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2DIE STADT VON HIMMEL UND HÖLLE

Es war zu Sankt Quirinus Anno DOMINI 1348, da ich zum ersten Mal in meinem Leben der verheißungsvollen Stadt Paris ansichtig wurde - und es schauderte mich. Ich sah die ersten Einwohner dieses Ortes nicht auf Erden wandeln, sondern den Himmel verdunkeln: Raben, die in schwarzen Wolken aufstoben und niedergingen. Als ich einige Schritte näher kam, da erblickte ich das erste Monument von Paris: Montfaucon. Den größten Galgen im Abendland.

Die Straße, auf der ich seit Tagen gewandelt war - kaum mehr als ein breiter, Schlamm überzogener Pfad —, machte einen Bogen und führte um den Hügel herum, auf dessen Kuppe zwei lange Gerüste aus groben Balken eiserne Ketten hielten, an denen insgesamt fünfzig Schlingen befestigt waren. In fast jeder baumelte ein Toter: Die Köpfe waren grotesk verrenkt, Arme und Beine waren ausgestreckt, als hingen unsichtbare Gewichte an Händen und Füßen, die Beinkleider der armen Sünder waren beschmutzt, da sie sich in ihren Todeskämpfen entleert hatten, ihre Schultern verschwanden unter Raben, die auf ihnen hockten und sie gleich schwarzen, gefiederten Mänteln bedeckten. Die Vögel pickten nach den Augen der Toten, nach den verquollenen, aus dem Mund hängenden Zungen; sie hackten den Erhängten den Bauch auf, um sich an den Eingeweiden gütlich zu tun und ihre scharfen Schnäbel stießen zwischen den Rippen hindurch bis ins Herz.

Ich sah dort viele Männer baumeln in der groben Kluft der Bauern und Wanderarbeiter, ein paar Vaganten und Landsknechte, einige Dirnen, drei oder vier Kinder.

Quoniam enim per hominem mors et per hominem resurrectio mortuorum.

Bruder Anselm und ich, die wir dessen ansichtig wurden, bekreuzigten uns, dann beschleunigten wir unsere Schritte. Weil es schon Nachmittag war und wir nicht noch eine Nacht auf der Straße verbringen wollten. Weil wir den Miasmen des Galgens entfliehen wollten. Und weil wir in der Ferne die Mauern einer gewaltigen Stadt erblickten, Zinnen und Tore, mächtiger als die jeder Burg. Dahinter ein Meer aus Dächern, überragt von den Türmen unzähliger Kirchen und den Wällen verschiedener Festungen. Paris! Wie hatte ich mich gesehnt nach diesem Ort.

*

Ranulf Higden ist mein Name. Zumindest ist er es in der Geschichte, die ich zu erzählen habe. Zu jener Zeit, im Frühling Anno DOMINI 1348, da hieß ich noch anders, doch ich ziehe es vor, meinen wahren Namen nicht niederzuschreiben. Es könnte ja sein, ja es ist sogar wahrscheinlich, dass ein Inquisitor meinen Bericht lesen wird. Und die Inquisition ähnelt dem HERRN darin, dass sie keine Sünde je vergisst. Anders als der HERR jedoch kennt sie weder Güte noch Gnade, keine Vergebung, kein Mitleid. Ich weiß es, denn ich bin selbst Inquisitor gewesen.

Ich war in meinem zwanzigsten Jahr, auch wenn ich meinen Geburtstag nicht genau kenne, und ich hatte mit meinem Geist schon die Welt und die Zeiten durchmessen. Nicht jedoch mit meinem Körper: Die Reise nach Paris war die erste meines Lebens, die mich weiter als ein paar Schritte jenseits der Mauern meines Klosters führte. Oder vielleicht die zweite, denn ich bin ein Findelkind. Entdeckt hat mich eine Marktfrau an der Vierlingspforte zu Köln am frühen Morgen des Peter-und-Paul-Tages, da sie sich, geplagt von plötzlichen Krämpfen in den Eingeweiden, im Schatten der Mauer erleichtern wollte. Eingewickelt war ich in ein teures Tuch aus heller flämischer Wolle, doch sonst hatte ich nichts bei mir, das auf meine Herkunft hätte hinweisen können: keinen Ring, keine Kette, kein Medaillon, nicht einmal einen Gulden, obwohl verzweifelte Mütter doch oft ihre ausgesetzten Kinder mit ein paar Münzen auszustatten pflegten, auf dass sich ihrer jemand barmherzig annehme.

Ich störte die Marktfrau bei ihrem Geschäft, also trug sie mich hinter eine Stiege, bevor sie sich entleerte. Dann kam sie wieder zu mir, sah, dass ich noch lebte, und trug mich fort.

Das zumindest erzählten mir die Dominikaner später, zu deren Pforte die Marktfrau mich brachte. Den Namen meiner Retterin habe ich nie erfahren, doch GOTT sei ihrer Seele gnädig. Quis horum trium videtur tibi proximus fuisse Uli qui incidit in latrones. At ille dixit qui fecit misericordiam in illum et ait illi Iesus vade et tu fac similiter.

»Ranulf von der Vierlingspforte« nannten mich die anderen Novizen später häufig oder, zumindest die älteren und stärkeren, »Ranulf vom Abtritt«. Oft ging ich dann, der HERR vergebe meine Sünden, mit den Fäusten auf die anderen Jungen los und büßte dafür in einer dunklen Klosterzelle bei Wasser und Brot.

Jahre sollte es dauern, bis ich erkannte, dass die Schmach eine Probe GOTTES ist, auf dass wir nicht der Todsünde des Hochmuts erliegen.

Die Dominikaner zu Köln hatten mich aufgenommen, bei ihnen blieb ich meine ganze Jugend lang. Manchmal träumte ich davon, dass meine Eltern zurückkehren und sich zu erkennen geben würden. Dass sie hoher, gar königlicher Geburt seien und sie nur ein dunkles Schicksal auf Jahre davon abgehalten habe, mich als. ihren Sohn anzuerkennen. Ich hoffte, dass sie mich hinausholen würden in die Welt, dass ich eine Familie hätte, dass ich ein Ritter, ja ein Retter des Reiches sein würde, dass ich gar, wer weiß, als Thronerbe Anspruch hätte auf den Titel Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Welch nichtige, anmaßende Hoffnung!

Niemals klopfte irgendjemand an die Klosterpforte, um nach mir, um nach irgendeinem der Findelkinder im Kloster zu fragen. So wurde ich einer von vielen pueri oblati im Dominikanerkloster zu Köln, das sehr groß und überaus angesehen war und wo deshalb viele Waisenkinder abgegeben wurden. Dort lernte ich die disciplina kennen, die mönchische Zucht.

Wenn sich jemand in reiferen Jahren entschließt, ins Kloster zu gehen, wie schwer mögen ihn da die kargen Umstände ankommen, unter denen man hinter den schweigenden Mauern Jahr um Jahr verbringt?

Doch ich kannte weder Samt noch Seide, nicht einmal Leder oder Tuch, ich hatte nichts anderes als die kratzige Wolle des groben dunklen Skapuliers auf der Haut, darunter nur in bitteren Wintern eine nicht weniger grobe Tunika und am Fuß lederne Sandalen. Ich wusste nicht, dass man in weicheren Betten ruhen konnte als auf dem Strohlager. Ich wusste nicht, dass sich andernorts Menschen zum Schlafen in eigene Räume zurückziehen konnten — ich kannte nur das Dormitorium, wo ich zusammen mit Dutzenden Mitbrüdern lag und wo beständig Seufzer und Schnarchen, hin und wieder auch heimliches Geflüster und wohl auch unflätigere Geräusche durch den dunklen Schlafraum waberten wie Geister in einer Höhle. Ich wusste nicht, oder ich dachte zumindest nie darüber nach, dass die meisten Menschen, vom Kaiser bis zum Bettler, sich abends auf ein Lager werfen, das sie erst am nächsten Morgen wieder verlassen — mir war es ins Blut übergegangen, mich zusammen mit allen Mitbrüdern um Mitternacht zu erheben, durchs nachtkalte Kloster bis in die Kirche zu wanken, um dort in die Vigilien einzustimmen, das erste Gebet des Tages: Singet dem HERRN ein neues Lied; singet dem HERRN alle Welt! Ich lernte, dass der Körper zwar das Gefäß meiner unsterblichen Seele, aber auch deren größter Verführer ist. Der Todsünde der Völlerei entgingen wir, indem wir kaum mehr als Hirsebrei und Fladen, als Wasser und gelegentlich schales Bier zu uns nahmen. Und als ich in das Alter eintrat, da den Mann die Fleischeslust ankommt, da wappnete ich mich, indem ich Nächte lang auf dem kalten Kirchenboden ausgestreckt vor dem Bild Unserer Heiligen Mutter betete. Ich schämte mich meiner sündigen Gedanken, die mich heimsuchten, obwohl es kaum je möglich war, auch nur einen Blick auf eine Frau zu werfen. Selten waren die Augenblicke, da ich einmal die Haube einer Magd sah, die irgendetwas vom Markt brachte, oder den Schleier einer der vornehmen Kölnerinnen, die einen ihrer Söhne zur Schule ins Kloster gab. Da mich jedoch selbst solche zufälligen, nie mehr als einen Augenblick währenden Offenbarungen des Weiblichen zutiefst in Verwirrung stürzten, wusste ich bald um die Gefahr der Frau für mein Seelenheil. Schnell lernte ich, die Töchter Evas zu verachten und zu fürchten als wahre Helferinnen Satans. Nescitis quoniam corpora vestra membra Christi sunt tollens ergo membra Christi faciam membra meretricis absit. An nescitis quoniam qui adheret meretrici unum corpus efficitur erunt enim inquit duo in carne una. Im Alter von vierzehn Jahren wurde ich Novize. Im Jahr darauf legte ich die Profess ab. Der Eid band mich endgültig, wie ich dachte, ans Kloster. Ich verpflichtete mich den drei wichtigsten Regeln eines jeden Mönches: stabilitas loci — ich würde im Kloster bleiben; conversatio morum — mein Lebenswandel würde stets sittlich sein; und, mehr als alles andere, oboedientia — ich versprach Gehorsam. Nicht in den schlimmsten Träumen hätte ich zu jener Zeit daran gedacht, auch nur eine dieser Regeln zu brechen. So wuchs ich heran, zusammen mit zwei Dutzend jungen Mönchen. Schon früh strebte ich nach den Früchten des Geistes. Ich lernte in der Klosterschule die Sieben Freien Künste und der HERR ließ mich Wissen einsaugen, wie der nach einem langen, dürren Sommer ausgetrocknete Erdboden den ersten Herbstregen aufnimmt. Die anderen Mönche spotteten immer seltener über mich - oder zumindest lästerten sie nur noch heimlich meiner und nicht mehr offen, je weiter unser curriculum voranschritt. Meine Mitbrüder liebten mich nicht, der ich ihnen im Unterrricht in allem voraus war, doch brachten sie mir nun wenigstens Respekt entgegen. Und manchmal meinte ich gar schon damals, ein anderes Gefühl zu spüren, wenn sie mich, vermeintlich unbeobachtet, aus den Augenwinkeln betrachteten. Angst.

Arithmetik und Astronomie, Geometrie und Musik fielen mir leicht, doch verwendete ich nicht mehr Zeit und Mühsal des Gedankens darauf als notwendig. Doch wie sehr liebte ich Grammatik, Rhetorik und, besonders, Dialektik: questio, disputatio, conclusio, Frage, Streitgespräch, Lösung. Die Logik offenbart uns GOTTES Gesetz: klar und schön und unerbittlich. Sie hilft uns, auch aus größter Verwirrung und Verdunkelung des Geistes zurückzufinden ans Licht der Erkenntnis. Falschheit und Trug zerreißt sie, wie ein erfahrener Tuchhändler, der ein minderwertiges Vlies mit verächtlicher Geste zerfetzt. Ich lebte hinter Klostermauern - und doch tat sich mir eine Welt auf, unendlich viel weiter als die Welt der Ritter, ja selbst als die Welt der Kaufleute. Mochte Messer Marco Polo aus Venedig auch bis nach Cathay gelangt sein und bis Cipango am Weltenrand, die Grenzen meiner Welt waren noch viel weiter gesteckt.

Im Armarium, der Bibliothek, studierte ich die Heilige Schrift. Gierig fraßen meine Augen auch die Seiten anderer sakraler Schriften: Sakramentar, Antifonar, Missale - ich las alles. Dann wagte ich mich an Augustinus. Anschließend studierte ich Albertus Magnus und den unvergleichlichen Thomas, die beiden Leuchten der Christenheit und Zierden des Ordens, dessen Tracht ich selbst nun mit jedem Tag um ein weniges stolzer trug. Lehrte Albertus Magnus nicht auch in Köln? Er und Thomas waren mir auch die Führer, die meinen Geist an die Hand nahmen zu den Weisen alter Zeit, welche die Gesetze des Kosmos ergründeten, welche man jedoch nur mit Vorsicht studieren durfte, da sie ja Heiden waren: Aristoteles und Platon zeigten mir, wie ich zu denken hatte.

Als ich dann auch noch die fast tausend Jahre alte »Etymologiae« des Isidor von Sevilla gelesen, ja beinahe auswendig gelernt hatte, da glaubte ich, nun alles zu wissen, was es in dieser Welt zu wissen gab. Oft schlich ich mich nach den Vigilien, wenn die Mitbrüder müde zurück zu ihren harten Pritschen schwankten, in die Bibliothek, entzündete einen Kerzenstumpen und beugte mich über die schweren Folianten, die so herrlich nach Pergament und Leder und Weisheit dufteten.

Meine Oberen sahen das wohl, gaben mir anfangs milde Strafen, doch ließen mich später gewähren. Sind nicht wir Dominikaner in der ganzen Christenheit berühmt für unsere Gelehrsamkeit? Mich dürstete nach Wissen - und der HERR gab mir einen Prior, der meinen Durst gnädig stillte.

Eines Tages hatte er mich in seine Zelle befohlen.

»Bruder Ranulf«, hatte er gesagt, »ich sehe wohl, dass du nach der vollkommenen Erkenntnis strebst. Es gibt tausend Wege zu GOTT, doch für dich kann es nur einen geben: den, der über Paris führt.« Und so hatte er mich, kaum dass ich meinen Magister in den Sieben Freien Künsten erworben hatte, zum Studium der Theologie entsandt an den Ort, der allein der Lehre der höchsten Wissenschaft von allen würdig war: Paris, die größte Stadt der Christenheit. Ich weiß wohl, dass unsere gelehrtesten Kartografen Jerusalem für den Mittelpunkt der Weltenscheibe ausgeben. Doch für mich, der HERR möge mir meine Vermessenheit vergeben, lag das Zentrum der Welt an der Seine. Dort erhob sich die berühmteste Universität des Abendlandes. Nirgendwo wurde das Wort GOTTES so intensiv, so inbrünstig, so voller Eifer, so scharfsinnig studiert wie hier. Wer sich der Theologie hingeben wollte, so wie ich danach brannte, es zu tun, für den gab es keinen gesegneteren Ort in der Welt. Sobald mein Prior mir eröffnet hatte, dass ich nach Paris gehen durfte, sprach ich bei Bruder Richard vor. Ihn hatte es - niemand wusste, warum - einst von Dijon an den Rhein verschlagen, wo er die Gelübde abgelegt hatte, nachdem ihm die Muttergottes im Traum erschienen war. Mit ihm übte ich mich in der Sprache der Franzosen. Selbstverständlich wusste ich, dass die Gelehrten auch in Paris nur Latein sprachen, wie es sich geziemt. Doch wollte ich, der ich mich heimlich fürchtete vor jener Welt jenseits der Klostermauern, nicht gänzlich hilflos sein auf meinem Weg durch das französische Land. Und ich wusste, dass wir, die Dominikaner, auch dem Wort der Predigt verpflichtet sind, auf dass die Gelehrsamkeit - wohldosiert und abgewogen, selbstverständlich — auch unter das Volk käme. Wie aber hätte ich auf Latein oder Deutsch zu den Bürgern von Paris predigen können?

Als dann an einem Tag im April die entscheidende Stunde gekommen war und ich nach der Prim mein kleines Bündel packte und mich von allen Brüdern und vom Prior verabschiedete, musste ich mich stumm zur Ordnung rufen, um nicht in ungebührlichen Jubel auszubrechen. Wer hätte weniger geeignet sein können für eine so lange, so gefährliche Reise als ich? Ich war fast zwanzig Jahre alt, war groß und dürr, meine blonden Haare woben einen wirren Kranz um meine Tonsur, meine Haut war hell, meine Hände lang und fein und unvernarbt, meine Fußsohlen weich, da ich noch nie einen langen Weg gegangen war. Doch meine Augen waren klar und mein Herz weitete sich vor Glück und Sehnsucht nach Paris.

Bruder Anselm begleitete mich, ein schweigsamer Mönch unbestimmbaren Alters. Er hatte den beschwerlichen Weg nach Paris schon mehrmals auf sich genommen, um rare Manuskripte oder wichtige Botschaften von unserem Kloster an das unserer Mitbrüder in Paris zu überbringen. Diesmal führte er, in drei Lagen feines Leder eingeschlagen und versteckt in einem Sack aus grobem Leinen, auf dass sie nicht die Aufmerksamkeit von Vaganten auf sich ziehen möge, eine Abschrift des Kommentars zu den Sentenzen des Petrus Lombardus von Albertus Magnus bei sich. Unsere Brüder in Paris hatten ihr Exemplar dem Herzog von Orleans ausgeliehen — nicht ganz freiwillig, wie ich vermutete — und bis zu jenem Tage nicht zurückerhalten. Also hatten sie uns um eine neue Abschrift gebeten. Der Prior hatte seine besten Schreiber an diesen ehrenvollen Auftrag gesetzt und diese hatten binnen weniger Wochen im Skriptorium das Wunder vollbracht, den Kommentar des Albertus Magnus so genau zu kopieren, dass man die Abschrift vom Original nur am Pergament unterscheiden konnte, das neuer war, heller und noch ohne Stockflecken. Ich war begierig darauf, unterwegs von Bruder Anselm mehr über die legendäre Stadt Paris zu erfahren. Zweihunderttausend Menschen, so hörte ich sagen, lebten in ihren Mauern — eine Zahl so unglaublich, dass mir schien, nicht einmal die Heuschrecken, mit denen der HERR das Land des Pharaos plagte, wären so groß an Zahl gewesen wie die Bürger von Paris.

Doch Bruder Anselm wich all meinen Fragen aus, murmelte Unverständliches, sprach einsilbig, gab unverbindliche Antworten. Nach einigen Tagen wurde mir klar, dass ich wenig von ihm erfahren würde. Und es dauerte noch etwas länger, bis ich glaubte, den Grund dafür erraten zu können. Bruder Anselm hatte Angst vor Paris. Niemals habe ich herausgefunden, was ihn in Furcht versetzte. Es gelang mir nicht einmal, zu erfahren, ob er nur auf dieser einen Reise verzagt war oder ob ihn jedes Mal die Angst packte, wenn er vom Rhein an die Seine befohlen wurde. Er sprach jedenfalls während der ganzen Reise, außer zu unseren gemeinsamen Gebeten oder wenn es sonst unbedingt notwendig war, kein Wort mit mir. Wir rasteten, wo immer dies möglich war, in einem Kloster unseres Ordens, wo wir stets in Ehren aufgenommen wurden. Mehr als eine Nacht verbrachten wir jedoch unter einem Baum oder in der Scheune eines barmherzigen Bauern, wo uns Flöhe und Wanzen plagten und Ratten raschelten, wo uns jedoch wenigstens der Regen nicht quälen konnte. In den ersten Tagen schmerzten mir Füße, Waden und Oberschenkel, doch langsam gewöhnte ich mich an das Wandern. Mein Schritt wurde fester, meine Haut verdunkelte sich. Dann juckten mich auch die Bisse der Flöhe kaum noch. Schließlich, der HERR möge mir verzeihen, genoss ich es gar, der Enge der Klostermauern entkommen zu sein; ich saugte die Welt in mich hinein. Meine Reise fiel in eine äußerst unruhige Zeit. Düsternis und Unfrieden hatten sich über die Christenheit gelegt. Seit einem Menschenalter schon war Rom verwaist. Papst Clemens VI. residierte, wie seine Vorgänger, in Avignon und die Gerüchte von unaussprechlichen Sünden, begangen hinter den finsteren Mauern seines Palastes, waren selbst bis zu uns ins Kölner Kloster gedrungen. Hinzu kam, dass in den vergangenen elf Jahren ganz Frankreich zum Schlachtfeld geworden war — wohl zum Zeichen SEINES Zornes, denn ER ist betrübt, dass der Stellvertreter Christi nicht länger dort residiert, wo es ihm geziemt. Der König von Frankreich, Philipp VI., und seine Gemahlin, die im Volk verhasst war und nur die »böse, lahme Königin Johanna« geschimpft wurde, mussten sich Eduards III. erwehren — des Königs von England und, wie er und viele Adelige glaubten, auch rechtmäßigen Königs von Frankreich. Anno DOMINI 1337 war Eduard in Flandern gelandet und seine Ritter hatten, angeführt vom schrecklichen Schwarzen Prinzen, die Franzosen das Fürchten gelehrt. Keine zwei Jahre war die Schlacht von Crecy erst her, da die englischen Bogenschützen die hochmütigen französischen Ritter von ihren Pferden schossen. Viertausend Edle blieben auf dem Schlachtfeld zurück und König Philipp konnte gerade noch fliehen, mit fünf Begleitern. Calais hatten die Engländer eingenommen und es war, so munkelten viele, nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch in Paris siegreich einziehen würden. Bruder Anselm und ich zogen manche Tage allein über die verschlammten Straßen. Wir stolperten in den tiefen Rinnen, welche die schweren Ochsenwagen gegraben hatten. Nebel stieg aus Sümpfen und Wäldern auf und mehr als einmal bekreuzigten wir uns, weil wir die umherirrenden Seelen unbegrabener Toter in den Schwaden erblickten.

Wir waren erleichtert, wenn wir einmal auf Händler stießen, die mit ihren Ochsenkarren und Maultieren ein Stück weit des Weges mit uns zogen. Von den Vaganten und Spielleuten, Bettlern und Studenten, den Schaustellern und Bärenführern, die Musik machten und selbst mitten am helllichten Tag nur zu ihrer eigenen Freude höchst sündige Tänze und noch viel Schlimmeres aufführten, hielten wir uns hingegen fern.

Einmal kamen uns einige Landsknechte des Herzogs von Burgund entgegengeritten. Ich bekreuzigte mich und sprach schnell zum HERRN ein Gebet, dass sie uns nicht unserer wenigen Habe berauben, uns gar erschlagen würden. Sie riefen uns ein paar grobe Spottworte zu, doch als ich ihnen, wenn auch stammelnd und gebrochen, auf Französisch antwortete, wurden sie höflicher. Sie ließen uns laufen, am Ende blieb gar einer von ihnen zurück und erbat sich unseren Segen. Ich erteilte ihn - was mir Bruder Anselms missbilligenden Blick eintrug.

Dass wir uns Paris näherten, erkannten wir zuerst an den Windmühlen — das heißt, Bruder Anselm erkannte es und wies mich in einer seiner seltenen Gesten der Erklärung darauf hin. Sie wurden zahlreicher und bald reckten sie ihre hell bespannten Arme auf jedem Hügel in die Luft.

»Mehl für Paris «, brummte Bruder Anselm. »Die Stadt ist immer hungrig.«

Es waren die letzten Tage im April. Nur selten schickte der HERR einen Sonnenstrahl durch die graue Wolkendecke, die ER über SEINE Welt gebreitet hatte. Fast ständig nieselte es und wir froren in unseren Kutten, die schwer wurden vor Nässe. Auf manchen Hängen beschnitten Bauern die Weinreben, auf anderen schlugen sie Pflöcke in den Boden, um neue Zäune auf den Weiden zu setzen. Doch wir sahen auch Felder brachliegen und manchen Hof, von dem nur noch verbrannte Stümpfe kündeten.

»Landsknechte«, murmelte Bruder Anselm jedes Mal düster und wir bekreuzigten uns.

Dann erblickten wir den Galgen von Paris.

*

Nachdem wir den Schindanger von Montfaucon passiert hatten, lag linker Hand von uns ein ummauertes Geviert, aus dessen Mitte sich ein schlanker Kirchturm erhob; daneben rotierten die Flügel dreier Mühlen im Wind. Ich hätte es für ein gewöhnliches Kloster gehalten, wenn nicht von den Zinnen der Mauern Glöckchen erklungen wären und rote Kreuze auf den Ziegeln geleuchtet hätten. »Aussätzige«, murmelte ich erschrocken, bekreuzigte mich und wich auf die rechte Seite des Weges aus.

»Die Brüder von Saint Lazare nehmen sich der Aussätzigen an, bis der HERR die Gezeichneten erlöst«, erklärte Bruder Anselm. Auch er bekreuzigte sich - doch wich er nicht von der linken Seite des Weges ab, sondern schritt im Schatten der Mauer voran.

Et extendens manum tetigit illum dicens volo mundare et confestim lepra discessit ab illo.

Beschämt tat ich es ihm nach und querte wieder den Weg. Die Pforte von Saint Lazare war fest verschlossen, keine Menschenseele war zu sehen. Doch als wir das Kloster schon beinahe hinter uns gelassen hatten, erklang ein schauerlicher, unmenschlicher Schrei irgendwo aus dem Innern. Mir schien es weniger ein Ruf des Leids zu sein, denn ein Triumphgeheul. Ich fröstelte und murmelte ein kurzes Gebet. Es kam mir vor, als wären wir durch eine verbotene Pforte geschritten, als würde der Antichrist uns höhnisch in seinem Reich begrüßen.

Wir schritten rasch voran, noch schneller als zuvor. Langsam wuchs die Zahl der Menschen, die, gleich uns, der Stadt zustrebten: Händler, welche auf rumpelnden Karren und Maultieren duftende Spezereien, Tuch und wohl tausend andere Schätze nach Paris brachten; Bauern in grober, brauner Wolle, die auf Ochsenwagen Heu heranschafften oder an langen Tragstangen gefesselte Hühner transportierten; zwei oder drei Ritter auf mächtigen Streitrossen, gekleidet in roten und blauen Wämsern und begleitet von Knappen, die lästerlich fluchten, wenn wir Wanderer nicht schnell genug beiseite stoben; Vaganten in grün und gelb, weiß und blau gestreiften Beinkleidern, die Lauten und Flöten in Leder gewickelt auf dem Rücken tragend; ein Schausteller, der am Nasenring einen erbärmlich stinkenden Bären mit räudigem Fell hinter sich herzog; liederliche Schönfrauen, deren Gesichter mit Bleiweiß gebleicht waren und deren Lippen dank einer schwarzen Kunst, die ich nicht kannte, unnatürlich rot leuchteten und die mehr von ihren Brüsten und Beinen sehen ließen, als es schicklich war - viel mehr; ein Besessener, die Brust benetzt vom Speichel, der aus seinem Mund troff, während er unablässig etwas rezitierte, das ich zunächst für einen Psalm gehalten hatte, beim Näherkommen aber als sinnloses Gestammel erkannte.

Bruder Anselm ging nun mit energischem Schritt voran. Ich spürte, dass er die Straßen, belebt wie sie waren, mehr scheute als die einsamen Waldwege, auf denen uns Räuber oder Dämonen hätten auflauern können. Er wollte nur noch ins Kloster, verschwinden hinter der Sicherheit seiner Mauern.

Mauern sahen wir auch, doch waren es weder die des Klosters noch die ersehnten von Paris. Wir passierten den Tempel — jene Festung, die sich die Templer einst errichten ließen und die, so munkelt man noch heute, das größte Schatzhaus des Abendlandes gewesen war. Fast auf den Tag vierunddreißig Jahre war es her, dass der König von Frankreich und der Papst Jacques de Molay, den Großmeister des Ritterordens, und Sechsundsechzig seiner Mitbrüder zu Paris lebend auf den Scheiterhaufen schickten, da sie den HERRN gelästert und unaussprechliche Sünden begangen hatten.

»GOTT selbst wird mein Rächer sein!«, hatte de Molay noch gerufen, als die Flammen schon züngelten, und den Papst und den König bis in die dreizehnte Generation verflucht. Außerdem prophezeite er, dass er beide binnen Jahresfrist vor dem Richterstuhl des HERRN wiedersehen werde. Und tatsächlich: Papst Clemens V. war nur einen Monat später gestorben und sieben Monate nach der grausigen Tat war auch König Philipp der Schöne dahingegangen, sechsundvierzig Jahre alt und ohne sichtbaren Anlass. Keiner seiner drei Söhne regierte länger als sechs Jahre, keiner wurde älter als dreiunddreißig Jahre, keiner zeugte einen männlichen Erben. Und nun liegt Frankreich darnieder, verwüstet von den Landsknechten und Bogenschützen der Engländer. Und der Papst sitzt in Avignon, dem neuen Babylon. Den Schatz der Templer, so sagt man, hat man nie gefunden. Unter dem Fluch der Templer jedoch muss ganz Frankreich, muss die ganze Christenheit ohne Zweifel leiden.

In den folgenden Jahren war die Festung, wie es ihrer finsteren Vergangenheit geziemt, in einen Kerker umfunktioniert worden, in dem der König von Frankreich jene schmachten lässt, die sich seinem Willen nicht bedingungslos unterwerfen. Als wir am Tempel vorbeizogen, erblickten wir auf seinem Mauerkranz Wächter in des Königs Tracht, geschmückt mit Lilien, bewaffnet mit Hellebarden, deren grausige Schneiden in der Abendsonne rot glühten, als klebte an ihnen Blut. Ich bekreuzigte mich.

Sed misso speculatore praecepit adferri caput eins in disco et decollavit eum in carcere.

Dennoch wurde mir das Herz weit: Denn nun wanderten wir endlich auf der Grande Rue de la Temple - direkt auf eines der mächtigen Stadttore von Paris zu. Und es war offen — wie Arme, die zum Willkommen ausgebreitet sind, dachte ich an jenem Abend. Wie ein Schlund, der mich verschlang, so denke ich heute.

Ich ließ mich drängen und schieben, als sei ich nichts Besseres als ein Bauernlümmel und, ja ich gestehe es, ich wanderte dahin mit vor Staunen offenem Mund. Wie mächtig war die Mauer, bestimmt so hoch wie fünf Männer, und bekrönt von runden Türmen, so weit das Auge reichte. Über dem Tor steckten die abgeschlagenen Köpfe einiger Verbrecher auf Spießen, eingehüllt von schwarzen Wolken aus Fliegen.

Niemand machte sich allerdings die Mühe, den Strom der Menschen zu kontrollieren, der unablässig in die Stadt brandete, obwohl schon die Wachen aufgezogen waren, die bald nach uns die Tore für die Nacht verschließen würden, damit Feinde und Räuber sich nicht anschleichen konnten und auch keine Wölfe, welche, seit der Krieg das Land heimsuchte, in großen Rudeln bis vor die Mauern der Städte schlichen.

Durch das Tor gelangten wir endlich in die Stadt. Paris besteht eigentlich aus drei Städten, von denen jede einzelne so groß und so berühmt ist, dass sie andernorts jede für sich zur Zierde der Christenheit gerechnet werden würden: Am rechten Ufer der Seine — von wo Bruder Anselm und ich uns der Stadt näherten - liegt, geschützt von einer in weitem Bogen vom Fluss wegführenden Mauer und mächtigen Festungen, der Teil, den die Franzosen Ville zu nennen pflegen. Dies ist das eigentliche Reich der Bürger, auch wenn hier einige Edle ihre Paläste haben und manche Konvente ihre Häuser. Ansonsten sind die Gassen eng und die Häuser stehen gedrängt. Hier leben und arbeiten vor allem die Händler und Handwerker, die Diener, Laufburschen und Arbeiter, die Geldwechsler und Treidler, kurz alle, die tief verstrickt sind in weltliche Geschäfte. Hier residiert der Prévôt royal, der königliche Vogt in seinem Palast und wacht mit eiserner Faust über Ruhe und Ordnung der Bürger. Hier treffen sich die zwei Dutzend Ratsherren im Maison aux Piliers, um über die Angelegenheiten der Stadt zu befinden.

Dann, durch Brücken mit beiden Ufern verbunden, kommt eine mächtige Insel in der Seine, welche die Bürger Cite zu nennen pflegen. Dort dominiert der Dienst an den Großen dieser Welt. Auf dem Eiland hat seit Jahrhunderten der König von Frankreich seinen Palast - auch wenn er wegen des Krieges gegen die Engländer zu diesem Zeitpunkt nur allzu oft andernorts weilte, halb als Feldherr, halb als Flüchtling vor den Bogenschützen der Feinde. Unverrückbar ist jedoch der Dienst an GOTT - und so erhebt sich, zum Ruhme des HERRN, der Muttergottes, der Christenheit und der Stadt Paris, auf der Insel die schöne Kathedrale Notre-Dame. Die mächtigen Blöcke ihrer beiden Türme überragen das Meer der Dächer und lenken die sehnsüchtigen Blicke eines jeden Gläubigen unweigerlich zu ihr hin.

Schließlich, am jenseitigen, linken Ufer der Seine, erstreckt sich die Universite. Man könnte sie, geschützt hinter einer machtvollen, bogenförmigen Mauer liegend, für ein kleineres, ansonsten jedoch identisches Ebenbild der Ville halten. Doch während am rechten Ufer das Geld regiert und in der Mitte der Glaube, so herrscht am linken Ufer der Geist. Hier sind die Kollegien beheimatet, auf denen die im ganzen Abendland gerühmten Studien betrieben werden. Außerdem liegen in diesem Teil der Stadt die Klöster der großen Orden - auch das der Dominikaner, das so heiß herbeigesehnte Ziel meiner langen Wanderung.

Ich überließ Bruder Anselm die Führung, verwirrt von tausenderlei Gerüchen und Geräuschen. Eng standen die Fachwerkhäuser nebeneinander. Auf Höhe des zweiten oder dritten Geschosses trugen mächtige, schwarze Eichenbalken Erker und vorkragende Etagen, welche die Straße verdunkelten. Nur zu oft kamen sich gegenüberliegende Häuser in luftiger Höhe so nahe, dass kein Licht mehr auf die Straße fiel, sodass sie selbst am Tage einer düsteren Höhle glich. Schlamm und Kot besudelten meine Füße, während ich hinter meinem Mitbruder die Gasse entlangstolperte, von rücksichtslosen Bauern geschubst wurde, gefährlich schwankenden Ochsenkarren aus dem Weg sprang und mich an den halbwilden Schweinen und räudigen Hunden, die in den stinkenden Abfallhaufen wühlten, vorbeidrückte. Einmal bewarf mich gar eine Horde schmutziger Kinder mit Nüssen und schleuderte mir Schimpfworte hinterher, die ich nicht verstand, die jedoch offensichtlich etwas mit meiner Kutte zu tun hatten. In jedem Haus, so schien mir, öffnete sich im Erdgeschoss ein Laden, eine Werkstatt oder ein anderes Gewerbe, um Geld zu verdienen. Metzger priesen Schinken und Rinderlungen an; aus Backstuben duftete es nach schwarzem Brot; den Schmieden entquollen der Lärm von Hammer und Amboss, der Gestank heißen Metalls und glühender Kohlen, die beißende Hitze von Feuer und Rauch; aus den Tavernen tönte das Gegröle der Betrunkenen und es stank nach Wein und dem, was von sich gibt, wer davon zu viel trinkt; aus den Badestuben, den sündigen Pfuhlen, kam Nebel wie aus einem Sumpf und der Duft nach Birkenrinden und Gewürzseife.

So betäubt war ich, so überwältigt waren alle meine Sinne, dass ich das Ufer der Seine erst bemerkte, als Bruder Anselm unvermittelt seinen Schritt anhielt und ich in ihn hineinstolperte. »Die Place de Greve«, sagte er und deutete mit einer halb verächtlichen, halb bewundernden Geste einmal rundum. Ich fand mich auf einem Platz wieder, der wie ein lang gestrecktes Viereck geformt war, dessen eine Schmalseite sich zum Fluss hin öffnete. Hier hatte die große Zunft der Seineschiffer ihren Hafen, an dem sie all die Kähne mit Wein anlegen ließ. Diese Zunft - die marchands de l'eau - ist so mächtig, dass ihr Wappen mit dem Schiff zum Wappen von Paris geworden ist. Dicht nebeneinander lagen Schiffe und Kähne am Pier. Wie ein schwimmender Wald aus schlanken Bäumen tanzten ihre Masten und Rahen vor dem Himmel. Glücklich war ich — und verwirrt. Verwirrt von den Schauerleuten, die Fässer rollten oder Säcke schleppten, die in düsteren Lagerhäusern verschwanden, welche die Längsseiten des Platzes einfassten. Dazwischen drängten sich die Tavernen — die Orte, zu denen die Schiffsleute strebten, die Landsknechte, die Gehilfen des Waagenmeisters, die Beutelschneider und Wahrsager, die sündigen Mädchen und die alten Vetteln, deren schwarze Künste mich schaudern ließen. Ein hoher Herr stolzierte vorbei, ganz Eitelkeit und Tand: die Füße in Schnabelschuhen, so lang wie die größten Kerzen, die im Kloster zu Ostern entzündet werden; die Beine in einer weißen Seidenhose, so schamlos eng, dass sich jeder Muskel und noch ganz Anderes so deutlich abzeichnete, als würde er gänzlich nackend gehen; der blaue, mit Gold durchwirkte Mantel so kurz, als hätte sich der Edle vergriffen und versehentlich das Gewand seines Sohnes angezogen. Als ich gar zu sehr gaffte, starrte einer der beiden Knappen, die im Gefolge des Adeligen genauso eingebildet daherstolzierten wie ihr Herr, zu mir zurück, stieß dann seinen Kumpanen an, deutete auf mich und sagte etwas. Beide lachten, und ich drehte mich beschämt weg. Doch nahmen mich so viele Dinge gleichzeitig gefangen, dass meine Sinne und mein Geist alsbald weiterschweiften. Ich ließ mich willig fortziehen, als Bruder Anselm mich am Arm packte und zur Brücke wies.

Es waren nur ein paar Schritte nach rechts bis zum Grand Pont. Die Brücke ist ganz aus mächtigen Eichenbalken gezimmert und spannt sich in fünf Bögen bis zur Insel. Wohl hundert Häuser säumen ihre Seiten, sodass sie einer über den Wassern schwebenden Stadt gleicht und man kaum einen Blick auf die Seine erhaschen kann, wenn man auf ihr entlangschreitet.

In diesen Häusern haben die Juweliere ihre Werkstätten und die Geldwechsler ihre Stuben, sodass man wohl kaum irgendwo in Paris so viele in bunte Wämser gehüllte Edle und reiche Kaufleute sowie in Samt, Seide und Spitzen gehüllte feine Damen auf einem Platz zu finden vermag wie hier. Es war ein Gedränge und Gestoße, denn alle, vom Baron bis zum Bauern, mussten sich den Platz mit Maultieren und Ochsen teilen, und unablässig strömten Menschen hin und fort, von einer Seite der Stadt zur anderen und zurück, sodass man wohl trefflich sagen könnte, dass über dem Strom des Wassers ein zweiter, aus Leibern, in luftiger Höhe den ersteren querte. Die hölzernen Balken knarrten und ächzten unter der Last der Menschen und Tiere und unter der Wucht der Seine, die, wiewohl längst nicht so groß wie der Rhein, doch imposant genug dem fernen Meer entgegenfloss.

Als wir die Cite erreicht hatten, war ich wie geblendet vom Anblick der mächtigen Kathedrale Notre-Dame.

Wie fühlte ich mich winzig im Angesicht dieser Stein gewordenen Lobeshymne. In Köln bauten die Bürger einen Dom, doch ragten bisher kaum mehr als ein paar Gewölberippen in den Himmel. Notre-Dame jedoch war bereits seit achtzehn Jahren vollendet. An jenem frühen Abend, meinem ersten in Paris, war ich überwältigt und sah kaum mehr als die beiden wuchtigen Türme, die, engelhaften Zwillingen gleich, ohne Ende in den Himmel strebten. Zwischen ihnen erstrahlte eine Rosette in gelb und rot, grün und blau und allen Zwischenfarben des Regenbogens, sodass es mir wohl dünkt, dass auch das Licht im Paradies schöner kaum leuchten könne. Wie gerne hätte ich einen Blick in das Innere der Kathedrale geworfen, doch Bruder Anselm drängte mich, das nahe Ziel vor Augen, den Weg zum Kloster fortzusetzen.

Widerwillig folgte ich ihm auf gerader Gasse zum Petit Pont. Als wir am anderen Ende der Insel wieder die Seine erblickten, bemerkte ich dort viele wunderliche, fest vertäute, plumpe Kähne. Erst bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es schwimmende Mühlen waren: große Barken, mit Wasserrädern an den Seiten, welche sich in der unablässigen Strömung drehten. Dutzendfach erklang das Knirschen der schweren Mühlsteine, zwischen denen das Korn zu Mehl zerrieben wurde. Wir gingen über den Petit Pont, dann waren wir in der Universite, am linken Ufer der Seine.

Direkt von der Brücke aus führte eine große Straße gerade durch diesen Teil der Stadt. Es war die Rue Saint-Jacques. Sie war schlammig, laut und voll, denn unzählige Händler, die, mit Karren beladen, aus dem Süden Frankreichs, aus Spanien und Italien und GOTT allein weiß, woher noch, angereist kamen, drängten sich hier. Zudem sah man hier viele junge Männer: manche im Habit eines der großen Orden, andere in prächtigen Wämsern, wie es Söhnen von Rittern und reichen Kaufleuten wohl geziemt.

»Es sind Studenten«, murmelte Bruder Anselm, dem meine neugierigen Blicke aufgefallen waren. Ich glaubte, dass eine Spur Verachtung mitschwang in der Art, wie er dies aussprach. Für ihn waren Studenten offensichtlich kaum besser als Vaganten.

Ich hingegen schob mich glücklich durch die Menge. Vorbei an düsteren Fachwerkhäusern, aus deren höhlenartigem Innern der Lärm und der Gesang der Tavernen erklang. Nun war ich plötzlich schneller als Bruder Anselm und konnte es kaum noch erwarten, das Kloster — meine neue Heimat — zu betreten.

Dann endlich deutete Bruder Anselm auf eine hohe, dunkle, vom Straßenkot besudelte Mauer, welche — wir hatten schon mehr als den halben Weg zwischen Seine und Stadttor zurückgelegt - einen Teil der linken Straßenseite einnahm. Neben der Mauer erhob sich eine bescheidene Kapelle, deren einzige Zierde ein schmaler Turm auf dem Dach war, der von der Rue Saint-Jacques aus kaum zu erkennen war. Die Tür zu diesem Haus GOTTES stand offen, doch Bruder Anselm führte mich zu einer Pforte in der Mauer und klopfte energisch dagegen.

Ein alter Mönch öffnete ein Guckloch und spähte mit kurzsichtigem Blinzeln hinaus, doch als er unsere Kutten sah, öffnete er die Pforte, so schnell es seine gichtigen Finger erlaubten.

Das Amt des Portarius oblag stets einem älteren Mitbruder - doch so ein Greis wie in Paris war mir noch nie in einem Kloster begegnet: Sein Haupt war kahl, die Haut gelb wie altes Leder und zerfurcht von den Kratern seiner Pockennarben. Aus seinem zahnlosen Mund stank er nach Knoblauch und Fäulnis. Sein Körper war so mager, dass es fast wirkte, als verberge sich ein Skelett unter der viel zu weiten schwarzen Kutte. Ich musste mich, der HERR verzeihe mir, überwinden, ihm den obligatorischen Bruderkuss zu entbieten.

Der Portarius hieß uns durch Gesten Willkommen. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich begriffen hatte, dass er zwar nicht von Natur aus stumm war, aber wohl für diesen Tag oder vielleicht auch für länger ein Schweigegelübde abgelegt hatte - oder vom Prior dazu verurteilt worden war. Wortlos geleitete er uns ins Innere des Klosters, still folgten wir ihm. Kein Laut erklang, als wir durch den bescheidenen Kreuzgang schlichen, kein Mitbruder war zu sehen. Der ewige Lärm der Pariser Straßen war in diesen ruhigen Gängen gebannt, ja nicht einmal eine Meise schien sich am Brunnen oder in den Rosensträuchern inmitten des Kreuzganges niederzulassen. Am anderen Ende des Kreuzgangs erstreckte sich ein großes, zweigeschossiges Gebäude aus massigen Steinen. Neugierig blickte ich durch die hohen, spitzbögigen Fenster. Dort sah ich, durch das Glas, in dem sich die Abendsonne brach, undeutlich verzerrt, schwarze Schatten an Pulten stehen, gebückt und fast regungslos.

»Das ist das Skriptorium«, flüsterte Bruder Anselm mir zu. »Hier studieren die Mitbrüder fast den ganzen Tag. Im Stockwerk darüber befindet sich die Bibliothek. Es gibt Brüder, die dieses Haus, außer zu den Messen, jahrelang nicht verlassen. Du wirst sie an ihrer Haut erkennen, die hell ist wie Elfenbein.«

Der stumme Portarius führte uns durch einen engen Gang, dann eine schmale, gewundene Treppe hinauf, bis vor eine verschlossene, massive Eichentür. Respektvoll klopfte er an, dann drückte er die Tür auf: Wir standen in der Zelle des Priors.

Bruder Carbonnet blickte auf. Für einen winzigen Augenblick glaubte ich, dass Verärgerung, ja Furcht über sein massiges Gesicht huschte, doch dann schien er nicht nur erfreut, sondern geradezu erleichtert zu sein, uns zu sehen. Er stand in seinem sechzigsten Jahr. Bruder Anselm hatte mir erzählt, dass der Prior, als jüngster Spross einer Adelsfamilie aus Orleans, schon als Junge zu den Dominikanern gegeben und, dank seiner edlen Abstammung, auch in frühen Jahren bereits zum Prior berufen worden war. Er war ein Doktor der Theologie und seine Gelehrsamkeit wurde weithin gerühmt, nicht nur innerhalb unseres Ordens. Er war nicht besonders groß, doch dick wie ein eichenes Weinfass. Seine dunklen Augen verschwanden fast hinter zwei Fettwülsten, als er uns nun aufmerksam musterte.

Bruder Anselm und ich verbeugten uns tief und murmelten unsere Begrüßung.

»Willkommen bei den Jacobins, meine Brüder«, antwortete der Prior. Seine Stimme war ungewöhnlich hoch, doch klar und kräftig. Er bemerkte wohl meinen verwunderten Blick, denn er nickte mir wohlwollend zu. »So nennen uns die Bürger von Paris«, erklärte er mir, »weil unser Kloster an der Rue Saint-Jacques liegt.«

»Ehrwürdiger Vater, es ist eine große Ehre, dass ich hier sein darf«, sagte ich demütig. Ich überreichte Bruder Carbonnet den gesiegelten Brief, in dem mein Kölner Prior mich empfahl. Er studierte das Schreiben sorgfältig, dann nickte er. »Mein Amtsbruder hat mir schon im letzten Herbst einen Brief geschrieben, in dem er mir dein baldiges Kommen ankündigte«, murmelte er. Dann blickte er mich aufmerksam an. Jede Spur von Freundlichkeit war aus seinem Antlitz gewichen.

»Du bist, schreibt mein Amtsbruder, sehr gelehrt, trotz deiner jungen Jahre?«, fragte er.

Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, und wusste darauf nichts zu antworten.

Er nickte nur. »Und du bist Deutscher?«, wollte er dann wissen. »Ja«, antwortete ich, verwundert über diese Frage nach etwas doch so Offensichtlichem - obwohl ich natürlich, genau genommen, selbst nicht wissen konnte, wessen Blut in meinen Adern floss.

Da schien der Prior einen Entschluss gefasst zu haben. Er klatschte in die Hände und der Portarius erschien wieder vor der Zellentür. »Bring Bruder Anselm ins Gästehaus, auf dass er sich erfrischen und ausruhen kann, bevor wir die Vesper feiern«, befahl er dem Greis.

Als die beiden nach einem gemurmelten Abschiedswort im halbdunklen Flur verschwunden waren, wandte sich Bruder Carbonnet mir zu: »Dich aber, mein junger Freund, schickt der HERR genau zur richtigen Stunde. Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass du weder mit uns diese Vesper feiern noch dich ausruhen kannst. Ich habe einen Auftrag für dich, der keinen Aufschub duldet.« Demütig nickte ich und wartete auf eine Anweisung, dabei hoffend, dass keine Geste, kein Zucken im Gesicht, kein aufblitzendes Auge die stolze Erregung verriete, die mich erfasst hatte. Bruder Carbonnet atmete tief durch. »Es wartet ein Toter auf dich«, verkündete er schließlich.

Der Prior sagte nichts weiter zu mir. Stattdessen rief er einen Novizen zu sich und erteilte ihm flüsternd eine Anweisung. Der Junge nickte eifrig und verschwand. Ich wartete derweil voll Zittern und Zagen, verwirrt und doch neugierig zugleich.

»Ein Mitbruder aus den deutschen Landen hat uns vor einiger Zeit mit seinem Besuch beehrt«, hob Bruder Carbonnet schließlich an, »Heinrich von Lübeck mit Namen.«

Ich blickte nicht auf. Diesen Namen hatte ich noch nie vernommen. Der Prior seufzte schwer. »Bis zu eurem Eintreffen heute Abend war er der einzige Dominikaner aus dem Reich, der zurzeit an der Seine weilt. Allerdings gibt es ein Problem.« Nun sah ich auf, fragend. Doch noch immer schwieg ich. »Heinrich von Lübeck ist vor der ihm zugemessenen Zeit vor den HERRN berufen worden.« Der Prior zögerte, als wage er nicht, den nächsten Satz auszusprechen. Doch dann straffte er seinen feisten Leib. »Er wurde vor wenigen Stunden erstochen. Und das vor einem der heiligsten Plätze der Christenheit: vor unserer geliebten Kathedrale Notre-Dame.«

»Wer wagt es, so einen Frevel zu begehen?«, rief ich.

»Wir wissen es nicht. Noch nicht.« Bruder Carbonnet sah mich aufmerksam an. Und plötzlich fehlte seiner feisten Gestalt alles Gemütliche.

Aufmerksam, ja lauernd starrte er zu mir hinüber. Mich fröstelte unter dem Blick seiner dunklen Augen. »Wir sind Dominikaner«, flüsterte er. »DOMINI canes, die ›Hunde des HERRN‹. Wir bewachen SEINE Herde und führen verirrte Schäflein auf den rechten Weg zurück. Und wir schützen SEIN Haus vor den reißenden Wölfen — weshalb uns die Wölfe hassen. Aus diesem Grund sind viele von uns Dominikanern zugleich auch Inquisitoren. Wenn jemand herauszufinden vermag, wer unseren Mitbruder ins Reich der Seligen geschickt hat, dann sind wir es. Denn wir stellen die Männer, die furchtlos sind und gelehrt und die sich auch dem abscheulichsten Verbrechen entgegenstellen.«

»Die Inquisitoren«, flüsterte ich nur.

»Und du wirst fortan einer von ihnen sein«, bestimmte der Prior. In diesem Moment betrat ein Mönch den Raum, der sich vor dem Prior demütig verneigte — und doch spürte ich sofort, dass von dem Neuankömmling, seinem respektvollen Verhalten zum Trotz, eine große geistige Kraft ausging und eine bezwingende Autorität. So wie ihn hätte ich mir den Prior unseres Ordens an einer so bedeutenden Stätte der Christenheit wie Paris vorgestellt: Der Mönch war sicherlich schon fünfzig Jahre alt, jedoch groß und kraftvoll. Um seine Tonsur stand dichtes, eisengraues Haar wie der Ring eines Panzerhemdes, und auch seine klaren Augen schimmerten grau. Seine Haut war dunkel, seine Hände waren kräftig; die Linke befleckt mit Tintenklecksen, an der Rechten fehlte ihm der kleine Finger. Als sich der Mitbruder mir zuwandte und sich leicht verbeugte, da fühlte ich mich unwillkürlich geehrt. Meinerseits verneigte ich mich tief, tiefer noch als ich mich zuvor dem Prior gebeugt hatte. »Dies ist Bruder Philippe«, sprach der Prior und Stolz schwang mit in seiner Stimme, Bewunderung und wohl auch so etwas wie Angst. »Philippe de Touloubre, von vielen, nicht nur in unserem Orden, ›Meister Philippe‹ gerufen, denn er ist Doktor der Theologie und unser scharfsinnigster Inquisitor. Er diente noch dem einem Heiligen gleichenden Bernard Guy, als dieser in den Pyrenäen die letzten Katharer aufspürte und ins reinigende Feuer schickte.« Philippe de Touloubre deutete eine demütige Verbeugung an. »Wir wollen nicht von vergangenen Dingen sprechen«, antwortete er seinem Prior.

Seine Stimme klang ruhig, kräftig und schmeichelte den Ohren. »Willkommen in unserem bescheidenen Haus«, sagte er dann. » Auch wenn es«, er lächelte dünn, »ein etwas ungewöhnlicher Empfang ist, den wir dir bereitet haben.«

»In der Tat«, rief Bruder Carbonnet und klatschte in die Hände. »Meister Philippe wird sich auf die Spur des schrecklichen Sünders begeben, welcher unseren Mitbruder aus deutschen Landen so heimtückisch tötete. Und du, Bruder Ranulf, der du als einziger Gelehrter unseres Ordens aus jenen Landen stammst, wirst unserem besten Inquisitor zur Hand gehen, wenn es denn nötig sein sollte.«

»Das wird es«, sprach Bruder Philippe. Er klang noch immer freundlich. Doch irgendetwas in der Entschlossenheit seiner Stimme flößte mir Unruhe ein.

*

Wir eilten den Weg zurück, den Bruder Anselm und ich vor kaum einer halben Stunde gekommen waren. Der Portarius geleitete Meister Philippe und mich zum Portal, nachdem wir uns vom Prior verabschiedet hatten. Im Kloster erblickten wir keinen anderen Mönch. Als wir das verschlammte Pflaster der Rue Saint-Jacques betraten, warf sich mein Begleiter die Kapuze über das Haupt und verhüllte sein Gesicht. Ich wunderte mich, denn so kühl war es nicht geworden in den Gassen der Stadt, doch wagte ich nicht zu fragen und tat es ihm nach. Respektvoll hielt ich mich zwei Schritte hinter meinem älteren Mitbruder und schwieg. So bemerkte ich, dass die Menschen, wann immer sie unserer verhüllten Gestalten ansichtig wurden, eilig und demütig zur Seite wichen. Manche verneigten sich, andere hingegen wandten sich ab. Selbst die auf den Straßen streunenden Hunde und Schweine wichen vor uns zurück.

Noch immer drängten sich Menschen und Fuhrwerke auf der Straße, doch die ersten Händler verrammelten bereits die Türen und Fenster ihrer Läden mit schweren, eichenen Flügeln und eisernen Ketten. In dem einen oder anderen Fenster in den oberen Stockwerken der verwinkelten Häuser leuchtete schon der rötliche Schimmer einer Kerze, der sich in den Fenstergläsern brach und tausend Lichtkreise tanzen ließ, als glühten im Innern dieser Häuser die Essen der Schmiede. Meine Gedanken tanzten mindestens genauso unruhig wie jene Lichtkreise umher. Nach Paris war ich gekommen zum Studieren, ein Doktor der Theologie, ja, GOTT strafe meinen Hochmut, »der« Doktor der Theologie wollte ich werden, der größte und weiseste Gelehrte meiner Zeit. Nun hatte ich noch nicht einmal meine Studierstube in Paris erblickt und erst recht keinen Lehrer. Stattdessen wanderte ich durch die finster werdenden Straßen der Stadt, einem grausigen Fund entgegen.

Doch am verwirrendsten von allem war, dass ich, der ich Gelehrter werden wollte, plötzlich zum Inquisitor berufen worden war. Hatte ich überhaupt die Kraft, dem Bösen ins Auge zu sehen, wenn es sich mir offenbarte? Konnte ich die Seelen der Sünder erkennen und sie vor dem Ewigen Feuer erretten? Was geschah mir, wenn ich fehlte? Hatte ich den Platz gefunden, den der HERR mir zugemessen hatte? Oder war ich, durch eine Macht, die ich nicht zu benennen wagte, erhoben in einen Rang, der mir nicht zukam? Nisi unicuique sicut divisit DOMINUS unumquemque sicut vocavit DEUS ita ambulet. Ich fühlte mich plötzlich klein und schwach und unendlich verloren. Meister Philippe, der bislang schweigend und rasch vor mir ausgeschritten war, musste meine Gedanken gespürt und in meinem Herzen gelesen haben. Denn schließlich, wir hatten wohl schon die Hälfte der Rue Saint-Jacques bis zur Seine zurückgelegt, verlangsamte er seine Schritte und bedeutete mir mit einer knappen Geste, an seine Linke zu kommen.

Wir durchschritten gerade einen kleinen Markt an einer Stelle, da sich die Rue Saint-Jacques zu einem Plätzchen erweiterte. Die Händler bauten ihre Stände schon ab, doch noch drängten sich späte Käufer - liederliche Mägde, verschlafene Studenten und ruppige ältere Männer, denen man ansah, dass schon lange keine Frau mehr um sie sorgte- zu den geduldigeren der Verkäufer, die nun in der letzten Stunde des Tages ein gutes Geschäft machten. Heu und Holzscheite erblickte ich da, Fische, Rüben, Kohl und Fett, Wein, Met und Brombeerwein, lebende Hühner und geschmiedete Türschlösser, hölzerne Dachschindeln und große Backtröge und noch vieles mehr - und dies war nur ein unbedeutender Markt!

Meister Philippe folgte meinen staunenden Blicken und lächelte leicht. »Es sind Dinge ganz von dieser Welt, doch immerhin nützliche Dinge«, sagte er. »Ich habe Märkte gesehen, so überquellend vor Gold und Edelsteinen und Brokat, dass die Augen schmerzten, wenn das Sonnenlicht in dieser Pracht funkelte. Und die Sonne schien fast immer über diesen Märkten.«

»Wo findet man eine solche Pracht?«, fragte ich. »In Avignon«, antwortete der Inquisitor. »Ihr wart am Hof des Heiligen Vaters?«, rief ich erstaunt aus. Meister Philippe machte eine beschwichtigende Geste, denn mehrere Männer und Marktweiber hatten sich zu uns umgedreht und uns missbilligende Blicke zugeworfen.

»Oh ja, ich habe Seiner Heiligkeit gedient«, flüsterte Meister Philippe. »Ich bin in einem kleinen Dorf bei Salon geboren, in der Provence, kaum einen Tagesritt entfernt von Avignon. Dort bin ich auch, nach einem Traum, den ich dir nicht erzählen mag, dem Orden des heiligen Dominicus beigetreten. Ein Doktor der Theologie bin ich, ganz wie du einer werden möchtest, wie mir der Prior berichtet hat — und ich diente dem Papst als einer seiner Schreiber. Manche Bulle, manches Breve und so manches Sendschreiben, das kaum je ein Gläubiger mit eigenen Augen gelesen hat, ist von meiner Hand geschrieben worden.«

Schweigend und tief in Gedanken versunken schritt er eine Zeitlang kräftiger aus, bis wir den Markt passiert hatten. »Von meiner Hand geschrieben, das ja«, hub er schließlich wieder an, »doch nicht von meinem Geist erdacht. Ich las die Texte, welche ich in das sperrige Latein der päpstlichen Kanzlei gießen musste. Ich sah die Schätze, die von den Märkten in die Paläste der Kardinäle und, ja, zuvorderst in den Palast des Heiligen Vaters gebracht wurden. Und ich sah noch ganz andere Dinge.« Wieder schritt er eine Zeitlang schweigend aus.

Wir verließen den Markt und mussten innehalten, denn eine Prozession querte die Rue Saint-Jacques: ein Priester in schäbigem Gewand, der ein schlichtes Holzkreuz hochhielt, gefolgt von ein paar älteren Frauen und missmutig dreinblickenden Kindern in einfacher Tracht. Nur wenige Kerzen leuchteten, schwach klang das Te DEUM Laudamus aus ihren Kehlen, bis es verwehte, als sie in einer winzigen Kirche verschwanden, deren Namen ich nicht kannte. »Ja, lobet den Herrn«, murmelte Meister Philippe und segnete die Singenden. »Euer Glaube ist schlicht und unverfälscht — und das soll so bleiben.«

Er wandte sich mir zu. »Es steht geschrieben, dass der Diener des HERRN den Weinstock schützen muss, selbst wenn er dazu der Flammen bedarf.«

»Ego sum vitis vos palmites qui manet in me et ego in eo hic fert fructum multum quia sine me nihilpotestis facere si quis in me non manserit mittetur foras sicutpalmes et aruit et colligent eos et in ignem mittunt et ardent«, antwortete ich.

»Ich war des Prunks am Hof des Heiligen Vaters überdrüssig und, mehr noch, der leeren Worte seiner Schreiben«, murmelte Meister Philippe und nickte.

Ich staunte über seine Ehrlichkeit. Wäre er nicht selbst Inquisitor gewesen - so ein Satz hätte ihn vor den Richterstuhl der Glaubenswächter bringen können! Deshalb antwortete ich nicht und blickte nur demütig zu Boden, während ich an seiner Seite weiterschritt. »Je länger ich in Avignon diente, desto stärker fühlte ich, dass dies nicht meine Berufung war«, fuhr Meister Philippe fort. »Ich wollte den Weinstock des HERRN hegen und pflegen, wie es die guten Winzer tun, die an den Hängen der Rhone ihren blutroten Wein keltern. Also bat ich darum, Inquisitor zu werden. Meine Oberen erfüllten mir diesen Wunsch nur zu gerne, denn sie spürten meinen Eifer wohl. Also ging ich los in die Pyrenäen, um in einsamen Bergdörfern und halb vergessenen Burgen Katharer aufzuspüren, die letzten jener ketzerischen Brut, die einst den ganzen Süden Frankreichs mit ihrer Irrlehre verpestete. Ich stellte ihnen nach, bis ich niemanden mehr fand, der Arges im Schilde führte. Die Bischöfe der Diözesen, in denen ich wirkte, lobten mein Tun. Den Ketzern hingegen galt mein Name nur zu bald als Inbegriff des Zornes des HERRN und die meisten gestanden, ohne dass ich sie in jene finsteren Kammern zu entsenden hatte, in denen die Folterknechte mit glühenden Zangen und straffen Stricken die Wahrheit ans Licht zerren.

Als die Katharer nicht mehr waren, da wurde ich nach Paris geschickt. Hier half ich mit, den heuchlerischen Orden der Templer von der Brust der Mutter Kirche zu reißen. Hier wache ich seither über finstere Wanderprediger, die im eigenen Auftrag gotteslästerliche Lehren verkünden, und über allzu vorwitzige Studenten, die Fragen zu stellen wagen, die sich nicht geziemen.« Er lächelte. »Es waren ein paar ruhige Jahre, verglichen mit meiner Jagd nach verstockten Katharern.«

Er blieb abrupt stehen. Wir befanden uns schon auf der Brücke, die zur Cite führte. Meister Philippe vollführte eine ausholende Geste, mit der er ganz Paris umfasste. »Die Boten des Herrn der Finsternis bestürmen nicht länger die Mauern der Kirche wie Krieger, die eine Stadt erobern wollen. Nein, nun schleichen sie sich ein. Heimlich sind sie nach Paris eingedrungen und unbemerkt - bis jetzt.« Er lächelte dünn. »Ich vermag nicht genau zu sagen, wann alles begann. Doch seit einiger Zeit spüre ich eine seltsame Unruhe in den Gassen dieser Stadt. Ein respektloses Wort, ein abgewandter Blick, ein unterbrochenes Flüstern. Mal hier, mal dort. Eine Unruhe, wie Hunde sie spüren, wenn ein Gewitter dräut.«

Er stand eine Weile sinnierend auf der Brücke und schien meine Gegenwart vergessen zu haben. Dann kam Meister Philippe wieder zu sich, straffte seinen Körper und blickte mich aufmunternd an. Doch seine Worte waren düster: »Und nun ist ein Mönch unseres Ordens gestorben, im Schatten von Notre-Dame. Es mag ein finsteres Omen sein oder ein bloßer Zufall. Doch als Inquisitor habe ich gelernt, nicht mehr an Zufälle zu glauben.«