbst wenn diese Texte, warum auch immer, ketzerisch sein sollten: Warum erklärten sie den Ptolemaeus und die anderen Werke nicht einfach vor GOTT und der Welt zur Häresie und verboten allen guten Christen, sie zu studieren? Warum diese Heimlichkeit? Wozu dieser ungeheure, doch lautlose Aufwand?
Lag in diesen Fragen irgendwo die Antwort auf das Rätsel der Ermordung Heinrichs von Lübeck verborgen? Musste er sterben, weil er dem Geheimnis um die terra perioeci auf die Spur gekommen war? Erwartete dann jeden, der dieses Geheimnis anzutasten wagte, das gleiche Schicksal? Drohte auch mir der Tod?
Seit ich als Findelkind des Dominikanerklosters zu Köln das Lesen erlernt hatte, war mir die Gelehrsamkeit immer als zwar steiniger, doch sicherer Weg zu Glück und Seelenheil erschienen. Bibliotheken — jene ruhigen Räume mit ihrem Geruch nach Pergament, Leder, Tinte und dem Staub der Jahrhunderte — waren mir Inseln des Friedens gewesen, ja geweihte Orte, Kirchen gleich.
Nun jedoch fühlte ich mich wie ein Schlafwandler, der plötzlich erwacht und sich mitten auf einem Schlachtfeld wiederfindet, wo sich finstere Ritter gnadenlos bekämpfen. Bibliotheken, so lernte ich nun, waren unsichtbare Blutacker und Bücher waren Schwert und Gift. Was sollte ich nur tun?
Sollte ich gehen und mein Herz verschließen und nicht mehr nach Texten suchen, die es nicht geben durfte?
Doch hätte ich damit nicht Klara und Lea im Stich gelassen? Hätte ich damit nicht das Andenken an Jacquette und an Heinrich von Lübeck und sogar das an den Vaganten Pierre de Grande-Rue verraten? Konnte ich, selbst wenn ich es gewollt hätte, überhaupt noch so tun, als sei nichts geschehen?
Nein, ich war längst viel zu tief in ein schreckliches Geheimnis verstrickt, das Menschen verschlang wie ein Wesen der Hölle. Ich hatte den Begriff terra perioeci gelesen — einmal geschrieben mit dem Blut des sterbenden Mönches und ein weiteres Mal auf der ersten Seite des Buches von Castorius aus Ravenna. Beide Male war der berühmteste Inquisitor von Paris Zeuge gewesen.
Hatte mich nicht ein gesichtsloser Mönch eines Nachts im Kloster entdeckt, da ich herumschlich, während sich einige Mitbrüder heimlich trafen? Mitbrüder, zu denen eben jener Philippe de Touloubre gehörte? Und war mir nicht ein Schattenmann gefolgt, als ich den Ort der Sünde verließ, nachdem ich Klaras Umarmung genossen hatte? Jene Klara Helmstede, deren Gatte wiederum von einem namenlosen Mönch das Werk des Castorius erhalten hatte und auch den Befehl, bald zu einem unbekannten Ziel aufzubrechen? Ob es nun Meister Philippe sein mochte oder irgendein anderer, der hinter all diesen schrecklichen Dingen steckte — sicher war, dass der Unbekannte wusste, dass ich ihm auf der Spur war. Möglicherweise ahnte er nicht, wie wenig ich erst herausgefunden hatte. Doch würde er tatsächlich ein Risiko eingehen und mich unbehelligt lassen?
Nein: Mir blieb nichts anderes übrig, als den Weg, den ich nun einmal eingeschlagen hatte, auch bis zum Ende zu gehen. Ich würde suchen und suchen, bis ich das Geheimnis gelöst hatte — oder bis es auch mich verschlungen hatte.
Und wenn Bücher Schwert und Gift waren — dann auch in meiner Hand.
Also gab ich nicht auf, sondern ging wieder in das Kolleg de Sorbon und ließ mir von Magister Froissart unverdrossen immer neue, immer unbekanntere Werke der Alten kommen. Vielleicht, so hoffte ich, war jenem geheimnisvollen Bücherfälscher eine Stelle entgangen, die mir auffallen würde - und vielleicht war GOTT mir gnädig.
*
Ein Drittel des Monats August war über meiner Suche schon dahingegangen. Meine Augen brannten, mein Rücken schmerzte, meine Finger waren schwarz von Staub und Tinte unzähliger Seiten, die ich gewendet hatte. Da, es war am Tage des heiligen Laurentius, schon abends, kurz bevor die Glocke mich zur Komplet rufen würde, ließ ich mir die »Anabasis« des Xenophon kommen. Es war der Bericht eines griechischen Soldaten, der wohl vor bald zwei Jahrtausenden mit einem Heer tief ins Reich des Perserkönigs gezogen war. Als Novize hatte ich den Namen jenes Heiden einmal vernommen, doch sein Werk hatte ich nie studiert. Von Schlachten las ich dort und von Städten wie Babylon, dem großen Sündenort. Ich hatte mich nie sehr um die Geschichte der Heiden bekümmert, denn warum sollten Menschen mein Interesse finden, die SEIN Wort nicht gekannt hatten? So überflog ich den Xenophon mit müdem Blick. Meine Augen eilten über die Seiten, übersprangen wohl auch manchen Satz, ja ganze Abschnitte. Es war das letzte Buch, das ich an jenem Tage studieren wollte, ich war erschöpft und hungrig und wusste, dass mich bald die Glocke rufen würde.
Ich hatte Klara seit vielen Tagen nicht gesehen und sehnte mich nach ihr. Ich hatte kein Wort von Lea gehört und wusste nicht, welches Schicksal ihr drohen mochte.
Meister Philippe hatte ich seit drei Tagen nicht zu Gesicht bekommen - was mich zunächst erleichtert hatte, da ich den Inquisitor inzwischen fürchtete. Doch nun war ich beunruhigt, denn ich wusste nicht, was diese Abwesenheit zu bedeuten hatte. Tief in meinem Innern hegte ich trotz allem noch eine große Verehrung für ihn — und langsam begann ich zu fürchten, dass jener Unbekannte ihm aufgelauert hatte, nicht mir. Mochte also dem väterlichen Mönch und Freund, vor dem ich mich verbarg, so gut ich konnte, etwas zugestoßen sein? Brauchte er, vor dem ich auswich, vielleicht meine Hilfe? Derart waren meine Gedanken, während ich durch die Seiten des Xenophon blätterte. Da plötzlich hielt ich inne, denn ich las ein Wort: Periöken.
Noch einmal studierte ich den Absatz, dann noch einmal - ich wollte meinen Augen nicht trauen. Das magische Wort stand auf jenen Seiten, auf denen Xenophon die Herkunft der griechischen Soldaten beschrieb, die gen Persien gezogen waren:
»Da waren aber auch Männer unter ihnen aus dem Land der Periöken, welche seit alter Zeit die Bundesgenossen der Spartaner sind. Doch während sich die Spartaner auf dem Schlachtfelde auszeichnen, sind die Periöken vor allem für ihre Seefahrer berühmt. Ihr Hauptort ist Gytheion, ein wohlbefestigter Hafen. Als sie vom Kriegszug vernahmen, kamen viele Periöken auf schnellen Schiffen von dort übers Meer. Denn die Periöken sind schon vor langer Zeit über den Ozean gefahren und haben an der jenseitigen Küste eine Kolonie errichtet, die ›Land der Periöken‹ genannt wird. Und selbst von dort kamen sie für diesen Krieg, obwohl sie mehrere Wochen fahren mussten, bis sie in Griechenland angelangt waren.«
Lange stand ich am Lesepult und starrte betäubt ins Nichts. Was mochte dies bedeuten? Wo also lag jenes Land der Periöken? Viel weiter war ich mit meiner Suche nicht gekommen. Und doch: Es lag jenseits eines Ozeans, viele Tagesreisen entfernt von Griechenland. Welches Meer mochte dies sein? Meinte Xenophon die Griechenland gegenüberliegende Seite des Mittelmeeres, also vielleicht Spanien oder das Land der Mauren? Oder dachte er an jene Ozeane, welche das Abendland von Babylon, Indien oder gar vom legendären Cathay trennen, wenn es dieses Land tatsächlich gibt? Oder musste ich das Land nicht vielmehr in jenem Atlantischen Ozean vermuten, in dem auch Britannien liegt?
Ich dachte an die Karte des Castorius, auf die ich kaum mehr als einen flüchtigen Blick geworfen hatte. Ich dachte daran, dass die unbekannten Mönche einem Reeder aus Lübeck, der die Meere des Nordens befuhr, ihre Befehle gegeben hatten.
Wäre das Meer Richtung Indien gemeint gewesen, hätten sich die Dominikaner dann nicht eher an einen der Kaufleute aus Venedig oder Genua gewandt, deren Galeeren ja schon beinahe jene Weltgegend befuhren?
Es war wahrscheinlicher, dass das Land der Periöken im Atlantik lag, nördlich oder gar jenseits von Britannien. Sonst hätte ein Mann wie Richard Helmstede, dessen Koggen doch jedes Jahr Britannien anliefen, sicherlich schon längst davon gehört — und ebenso sein Steuermann Gernot.
Ich erbat mir von Magister Froissard, in dessen Gunst ich inzwischen sehr gestiegen war, ein Blatt Pergament, Feder und Tinte. Er war höflich genug, mir alles zu bringen, ohne mich zu fragen, wozu ich es benötigte. Dann kopierte ich rasch jene Sätze des Xenophon. Nachdem ich dies getan, die »Anabasis« zurückgegeben und dem Bibliothekar meinen Dank ausgesprochen hatte, schleppte ich mich müde ins Freie, hinaus auf die Place Maubert.
Mein Rücken und meine Glieder schmerzten, in meinen Augen brannte Feuer, meine Kehle war trocken, doch ich beachtete diese Beschwerden kaum. Die Mühsal der Arbeit schließlich ist GOTTES Strafe für den Sündenfall von Adam und Eva. Doch süß ist die Arbeit, wenn sie Früchte trägt. Zum ersten Mal seit vielen Tagen glaubte ich, dass ich wenigstens eine Frucht des Wissens gekostet, dass ich wenigstens um eine Winzigkeit der Lösung des Rätsels näher gekommen war.
*
So beseelt war ich von diesem kleinen Triumph, dass es einige Momente dauerte, bis ich gewahrte, dass die Leute auf dem Platz noch sehr viel lauter durcheinanderschrieen als gewöhnlich. Ich war schon halb über die Place Maubert geeilt und hatte das steinerne Kreuz Croix Hemon passiert, als ich verstand, was die Menschen so erregte.
»Die Seuche ist da!«, kreischte eine junge, gut gekleidete Bürgersfrau und achtete dabei nicht darauf, wie würdelos sie sich aufführte. »In La Villette fallen Männer und Frauen wie Getreide vor dem Schnitter«, rief ein Bauer. »Die Toten liegen in den Straßen, dass kein Durchkommen mehr ist.«
»Und im Temple hauchen die Gefangenen ihr elendes Leben aus. Man sagt, dass nur noch Tote in dem Kerker liegen«, fiel ein Marktweib ein.
So ging es in einem fort. Ein jeder schrie so laut wie er konnte und wusste immer noch schauerlichere Geschichten zu erzählen von Krankheit und Tod. Alle diese grauenhaften Dinge sollten sich jenseits der Stadtmauern zugetragen haben, mal im Westen, mal im Osten, dann wieder im Süden oder im Norden. Gesehen hatte es niemand, gehört hatte davon jeder. So wurden die Stimmen immer lauter, als wäre ein heftiger Streit entbrannt - obwohl doch keiner eine andere Meinung zu äußern wagte als die, dass der Tod nun vor den Toren reiche Ernte hielte.
Statt demütig und ehrlich um Reue bemüht in die nächste Kirche zu streben und vor GOTT ihre Sünden zu bekennen, solange sie dies noch vermochten, brüllten und gestikulierten die Menschen wie tollwütige Tiere. Fast vermeinte ich, eine grimmige Befriedigung in ihren Stimmen zu hören, eine wahnsinnige Freude daran, dass die seit Wochen gefürchtete Seuche nun endlich in der Stadt angekommen war.
Ich fürchtete mich mehr vor der ziellosen Wut der Menge als vor der Krankheit, denn kein Leiden, das uns der HERR schickt, kann so grausam und unberechenbar sein wie die einmal entflammte Leidenschaft der Menschen. Also schlug ich meine Kapuze hoch und wollte weitereilen, da spürte ich, wie mich jemand am Ärmel festhielt. Es war Lea bas Nechenja, die Tochter des Geldwechslers. Ich hätte sie auch diesmal nicht erkannt, denn sie trug ein schlichtes Kleid ohne gelbe Judenmarke und ein Schleier umhüllte ihr Haupt und verbarg ihr Gesicht. Ihre Stimme jedoch überzeugte mich, dass sie es tatsächlich war, die vor mir stand. »Helft mir, Bruder Ranulf!«, flüsterte sie.
Ihr Griff war so fest, ihre Stimme klang so fordernd und doch zugleich so erbarmungswürdig, dass ich alle meine Bedenken sofort fallen ließ und mich an ihrer Seite durch die wütende Menge schob. Wir strebten zum Ufer der Seine, wo das Volk in weniger großer Zahl zusammengelaufen war und wir deshalb meinten, dass uns dort niemand zufällig belauschen könnte.
»Mein Vater schmachtet im Kerker der Inquisition«, stieß die junge Jüdin hier endlich hervor. »Und unser Haus ist von Euch Mönchen geplündert worden!«
Ich schlug das Kreuz und schloss für einen Moment die Augen. »HERR«, flüsterte ich, »wohin führt nur unser Weg?« Dann ermannte ich mich, ruhig und besonnen zu sein, da dies umso notwendiger war, weil offensichtlich niemand sonst mehr bei Sinnen zu sein schien.
»Was ist geschehen?«, fragte ich.
Müdigkeit und Angst zeichneten die schönen Züge der jungen Frau. »Euer Meister selbst führte an diesem Morgen wohl ein Dutzend Sergeanten und noch einmal so viele Mönche zu unserem Haus. Es war wie ein Überfall von Landsknechten.«
»Philippe de Touloubre?«, wiederholte ich ungläubig. »Der Inquisitor höchstselbst. Die Sergeanten, die ihn begleiteten, machten sich nicht einmal die Mühe, an unsere Tür zu klopfen und Einlass zu begehren. Sie schlugen uns stattdessen die Pforte ein und stürmten das Haus, meinen Vater zerrten sie weg!«
»Was wollten sie von ihm? Was warfen sie ihm vor?« Lea schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Doch ich habe auch nicht alles mit anhören können - und gesehen habe ich noch weniger, denn ich befand mich zu jener frühen Stunde, da uns der Inquisitor heimsuchte, zufällig in der Dachbodenkammer. Als ich gewahrte, was geschah, da verbarg ich mich unter einem Haufen alter Wolltücher, die wir auf dem Speicher aufbewahrten. Ich hörte wohl, wie mein Vater laut um Gnade flehte und ihn Sergeanten mit groben Beleidigungen bedachten, bevor sie ihn abführten. Doch was man ihm vorwarf, das weiß ich nicht. Als mein Vater fortgeschafft worden war, jagten die Sergeanten die Diener aus dem Haus. Diese flohen furchtsam und waren froh, dass man sie nicht auch in den Kerker zerrte.
So plünderten die Sergeanten unseren Besitz, kaum dass der letzte Diener mit Tritten und Hohnworten aus dem Haus gejagt worden war. Da sie die Dinge auf dem Speicher jedoch nur gering achteten, suchten sie dort nicht gründlich. Deshalb blieb ich unentdeckt.
Alle Räume plünderten die Männer, nur einen nicht: die Bibliothek. Der Inquisitor persönlich betrat sie und alle Mönche folgten ihm. Kein Sergeant durfte den Raum betreten.
Später wagte ich mich unter den Stoffen hervor und spähte vorsichtig aus einer Dachluke hinaus. Da sah ich, wie die Mönche Kisten auf einen Ochsenkarren luden, der vor unserem Haus stand. Was in diesen Kisten war, das vermochte ich nicht zu sagen. Doch es müssen Bücher gewesen sein, Hunderte Bücher, vielleicht gar die ganze Bibliothek meines Vaters.«
Lea atmete schwer und blieb stehen. Sie sah erschöpft aus. Ich hätte ihr gerne Wasser und Brot angeboten, doch führte ich nichts dergleichen mit.
Als sie meinen besorgten Blick sah, lächelte sie leicht und hob abwehrend die Hand. »Macht Euch keine Sorge um mich, Bruder Ranulf, ich bitte Euch. Ich harrte bis zum späten Nachmittag auf dem Dachboden aus, dann hatten Mönche und Sergeanten unser Haus leer geplündert. Ich entwich aus dem Hintereingang. Seither suche ich Euch. Ich wusste ja nicht, wo Ihr sein möget, doch schöpfte ich immerhin ein wenig Hoffnung, da ich Euch nicht unter den Mönchen sah, die der Inquisitor mit sich geführt hatte. Also ging ich zum Kloster in der Rue Saint-Jacques und harrte dort eine Weile vergebens aus. Dann schlich ich mich zum Kollegium de Sorbon, weil Ihr mir sagtet, dass Ihr dort die Werke der Geografen studieren wollt. Dort führte uns das Schicksal zusammen.«
»Ja«, murmelte ich, »das Schicksal hat uns zusammengeführt. Ein düsteres Schicksal, fürwahr.«
Die Furcht war mein ständiger Begleiter geworden, seit ich in Paris war und den Körper des toten Mönches gesehen hatte. Doch zum ersten Mal verblasste nun die Furcht vor einer anderen, noch heißeren Leidenschaft: dem Zorn.
Zorn auf Meister Philippe, der den Vater der jungen Jüdin in den Kerker geworfen und ihr Heim zur Plünderung freigegeben hatte. Zorn ist allerdings kein guter Ratgeber. Und Zorn auf einen Inquisitor ist nicht nur eine Sünde und Widersetzlichkeit gegen die Gebote der Mutter Kirche, er ist auch lebensgefährlich.
Also löschte ich die heiße Wut, die in meiner Seele kochte, und zwang mich, mit kühlem Kopfe nachzudenken.
»Ich fürchte das Schlimmste«, flüsterte Lea. »Seht Euch doch nur die Menge an, wie die Menschen schreien und zittern. Sie fürchten sich vor der Krankheit und sie wollen Blut sehen. Unser Blut, das Blut der Juden!«
»Was redet Ihr da?«, tadelte ich sie.
Sie lachte bitter auf. »Kennt Ihr wahrhaftig nicht die Gerüchte, Bruder Ranulf? Habt Ihr Euch in den letzten Wochen im Kloster verkrochen? Habt Ihr Eure Ohren verschlossen und Eure Augen zugehalten? Ihr seid doch, wie ich weiß, durch Paris gegangen, wie kaum ein Mönch es je getan hat.
Habt Ihr nicht gesehen, gegen wen sich der Zorn der Menge richtet? ›Brunnenvergifter‹ schimpfen sie uns Juden nun. Wir hätten aus Hass auf die Christen in alle Wasserquellen Gift geträufelt. Als ob nicht wir Juden genauso an der Krankheit sterben wie die Christen!«
»Papst Clemens VI. hat verboten, dass den Juden ein Leid angetan wird«, erwiderte ich. »Seine Heiligkeit hat eine Bulle erlassen, ich habe sie gehört, als sie im Kapitelsaal unseres Klosters verlesen wurde, wie sie in jeder Kirche und in jedem Kloster der Christenheit verlesen wurde: Der Papst nennt einen jeden Mann, der die Anklage der Brunnenvergiftung erhebt, verführt von jenem größten Lügner überhaupt, dem Teufel.«
Für einen Moment zeichnete sich nun auch Zorn auf Leas schönem Gesicht ab, doch dann bedachte sie mich mit einem langen, freundlichen und mitleidigen Blick, der meinem Herzen einen Stich gab.
»Oh, Bruder Ranulf«, flüsterte sie, »Ihr seid Inquisitor und glaubt doch an das Gute im Menschen. Aber die Menschen sind nicht gut. Wer kümmert sich noch um den Papst, da die Krankheit in Frankreich so reiche Ernte einfährt?
Habt Ihr es nicht gehört? In Narbonne und Carcassonne haben sie schon Juden aus den Häusern gezerrt und auf den Scheiterhaufen geworfen — als Brunnenvergifter! Gerettet hat es diese Städte nicht, doch gelernt hat daraus niemand. Sie werden uns auch hier verbrennen wollen! Und meinen Vater haben sie schon geholt!«
»Doch der Inquisitor ist nicht wegen der lügnerischen Anklage der Brunnenvergiftung zu Euch gekommen«, erwiderte ich düster. »Ich mag kein Menschenkenner sein, doch so gut kenne ich Meister Philippe denn schon, dass ich weiß, dass er derartigen Verleumdungen keinen Glauben schenkt. Er ist gekommen, weil er die Bücher Eures Vaters in seine Gewalt bringen wollte.«
Fieberhaft dachte ich nach. Dominikaner — meine Mitbrüder! — fälschten oder verstümmelten Bücher über die Beschaffenheit der Welt oder ließen sie gar ganz verschwinden. Deshalb, so vermutete ich, wollten sie auch um jeden Preis die Bibliothek des Nechenja ben Isaak mit ihrer in gelehrten Kreisen gerühmten Sammlung geografischer Werke in ihre Hand bringen.
Doch was verband den jüdischen Geldwechsler mit dem Lübecker Kaufmann Richard Helmstede? Oder war dies bloßer Zufall? Welche Rolle hatte Heinrich von Lübeck in diesem tödlichen Spiel inne gehabt? Und was hatte Meister Philippe mit all dem zu schaffen? Ich erinnerte mich des Schicksals des Vaganten und erschauderte bei dem Gedanken daran, dass der Geldwechsler nun ebenso auf der Streckbank schmachten mochte wie der unglückselige Messerwerfer. Noch fürchterlicher war mir der Gedanke, dass auch Lea so enden mochte, wie ich Pierre de Grande-Rue hatte sterben sehen. So verwirrt mein Geist auch war, keinen Augenblick zweifelte ich daran, dass ich Lea beistehen musste.
Sie war eine flüchtige Jüdin, Tochter eines von der Inquisition verhafteten Mannes. Schon die Tatsache, dass ich hier mit ihr stand und ihr Mut zusprach, statt sie auf der Stelle verhaften zu lassen, war ein derart schweres Verbrechen in den Augen der Inquisition, dass es auch mich auf den Scheiterhaufen bringen mochte. Was also hatte ich noch zu verlieren?
»Du musst dich verstecken!«, flüsterte ich Lea zu — und in jenem Augenblick fiel mir die unziemliche Vertraulichkeit, die für einen Moment zwischen uns herrschte, nicht einmal auf. »Meister Philippe wird nach dir suchen lassen, denn er hasst es, eine Sache, die er einmal begonnen hat, nicht bis zum Ende zu führen.«
»Wo soll ich mich denn verstecken?«, erwiderte Lea resigniert. »Die Häuser der Juden werden sicherlich von den Spitzeln der Inquisition überwacht. Und selbst wenn ich irgendwo bei einem Glaubensbruder unerkannt hineinschlüpfen könnte: Ist nicht das Haus eines jeden Juden in Gefahr, geplündert zu werden?«
Ich dachte an all die Elenden und zweifelhaften Gestalten, welche die Augen der Inquisition waren. Sicherlich gab es darunter genügend, welche bei Tag und Nacht durch das Judenviertel streichen würden. »Du musst dich anderswo verbergen — und ich weiß auch schon, wo«, antwortete ich und lächelte ihr zu. Plötzlich erschien mir wenigstens dies einfach.
»Wo?«, fragte die Tochter des Geldwechslers.
»Im Haus eines Wollhändlers in der Rue Darnetal«, antwortete ich — und achtete nicht auf Leas überraschten Blick, denn woher ich dieses Haus kannte, das wollte ich ihr aus Scham lieber nicht verraten. Auch wusste ich nicht, wie wir, einmal dorthin gelangt, überhaupt eintreten mochten. Wir konnten ja nicht anklopfen, einen Schlüssel hatte ich auch nicht und von den Bediensteten hatte ich niemanden gesehen. Doch was blieb uns schon anderes übrig, als dieses Versteck zu wählen?
Ich hoffte, dass ich mich an der Hinterpforte bei der Schwester der Dienerin Magdalena bemerkbar machen könnte. Sie musste ja in irgendeiner Form in die Sünde eingeweiht sein, welche Klara Helmstede und mich verband. Mochte sie nur denken, dass ich mich nach der Reedersgattin nun auch noch mit einer Jüdin der Wollust hingab— das war mir gleichgültig, solange sie uns nur das Haus ihrer Herrschaften öffnete.
»Komm«, flüsterte ich deshalb Lea zu. »Folge mir unauffällig in einigen Schritten Abstand. Doch gib darauf Acht, mich zwischen all den Menschen nicht aus den Augen zu verlieren!«
Sie tat, wie ich ihr geheißen hatte. Wir drängten uns durch die Menge über die erste Brücke, vorbei an Notre-Dame und dem Judenviertel, wo ihr Haus nun leer und öde stand; niemals würde sie es wieder sehen, so dachte ich traurig. Über den Grand Pont gelangten wir schließlich auf die andere Seite von Paris.
Auch hier waren die Bürger zusammengelaufen und riefen unsinnige Dinge durcheinander. So mancher schüttelte auch die Faust, doch gegen wen oder warum, das wusste ich nicht.
Heiß war es. Die feuchte Luft stand wie flüssiges Blei in den überfüllten Straßen. Betäubender noch als sonst war der Gestank aus den Gossen. Ich wünschte, dass endlich wieder ein reinigendes Gewitter einsetzen würde, wiewohl ich doch, nach den Erfahrungen der letzten Tage, einen neuen, verheerenden Blitzschlag fürchtete. Doch der Himmel war grau wie eine verwaschene Decke, kein Lufthauch wehte — und so hatte ich wenig Hoffnung, dass bald das erlösende Unwetter hereinbrechen würde.
Anstrengend war unser Weg. Mancher freche Bursche achtete meiner Kutte nicht und rempelte mich an, doch kamen wir ansonsten unbehelligt bis zum Brunnen Fontaine de la Reine. Hier bedeutete ich Lea mit einer - wie ich hoffte — unauffälligen Geste, dass sie warten solle.
Am Brunnen hatten sich gar viele Bettler und anderes fahrende Volk versammelt, doch ich wusste keinen besseren Platz, an dem die junge Jüdin hätte ausharren sollen, wollte sie mich nicht aus den Augen verlieren. Ich hatte vor, langsam bis zur Seitengasse und dort zum Nebeneingang des Hauses des Wollhändlers zu gehen, um an die Pforte zu klopfen. Ich betete zu GOTT, dass die Schwester Magdalenas mir öffnen und mich und die Flüchtige einlassen würde. Doch diesmal erhörte ER mich nicht.
Ich hatte mich kaum zwei Schritte vom Brunnen entfernt, als einer der Bettler aufstand und einen gar schrecklichen Schrei ausstieß. Ich fuhr zusammen und starrte ihn an. Für einen Moment glaubte, ja hoffte ich, dass es bloß die Laute eines Besessenen seien, wie man sie wohl tagtäglich auf Pariser Gassen vernehmen kann. Doch dann blickte ich den Bettler genauer an.
Es war ein Mann, noch jung an Jahren, auch wenn sein magerer Leib in Lumpen gehüllt war und seine Zähne schon ausgefallen waren. Als ich jedoch aufmerksamer hinsah, denn wieder schrie der Bettler auf, so Schrecken erregend laut, wie Pierre de Grande-Rue auf der Streckbank geklagt hatte, da gewahrte ich unter den Wollfetzen, mit denen er seinen schrundigen Leib verhüllte, große Geschwüre unter seinen Achseln — so groß waren diese, dass er seine Arme nicht an den Körper anlegen konnte. Diese Geschwüre nässten und eiterten, auch floss Blut aus ihnen. Schwarze Flecken zeichneten die Haut des Bettlers. Dann gewahrte ich, dass sein Atem und sein Schweiß faulig stanken, fauliger als ich je eine Leichengrube gerochen hatte. Mit einem grässlichen Schrei taumelte der Bettler einen oder zwei kraftlose Schritte vorwärts, weg vom Brunnen, mitten auf den Platz vor dem Haus des Wollhändlers. Dann brach er zusammen und krümmte sich auf dem schmutzigen Pflaster, während ihm Blut und Schleim aus dem Mund flössen.
»Die Seuche! Er hat die Seuche! Der HERR steh uns bei: Die Seuche ist in der Stadt!«
Dergestalt schrie ein Marktweib hinaus, was wir alle fürchteten. Für einen Moment standen wir da, als wäre uns der Blitz in die Glieder gefahren. Ich dachte nicht mehr an Lea, ich dachte nicht mehr an das Haus des Wollhändlers, ich vermochte an nichts und niemanden zu denken, als wäre meine Seele freigewaschen wie die eines Kindes am Tage seiner Geburt.
Dann glaubte ich, dass sich die Hölle aufgetan hätte. Denn plötzlich gab es ein Schreien und Toben um mich herum, wie ich es nie für möglich gehalten hätte bei den Bürgern der guten Stadt Paris. Wie von Sinnen riefen Männer und Frauen, Alte und Kinder durcheinander, eilten umher wie Schafe, die den heulenden Wolf gehört hatten, und stießen sich gegenseitig zu Boden, warfen Karren um und trachteten, sich mit Fäusten und Stöcken den Weg freizukämpfen. Da jedoch alle in eine andere Richtung fliehen wollten, war es wie das Getümmel einer Schlacht, in der jeder gegen jeden focht. Manche strebten zur Kirche Saint-Sauveur an der Rue Darnetal, dem nächstgelegenen Hause GOTTES. Andere wiederum stürzten gerade aus dieser Kirche hinaus, als sei sie keine Zuflucht mehr, sondern eine steinerne Falle.
Nur um den Bettler, der immer noch schrie, wenn auch zunehmend schwächer, tat sich ein leerer Raum auf. Glasigen Blickes starrte der Unglückliche um sich und hätte wohl flehentlich den Arm erhoben, wenn ihn die fürchterlichen Schmerzen nicht so zusammengekrümmt hätten, dass er nicht einmal zu dieser elenden Geste mehr fähig war. Er wälzte sich in Blut, Schweiß und schwärzlichem Kot und stieß mit jedem stöhnenden Atemzug seinen Lebensodem aus. Betäubt stand ich noch immer da und ließ mich von den in blinder Angst Fliehenden hin und her stoßen. Dann wandte ich den Kopf und blickte zu Lea hinüber. Die junge Jüdin hatte sich an den Rand des Brunnens geklammert und starrte mich an. Doch ihren Blick, aus dem Entsetzen sprach, wusste ich nicht zu deuten. Wollte sie, dass ich zu ihr kam, um sie aus diesem Pandämonium herauszuzerren? Oder forderte sie mich auf, dem Sterbenden beizustehen, dem niemand sonst sich näherte?
Ich wusste selbst nicht, was ich tun sollte. Ich wollte Lea retten, außerdem plagte auch mich die Furcht vor jener schrecklichen Krankheit. Andererseits befahl mir mein Gewissen, mich als Christ zu erweisen, wollte ich nicht meine Seele endgültig an Satan verlieren. So stand ich noch ein paar Atemzüge lang reglos auf der Rue Darnetal, nur ein paar Schritte von dem mir wie eine rettende Festung erscheinenden Haus des Wollhändlers entfernt.
Doch niemals werde ich erfahren, ob wohl mein christliches Gewissen — oder meine Furcht um Lea und mein eigenes, unwürdiges Leben in jenem inneren Ringen die Oberhand gewonnen hätte. Denn dem HERRN gefiel es, mir die Entscheidung abzunehmen.
*
Plötzlich spürte ich eine eiserne Faust, die sich von hinten auf meine Schulter legte. Dann hörte ich eine Stimme, die mir vage bekannt vorkam: »Haben wir dich, du falscher Mönch!«
Ich wurde herumgerissen — und fand mich von vier Sergeanten umringt. Zwei von ihnen waren jene, die Meister Philippe und mir den toten Heinrich von Lübeck gezeigt hatten. Die beiden anderen kannte ich nicht.
Sie achteten meiner auch nicht weiter, sondern stürzten sich auf Lea, die sie an Armen und Haaren packten. »Du Jüdin!«, schrie einer der beiden.
Da überkam mich ein Zorn, der entweder heilig war oder des Satans, auf jeden Fall war er unbezwinglich.
Ich schrie auf, so laut ich konnte. Da erschreckten sich die beiden Sergeanten, die mich gepackt hatten, und lockerten unwillentlich den Griff ihrer Fäuste.
Ich nutzte diesen Moment der Furcht, entwand mich ihnen und sprang zu dem keuchenden, blutüberströmten Bettler. Mit einem Ruck riss ich dem Sterbenden einen seiner vor Blut und Eiter triefenden Lumpen vom Leib und schleuderte diesen schauderhaften Fetzen den beiden Sergeanten am Brunnen vor die Füße. Die hoben entsetzt die Hände und sprangen zurück. Das war genau das, was ich erhofft hatte.
»Lauf!«, schrie ich Lea aus Leibeskräften zu, um das Gebrüll der furchtsamen Menge zu übertönen. »Lauf um dein Leben!« Einen Moment lang zögerte Lea - dann wandte sie sich ab und stürzte in die Seitengasse, die ich noch ein paar Augenblicke zuvor selbst betreten wollte. Die beiden Sergeanten, die sie festhalten sollten, erholten sich von ihrem Schrecken und rannten ihr nach. Ob Lea ihnen entkommen konnte oder ob sie von ihren Häschern eingeholt wurde, das vermochte ich nicht mehr zu sehen, denn die beiden anderen Bewaffneten waren mit einem Sprung wieder bei mir. Einer schlug mir mit dem eisenbeschlagenen Stil seiner Hellebarde über den Kopf, dass mir schwarz wurde vor Augen und ich stöhnend niedersank aufs Pflaster.
»Ein Kranker, ein weiterer Kranker!«, hörte ich wie aus großer Ferne jemanden schreien.
Doch dann, viel näher an meinem Ohr, vernahm ich die Stimme des dickeren der beiden Sergeanten, der sich zu mir niedergebeugt hatte und mir einen weiteren Stoß versetzte.
»Du entwischt uns nicht, Bruder Ketzer!«, rief er fluchend und trat mir gegen die Rippen, dass ich mich im Dreck wälzte und um Atem rang.
»Was wollt ihr von mir?«, keuchte ich.
»Wir befolgen nur Befehle«, mischte sich da der andere Sergeant ein und gebot seinem Kameraden Einhalt, bevor der mich wieder treten konnte wie einen räudigen Hund. »Wir bringen dich zum Inquisitor«, sagte er.
»Du weißt schon, wohin«, fiel ihm der Dickere ins Wort und feixte. »Nach Saint-Martin-des-Champs.«