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Mit welchen Worten vermag ich die Verzweiflung zu beschreiben, die nun meine Seele in eiserner Klammer hielt, .da ich Stunde um Stunde, Tag um Tag in der finsteren Zelle saß? Allein war ich mit mir und meinen quälenden Gedanken. Hinzu kam, dass Hunger und Durst mich mehr und mehr plagten. Wann mochte das letzte Mal jene Klappe in der Pforte geöffnet worden sein, durch die mir der Folterknecht hartes Brot und einen Krug Wasser gereicht hatte? War es einen Tag her? Oder zwei? Oder gar drei?
Oh, ich Elender. Ich wollte sterben, ja, ich sehnte mich nach der Folter, in der Hoffnung, dass sie mich aus diesem Leben erlösen möge. Doch irgendwann raffte ich mich auf, kroch müde bis zur Zellentür — und schlug mit der Faust dagegen. Ich, der ich eben noch mit meinem irdischen Dasein abgeschlossen hatte, rief um Hilfe und bettelte um Wasser und Brot. Und irgendwann wurde ich erhört.
Ich vernahm seltsam schlurfende, langsame Schritte, die sich meinem Verlies näherten. Mit letzten Kräften hob ich meine Stimme - und schloss dann wieder meinen Mund. Denn nicht die winzige Klappe wurde geöffnet, sondern unendlich langsam, ja mühselig wurde der Schlüssel der Kerkertür gedreht. Dann öffnete sich die Pforte. Ich sah zunächst nicht mehr als einen schwachen Lichtschein. Irgendwo brannte eine Fackel und warf ihr unruhiges Licht durch den unterirdischen Gang. Mochte es Tag oder mochte es Nacht sein? Ich wusste es nicht.
Als sich meine Augen an das flackernde Licht gewöhnt hatten, gewahrte ich einen Schatten am Boden des Ganges: Es war einer der beiden Folterknechte. Nun lag er gekrümmt auf den schimmelüberzogenen Steinen und stöhnte vor Qual. Er war es, der mir mit seiner letzten Kraft die Tür geöffnet hatte.
»Bruder«, flüsterte er mit erstickender Stimme, »habt Erbarmen mit einem armen Sünder! Nehmt mir die Beichte ab, bevor ich sterben muss!«
Ich kniete mich zu ihm, obwohl ich selbst vor Schwäche schwankte. »Was ist geschehen?«, fragte ich.
»Nehmt die Fackel und seht«, flüsterte der Folterknecht. Ich holte die Fackel, die in einem eisernen Ring am Ende des Ganges steckte. Und fürwahr: Als ihr Licht nun auf die bejammernswerte Gestalt fiel, da musste er mir nichts mehr erklären: Beulen und aufgeplatzte Schwären überzogen sein Gesicht und seinen Leib. Er blutete aus wohl drei Dutzend Wunden, selbst aus seinen Augen troff ihm Lebenssaft. Sein Atem, der nur noch stoßweise ging, stank schon nach Verwesung.
»Die Seuche, Bruder«, flüsterte er, »die Seuche holt uns alle.« So blieb ich denn bei ihm, nahm ihm die Beichte ab und sprach ihm Mut und Trost zu, auf dass er mit leichterem Herzen in SEIN Reich gehen möge. GOTT ist mein Zeuge: Ich blieb bei dem sterbenden Folterknecht wohl mehr als eine Stunde lang, bis seine Seele mit einem letzten Seufzer entflohen war.
Dann erhob ich mich, schlug das Kreuz über dem Toten — und blickte mich um. War ich frei?
Vorsichtig schlich ich bis zum Ende des Ganges. Die Folterkammer war leer. Auch auf der Treppe, die ins Licht führte, zeigte sich niemand. Ich sah, dass am Fuße der Stufen ein Verschlag in den Felsen des Untergrundes gehauen war. Es war die Stube der Folterknechte. Einen Krug Wasser sah ich dort, auch etwas Bier, hartes Brot und eine Zwiebel. Gierig schlang ich alles in mich hinein.
Dann, da mit meinen Kräften auch mein Geist zu mir zurückgekommen war, blickte ich mich genauer um. Schließlich entdeckte ich, halb unter Lumpen verborgen, einen eisernen Ring, an dem Schlüssel hingen. Es sah aus, als habe ihn jemand achtlos weggeworfen und dann vergessen.
Ich nahm die Schlüssel und öffnete mit ihnen die nächstgelegene Zellentür.
Das Verlies war leer.
Ich ging zur daneben liegenden Pforte, doch auch diese Zelle war leer. So öffnete ich denn eine nach der anderen. Anfangs hoffte ich noch, dass ich andere Unglückliche befreien möge, doch je mehr leere Verliese ich aufschloss, desto tiefer sank mein Mut. Klara war, wie es Philippe de Touloubre angekündigt hatte, schon längst nicht mehr im Kerker eingesperrt. Erst in der letzten Zelle fand ich einen weiteren Gefangenen. Nechenja ben Isaak.
Ich erkannte den jüdischen Geldwechsler kaum wieder. Zunächst sah ich nur eine gekrümmte Gestalt, die im schmutzigen Stroh lag. Als ich den Mann auf den Rücken drehte, erschrak ich gar sehr. Sein Gesicht war blutig und zerfetzt — ob von den Schlägen der Folterknechte oder von den Bissen der Ratten, die ihn bereits angefressen hatten, vermochte ich nicht zu sagen. Ohne jeden Zweifel jedoch war Nechenja ben Isaak schon seit einigen Tagen tot. Auch über ihm schlug ich das Kreuz, obwohl er doch ein Jude war. Doch ich wusste nun, dass nicht unser Glaube uns zu Sündern oder Heiligen macht, sondern dass es unsere Taten sind, nach denen ER SEIN Urteil über uns sprechen wird. Und Nechenja ben Isaak war kein Sünder gewesen, sondern ein Mann der Gelehrsamkeit und der Demut.
Und er war Leas Vater.
Ein Schauder durchfuhr mich, als ich an das Schicksal der jungen Jüdin dachte. Mochte sie noch leben? Welches Schicksal drohte ihr? Ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Also schlich ich eilig die Treppe hoch. Das unterirdische Verlies mochte nun als Gruft dienen für den Geldwechsler und seinen Folterknecht.
Vorsichtig blickte ich mich um, da ich oben ins Freie trat. Es war später Nachmittag. Die Luft war drückend und heiß. Im Westen zog wie eine drohende Wand ein schwarzes Gewitter herauf. Kein Lufthauch regte sich. Nichts war zu hören, nicht einmal Vogelgesang oder das entfernte Bellen eines Hundes. Nie hatte ich die Welt so still erlebt wie in jenem Augenblick.
Bedrohlich war dies, als lauere irgendwo ein schrecklicher Dämon und alle Lebewesen hielten aus Furcht den Atem an, um nur ja nicht das Monster anzulocken.
Vorsichtig setzte ich meine Schritte durch den Klostergarten von Saint-Martin-des-Champs. Unkraut spross zwischen Thymian und Lavendel, Laub lag auf den Wegen. Seit Tagen mochte kein Mönch mehr diesen Garten gepflegt haben. Ich duckte mich und schritt voran. Das leise Knirschen der Kiesel auf dem Weg war das einzige Geräusch im Kloster. Es erschien mir laut zu sein, als würde ich meine Schritte mit Geläut und Fanfaren begleiten. Da hörte ich noch ein Geräusch.
Ein Krachen und Scheppern, dass ich mich fast zu Tode erschreckte. Es war ein Krug oder Teller, der auf einen Steinboden gefallen und zersprungen war, irgendwo in einem der Klostergebäude. Ich war also doch nicht allein.
Rasch legte ich die wenigen Schritte zurück, die mich noch vom Kreuzgang trennten. Hier zwischen den Säulen konnte ich mich besser verbergen als im Garten, der kaum ein Versteck bot. Was mochte mich nun erwarten?
Vorsichtig öffnete ich eine Pforte, die in eine der Mauern des Kreuzganges eingelassen war. Nach wenigen Schritten stand ich in der Küche des Klosters. Niemand war zu sehen, das Feuer im offenen Kamin, der großen Kochstelle, war schon lange erloschen. Ein Laib Brot lag noch auf dem Tisch, doch der war grün und weiß vom Schimmel überzogen. Rasch trat ich zum Kamin und griff nach einem eisernen Schürhaken, den ich in der Hand wog.
Was war nur mit mir geschehen? Ich, der Mönch, der gehorsam und keusch und friedlich zu leben gelobt hatte, war fest entschlossen, mich mit dem Schürhaken zu wehren, sollte mich jemand ergreifen wollen.
Nie wieder würde ich in jenen Kerker gezerrt werden! Eher ließe ich mich im Kampf erschlagen, als dass ich noch einmal das Verlies der Inquisition erdulden wollte.
So bewaffnet und grimmig entschlossen, wie es nur ein Ritter vor einer Schlacht sein kann, verließ ich die Küche wieder und schlich durch die düsteren Fluchten des verlassenen Klosters. Irgendwann glaubte ich, menschliche Stimmen zu hören. Es war ein leises Wehklagen.
Weiter ging ich, Schritt für Schritt auf eine Pforte zu, die letzte am gegenüberliegenden Ende des Kreuzganges. Langsam drückte ich sie mit der Linken auf, Handbreit für Handbreit, derweil ich in der erhobenen Rechten den eisernen Haken hielt wie eine Streitkeule. Doch dann ließ ich meine Waffe wieder sinken. Es gab hier niemanden mehr, der mich hätte bedrohen können. Ich war ins Dormitorium getreten, den Schlafsaal des Klosters. In der Tat lagen hier einige Mönche, doch wusste ich nicht, wer noch lebte und wer schon gestorben war. Wohl zwei Dutzend Männer ruhten auf dreckigem Stroh, auf ihren Bettstätten oder irgendwo auf dem steinernen Boden, so, als wären sie dort zusammengebrochen. Blut und Kot besudelten die Gewänder der Mönche. Es stank nach Eiter und Exkrementen. Ein Bruder, der große, schwärzliche Flecken auf der Stirn trug, stöhnte auf, als er mich sah, und hob flehentlich die Hand. Er war allerdings nicht mehr kräftig genug, noch etwas zu sagen. Andere krümmten sich vor Schmerzen, doch waren ihre Sinne schon so weit geschwunden, dass sie meiner nicht mehr gewahrten. Wieder andere lagen schrecklich still danieder.
Da erhob sich am anderen Ende des Dormitoriums eine Gestalt, die Scherben eines großen Wasserkruges in der Hand. Ich griff zum Schürhaken, doch dann ließ ich ihn wieder sinken, denn ich erkannte den Mann, der als Einziger noch gehen konnte zwischen all den Sterbenden.
Es war Nicolas Garmel, der Bader, der Diener der Inquisition, der ehemalige Ketzer.
»So hat Euch der Folterknecht endlich freigegeben, Bruder Ranulf?«, begrüßte er mich. »Ich hätte Euch schon vor Tagen die Kerkertüre aufgesperrt, allein dieser Mann ließ mich nicht einmal in die Nähe der Verliese kommen. Erst dann, als er selbst die Beulen im Leibe spürte, packte ihn die Furcht. Ich riet ihm, Euch freizugeben, auf dass seine Seele leichter sein möge.«
»Was ist geschehen, Herr Garmel?«, fragte ich. »GOTT straft die Christenheit!«, sagte da der Bader und fasste sich an den Kopf. Er war müde, ein wilder Bart wucherte in seinem Gesicht, seine Haare waren fettig, seine Haut war schrundig und grau. »Es gibt kein Heil mehr, nirgends.«
»Extra ecclesiam nulla salus« antwortete ich darauf. Da lachte er wie irre. »Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil, wie wahr Ihr doch sprecht, Bruder Ranulf. Doch wie sieht es denn innerhalb der Kirche aus? Seht Euch doch um!« Er wies auf die sterbenden Mönche im Dormitorium. »Ich bin allein«, flüsterte der Bader dann und sah aus, als wäre er den Tränen nahe. »Ihr wisst, warum ich oft genug hier gewesen bin im Kloster Saint-Martin-des-Champs.
Der Inquisitor ließ mich auch vor einigen Tagen rufen. Ich sollte den jüdischen Geldwechsler wieder zu Sinnen bringen, doch die Folter war zu schwer gewesen. Als ich kam, stand ich schon vor einem Toten.
Als ich wieder gehen wollte, da brach ein Bruder des Klosters mit Beulen in den Leisten zusammen. Wir brachten ihn in die Krankenstube. Dann aber sank ein zweiter Mönch danieder, dann ein dritter. Welche Schande, Bruder Ranulf: Als dies geschah, da flohen die meisten anderen.«
Ich starrte ihn ungläubig an. »Die Mönche flohen aus dem Kloster?«, fragte ich und schüttelte den Kopf.
»Das glaubt Ihr nicht, Bruder Ranulf? Oh, Ihr seid glücklich gewesen in Eurem Kerker, glaubt mir! Denn in Paris, da verlassen Kinder ihre Eltern und Eltern ihre Kinder. Die Frau verlässt ihren Mann, zeigen sich bei ihm die Male der Seuche; und der Mann verlässt seine Frau. Ärzte fliehen ihre Kranken, Apotheker rennen davon. Und ja, Priester weichen, als sei der Teufel hinter ihnen her. Wenn wir denn sterben müssen, wollen wir doch zuvor beichten.
Aber da ist niemand mehr, der sich der armen Seelen annimmt. Wer ein Mann GOTTES ist, der ist geflohen oder tot. Der Bischof von Paris selbst ist aus der Stadt entwichen, wohin, das weiß man nicht.«
»So schlimm ist es?«, murmelte ich. »Ja, so schlimm«, sagte Nicolas Garmel.
»Wohl drei Dutzend Mönche flohen allein aus Saint-Martin-des-Champs. Diese Narren! Denn wohin mögen sie wohl laufen? Überall lauert doch die Seuche. Nirgends ist man mehr gefeit. So blieben denn nur einige Brüder und ich zurück, um die Kranken zu pflegen — und einer der beiden Folterknechte. Jener, der mir verbot, Euch zu befreien.
Es dauerte nur wenige Tage, da war ich der einzige Mann, der sich noch auf den Beinen halten konnte. Ich pflegte die Mönche mit meiner ganzen Kunst. Der Garten hier ist doch reich an Heilkräutern! Das Wasser ist klar! Die Luft ist rein! Und doch sterben mir die Brüder unter den Händen. Ich kann nichts tun, rein gar nichts. Nicht einmal ihre schrecklichen Schmerzen vermag ich zu lindern. Ich bin so müde.«
»Ich werde Euch helfen, Herr Garmel«, sagte ich und wollte mich sofort an die Arbeit begeben. Doch er gebot mir mit einer Geste Einhalt, dann schüttelte er erschöpft das Haupt. In jenem Augenblick sah ich, dass der Bader das Katharerkreuz an einer kleinen silbernen Kette um den Hals trug: das Kreuz, das im Kreis stand. Er bemerkte meinen Blick und lächelte schwach. »Ja, Bruder, ich bin wieder zum Ketzer geworden. Verzeiht mir, doch der Inquisition und der Kirche mag ich nicht mehr vertrauen.«
»Tut, was Ihr tun müsst«, antwortete ich.
»Und tut Ihr, was Ihr tun müsst«, gab er zurück. »Helft mir nicht hier in Saint-Martin-des-Champs. Hier gibt es keine Hoffnung mehr. Hier gibt es niemanden, dem Ihr noch beistehen müsst. Aber leben nicht in Paris Menschen, die Eurer Hilfe bedürfen? Wenn Ihr noch etwas Gutes tun wollt in dieser Welt, Bruder Ranulf, dann eilt nach Paris! Solange Euch der HERR noch ein paar Tage schenkt!«
Ich dachte an Klara und Lea. Ich dachte an das, was Philippe de Touloubre gesagt hatte. Nicolas Garmel hatte Recht: Für mich gab es in Paris noch einiges zu tun und ich musste mich sputen. »Seid unbesorgt« rief ich. »Ich werde nach Paris eilen und Euch Hilfe schicken. Haltet aus, nur noch ein paar Stunden!« Da lachte der Bader, doch es war ein bitteres Lachen. »Niemand wird kommen, Bruder Ranulf. Ihr seid ein heiliger Narr, dass Ihr so etwas glauben könnt. Und ich bedarf auch keiner Hilfe mehr, nicht aus Paris und nicht von irgendjemandem auf dieser Welt. Jeder Tag kann nun der Jüngste Tag sein. Das Ende ist nah. Ich habe nicht mehr lange zu leiden.«
»Lasst die Hoffnung nicht sterben!«, flehte ich ihn an. »Seid stark. GOTT wird die erlösen, die wahrhaft glauben. Noch ist nicht alles verloren!«
Statt mir mit Worten zu antworten, hob der Bader nur seine Arme. Zunächst blickte ich ihn verwundert an, dann erkannte ich es: Beulen unter seinen Achseln, groß wie Hühnereier. »Ja«, sagte Nicolas Garmel schließlich, »auch ich bin schon gezeichnet. Ein Tag noch, vielleicht werden es auch zwei. Dann werden die Beulen aufbrechen und Blut und Eiter und schwarze Galle werden mir entströmen. Das Fieber wird mich packen, der Schmerz wird über mich kommen. Dann werde ich mich niederlegen. Und ich werde sterben — der letzte Tote dieser großen Abtei wird ein Ketzer sein.« Was gab es da noch zu sagen?
Ich erteilte dem Bader meinen Segen, dann wandte ich mich um und verließ das Kloster. Ich wusste, dass ich Nicolas Garmel niemals wiedersehen würde.
So machte ich mich denn auf gen Paris, dessen Dächer glänzten, während dahinter wie eine schwarze Wand das Gewitter am Himmel aufzog. Die Stadt glich mir nun nicht länger dem Himmlischen Jerusalem, vielmehr glaubte ich, an den Pforten der Hölle zu stehen. Den eisernen Schürhaken packte ich fester, dann ging ich los.
*
Ich kam nur ein paar Schritte weit, da erblickte ich einen Toten am Wegesrand. Dann noch einen und noch einen. Um den dritten stritten sich einige Hunde. Sie knurrten und winselten, sie rissen am Körper des Unglücklichen. Von ihren Lefzen troff Blut, es stank nach Verwesung.
Ich sah mich nach Hilfe um, doch erblickte ich keinen Menschen. So schrie ich denn zornig und schleuderte auch ein paar Steine. Doch dies half nicht. Erst als ich mit dem Schürhaken auf den ersten Hund eindrosch, dass er jaulend davonstob, wichen die anderen. Doch sie umkreisten mich in wenigen Schritten Abstand und knurrten böse. Das Gesicht des Toten war schon so zerrissen worden, dass ich seine Züge nicht mehr erkennen konnte. Ich hatte kaum Zeit, einen Lumpen, der seinen Leib bedeckte, über sein Gesicht zu werfen, da schnappte einer der Hunde nach mir. Nur weil ich mich mit einem Sprung in Sicherheit brachte, blieb ich unverletzt. Ich wollte wieder auf das Tier losgehen, entschlossen, den Toten nicht vor meinen Augen zerreißen zu lassen, da gewahrte ich, dass auch die Leiber der Hunde Beulen entstellten. Kein Zweifel: Auch die Tiere würden sterben.
Da packte mich die Angst und ich floh vor den todkranken Hunden und ihrem grausigen Mahl. Ich rannte den ganzen Weg, bis ich zum großen Stadttor kam, das gen Norden wies.
Doch seltsam: Keinen Wachsoldaten sah ich dort, niemand stand auf der Mauer und hielt Ausschau. Kein Bettler hockte am Wegesrand, kein Händler hatte seinen Karren abgestellt. Ich sah weder Maultiere noch Zugochsen, ja nicht einmal Raben, die doch sonst in Scharen das Gewölbe des Tores umschwirrten. Die massigen Torflügel standen jedoch weit geöffnet. Beklommenen Herzens trat ich hindurch.
Und fürwahr: Die Hölle tat sich mir auf, da ich Paris betrat.
Dixitque ei Iesus sine ut mortui sepeliant mortuos suos tu autem vade adnuntia regnum DEI.
Das Erste, was mir auffiel, war die Stille, als ich die Stadt betrat. Keine Stimme vernahm ich, keinen Lärm: keine Flüche, kein Gesang, keine Rufe der Marktweiber, kein Spiel der Vaganten, kein Gekreisch der Kinder; keine rumpelnden, eisenbeschlagenen Räder auf dem Pflaster, kein Hufgeklapper, kein Glockenläuten. Nur das Flattern von Taubenflügeln hallte durch die Stadt - und das Gesumm unzähliger Fliegen.
In dicken, dunklen Wolken standen sie über den Toten, die allerorten auf der Straße lagen. Ich erblickte Männer und Frauen, Kinder und Greise, manchen Edelmann, viele Bürger und Bauern, einige Bettler, auch einen Arzt in seiner prächtigen Kleidung und zwei Franziskaner. Manche waren mitten auf dem Weg hingesunken, das Gesicht schwarz wie Kohle, als hätte sie der Tod in einem einzigen Augenblick umgemäht wie der Sensenmann das Gras. Andere waren in der Bäckerei oder in der Schmiede zu Boden gegangen und nie wieder aufgestanden. Wieder andere fand ich, die hatten sich an Hauswände gekrümmt oder an die Pforten der Häuser gekrallt — so, als hätten sie mit der Kraft ihrer letzten Atemzüge verzweifelt versucht, sich in die Gebäude zu retten.
Doch wer hätte ihnen dort noch öffnen sollen? Aus den offen stehenden Fenstern so mancher Bürgerhäuser entquollen Wolken unzähliger Fliegen — und wie es in den Zimmern aussah, aus denen sie kamen, das wollte ich nicht wissen.
Schwer drohte ein Gewitter. Es stank nach Tod und Fäulnis und süßlicher Verwesung, dass es einem den Atem raubte. Zudem mussten irgendwo in der Stadt kleine Brände wüten, denn ich sah dunkle, grauschwarze Qualmwolken und feine Asche langsam durch die stickige Luft der Gassen ziehen.
So schlug ich mir denn einen Zipfel der Kapuze meiner Kutte, die in den langen Tagen im Kerker beschmutzt und zerrissen worden war, quer über den Mund, damit ich nicht gar so viele schädliche Miasmen einatmen musste. Dann ging ich weiter Richtung Seine. Doch wie kann ich mein Entsetzen beschreiben, da plötzlich einer der Toten den Arm nach mir reckte?
Es war ein Mann, ein Bettler, der gar nicht tot war, zumindest noch nicht ganz. Der Unglückliche lag in seinen schwärzlichen, fauligen Ausscheidungen; Beulen überwucherten sein Gesicht. Fliegen hatten sich schon wie ein schrecklicher Schleier auf seinem Kopf niedergelassen. Nun, da er mit letzter Kraft den Kopf hob, flogen sie auf und umschwirrten ihn mit wütendem Gesumm. Langsam kroch der Kranke auf mich zu, die Rechte hatte er wie eine Klaue erhoben. Er stöhnte vor Schmerzen, vermochte jedoch kein Wort mehr über seine blutigen Lippen zu bringen. So flehte er mich stumm an, irgendetwas für ihn zu tun.
Doch was hätte ich noch zu tun vermocht? Wäre ich bei ihm geblieben, wäre ich bei jedem Sterbenden geblieben, ich wäre wohl nie an mein Ziel gelangt. So wandte ich mich schaudernd ab — und rannte die Straße hinunter, so schnell ich konnte.
Ich werde mich dafür schämen bis an das Ende meiner Tage, doch weiß ich zugleich, dass es richtig war, was ich getan habe. Denn nicht den Sterbenden durfte an jenem Tag meine Sorge gelten, sondern den Lebenden.
Bald gewahrte ich, dass ich doch nicht der einzige Mensch war, der sich noch auf seinen Beinen halten konnte. Hinter manchen Fenstern sah ich Schatten und misstrauische Augen, die mir folgten; Fensterläden wurden plötzlich zugeschlagen, als ich mich näherte, ich hörte, wie sich in der Türe eines Bürgerhauses leise quietschend der Schlüssel im Schloss drehte.
Dann sah ich in den düsteren Seitengassen Schatten: verhüllte Gestalten, ob Mann oder Weib war schwer zu unterscheiden, welche die Türen der Gebäude aufbrachen und Leuchter, Teppiche und silbernes Besteck davonschleppten. Andere Schatten beugten sich gar über die entstellten Toten und Sterbenden und raubten sie aus. Diese Verbrecher! Diese Narren! Was wollten sie kaufen mit all dem Gold und Silber? Sicherheit vor dem Schwarzen Tod? Die gab es nicht einmal im Königspalast! Vergebung ihrer Sünden? Als ob der Teufel sich von irdischen Schätzen bestechen ließe! So gaben sie denn für den Reichtum einer Stunde ihr ewiges Leben dahin. Ich war schon ein gutes Stück meines grausigen Weges vorangekommen, da hielt ich plötzlich inne. Musik.
Ich glaubte, dass Satan meinen Sinnen einen Streich spielen wollte, doch als ich leise weiterschlich, da vernahm ich, je näher ich der Seine kam, desto deutlicher, die Töne einer Schalmei. Dazu spielte eine Laute und jemand schlug eine Trommel in einem wilden Takt. Kein Chor war dies, kein frommer Hymnus, sondern die Melodie von Menschen, die zum Tanz aufspielen.
Ich weiß nicht, warum es so war, vielleicht war es eine Vorahnung: Diese fröhlichen Weisen jedenfalls versetzten mich in noch größere Angst als die tödliche Stille zuvor.
Vorsichtig wagte ich mich weiter, Schritt für Schritt — bis ich zu jener Ecke kam, da sich die Straße auf die Place de Greve hin öffnete. Dort tanzten Menschen, wohl etliche Hundert an der Zahl. Auf dem Platz hatten sie aus zerschlagenen Truhen und Tischen, aus herausgerissenen Türen und Fensterläden einen Scheiterhaufen aufgeschichtet, der lichterloh brannte. Daneben waren große Weinfässer herangerollt worden, die aufgebrochen waren, sodass der Rebensaft aus ihnen quoll wie Blut. Im wilden roten Schein der Flammen, nur ein paar Schritte von diesen entfernt, erglänzten die goldüberzogenen Schnitzereien eines prachtvollen Altares, den verbrecherische Hände aus einer der nahe gelegenen Kirchen gezerrt haben mussten. Auf dem Altar stand ein halbes Dutzend Vaganten. Sie waren es, die jene lustige, schnelle Weise spielten, die ich vernommen hatte. Um das Feuer und die Musiker auf ihrer blasphemischen Bühne tanzten Männer und Weiber in einem wilden Reigen. Die meisten waren nackt, kein Fetzen Stoff bedeckte ihre Blöße. Sie schrieen und jauchzten wie Bauern auf einem Dorffest und riefen einander mit derben Schimpfworten. Männer fassten Frauen, sogar Frauen fassten Männer schamlos an, dass ich es nicht zu beschreiben wage. Hin und wieder sanken zwei nieder und erkannten sich fleischlich, mitten auf dem Platz und umgeben von den Tänzern. Niemand wandte sich ab, sondern ein jeder schrie den Schamlosen, die sich am Boden wälzten, wohl noch Ermunterungen zu. So mancher erhob sich danach wieder und tanzte weiter, als sei nichts gewesen, lachend und trinkend aus den aufgebrochenen Fässern. Andere blieben am Boden liegen, ob vor Erschöpfung oder weil die Krankheit sie im Liebesspiel geholt hatte, das vermochte ich nicht zu sagen — die Tänzer jedenfalls bekümmerte dies nicht.
Schrecklicher noch als diese schamlose Unzucht, ja selbst als die Entweihung einer Kirche erschien mir der Schmuck mancher Tänzer: Mit Farbe hatten sie sich rote und schwarze Flecken auf die Haut gemalt. Einige trugen Masken aus Stroh oder Stoff, die zerfressene Gesichter darstellen sollten. Wer vermochte da noch zu sagen, welches Krankenmal noch mit Farbe aufgetragen war - und welches bereits echt war?
So groß war mein Entsetzen über dieses Schauspiel, dass ich mich für ein, zwei Augenblicke nicht von diesem Anblick losreißen konnte. Und wer weiß, wie lange ich wohl noch am Rand der Place de Greve gestanden hätte, wäre nicht eine Frau vor meinen Augen aufgetaucht, so plötzlich, als sei ein Dämon vor mir aus dem Boden gefahren.
»Mönchlein, tanz mit mir!«, rief sie mir zu und lachte irre. Die Frau war nicht mehr jung, doch selbst in ihrer Wirrnis erkannte ich, dass ihr dunkles Haar vor noch nicht allzu langer Zeit wohlgepflegt und in kunstvollen Locken gelegt gewesen sein musste. Sie war nackt, ihre Haut glänzte vor Schweiß, doch waren ihre Hände fein, sie war makellos - bis auf die grellroten Male, die sie sich auf das Gesicht, auf ihre Arme und Brüste gemalt hatte. Ich wich zurück und schlug das Kreuz.
Da lachte sie jedoch nur noch lauter. »Mönchlein«, kreischte sie, »dich will ich nicht nur tanzen lehren! Du sollst der dritte Mann sein, den ich heute bezwingen werde!«
Da riss ich mich aus ihrem Griff los und floh vor ihrem wilden Gelächter.
So groß war meine Furcht, dass ich mich nicht einmal umzusehen wagte. Ich rannte und rannte, als wäre ein Dämon hinter mir her - und das war vielleicht ja auch die Wahrheit.
Weder nach links noch nach rechts blickte ich. Wie blind stolperte ich auf den Grand Pont, hastete an den verschlossenen Häusern der Geldwechsler vorüber und taumelte, am Ende meiner Kraft, auf die Insel in der Seine. Düster wie eine Zwingburg ragte Notre-Dame vor mir auf.
Ich rang nach Atem, dann schleppte ich mich zum Haus des Nechenja ben Isaak im Judenviertel nördlich der Kathedrale.
Die Tür des Gebäudes war zerschlagen; der untere Teil der Pforte hing noch schief in einer Angel, der obere lag zersplittert auf der Gasse. Die Fenster waren eingeschlagen, ein zerschnittener Vorhang bewegte sich träge im Windhauch, der von der Seine her herüberwehte. Ich hob den Schürhaken und schlich hinein.
Halb hatte ich erwartet, hier auf Schattengestalten zu treffen, doch war ich ein Narr, denn die Sergeanten und die Inquisitoren hatten das Haus ja schon zuvor geplündert, sodass es hier nichts mehr zu holen gab. Und was nicht weggeschleppt worden war, das hatten sündige Hände zerstört. Ich musste Acht geben, dass ich nicht auf zerfetzten Teppichen ins Taumeln geriet oder mich an den Splittern zerschlagener Truhen und Tische verletzte.
So bewegte ich mich vorsichtig durch das leere Heim. Als ich in die Bibliothek kam, hätte ich sie kaum wiedererkannt. Denn hier, wo allein die Inquisitoren zugegen gewesen waren, fand ich keine Spur von Gewalt. Und auch keine Spur von irgendetwas sonst: Alles war verschwunden: Bücher, Pergamentrollen, Bücherkisten, Schreibpulte, Federn, Tintenfässer — nichts, nicht ein Staubkorn, war mehr in diesem Raum.
Es war, als hätte es die große Bibliothek des Nechenja ben Isaak nie gegeben.
Ich ging über die Stiege ins nächste Geschoss. Auch hier waren die Zimmer verwüstet und ihrer wertvollen Einrichtung beraubt worden. Ich stolperte an zerschlagenen Betten und Truhen vorbei. Endlich, da ich glaubte, dass kein Plünderer mehr im Hause sei, wagte ich es, nach Lea zu rufen. Laut rief ich ihren Namen, wohl ein Dutzend Mal. Ich sagte auch, wer ich sei, dann lauschte ich, ob ich irgendwo eine Antwort oder wenigstens ein verräterisches Geräusch hören mochte. Vergebens.
Enttäuscht schritt ich die Stiege wieder hinunter. Ich war schon an der Tür, als ich plötzlich eine leise Stimme flehen hörte: »Bruder Ranulf, bleibt!«
Eine versteckte Tür unterhalb der Stiege schwang auf - und Lea trat heraus.
Da vergaß ich meine mönchische Würde und meine Pflicht als Christenmensch - und stürzte der jungen Jüdin entgegen und schloss sie in die Arme.
»Wie bin ich glücklich, Euch zu sehen!«, rief ich.
»Und ich nicht minder«, erwiderte Lea und auch sie schloss mich in die Arme.
Dann berichtete sie mir mit wenigen, hastigen Worten, dass ihr an jenem Tag, da ich die Sergeanten vor dem Haus des Wollhändlers abgelenkt hatte, tatsächlich die Flucht gelungen war. Sie hatte sich zwei Tage am Ufer der Seine zwischen den Stapeln der Stoffballen und der leeren Kisten für die Schiffe versteckt, was leicht war, da dort niemand mehr Fracht ablud.
»Doch dann wurde es so schrecklich auf den Straßen, dass mir graute«, fuhr sie fort. »In einem fort starben die Menschen. Manche sanken nur ein paar Schritte vor den Kisten nieder, hinter denen ich mich verbarg. Und schlimmer noch als die Sterbenden waren die Lebenden.«
Ich dachte an das, was ich soeben gesehen hatte, nickte und legte ihr die Hand auf die Lippen. »Sprecht nicht darüber«, bat ich. »Ich schlich mich am zweiten Abend zum Haus meines Vaters zurück, da ich nicht wusste, wohin ich mich wenden sollte. Von Euch, Bruder Ranulf hatte ich doch nichts mehr gehört. Ich dachte, Ihr würdet auf dem Scheiterhaufen enden!« Sie drückte meine Hand. »Ich sah, dass die Sergeanten genug mit den Toten zu tun hatten, denn anfangs bemühten sie sich noch, jedes Opfer zum Friedhof zu tragen«, fuhr sie fort. »Später jedoch sah ich keinen Sergeanten mehr. Also glaubte ich mich im Haus meines Vaters sicher. Das war ich auch. Hier fand ich altes Brot und ein paar getrocknete Datteln, die niemand mitgenommen hatte. Während der Gewitter jener Tage schöpfte ich Regenwasser vom Dach in einen Krug, den ich aus der Küche geborgen hatte.
Seither verstecke ich mich, denn ich wage mich nicht mehr heraus.«
Sie machte eine kleine Pause, dann sah sie mich aufmerksam an. »Habt Ihr etwas von meinem Vater gehört?«
Sollte ich sie anlügen? Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Während ich mich für einen Augenblick mit diesen Fragen quälte, hatte mich mein Blick schon verraten.
»Er ist tot«, flüsterte Lea tonlos.
Da nahm ich sie wieder in den Arm und erzählte ihr von meinen Tagen im Kerker und davon, wie ich die Freiheit erlangte und dabei zufällig ihren toten Vater entdeckte. In welchem Zustand ich ihn angetroffen hatte, das allein verschwieg ich ihr.
Sie weinte vor Kummer eine lange Zeit und ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte.
»Wie viele Tage habt Ihr Euch versteckt?«, fragte ich schließlich, da ich sie auf andere Gedanken bringen wollte. Zudem war diese Frage lebenswichtig. »Welcher Tag ist heute?«
Lea sah mich verwundert an. »Wenn ich richtig gezählt habe«, antwortete sie zögernd, »dann ist heute der Tag, den ihr Christen Sankt Bartholomaeus geweiht habt. Doch welche Bedeutung hat das noch, da uns auch Heilige nicht mehr beistehen können?«
»Sankt Bartholomaeus?«, rief ich da entsetzt. »Aber dann sind seit Mariae Himmelfahrt schon neun Tage vergangen! Neun Tage habe ich verloren im Kerker! Oh HERR, lass mich nicht zu spät kommen!« Lea blickte mich an. »Wohin wollt Ihr denn noch fliehen, Bruder Ranulf? Der Schwarze Tod ist überall.«
»Ich will nicht fliehen«, erwiderte ich darauf, »ich will mich stellen. Und nicht die Seuche fürchte ich, sondern die Menschen.« Da ich nun keinen Grund mehr sah, ihr irgendetwas zu verheimlichen, berichtete ich ihr von der Verschwörung der Inquisition und wie sie so viele Menschen in Tod und Verderben gestürzt und so viele Bücher der Vernichtung anheimgegeben hatte.
»Darum also musste mein Vater sterben«, sagte Lea und ihre Augen blitzten vor Zorn.
»Und es wird noch viel Unglück über die Menschen kommen, wenn wir die Verschwörer nicht aufhalten«, antwortete ich. »Aber wo sollen wir sie suchen?«
»Da, wo sie den Schatz der Templer versteckt halten«, rief ich. »Gold und Silber sind schwer. Wenn der Schatz wahrhaftig so gewaltig ist, wie man sich allerorten zuflüstert, dann bedarf es vieler Träger, um die Truhen zu bewegen, in denen er verborgen sein muss. Doch nun, da die Seuche unzählige Menschen dahingerafft hat und viele andere so von Sinnen sind, dass sie sogar Kirchen entweihen, werden die Inquisitoren kaum noch zuverlässige Träger finden können. Hast du noch einen Sergeanten gesehen? Oder einen Priester? Oder einen Mönch? Nein, die sind alle tot oder geflohen. Wenn wir also überhaupt noch eine Möglichkeit haben, Meister Philippe und seine Mitstreiter zu stellen, dann dort, wo sie den Schatz verborgen haben.«
»Und Ihr kennt das Versteck?«
»Der Inquisitor selbst hat es mir verraten!«, rief ich triumphierend. »Wiewohl er sich dessen nicht bewusst war. Denn er sagte zu mir über den Schatz: ›Dort ruht er noch heute an einem verborgenen Ort. Allen sichtbar und dem Himmel so nah wie nirgendwo sonst und doch unsichtbar für die Augen der Uneingeweihten.‹ Allen sichtbar und dem Himmel so nah wie nirgendwo sonst — welcher andere Ort könnte das sein, wenn nicht die Kathedrale Notre-Dame?«
*
So eilten wir denn zum größten Hause GOTTES von Paris. Doch auch SEIN Haus war nun zur Gruft geworden. Das mächtige Portal an der Westfassade stand offen, sodass Lea und ich ohne Schwierigkeiten hineingelangen konnten. Doch dann stockte uns der Atem. Vor den Altären waren die Kerzen heruntergebrannt. Einzig das Sonnenlicht, verschleiert von den heraufziehenden Gewitterwolken, brachte die gewaltigen Fenster zum Leuchten und füllte das Kirchenschiff mit Licht. Doch während manche Stellen deshalb in blauem und rotem Glanz erstrahlten, lagen andere schon in fast undurchdringlicher Düsternis. Schatten huschten durch den Raum und verschwanden wieder im Gewölbe.
Einen Moment lang glaubte ich, es seien die Seelen der Toten. Ich bekreuzigte mich. Doch dann erkannte ich, dass es Fledermäuse waren, die sich an den Bögen und Kapitellen festgeklammert hatten. Lea und ich hatten sie aufgescheucht, als wir eingetreten waren. Wir waren allein — dachten wir zuerst. Doch kaum waren wir einige Schritte tiefer eingedrungen, da sahen wir, dass uns auch hier viele Tote Gesellschaft leisteten. Wir gewahrten die Körper von Dahingesunkenen zwischen Kirchenbänken und vor Altären. Vor der Pforte zur Sakristei lag ein Domherr, drei Priester und einen Mönch erblickten wir im Chor. Der Mönch war Dominikaner, ich kannte ihn vom Kloster.
Schaudernd ging ich weiter, langsam durchmaßen wir die riesige, stille, düstere Kathedrale.
»Haltet inne, Bruder Ranulf!«, flüsterte Lea mir zu und packte mich am Arm.
Wir lauschten. Tatsächlich: Irgendwo im Zwielicht bewegte sich jemand.
Ich glaubte auch, leise Schritte zu hören. Ich hob den Schürhaken und duckte mich. Der Unbekannte kam näher. Die Schritte schienen mir seltsam zu klingen, ganz leise und gar nicht menschlich. Stumm betete ich zum HERRN, dass er uns behüten möge. Ich sah einen Schatten am Rande einer Seitenkapelle.
»Halt!«, schrie ich da, sprang auf und hob den eisernen Haken. Ein Fauchen antwortete mir, eine rasche Bewegung, ein Schatten - dann war nichts mehr zu sehen.
Es war nur eine große schwarze Katze gewesen, ein Tier des Satans. Mein Herz schlug mir im Halse, Schweiß klebte auf meiner Haut. »Wir müssen weitersuchen!«, keuchte ich.
Doch so genau Lea und ich auch jede Kapelle und jeden Altar, jede Pforte und jeden Winkel erkundeten: Wir fanden nichts, das den Verschwörern als Versteck hätte dienen können. Nach wohl einer Stunde - es dunkelte schon und die Gewitterwand, die sich quälend langsam der Stadt näherte, stand endlich drohend über uns am Himmel - gaben wir die Suche im Innern auf.
Wir gingen nun draußen um die Kathedrale und wagten uns ins steinerne Dickicht der Strebepfeiler und Filialen, welches die Chorkapellen umhüllte. Es waren dies die Verstecke der Schönfrauen und ich musste unweigerlich an Jacquette denken.
Allerdings war hier kein sündiges Weib mehr, kein Bettler, überhaupt kein lebendes Wesen war mehr zu sehen. Nur Tote auch hier, doch war mein Blick schon so abgestumpft, dass ich nicht einmal mehr genau hinsah.
Schließlich standen wir wieder vor dem Portal unter der prachtvollen, steinernen Rosette, und sahen uns ratlos und verzweifelt an. »Wo mögen sich die Verschwörer verstecken?«, fragte ich. Da gab GOTT Lea ein Zeichen.
Denn sie blickte nach oben, da sie fürchtete, dass es gleich aus den düsteren Wolken regnen würde.
»Seht, Bruder Ranulf!«, rief sie da und deutete in den Himmel. Und dann bemerkte auch ich das Zeichen SEINES Zorns: Am finsteren Himmel kreisten wohl einhundert Raben. In großen Zirkeln flogen sie um die Kathedrale, als wären sie ruhelose Seelen, die noch an die Kirche gekettet waren. Wir sahen ihnen schreckensstarr zu, dann erkannten wir, dass sie um den südlichen Turm kreisten. Immer wieder stieß einer der schwarzen Vögel dort durch die steinernen Bögen ins Innere. Andere kamen heraus und flatterten davon, mit Fetzen im Schnabel. Ich konnte nicht sehen, was die Raben dort raubten — doch ich konnte es mir denken. »Dort oben liegen Tote«, flüsterte Lea. »Hinauf in den Turm!«, rief ich.
*
Wir eilten wieder hinein in die Kathedrale, wandten uns dort nach rechts und fanden eine Pforte. Als wir sie öffneten, entdeckten wir eine schmale, steinerne Wendeltreppe, die sich im rechten Turm der Kathedrale nach oben wand. Da keine der Fackeln, die in den eisernen Halterungen steckten, mehr brannte und nur ein paar schmale Fenster in großen Abständen in die Wände eingelassen waren, drang nur wenig Licht ins Innere. Wir mussten vorsichtig sein, dass wir nicht stürzten und uns die Glieder brachen.
Trotzdem rannte ich so rasch nach oben, wie es meine Kräfte zuließen. Den Schürhaken hielt ich umklammert. Lea folgte mir dichtauf. Irgendwann, vielleicht auf halber Höhe des Turms, hielten wir inne, um Atem zu schöpfen. Auch nutzte ich die kurze Pause, um zu lauschen.
Nichts. Im Treppenhaus selbst schien alles still - so glaubte ich zumindest, denn draußen kündigte sich das Gewitter nun in Böen an, welche in unregelmäßigen Abständen um den Turm heulten und es mir schwer machten, ungewöhnliche Geräusche auszumachen. Ich konnte die gewundene Treppe nur einige Stufen weit hinaufsehen, sodass sich weiter oben eine Hundertschaft Landsknechte hätte verstecken können, ohne dass ich sie gewahrt hätte. Vorsichtiger schlichen wir weiter. So gelangten wir in einen überwölbten Raum, der zur Linken eine offene Pforte aufwies. Sie führte zur Galerie hinaus, die in schwindelnder Höhe die beiden Türme miteinander verband. Ich spähte kurz hinaus, da ich glaubte, dort einen entweichenden Schatten gesehen zu haben. Doch entdeckte ich niemanden auf dem schmalen, steinernen Gang. Nur ein paar Raben flatterten auf und krächzten böse. Selbst hinaustreten oder gar bis zum anderen Turm gehen wollte ich allerdings nicht — aus Angst, dass jemand, der sich oben unter der Spitze verbarg, mich auf dieser Galerie entdecken mochte.
Ich atmete tief durch — denn nun konnte, wer immer dort oben sein mochte, mir nicht mehr entkommen, falls er noch lebte. Ich hatte befürchtet, dass uns jemand im Turm beim Hinaufsteigen gehört haben könnte. Dann wäre es ihm möglich gewesen, vom rechten Turm bis zur Galerie hinabzusteigen, über die Galerie in den anderen Turm zu wechseln und die Kathedrale unerkannt zu verlassen, während Lea und ich uns noch auf dem Weg nach oben befanden. Nun hatte ich diesen Fluchtweg abgeschnitten — vorausgesetzt allerdings, der, den wir suchten, war uns nicht gerade auf eben jener Galerie entkommen.
»Weiter!«, keuchte ich.
Noch einmal kämpften wir uns wohl viele Dutzend Stufen hoch. Die Treppe wurde immer enger und wand sich immer steiler hoch. Ich fürchtete, dass uns jemand hier auflauern würde. Wir hätten ihn im Kampfe niemals überwinden können. Zugleich fürchtete ich, dass jener Schatten, den ich glaubte gesehen zu haben, uns nun folgen könnte und Lea angriff, die hinter mir war. Wir hätten in der Falle gesessen.
Doch wir gelangten unbehelligt nach oben.
Wir traten vom Treppenhaus in eine erstaunlich große, hohe, steingewölbte viereckige Kammer direkt unterhalb des stumpfen, an einen Beifried gemahnenden Abschluss des Kathedralenturmes. Einige schmale, doch hohe Fensterbögen ließen viel Licht von außen herein, doch waren die Scheiben an mehreren Stellen zersprungen. Drei schwarze Raben flatterten wild auf, als wir hereinstürmten. Ich schlug mit dem Schürhaken nach ihnen und vertrieb sie. Dann sah ich mich um.
Wir waren zu spät gekommen.
An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand standen schwere Eichenkisten, manche waren fast mannshoch. Alle waren aufgeschlagen, bei manchen war der Deckel sogar abgerissen worden und lag daneben auf dem Steinboden. Und alle waren leer. Neben den Fenstern, sodass sie gut im Licht standen, befanden sich auch einige Schreibpulte. Auf einem lag noch ein kleines Messer, wie man es zum Abschaben zu tilgender Textpassagen verwendete. Auf dem Boden lagen einige Schreibfedern verstreut, außerdem war ein Tintenfass dort aufgeschlagen und zersprungen. Blaue Tinte hatte sich über die Steine ergossen. Sie war längst getrocknet. Es roch noch nach Pergament und Leder, doch außer einigen Fetzen, auf denen allerdings nicht eine einzige Zeile Text stand, waren keine Bücher oder Urkunden zu sehen.
Mitten in der Kammer lag ein Toter. Es war ein Mönch, den die Raben umschwirrt hatten. Ein Dominikaner. »Tretet nicht näher!«, warnte ich Lea.
»Glaubt Ihr, ich habe die letzten Tage mit verbundenen Augen zugebracht?«, antwortete sie mir. »Ich habe so viele grausige Tote gesehen, da werde ich auch diesen Anblick ertragen.«
So hielten wir uns denn an den Händen, um uns gegenseitig Mut zu verleihen, als wir näher traten. Das Gesicht des Mitbruders, auch seine Arme und sein Oberkörper waren nicht nur von den Beulen entstellt, sie waren auch von den eisenharten Schnäbeln der Raben zerhackt worden. Und doch erkannte ich den Toten noch. »Es ist der Portarius«, flüsterte ich fassungslos.
Wer hätte für die Verschwörer besser kontrollieren können, wer das Kloster betrat - und wer es verließ! Ich hatte, wie mir erst jetzt klar wurde, dem alten Mitbruder gegenüber die unverzeihliche Sünde des Hochmutes begangen. Niemals hatte ich den Portarius für wahrhaftig wichtig gehalten, niemals hatte ich gedacht, dass er mir gefährlich werden könnte. Und doch wusste er fast immer, wann ich das Kloster verlassen hatte. Und, wer weiß, vielleicht hatte er auch gesehen, wie ich mich vor dem Kloster in der Rue Saint-Jacques mit Magdalena, der Dienerin Klaras getroffen hatte — und mit Lea. Ein Auge der Inquisition.
»Die Seuche hat ihn dahingerafft«, sagte Lea, die blass geworden war, deren Stimme jedoch gefasst klang. »Wie lange mag er schon tot sein?«
»Ein paar Stunden vielleicht«, murmelte ich. »Er stinkt nach Fäulnis wie alle Unglückseligen, welche die Krankheit in sich trugen. Doch ich rieche noch nicht den süßlichen Hauch der Verwesung.« Lea deutete auf die geplünderten Kisten und die leeren Schreibpulte. »Dann sind seine Mitverschwörer uns nur ein paar Stunden zuvorgekommen.«
»Doch mit all dem Gold und Silber werden sie langsam sein!«, rief ich, eilte zu einem Fenster in der linken Seite des Turms und starrte hinaus.
Ais ich nur wenige Stunden zuvor an der Place de Greve angelangt war, da hatten mich die Tänzer in ihrem schauderhaften Reigen so in Angst versetzt, dass ich blindlings auf die Insel gelaufen war. In meiner Furcht hatte ich weder nach links noch nach rechts geblickt — und so hatte ich nicht bemerkt, ob die Kogge noch im Hafen lag oder nicht. Dann hatte ich Lea gesucht, anschließend war ich, besessen von meinen eigenen Dämonen, in die Kathedrale gestürzt. Nun beklagte ich innerlich meine Hast und meine Angst.
Ich spähte Richtung Hafen. Der andere Turm versperrte mir einen Teil der Sicht. Auch war der Himmel nun vollständig schwarz. Blitze zuckten über das Firmament und warfen grelles Licht über die Dächer, das die Augen blendete. Der Rauch des Scheiterhaufens, um den die Tänzer ihren Reigen drehten, zog in dichten grauen Schwaden herüber.
Trotzdem sah ich einen Mast aufragen, höher als den aller anderen Schiffe: Die »Kreuz der Trave« war noch da.
Als ich jedoch genauer hinsah, bemerkte ich Bewegungen an Bord. Schatten huschten hierhin und dorthin. Der Rauch des Feuers wurde immer dichter, die Wolken schluckten auch das letzte Sonnenlicht, ich vermochte nicht mehr genau zu erkennen, was dort vor sich ging. Doch ich glaubte, dass sich Gestalten am Segel zu schaffen machten und andere an den Leinen, welche die Kogge mit dem Kai verbanden. »Schnell!«, rief ich, in höchster Angst. »Wir müssen zum Hafen!« Ich wollte die Treppe wieder hinabstürzen — doch da stand ein Schatten in der Pforte und versperrte uns den Weg.
*
Philippe de Touloubre sah aus wie der Engel des Todes. Seine Kutte war schmutzig und mit Blut befleckt. Seine Züge waren von Beulen und Wundmalen entstellt. Er stank wie ein Wesen der Hölle, seine Augen glänzten fiebrig und in seiner Linken blitzte die lange, scharfe Klinge eines venezianischen Dolches.
»Ich ahnte, dass du es irgendwie bis hier hinauf schaffen würdest, Bruder Ranulf«, stieß er keuchend hervor. »Oh, du wärest ein guter Inquisitor geworden, vielleicht der beste der Christenheit! Doch statt Ketzer zu jagen, bist du selbst zu einem geworden. Sogar eine Jüdin bringst du hinauf in die Kathedrale von Paris!« Meine Seele war kalt. Ich war ruhig, alle meine Sinne waren so klar, wie sie es wohl niemals zuvor und auch niemals danach wieder waren. Ich hob den Schürhaken.
»Gebt den Weg frei, Meister Philippe«, flüsterte ich.
»Niemals!«, rief er irre lachend. »Du wirst die Kogge nicht aufhalten können. Du wirst GOTTES Plan nicht stören!«
»GOTTES Plan?«, sagte ich verächtlich. »Ein menschlicher Plan ist dies - und Menschen mussten dafür sterben.«
»So wie auch ihr sterben müsst!«, stieß der Inquisitor hervor. »Hier werdet ihr fallen und die Raben werden euch fressen.« Mit diesen Worten sprang Philippe de Touloubre auf mich zu. Ich wollte ihn mit dem eisernen Haken treffen, doch ich bin ein Mann GOTTES und ein Mann der Bücher, kein Kämpfer. Bevor ich überhaupt nur zum Schlag ansetzen konnte, stand mein Gegner vor mir und stieß mir den Schürhaken aus der Hand.
Wir stürzten zu Boden, krachend brach ein Schreibpult, das im Weg stand, unter dem Aufprall unserer Körper zusammen. Wir rangen mit der Kraft der Verzweiflung. Das zerfressene Gesicht des Inquisitors war nur eine Handbreit von meinem entfernt, sein fauliger Atem schlug mir ins Gesicht, ich roch Blut und Schweiß. Wir wälzten uns über den Boden und knurrten und keuchten dabei wie tollwütige Hunde. Verzweifelt hielt ich seine Linke umklammert, damit sein Dolch mich nicht träfe.
Plötzlich kam der Inquisitor jedoch auf mir zu liegen und drückte mich nieder. Ich hielt seine Linke in eisernem Griff, doch seine Rechte hatte sich in meine Fäuste gegraben, um mich zu schwächen. Langsam drückte er die Spitze des Dolches tiefer hinunter. Noch zwei Handbreit trennten sie von meiner Brust. Ich wand mich und versuchte, mich zu befreien, doch kam ich nicht von ihm los. Immer tiefer drückte er die Waffe. Noch eine Handbreit.
Dann schlitzte die Dolchspitze meine Kutte auf. Ich sah rote und schwarze Farben und hörte nur noch das Blut in meinen Adern rauschen und spürte schon das Eisen auf meiner Haut. Da hörte ich, wie aus großer Ferne, einen Schrei — und der Albdruck ließ nach. Mit letzter Kraft bäumte ich mich auf und warf Philippe de Touloubre von mir. Dann krümmte ich mich würgend zusammen, zu kraftlos, um mich noch zu regen.
Der Inquisitor war derweil aufgesprungen. Mit der Rechten tastete er seine Schultern ab, dann schrie er nochmals auf - als er sich ein kleines Messer aus dem Fleisch zwischen den Schulterblättern zog. Das Schabmesser von einem der Schreibpulte!
Lea war zurückgewichen und starrte den Rasenden mit angstvollen Augen an. Sie hatte mich gerettet, denn sie hatte Philippe de Touloubre das schmale, kurze Eisen in den Rücken gerammt. Voller Schmerz hatte er von mir abgelassen. Doch war die Verletzung nicht tödlich, ja, sie schien ihn nicht einmal geschwächt zu haben, denn nun hob er den Dolch und schlich Lea entgegen. Die wich zurück, doch kam sie nur ein paar Schritte weit, dann stand sie an der Wand und befand sich in der Falle.
Ich krümmte mich am Boden vor Erschöpfung und Schmerz. In meinem Geiste sah ich Jacquette, wie sie mit klaffender Wunde auf dem Pflaster lag. Ich sah Klara Helmstede, wie sie vom Folterknecht ins Verlies gestoßen wurde.
»Du wirst nicht wieder triumphieren!«, keuchte ich. Dann gab mir der Engel des Zornes Kraft. Mit einem gewaltigen Satz sprang ich auf, schrie wie ein Dämon und stürzte mich wieder auf Philippe de Touloubre.
Was dann geschah, das vermag ich bis heute nicht genau zu sagen. Wie ein Löwe hatte ich den Inquisitor angesprungen, wir beide waren wohl quer durch den halben Raum geflogen. Dann hörte ich ein Krachen und spürte einen heißen Schmerz in der Linken. Wir waren in ein Fenster gestürzt, dessen zersplitternde Scheibe mir die Hand aufschlitzte. Doch während ich am Glas und an einer steinernen Verstrebung hängenblieb, wurde Philippe de Touloubre hinausgeschleudert.
Für einen unendlich langen Augenblick war es vollkommen still. Der Inquisitor war verschwunden.
Dann holte ich Atem und trat vorsichtig an das zertrümmerte Fenster heran.
Die Dächer von Paris lagen weit unter mir, schauderhaft leuchtend unter den Blitzen des Gewitters. Die ersten, schweren Regentropfen klatschen herunter, der Wind heulte im Strebewerk und um die steinernen Dämonen der Kathedrale. Direkt vor mir, nur mit der Linken an einem schmalen Gesims festgeklammert, hing Philippe de Touloubre über dem Abgrund. Stumm starrten wir uns an.
Dann quälte sich der Inquisitor plötzlich ein Lächeln ab. »Reich mir die Hand, Bruder Ranulf«, bat er. Seine Stimme war wieder ganz ruhig, ja gütig. Sein Blick war klar.
Ich wusste nicht, ob er wollte, dass ich ihn packte, um mit ihm in die Tiefe zu stürzen, oder ob er wahrhaftig hoffte, dass ich ihn hinaufziehen würde. Ich sagte nichts, sondern schüttelte nur stumm den Kopf. Da lachte der Inquisitor laut auf und er rief, dass seine Stimme weit über Paris schallte, lauter noch als die Donnerschläge, die nun vom Himmel rollten: »Du kommst zu spät! GOTT vernichtet diese Welt — und wir errichten eine neue!«
Dann ließ der Inquisitor von Paris das Gesims los und stürzte in die Tiefe. Unten auf dem Platz flatterten ein paar Raben auf und krächzten wütend.
*
Wie gelähmt starrte ich hinunter, wo ich den zerschmetterten Körper Philippe de Touloubres nur erahnen konnte. Den Körper des Mannes, den ich bewundert, ja, den ich geliebt hatte. Der mir, mehr als jeder andere Mann auf Erden, der Vater hätte sein können, den ich nie gehabt hatte. Ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen rannen, und ich hörte eine Stimme aus dem Abgrund, verlockend und süß: »Spring!«, flüsterte sie. »Es ist so einfach. Spring!« Da spürte ich einen sanften, doch festen Griff an meiner Schulter. Lea zog mich zurück vom Fenster und schloss mich in ihre Arme. So wurde mir denn zum zweiten Mal in jener finsteren Stunde von Lea das Leben gerettet.
»Wir müssen zur Kogge«, sagte sie beschwörend. »Es gibt sonst nichts mehr zu tun.«
Da nickte ich, schlug das Kreuz und dankte ihr. Dann stürzten wir mit der letzten Kraft, die uns noch geblieben war, die Treppe hinab und hinaus aus der Kathedrale Notre-Dame. Doch Satan hielt für uns schon die nächste Prüfung bereit. Obwohl nun der Regen in dichten Schleiern vom Himmel fiel, dass man kaum ein Dutzend Schritte weit sehen konnte, roch ich doch den Qualm eines riesigen Feuers und schon von weitem hörten wir das Prasseln von Hölzern in lodernden Flammen.
Wir erreichten außer Atem den Grand Pont - und sahen, dass die dicht nebeneinander liegenden Schiffe im Hafen lichterloh brannten. War dort ein Blitz eingeschlagen? Waren die Flammen des Scheiterhaufens übergesprungen, getragen von einer Windböe? Was tat das nun noch zur Sache? Auf der Seine jedenfalls stand eine riesige Wand aus Flammen und Rauch, da Schiffe, Kähne, Kais und abgestellte Fässer und Ballen loderten. Die nackten Tänzer hatten sich am Ufer versammelt und schrieen und sangen, die Vaganten spielten fröhliche Weisen dazu. Niemand versuchte, den Brand zu löschen.
Umringt von Feuer lag die »Kreuz der Trave« im Wasser. Ich sah Gestalten dort an Deck. Eine, so schien mir, hatte langes blondes Haar, halb verborgen unter einer dunklen Kappe. Dieser Mensch allein rührte sich nicht, sondern stand am Mast wie eine Statue. Die anderen an Bord rannten hierhin und dorthin wie Ameisen, denen ein Riese den Bau zertreten hat. Die Leinen waren gelöst worden. Das Segel hing halb aufgezogen und schief am Mast, doch hatte der Wind trotzdem das Tuch gebläht und trieb die Kogge langsam voran. »Haltet ein!«, schrie ich. »In GOTTES Namen, haltet ein!« Doch wie laut ich auch rief, meine Stimme verklang im rollenden Donner, im Krachen des brennenden Holzes, in den Hohngesängen und lauten Weisen der irre gewordenen Tänzer und Musiker. So glitt die »Kreuz der Trave« — halb segelnd, halb in der Strömung treibend — in eine riesige Flammenwand hinein, die fast den ganzen Fluss versperrte, bis der Segler meinen Blicken entschwand. Lea und ich blieben auf dem Grand Pont stehen und sahen dem Geisterschiff nach, bis wir vor Rauch und Flammen zurückweichen mussten.
Nie werde ich wissen, ob die Kogge den Schatz der Templer an Bord trug oder nicht. Nie werde ich wissen, ob sie all die gestohlenen Werke der Geografie an Bord trug oder nicht. Nie werde ich wissen, ob Klara Helmstede wirklich an Bord war oder ich nur einer Einbildung aufgesessen war. Ja, ich weiß bis heute nicht einmal, ob die »Kreuz der Trave« in jener Flammenwand wahrhaftig verbrannt ist — oder ob sie nicht doch heil hindurchgesegelt ist.
Ich bete seither jeden Tag, dass die Kogge das Gold der Templer, das Wissen der Alten und meine ehemalige Geliebte in Sicherheit gebracht hat. Hin zu jenem geheimnisvollen Ort jenseits des Ozeans, von dem nun allein Lea und ich im Abendland noch wissen, dass er einst terra perioeci genannt worden ist.