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Noch am selbigen Tage flohen Lea und ich aus der Stadt Paris, die uns das neue Babylon zu sein dünkte. Alle Mönche im Kloster Saint-Jacques waren, so weit ich weiß, der Seuche erlegen. So gab es dort niemanden mehr, der die Totenbücher führen konnte - und deshalb galt auch ich als verschieden.
Leas Vater war tot. Sie hatte in Frankreich keine näheren Verwandten mehr, niemand hatte sie mehr erblickt, seit die Inquisitoren und Sergeanten ihr Haus geplündert hatten. Auch sie galt aller Welt deshalb als Opfer der Seuche.
So gab es keinen Menschen auf dem Erdenrund, der sich an uns erinnerte, und keiner vermisste uns.
GOTT in seinem unermesslichen Ratschluss gefiel es jedoch, uns das Leben zu schenken. Wir, die wir Sünder waren, erkrankten all die schrecklichen Tage lang nicht, obwohl doch Bischöfe und Herzöge vor dem Schwarzen Tod fielen.
Wir wählten kleine Wege, abseits der großen Straßen, vorbei an der verfallenen Abtei Saint-Germain-des-Pres. Auf den Feldern stand das Getreide hüfthoch und manchmal sahen wir einen Bauern, der, mit der Sense in der Hand, bei der Feldarbeit gestorben war. Tag und Nacht heulten Wölfe gar schauderhaft. Doch auch vor ihnen schützte ER uns. Waren wir hungrig, so fanden wir stets ein verlassenes Haus, in dem wir Brot, Bohnen oder Zwiebeln entdeckten. Waren wir durstig, so gelangten wir stets an einen Brunnen oder Fluss, der uns klares Wasser bot.
Spiritus ubi vult spirat et vocem eius audis sed non scis unde veniat et quo vadat sie est omnis qui natus est ex Spiritu.
Schließlich gelangten wir nach vielen Wochen des Reisens bis ins Land Spanien und dort bis zur Küste des Atlantischen Ozeans, zur Hafenstadt Palos.
Irgendwann entließ die Pest die Christenheit aus ihrem Würgegriff. So war dies denn doch nicht das Ende der Welt, das wir alle heraufdämmern zu sehen glaubten. Doch wohl jeder zweite Mensch war dahingegangen und es herrschte eine schreckliche Leere in den Städten der Christenheit.
So wurden wir denn in Spanien mit offenen Armen empfangen, da jedermann, der ein verlassenes Haus bewohnen wollte und einem Gewerbe nachging, zu jener Zeit willkommen war. Ich hatte auf unserem Weg längst meine Kutte abgelegt und gegen die Kleidung eines Händlers getauscht, die ich in einem Haus gefunden hatte. Haare waren mir über meine Tonsur gewachsen und erst von diesem Zeitpunkt an nannte ich mich Ranulf Higden. Meinen vorigen Namen verschweige ich, aus Furcht vor der Inquisition — denn auch diese hat die Pest überlebt.
Nach Spanien gelangten Lea und ich als Mann und Frau, obwohl wir nie geheiratet hatten. Doch wer fragte in jener düsteren Zeit schon nach Dokumenten und Zeugen?
Unseren Nachbarn in Palos galten wir immer als gute Christen, doch vielleicht wunderte sich auch der eine oder andere im Stillen, woher ich denn die Bibel und die Schriften der Kirchenväter so gründlich kennen mochte.
Lea hatte ich in den finsteren Tagen der Pest lieben gelernt — und ich liebe sie immer noch. Sie ist die Mutter meiner Kinder und die Sonne meines Lebens. Niemals habe ich versucht, sie zu bekehren. So entzündet sie - heimlich, auf dass es kein Nachbar sehe und der Inquisition melde - am Abend des Sabbat die Kerze und ich bin still dabei und sehe ihr zu.
Warum sollte ich auch meine Stimme im Protest erheben? Ich weiß doch seit jenem Sommer der Pest nicht mehr, was ich glauben soll und was nicht.
Beati mundo corde quoniam ipsi DEUM videbunt. Ich bin, was dich, Leser dieser Zeilen, nun nicht mehr überraschen wird, ein Geograf geworden. Ich zeichne mit sicherer Hand Karten. Sie werden geschätzt von Kaufleuten aus Genua und Venedig, aus Brügge und London. Wohlhabend bin ich darüber geworden und in manchen Kreisen sogar berühmt. Manchmal segeln inzwischen auch Kapitäne der Hansestädte bis zu meiner Stadt und bestellen Karten bei mir.
Selbst ein Schiffsführer aus Lübeck war letztes Jahr hier. Als ich ihn unauffällig nach der Familie des Reeders Richard Helmstede befragte, da erklärte er mir, von ihr gehört zu haben. Alle seien jedoch entweder an der Pest gestorben — oder auf hoher See geblieben, denn die Kogge, mit der der Besitzer einst ausgelaufen war, sei nie zurückgekehrt. Er könne sich allerdings nicht mehr des Namens dieses Schiffes entsinnen.
Ich kenne ihn, doch verriet ich mich nicht.
*
Manchmal, wenn ich große, komplizierte Karten anzufertigen habe, dann zeichne ich in diesen ein Land ein, irgendwo im Atlantischen Ozean. Eine Insel ist es, weder groß noch klein. Ich zeichne ein paar Berge ein, einige Flüsse und einen See — ich hoffe, dass es ein schöner Ort ist. In dünner Schrift schreibe ich dann den Namen dazu: terra perioeci.
Noch nie hat mich jemand darauf angesprochen. Welcher Kapitän segelt schon auf den Atlantischen Ozean hinaus? Außerdem bevölkern so viele Fabelwesen und legendenhafte Inseln und Kontinente meine Karten, dass ein Eiland mehr oder weniger dort niemandem auffällt.
Doch mittlerweile bin ich alt und schwach geworden. Meine Augen sind mir keine getreuen Diener mehr, meine Hand zittert. Schon sehr bald werde ich keine Karten mehr erschaffen können — nur diesen Bericht hier, den du, Leser, in Händen hältst, den habe ich noch vollendet.
Vielleicht wird dermaleinst ein Kapitän jenes Land auf einer meiner Karten finden und sich fragen: Wo liegt die terra perioecp. Diese Hoffnung habe ich - und diese Furcht.
Gegeben am Tag des heiligen Dominicus, anno DOMINI 1388. Von Ranulf Higden, Kartograf, der dies geschrieben hat mit eigener Hand.