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So stand ich nun im Schatten von Notre-Dame. Auf dem großen Platz vor der Kirche lungerte ein Bewaffneter herum: ein großer Mann mit einem buschigen dunklen Bart, gekleidet in einen speckigen Wams, auf den das Wappen von Paris gestickt war. Er stützte sich auf eine Hellebarde, deren Spitze in der Abendsonne rot glühte. An seinem Gürtel baumelte ein großes Schwert. »Das ist ein Sergeant de la Douzaine, einer aus dem Dutzend, wie die Wachen genannt werden, die dem Prévôt von Paris unterstehen. Sie haben vor weniger als einer Stunde einen Boten zu uns geschickt. So haben wir von dem Toten erfahren«, flüsterte mir Meister Philippe zu, während er gemessenen Schrittes auf den Mann zuging. Der Sergeant verbeugte sich tief, als wir bei ihm ankamen und mein Begleiter einen Segensspruch murmelte. Doch trotz seines unterwürfigen Betragens merkte ich dem Mann an, dass er gelangweilt war, ja mürrisch.
»Wenn Ihr mir bitte folgen möget, Brüder«, begrüßte er uns. Sein Atem stank so stark nach Zwiebeln und Knoblauch, dass ich kaum einzuatmen wagte in seiner Nähe. Doch Meister Philippe ließ sich nichts anmerken, nickte nur würdevoll und ging schweigend hinter dem Sergeanten her.
Der Bewaffnete führte uns links vorbei am großen Portal und den beiden Türmen, entlang der Nordseite von Notre-Dame, die zur Ville weist. Hier drängten sich enge, verwinkelte Häuser im Schatten der Kathedrale: Erker, Schuppen, kleine, schief gezimmerte Verschläge ragten in die Gasse hinein, berührten fast die Wand des Hauses GOTTES und ließen den Weg eher wie einen Irrgarten wirken denn wie eine Straße.
Wir schritten zunächst am Turm entlang, der schmucklos war, mächtig, wuchtig und, bis auf eine winzige Pforte, ohne Öffnung - gleich dem Donjon einer erhabenen Burg. Dann befanden wir uns auf Höhe des Kirchenschiffes. Schlanke, hohe, von Rosetten gezierte bunte Fenster spiegelten sich in allen Farben der Welt in den Strahlen der tief stehenden Sonne, sofern zwischen Lücken in den Häusern Licht auf sie fiel. Darüber glänzte noch eine Reihe von Fenstern und darüber noch eine. Oh, welche Freude es war, diese Pracht zu betrachten! Habet omnia ad aedificationem fiant.
Doch der Sergeant schritt mächtig aus, sodass wir ihm mit wehenden Kutten folgen mussten. Vorbei ging es an der gewaltigen Rosette, welche das Querhaus erstrahlen ließ. Darunter öffnete sich ein Portal, das andernorts manch stolzen Dom geziert hätte, hier jedoch kaum mehr war als ein Nebeneingang. Flüchtig blickte ich auf die Skulpturen, welche dieses Portal schmückten. Theophilus war dort zu sehen — jener Priester der alten Zeit, der sich, von einem Juden verführt, mit dem Satan verbunden hatte, dann jedoch vierzig Tage lang bereute, Maria anflehte und letztlich von ihr, der Mutter unseres HERRN, errettet wurde.
Ich schlug hastig ein Kreuz und schickte ein Gebet an die Madonna, auch meiner Seele beizustehen, sollten mich der Herr der Finsternis und seine Diener verführen mögen.
Et consummata omni temptatione diabolus recessit ab illo usque ad tempus.
Wir waren nun schon mehr als die Hälfte der Kathedrale entlanggegangen und standen vor den Kapellen, die sich, hinter einem Dickicht kühn gespannter Strebebögen und Pfeiler verborgen, im Halbrund um Notre-Dame schwangen. Dort, in der dritten Kapelle nach dem Portal, war eine kleine, jedoch reich verzierte Tür eingelassen. Sie wurde Porte Rouge genannt, wie ich später erfahren sollte, die »Rote Pforte«. Maria saß hier als Königin über dem Eingang, der heilige Bischof Marcellus stand ihr zur Seite. Doch die steinernen Heiligen mussten den Anblick eines Toten ertragen.
Vor den Stufen der Porte Rouge lag die Gestalt eines Mönches in einer großen, dunklen Lache Blut.
Ein zweiter Sergeant lungerte im Schatten einer Hauswand, bis er uns erblickte. Er war größer und dünner als sein Kamerad, doch kaum weniger verschlossen. Mit wütendem Ruck zog er eine gefesselte Person hoch, die er mit einem groben Strick gebunden hatte. Ich konnte nicht viel von diesem Gefangenen erkennen, denn ein zerschlissener Kapuzenmantel unbestimmbarer Farbe verhüllte ihn. Zudem wurden meine Blicke angezogen von dem schrecklichen Anblick des Ermordeten.
»Wir haben jemanden, der etwas gesehen hat, Meister Philippe«, brummte der zweite Sergeant, der den Inquisitor offensichtlich schon besser kannte.
Philippe de Touloubre nickte höflich, doch machte er eine abwehrende Geste. »Das hat Zeit«, antwortete er. »Zunächst möchte ich mir den Toten anschauen. Habt Ihr einen Bader gerufen — falls doch noch irgendeine Hoffnung besteht?«
Der dickere Sergeant lächelte unfreundlich. Wahrscheinlich erfüllte es ihn mit höhnischer Freude, dass Meister Philippe nach einem Bader gefragt hatte, statt nach einem der ehrenhaften Ärzte — welche zwar wesentlich mehr Ansehen genossen und fast wie Adelige galten, deren Kuren und Rezepte jedoch, wie jedermann wusste, oft gefährlicher waren als die der Bader.
Bei dieser Frage hatte sich ein Mann erhoben, der bis dahin von uns unbemerkt auf einem leeren Weinfass im Halbdunkel gesessen hatte. »Ah, der Herr Garmel«, rief der Inquisitor aus, als er der Gestalt ansichtig wurde. Er schien erleichtert zu sein.
»Meister Philippe«, murmelte der Mann und verbeugte sich tief. Er war dick, schwitzte stark, roch allerdings nicht sauer, sondern nach Lavendel und anderen Badeessenzen. Er mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein und doch war er schon ganz kahl. Seine Kleidung schien schlicht zu sein, aber sah man genauer hin, so erkannte man, dass sein dunkles Wams aus Adasseide gefertigt war und seine hohen, derb anmutenden Stiefel in Wahrheit aus weichem Hirschleder genäht waren.
»Nicolas Garmel, immer zu Diensten«, sagte er höflich und verbeugte sich vor mir nicht weniger tief, als er es vor Meister Philippe getan hatte. »Bader im Haus ›Wappen der Lilie‹ bei der Kirche Saint-Jacques-la-Boucherie, Arzt auch, wenn es belieben, Chirurgicus und Haarschneider.«
»Und der«, Meister Philippe zögerte kurz, als suche er nach dem richtigen Wort, »Mann des Vertrauens, wann immer der Inquisition ein rätselhafter Todesfall zur Untersuchung vorgelegt wird.« Garmel nickte eifrig. »Hexerei oder andere schwarze Künste waren hier jedenfalls nicht im Spiel«, sagte er. »Das lasst mich erst sehen«, entgegnete Meister Philippe. Der Bader bekreuzigte sich und beugte sich mit uns über den Toten. »Niemand hat ihn angerührt«, flüsterte er, als hätte er plötzlich Angst, dass die Gestalt durch ein allzu lautes Wort doch wieder erweckt werden könnte. »Die beiden Sergeants haben es nicht gewagt, ihn zu betasten.«
»Dann muss es jemand anders gewesen sein«, murmelte Meister Philippe, »denn angerührt wurde er, da besteht kein Zweifel.« Heinrich von Lübeck war ungefähr fünfzig Jahre alt, als ihn sein Schicksal ereilte: ein mittelgroßer, dünner, kahlköpfiger Mönch im Dominikanerhabit, der an ihm nun viel zu groß wirkte. Er lag auf dem Rücken, die Beine lang ausgestreckt, den linken Arm ebenfalls; der rechte lag etwas angewinkelt, das Gesicht des Toten war in Richtung der rechten Hand gedreht, als sei sie das Letzte gewesen, was er auf dieser Welt erblickt hätte — wenn ihm dies überhaupt noch möglich gewesen sein sollte. Neben seinem Gesicht lag nämlich ein Sehglas aus Venedig im Straßenschlamm, das Gestell war jedoch zerbrochen; ob im Kampf oder durch den Sturz, das vermochte ich nicht zu sagen.
Sorgfältig umging Meister Philippe den Toten - er erinnerte mich unwillkürlich an eine Katze, die einen Heuballen umschleicht, in dem sie eine Ratte wittert.
Überall an der Kutte schien Blut zu kleben, doch war es schwer, Einzelheiten auszumachen, denn die dunklen Flecken waren auf dem schwarzen Gewand nur undeutlich zu erkennen. »Es waren zwei Wunden, aber nur eine war tödlich«, murmelte Nicolas Garmel und deutete auf den Oberkörper des Opfers. Über der rechten Brust Heinrich von Lübecks klaffte ein großer Riss in der Kutte. Darunter kam eine Wunde zum Vorschein, die nun verklebt war von getrocknetem Blut.
»Ein Dolch, würde ich meinen«, erklärte der Bader. Seine Stimme klang ungerührt, er schien seltsam fasziniert, geradezu erfreut. »Für einen Schwertstreich ist die Wunde nicht groß genug, für den Stich einer Lanze oder einen Armbrustbolzen- oder Pfeilschuss hingegen ist sie zu groß und zu länglich. Der Stoss muss mit großer Kraft geführt worden sein. Entweder ist die Klinge zwischen den Rippen hindurchgegangen oder sie hat sogar eine zerbrochen. Dazu müsste ich mir den Körper des Toten genauer ansehen, doch das habe ich bisher nicht gewagt, ohne Eure Erlaubnis.«
»Er ist ein Mönch«, sagte Meister Philippe. »Bei allem Respekt vor Eurem Metier: Ich würde ihn ungern entkleidet auf dem Tisch eines Baders sehen wollen, wenn es sich vermeiden ließe.« Garmel nickte beflissen. »Die Todesursache ist auch so klar zu erkennen. Der Stich hat ihn gefällt — wenn er ihn auch nicht sofort tötete, denn er traf nicht seine Herzseite. Heinrich von Lübeck wird hier gelegen haben, für wenige Augenblicke noch am Leben, bis ihm so viel Blut entströmt war, dass seine Seele entfloh.«
Ich bekreuzigte mich und murmelte: »Hierusalem Hierusalem quae occidis prophetas et lapidas eos qui mittuntur ad te.« Der Bader deutete ungerührt auf die rechte Hand des Toten. Sie war so über und über mit Blut bedeckt, dass sie schwarz aussah. Ich hatte dies zunächst für ein Zeichen dafür gehalten, dass er seine Rechte auf die Wunde gedrückt hatte, bis ihn die Kräfte verließen, doch als Garmel uns darauf hinwies, erkannte auch ich, dass ein tiefer Schnitt die Hand verletzt hatte.
»Noch ein Stich«, murmelte der Bader. »Auch wenn die Klinge hier abgerutscht ist.«
Meister Philippe nickte bedächtig. »Heinrich von Lübeck hat gekämpft«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu mir. »Mit der bloßen Hand hat er den ersten Stoß pariert und erst der zweite hat ihn gefällt.«
Der Bader blickte mich an, der ich erstaunt ausgesehen haben musste — so, als sei ich soeben Zeuge schwarzer Magie geworden. »Das haben wir schon öfter gesehen, als wir zu zählen vermögen«, erklärte er mir. »Unbewaffnete, die mit Dolch oder Schwert überfallen werden, schützen ihren Körper mit den Händen und empfangen dort die erste Verletzung. Der Schmerz durchflutet ihren Körper, sie reißen die Hände zurück, lassen die Arme sinken …«
»… und empfangen dann schutzlos den zweiten Streich«, vollendete Meister Philippe grimmig.
Dann beugte sich der Inquisitor näher über den Toten und griff zu dem großen Lederbeutel, der an der Kordel seiner Kutte hing. »Seht Ihr, Herr Garmel, Ihr mögt ein guter Bader sein, doch Ihr taugt nicht zum Inquisitor.«
»Wahrlich nicht, Meister Philippe«, erwiderte Garmel und ich hörte Angst in seiner Stimme aufflackern, wie man ein kurzes, rasch verklingendes heiseres Knirschen hört, wenn ein Stein ins Getreide gefallen ist und zwischen den Mühlrädern zermahlen wird. Meister Philippe hielt den Lederbeutel in seiner offenen Hand. »Die Verschnürung oben ist gelöst«, erklärte er mir, »so trägt man einen Beutel nicht an der Kordel. Jemand hat ihn geöffnet.«
»Es ist kein Blut an den Lederriemen zu sehen«, antwortete ich und verstand langsam. »Jemand muss den Beutel geöffnet haben, nachdem Heinrich von Lübeck niedergestreckt worden ist. Denn hätte der Sterbende es noch selbst getan, müsste dort Blut zu finden sein.« Meister Philippe entleerte den Inhalt des Beutels vorsichtig auf ein Tuch, das er aus einer Tasche, die an seiner Kordel hing, herausgezogen und einige Schritte neben dem Toten auf dem Boden ausgebreitet hatte. Es klimperte leise und glitzerte golden, silbern und kupfern, sodass sogar die beiden gelangweilten Sergeanten näher herantraten und Nicolas Garmel einen leisen Pfiff ausstieß: Dutzende Münzen glänzten auf dem Stoff.
Ungerührt strich der Inquisitor mit der Linken durch den Schatz. »Viel französisches Geld, Livres und Sous«, murmelte er. »Doch dazu Nürnberger Taler, Venezianische Dukaten und Soldi aus Florenz sowie ein paar Kölner Pfennige.«
Ich ging neben ihm in die Hocke, beflissen, auch etwas zur Lösung dieses Rätsels beizutragen. Lange besah ich mir das Geld. Irgendetwas kam mir seltsam vor.
»Es handelt sich um unterschiedliche Münzen aus vielen Reichen der Christenheit«, sagte der Inquisitor halblaut. »Man könnte denken, die Börse eines Großkaufmannes vor sich zu haben und nicht die eines Dominikaners. Ich weiß nicht viel über Heinrich von Lübeck - außer, dass er vor einigen Tagen hier ankam, dass er aus dem Norden des Deutschen Reiches stammte und dass er den Doktorgrad des kanonischen Rechtes erlangt hatte. Es scheint, dass er nicht nur ein Mann GOTTES und des Geistes war, sondern, heimlich wiewohl, auch ein Mann des Geldes.«
»Meister Philippe!«, rief ich, da mir endlich aufgefallen war, was mir so ungewöhnlich an dem Fund vorkam. »Seht die Prägestempel der Münzen. Ich möchte meinen, dass alle Münzen alt sind, wenigstens wohl zwanzig oder dreißig Jahre und manche wohl auch hundert. Und keiner Gold- und Silbermünze ist der Rand angeschliffen, kaum eine ist auch nur zerkratzt. Es sieht so aus, als hätten sie sehr lange unberührt gelegen.«
»Ein Schatz«, murmelte Nicolas Garmel andächtig. Er hatte mich gehört, denn ich hatte in meiner Aufregung unwillkürlich die Stimme gehoben.
Meister Philippe warf mir einen tadelnden Blick zu. » Tufidem habes penes temet ipsum habe coram Deo. Du magst Recht haben. Ob es ein Schatz ist, will ich allerdings nicht sagen. Es sieht mir eher aus wie die Rücklage, die ein vorsichtiger und geschickter Kaufmann über Jahre hinweg angesammelt hat. Ich frage mich nur, wie Heinrich von Lübeck an dieses Geld gekommen ist. Und was er damit wohl vorgehabt haben mag.«
»Vielleicht ist er deswegen getötet worden?«, fragte ich, nun wieder mit leiser Stimme.
Meister Philippe strich sich bedächtig über das Haupt. »Möglich wäre es. Jemand hat den Beutel geöffnet - und hat dann vielleicht keine Zeit mehr gehabt, die Münzen zusammenzuraffen. Die Sergeanten haben einen Bürger festgehalten, der etwas gesehen haben mag. Ich denke, dass es jetzt Zeit ist, ihn zu befragen.«
Doch gerade, als wir uns aufrichteten, fiel mein Blick noch einmal zufällig auf die blutverkrustete Hand des Toten. Ich hatte sie mir aus Scheu zunächst nicht genauer angesehen. Doch nun schien es mir, als ob ich neben der im Sterben verkrampften Hand des Toten noch etwas erblicken würde. Etwas auf dem Straßenpflaster. Eine Schrift. »Seht, Meister Philippe!«, rief ich. »Unser Mitbruder hat uns im Sterben noch eine Nachricht hinterlassen. Er hat etwas geschrieben.« Ich sprang neben die Hand des Leichnams, aufgeregt - ja, ich gestehe es beschämt —, freudig wohl, wie es die edlen Jäger zu sein pflegen, wenn sie, den Spieß erhoben, das Wild stellen. Ich glaubte, dass Heinrich von Lübeck den Namen des Frevlers, der ihn niedergestreckt hatte, mit letzter Kraft niedergeschrieben hätte. Caelum et terra transibunt verba autem mea non transient.
Doch meine Worte reichen nicht hin, die Verwunderung zu beschreiben, die mich befiel, als ich die letzten Worte des Toten entziffert hatte. Auf dem Straßenpflaster stand, zittrig, verwischt, blutbesudelt: terra perioeci.
»Land der Periöken«, murmelte Meister Philippe. Sein Gesicht zeigte, zum ersten Mal, seit ich es erblickte (und ich würde es auch nie wieder so sehen) einen Ausdruck grenzenloser Verblüffung, die ihn beinahe zu lähmen schien. Wahrscheinlich, dachte ich mir in diesem Moment ehrfürchtig und schaudernd, war selbst ihm, dem erfahrenen Inquisitor, noch nie ein so großes Rätsel gestellt worden. »Was bedeutet das?«, fragte ich leise und meinte dies in mehr als einem Sinne. Was war dieses geheimnisvolle Land der Periöken? Warum hatte Heinrich von Lübeck in seinen letzten Augenblicken ausgerechnet diese Worte niedergeschrieben? Und wie sollte uns dies zu seinem Mörder führen?
Meine Frage schien Meister Philippe aus seiner verwunderten Starre zu lösen. Er strich sich wieder über das Haupt und, ja, er lächelte. Ein Lächeln, ich ahnte es, vor dem schon unzählige Ketzer gezittert haben mussten. »Ein großes Rätsel, fürwahr«, murmelte er und schien eher erfreut zu sein, denn verzagt. »Doch ist es nicht das höchste Glück eines Inquisitors, Rätsel zu lösen?«
Es war, als sei eine neue Kraft in ihn gedrungen, als er sich aufrichtete. »Komm nun, mein junger Bruder«, rief er. »Es wird Zeit, dass wir endlich unseren Zeugen befragen!«
Wir traten zu den beiden Sergeanten, die sich mit dem Zeugen respektvoll ein paar Schritte weit zurückgezogen hatten. Der dünnere der beiden grinste, als er uns erblickte, dann warf er die Kapuze des Umhangs zurück, welche bis dahin das Gesicht des Gefesselten verhüllt hatte. Erschrocken blieb ich stehen. Es war eine Frau.
»Sie heißt Jacquette«, sagte der feixende Sergeant, »doch jedermann kennt sie hier als ›La Pigeonettes das Täubchen.« Die Frau wagte nicht, uns anzublicken. Sie war jung, fast noch ein Mädchen - sechzehn Jahre alt, schätzte ich, obwohl ich in diesen Dingen wahrhaft keine Erfahrung hatte. Ihr braunes Haar war lang und verfilzt - und doch schien mir, dass es schimmerte wie polierte Bronze. Ihre Nase war klein, ihre Augen standen eng beieinander, ihre Wangen waren beschmutzt vom Straßendreck und von Tränen, die auf der Haut getrocknet waren - und doch hatte ich nie ein Bildnis der Maria gesehen, dessen Züge mir lieblicher schienen. Unter dem groben Umhang trug sie ein dunkelrotes, verwaschenes Wollgewand, ihre Füße waren nackt - und doch wäre mir keine Königin prächtiger gewandet vorgekommen als sie. Verwirrt war ich und wusste nicht, wohin ich meinen Blick wenden sollte.
»Wir haben sie da drüben aufgelesen«, sagte der Sergeant und deutete auf eine düstere, kaum schulterbreite Gasse, die sich zwischen zwei verwahrlosten Fachwerkhäusern fast genau gegenüber des kleinen Portals von Notre-Dame öffnete, vor dem unser verstorbener Mitbruder lag.
»Sie muss dort einige Stunden gelegen haben«, fuhr der Sergeant fort. »La Pigeonette behauptet, dass sie jemand niedergeschlagen habe. Doch vielleicht war sie auch nur betrunken. Wir haben sie jedenfalls festgehalten und«, er zögerte kurz, dann grinste er verschlagen und deutete uns Mönchen gegenüber eine Verbeugung an, »verzeiht, Ihr Brüder, wir haben sie ein wenig rangenommen. Nur ein paar Ohrfeigen, mehr nicht, ich schwöre es beim heiligen Laurentius. Dann hat sie gestanden, dass sie den Mord gesehen hat.«
»Sprich, meine Tochter«, sagte Meister Philippe. Seine Stimme klang nüchtern, mit einer Spur von Mitgefühl. Ich bewunderte ihn, denn ich hätte in diesem Augenblick nichts herausgebracht. Doch Jacquette starrte nur auf den Boden und schwieg. »Ich weiß sehr wohl, dass du eine Schönfrau bist«, fuhr der Inquisitor fort. Er klang noch immer freundlich. »Und du weißt, dass schon der heilige König Ludwig den Dirnen verboten hat, außerhalb der ihnen zugewiesenen Häuser ihrem sündigen Gewerbe nachzugehen. Was hast du hier getan, nachts, in dieser dunklen Gasse?« Das Mädchen blieb noch immer stumm, doch ich sah, wie ein Zittern durch ihren Körper ging, als hätte sich das Straßenpflaster in Eis verwandelt.
»Du hast getan, was Schönfrauen eben tun, doch außerhalb der euch vom Gesetz zugewiesenen Häuser. Das allein ist ein Verbrechen, für das ich dich nach Orleans schicken könnte«, sagte Meister Philippe jetzt streng.
Da brach Jacquette zusammen: Sie warf sich auf den Boden, riss ihre gefesselten Hände so weit hoch, dass sie die Kutte des Inquisitors zu fassen bekam, krallte sich fest und küsste den Stoff. »Gnade, oh Herr, Gnade«, flehte sie.
Erschrocken starrte ich sie an. Dixit autem ad illam remittuntur tibi peccata. Ich wusste damals noch nicht, dass die Sergeanten und die Inquisitoren in Paris Dirnen, die sie aufgriffen, in die Stadt Orleans schickten. Dort gab es Frauenklöster, in denen diese Sünderinnen wieder auf den Weg GOTTES gebracht wurden. Doch waren diese den Frauen, die ihre Seele dem Teufel verkauft hatten, ein größerer Graus als jeder Kerker.
»Mein Vater war ein ehrbarer Mann«, sagte La Pigeonette nun und ihre Stimme klang so leise und demütig, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Arm war er, aber ehrbar. Er war ein Lastenträger an der Place de Greve, wo er die Schiffe belud. Doch eines Tages stürzte er mit einem Sack Weizen von der Laufplanke in die Seine, wo ihn die Fluten verschlangen. Da war ich zwölf Jahre alt. Und ich hatte vier jüngere Geschwister. Und wir waren arm …« Ihre Stimme versagte. Ich war schockiert und gerührt. Doch Meister Philippe verzog keine Miene.
»Das ist eine Geschichte, die ich schon so oft gehört habe, dass ich es ' nicht mehr zählen mag«, sagte er ruhig. »Alle sündigen Frauen erzählen mir von früh verstorbenen Vätern und kleinen Geschwistern, die ohne ihr frevlerisches Tun verhungern müssten. Ich glaube dir diese Geschichte nicht. Erzähl mir lieber eine Geschichte, die ich noch nicht kenne: die von dem, was du gesehen hast.« Jacquette richtete sich auf. Zum ersten Mal blickte sie uns an — und ich, der ich doch, wenn auch erst seit wenigen Stunden, Inquisitor war, wandte meine Augen ab von einer Straßendirne, die mich musterte.
»Gestern, zur elften Stunde der Nacht, ging ich mit einem Mann in diese Gasse«, sagte La Pigeonette. »Einem Kanoniker von Notre-Dame«, setzte sie hinzu und nun klang ihre Stimme nicht mehr demütig, sondern frech. »Wer war es?«, fragte der Inquisitor scharf.
Sie zuckte mit den Achseln. »Seinen Namen hat er mir nicht genannt, nur dass er zur Kirche Notre-Dame gehört. Sein Aussehen habe ich mir nicht gemerkt, denn es war schon dunkel und außerdem will ich mir nicht die Gesichter all der Männer einprägen, die sich meiner bedienen. Nur dass er dick war und kahl und das Gewand eines Priesters trug, das kann ich beschwören.
Er gab mir fünf Sous und ich dachte, ich müsste tun, was er von mir verlangte, eine Sünde — für ihn genauso wie für mich — die man jedoch leichtfertig begeht, wenn das Fleisch schwach ist oder der Magen leer. Doch der Priester hatte anderes im Sinn: Plötzlich zog er eine eiserne Kette aus seinem Gewand, eine Kette, die mit Wolle umwickelt war. Damit drosch er auf mich ein, auf meine Brust und meinen Bauch, wieder und immer wieder. Auch als ich noch am Boden lag. Ich bekam keine Luft mehr von all den Schlägen.
Irgendwann ließ er von mir ab und verschwand. Ich lag in dieser Gasse, vor Schmerzen nicht fähig, mich aufzurichten. Ich weiß nicht, wie lange ich so zubrachte.
Da hörte ich irgendwann, es war finsterste Nacht, Schritte, dann Rufen, dann ein Geräusch, als würde ein Sack Weizen auf die Straße fallen, dann wieder Schritte. Danach war es eine Zeitlang still, dann hörte ich wieder Schritte. Ich hoffte, dass mir jemand helfen würde, also zog ich mich, meinen brennenden Körper vergessend, bis zum Ausgang dieser Gasse, wo ich Notre-Dame erblickte — und davor einen Mann. Oder besser gesagt: zwei Männer.« Sie schwieg. Meister Philippe zeigte keine Regung. Geduldig starrte er die Straßendirne an und wartete darauf, dass sie die Kraft fand, weiterzureden.
»Vor dem Portal lag ein Mensch. Dass es ein Mönch war, haben mir erst die Sergeanten gesagt.« Hierauf warf Meister Philippe den beiden einen strengen Blick zu, schwieg jedoch. »Ich erkannte nur ein dunkles Bündel im fahlen Licht des Mondes. Und darüber beugte sich eine Gestalt…«
»Was tat diese Gestalt?«, fragte der Inquisitor, als Jacquette vergessen zu haben schien, weiterzusprechen.
»Sie hatte sich über den Liegenden gebeugt. Es sah so aus, als zerrte sie an einem Beutel, der irgendwie mit der Gestalt am Boden verbunden war. Jedenfalls bekam sie den Beutel nicht ab. Doch dann sah ich, wie sie ein großes Stück Buch aus dem Beutel zog.«
»Ein Buch?«, fragte Meister Philippe erstaunt.
La Pigeonette nickte. »Ja, so groß wie die Bibeln, welche die Priester in der Heiligen Messe emporheben. Und prachtvoll schien es mir zu sein. Pergament war es, es schimmerte im Mondlicht.«
»Was stand darauf?«, fragte ich, der ich meine Neugier und meine Verwunderung nicht länger bezähmen konnte. Sofort bereute ich meine Frage.
Denn Jacquette warf mir einen verwunderten Blick zu, der sich sogleich in Spott verwandelte. »Ich kann nicht lesen«, entgegnete sie. »Und selbst wenn ich es könnte: Die Entfernung war zu groß, als dass ich irgendetwas hätte erkennen können.«
»Das Buch magst du nicht gelesen haben«, sagte Meister Philippe. »Aber vielleicht kannst du uns wenigstens sagen, wie der Mann ausgesehen hat, der es aus dem Beutel zog?«
La Pigeonette blickte zu Boden. »Ich habe nicht viel gesehen«, murmelte sie. »Er hatte einen Umhang an und war ziemlich groß, glaube ich, vielleicht schien er mir aber auch nur wegen der Düsternis so groß zu sein. In sein Gesicht konnte ich nicht blicken.« Der Inquisitor nickte. »Und was geschah weiter?«, fragte er. »Der Mann muss mich gehört haben, als ich über das Pflaster der Gasse kroch«, sagte Jacquette leise. »Er richtete sich auf und sprang von dem Körper weg. Jetzt hat er mich entdeckt und wird auch mich erschlagend, dachte ich. Und vor Schmerzen und Schreck wurde ich ohnmächtig. Erst die beiden Sergeanten haben mich«, sie zögerte erneut, »geweckt«, vollendete sie schließlich und warf den beiden Männern einen wütenden Blick zu.
»GOTT hat dich beschützt, obwohl du eine Sünderin bist«, sagte Meister Philippe. »Denn der Unbekannte muss geflohen sein, als er dich hörte. So aber wirst du, obwohl die niedrigste der Frauen, doch zum Werkzeug SEINER Rache. Denn immerhin hast du uns auf die erste Spur gebracht. Ich werde dich nicht nach Orleans schicken.« Jacquette fiel wieder auf die Knie und murmelte Dankesworte, doch er hob abwehrend die Hände.
»Aber ich brauche dich vielleicht noch«, sagte Meister Philippe. Plötzlich klang seine Stimme eisig. »Führt sie in den Kerker des Grand Châtelet, bis ich nach ihr schicke«, befahl er den beiden Sergeanten. Jacquette starrte uns einen Augenblick lang zornerfüllt an, dann spuckte sie uns vor die Füße. Ruppig riss der dickere der beiden Sergeanten an ihrem Strick und schleifte sie fort, während sich sein Kamerad beflissen verbeugte. »Sollen wir sie peitschen lassen, Herr?«, fragte er.
Meister Philippe machte eine Geste, als wolle er Fliegen verscheuchen. »Sorge mit Herrn Garmel dafür, dass der Körper unseres Mitbruders mit der Ehre, die ihm gebührt, in unser Kloster gebracht wird. Ich habe nun nachzudenken!«
»Eine Gestalt, verhüllt von einem dunklen Mantel, groß oder vielleicht auch nicht, beugt sich über den toten Mönch und raubt ihm ein Buch, in dem etwas uns Unbekanntes steht«, murmelte Meister Philippe. »Nach dieser Beschreibung könnte fast jeder Mann in Paris der Mörder gewesen sein«, erwiderte ich, ohne große Hoffnung in der Stimme.
Der Inquisitor sah mich an und lächelte dünn. »Ne ergo timueritis eos nihil enim opertum quod non revelabitur et occultum quod non scietur. Du glaubst, dass es ein Mann ist, doch tatsächlich hat die Dirne kaum mehr als eine Gestalt gesehen, verborgen unter einem Gewand. Es kann, selbst wenn es uns wenig wahrscheinlich vorkommen mag, auch eine Frau gewesen sein.«
Ich hob die Hände. »Aber dann kann es ja fast jeder getan haben! Wie sollen wir die Seelen aller zweihunderttausend guten Bürger von Paris prüfen?«
Meister Philippe lachte jetzt. »Der HERR hat uns eine noch kompliziertere Aufgabe gestellt, als du annimmst, mein junger, ehrgeiziger, jedoch leicht zu entmutigender Bruder: Jacquette hat nur gesehen, dass sich die Gestalt über den Toten gebeugt hat. Sie hat nicht gesehen, dass er ihn auch ermordete. Mag sein, dass Heinrich von Lübeck schon gefallen war, als jener Unbekannte sich ihm näherte. Ich glaube außerdem, dass uns das Täubchen nicht alles gezwitschert hat, was es in jener Nacht gesehen hat. Jacquette verschweigt uns etwas, ich spüre es. Deshalb ließ ich sie in den Kerker bringen. Ein oder zwei Tage bei Wasser und Brot reichen nach meiner Erfahrung gemeinhin aus, um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Mag sein, dass sie uns dann noch etwas erzählen kann, das uns weiterhilft.«
»Doch zunächst haben wir nur das hier«, antwortete ich und machte eine vage Geste hin zu der Gestalt, die von zwei hergerufenen Dienern des Nicolas Garmel gerade verhüllt und auf eine Bahre gelegt wurde. Ein dritter löste den Geldbeutel und brachte ihn zu uns. Er überreichte ihn unter vielen Verbeugungen und verschwand schweigend.
Wäre ich ein wenig erfahrener in solchen Dingen gewesen, ich hätte mich gewundert, warum sich um den Toten keine Neugierigen und Gaffer gesammelt hatten, wo doch selbst jeder sterbende Straßenköter auf den Gassen von Paris die Spötter und die Schaulustigen anzieht. Dass die Gegenwart zweier Dominikaner, in denen jeder Inquisitoren vermuten musste, alle Neugierigen vertrieben hatte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. So blickte ich, betrübt, jedoch ungestört, auf den verstorbenen Bruder, dessen sterbliche Hülle nun aus dem Schatten von Notre-Dame fortgetragen wurde. »Was mag terra perioeci bedeuten?«, murmelte ich. »Der Begriff bezieht sich auf ein Volk aus alter Zeit«, antwortete Meister Philippe. »Heiden. Griechen, soweit ich mich erinnern kann. Ich glaube, Aristoteles erwähnt sie wiederholt in seiner ›Ethik‹. Sie mögen auch bei Herodot und anderen der alten Gelehrten erwähnt sein, doch entsinne ich mich nicht mehr des Wortlauts dieser Texte. Ich kenne allerdings kein Land der Christenheit - oder eines jenseits davon —, das so genannt wird.«
»Es muss eine geheimnisvolle Bedeutung haben, sonst hätte Heinrich von Lübeck es nicht mit sterbender Hand niedergeschrieben«, sagte ich.
»Es mag ein Bild sein, das für etwas ganz anderes steht, als die Worte zu beschreiben scheinen. So wie wir manchmal von Avignon sprechen, obwohl wir doch Seine Heiligkeit, den Papst, meinen. Der Ort, an dem unser Oberhaupt thront, wird zum symbolischen Namen für ihn selbst«, antwortete mir der Inquisitor sinnend. »Es mag ein Hinweis sein auf das ferne Land der Griechen, das dem Kaiser von Byzanz Untertan ist. Oder es mag ein Symbol für irgendetwas sein, das aus der heidnischen Zeit auf uns gekommen ist.«
Meine Seele wurde leichter, denn plötzlich schien mir Meister Philippe die dunklen Spuren zu deuten, wie ein großer Doktor der Theologie manch dunkle Stelle der Heiligen Schrift zu deuten versteht und damit den Glauben der Christen leuchten lässt. »Oder es ist ein Hinweis auf einen Mann, der sich mit dem Studium der Alten beschäftigt. Wir sind in Paris: Nirgendwo auf der Welt leben so viele Gelehrte wie hier«, rief ich eifrig.
Der Inquisitor lächelte mitleidig. »Wenn dies so ist, mein junger Freund, dann hat uns der arme Heinrich von Lübeck einen reichlich unklaren Hinweis hinterlassen. Jeder Gelehrte hier, selbst der jüngste Student, wird mindestens einmal den Aristoteles gelesen haben müssen. Er ist fester Bestandteil des
curriculum. Wir hätten mehr Verdächtige, als uns lieb sein kann.«
Er schwieg lange, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, vorerst müssen wir es mit dem seltsamen Begriff auf sich beruhen lassen. Er führt uns momentan nicht weiter. Mag sein, dass wir später eine Spur finden werden, die wieder an die terra perioeci anknüpft. Wir werden jedoch erst einmal einen anderen Weg gehen, den uns unser toter Mitbruder gewiesen hat.
Unsere bisherigen Hinweise tragen die Aufschriften ›Deutschland‹ und ›Kaufmann‹. Denn dass er aus deutschen Landen kam, ist unbestritten, und dass sein Geld«, hier wog er den Lederbeutel bedeutungsvoll in der Hand, »nicht aus einer Truhe unseres Ordens, sondern eher von einem vermögenden Händler stammt, ist zumindest eine nicht unwahrscheinliche Hypothese.«
Ich nickte stumm, da mir auch nichts Besseres einfiel. »Lasst uns doch einmal in die Kirche gehen, Meister Philippe«, bat ich. »Heinrich von Lübeck wurde vor Notre-Dame erstochen. Vielleicht war er zuvor in der Kathedrale und hat dort schon seinen Mörder gesehen. Mag sein, dass wir im Hause GOTTES etwas finden - auch wenn ich nicht einmal weiß, wonach wir suchen müssen.«
Der Inquisitor dachte kurz nach, dann nickte er. »Ich wüsste zwar nicht, was wir entdecken könnten - doch schaden kann es bestimmt nicht, mit offenen Augen durch Notre-Dame zu gehen.«
Wir schritten durch die Porte Rouge und ich blieb stehen, bis sich meine Augen an das Halbdunkel im Kircheninnern gewöhnt hatten. Die letzten Strahlen der Sonne fluteten durch die große Rosette, die zwischen den Türmen prunkte. Gold und rot und blau brach sich ihr Licht und wehte gleich Schleiern aus einer anderen Welt durch das Haus GOTTES.
»Wer könnte es wagen, hier auch nur an eine Sünde zu denken, geschweige denn, sie auszuführen!«, flüsterte ich überwältigt. Der Inquisitor warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Junger Freund«, antwortete er, »die Macht Satans reicht nicht in den Himmel, doch sie reicht bis in die Kirchen. Denn selbst die prächtigste Kathedrale ist letztlich doch nur Menschenwerk.«
Wir schlenderten am Kranz der Kapellen vorbei, die links von der Porte Rouge den Chor umgaben und die vom tief stehenden, farbigen Licht kaum noch liebkost wurden. Sie glichen Höhlen, die von Menschen noch vor der Zeit der Sintflut in den Fels hineingemeißelt wurden.
Als ich diesen Gedanken erwähnte, da lächelte Meister Philippe. »Und doch sind sie keine zwanzig Jahre alt. Die Meister Pierre de Chelles und Jean Ravy haben sie entworfen und gebaut und beide weilen noch unter den Lebenden von Paris. Heilige Orte haben sie geschaffen, mögen sie dermaleinst im Angesicht des HERRN dafür belohnt werden.
Doch kaum war ihr Kranz aus Kapellen vollendet, da fanden sich außen, im Wald der Streben, Pfeiler und kühnen Bögen, in den Winkeln, Erkern und unter den Vorsprüngen Schönfrauen ein, um in diesen Verstecken ihr frevlerisches Tun auszuüben. Ich würde mich nicht wundern, wenn Jacquette, das Täubchen, das nicht einmal seinen Namen lesen kann, den Grundriss dieser Kathedrale besser kennt als so mancher Kanoniker.«
»Zumindest ein Kanoniker dürfte ihr in diesem Wissen gleichkommen«, entgegnete ich unbesonnen, dann senkte ich schnell demütig den Blick. »Verzeiht meine Respektlosigkeit, Meister Philippe.« Doch mein Mitbruder segnete mich, zu meiner nicht geringen Überraschung. »Spott«, antwortete er, »ist eine gute Waffe des Inquisitors. Nur wer die Scheu ablegt, allen Menschen und Dingen ins Gesicht zu sehen, der wird auf den Grund eines jeden Geheimnisses kommen- und Spott hilft uns dabei, den falschen Respekt, der unsere Gedanken zu vernebeln vermag wie Rauch eines nassen Feuers, aus unseren Herzen zu vertreiben. So spotte nicht im Angesicht der Kanoniker über einen der ihren, denn das geziemt sich nicht. Doch mir gegenüber lege dir keine Zügel an. Ich erlaube dir jedes respektlose Wort, ja ich fordere es. Ich habe nur eine Bedingung.« Er lächelte mich an. »Es darf nicht dumm sein.«
Ich nickte dankbar. Wir gingen durch das gewaltige Kirchenschiff, in dem sich nur noch wenige Gläubige aufhielten. »Zu so später Stunde, gestern in der Nacht, hätte Heinrich von Lübeck das Kloster gar nicht mehr verlassen dürfen«, murmelte ich. »Ich habe den Portarius gefragt, gleich nachdem ich von dem Mord erfahren habe«, antwortete der Inquisitor. »Heinrich von Lübeck hat gestern schon bei der Vesper gefehlt. Niemand weiß, wann genau und wie er verschwunden ist. Er muss in nachmittäglicher Stunde unser Haus an der Rue Saint Jacques verlassen haben. Seither scheint ihn kein Mensch mehr gesehen zu haben — zumindest keiner unserer Mitbrüder.«
Wir näherten uns dem gewaltigen Portal in der Westfassade von Notre-Dame — jenem Portal unter der Rosette, durch die das letzte Licht hineinströmte.
»Ich würde gar zu gerne einen der Türme besteigen, um einen Blick auf Paris zu werfen«, sagte ich hoffnungsvoll.
Meister Philippe hob bedauernd die Hände. »Die Glöckner haben die Pforten zu beiden Türmen schon verschlossen«, erklärte er mir. »Doch werden wir an einem der nächsten Tage sicher einmal Zeit finden, den mühseligen Weg nach oben zu gehen. Doch nun lass uns eilen, damit wir wenigstens noch zum letzten Gebet der Vesper im Kloster sind.«
Wir schritten hinaus. So sehr mich das Haus GOTTES beeindruckt hatte, ich hatte nichts entdeckt, das mir irgendeinen Hinweis darauf gegeben hätte, ob — und wenn ja: warum — Heinrich von Lübeck in den letzten Stunden seines Lebens hier gewandelt sein könnte.
Nachdem wir die Seine überquert hatten, fanden wir uns plötzlich bedrängt von einer Menschenmenge. Wir schoben uns durch die Masse schmutziger, schwitzender Leiber, was mir unrein dünkte, denn am liebsten hätte ich niemanden berührt, doch wäre ich dann keinen Schritt vorangekommen. So nahm ich mir denn ein Beispiel an Meister Philippe, der sich unbekümmert seinen Weg bahnte. Die Menschen achteten nicht auf uns, sondern starrten auf einen kleinen Platz vor einer Kirche, fast direkt gegenüber dem Petit Pont, über den wir soeben geschritten waren. Viele schrien oder lachten, ich hörte Hohnworte und Schlimmeres.
Endlich sah ich, was die Menschen so belustigte: Jemand hatte ein Ferkel an einen Pfahl gebunden, der mitten auf dem Platz stand. In einem wilden Reigen torkelten vier Männer um das ängstlich quiekende kleine Schwein. »Sie sind blind«, murmelte ich erschrocken.
Jeder der Blinden schwang einen großen, knotigen Knüppel, mit dem er wie wild durch die Luft drosch. Die meisten Hiebe gingen fehl, doch manchmal sauste einer nieder auf das bedauernswerte Ferkel, dessen Fessel ziemlich lang war. Das Tier hinkte schon und blutete aus der Schnauze, doch noch war es flink genug, um den meisten Schlägen zu entkommen - wenn es auch durch Angst und Schmerz fast ähnlich blind gemacht worden war wie seine Jäger. Die Blinden, in ihrem Eifer, das Schwein zu treffen, versetzten auch einander schwere Hiebe. Es gab keinen unter den Vieren, dem nicht schon Blut vom Haupte floss. Immer dann, wenn einer der Blinden etwas abbekam, jubelte die Menge besonders laut. Nach und nach konnte ich unterscheiden, dass manche in der Menge diesem Blinden, andere jenem zujubelten und ihn anfeuerten. Doch ihr allgemeiner Lärm übertönte die Geräusche des Schweins und die Schritte der Blinden, sodass diese, statt von den Worten unterstützt zu werden, noch orientierungsloser waren.
Meister Philippe packte mich am Ärmel meiner Kutte und zog mich weiter.
»Warum tun sie das?«, fragte ich ihn verstört.
»Das ist ein Spaß für das grobe Volk«, antwortete er düster. »Jemand fesselt ein Schwein und verspricht es dem Blinden, der es erschlägt. Also dreschen diese armen Sünder wild durch die Luft, doch verletzen sie sich eher gegenseitig, als dass sie das Ferkel treffen. Es ist schon so mancher erschlagen worden, bevor das Tier fiel. Die Menschen wetten. Sie setzen ihre sauer verdienten Sous lieber auf einen der Blinden, als sie zu sparen oder mit ihnen fromme Werke zu tun. Am Ende gewinnt immer nur einer: der Mann, der die Wetten organisiert.« Er deutete mit der Kinnspitze auf einen in Atlasseide geckenhaft aufgeputzten Mann, der von zwei finster dreinblickenden Hünen begleitet neben einer Truhe auf- und abging und noch lauter schrie als alle anderen.
»Doch ganz am Ende wirst auch du verlieren«, murmelte Meister Philippe und deutete auf den Gecken. »Du wirst dich dermaleinst vor einem Richter verantworten müssen und dann wirst du wünschen, dass du dein Leben anders zugebracht hättest als mit Blinden und Schweinen.«
»Verumtamen vae vobis divitibus quia habetis consolationem vestram. Vae vobis qui saturati estis quia esurietis. Vae vobis qui ridetis nunc quia lugebitis etflebitis«, murmelte ich.
»Wie wahr«, antwortete Meister Philippe, während er nun rasch ausschritt. »Wo man auch hinblickt, heben Sünde und Verrat ihre schändlichen Häupter. Die Menschen wetten und trinken und liegen bei den Schönfrauen, so schamlos wie wohl niemals zuvor. Gerüchte gehen um vom Feuerregen im Osten und einem großen Sterben im Land der Muselmanen. Als ob uns Christen dies treffen könnte! Doch für die Sünder ist es bloß ein Vorwand, um sich keine Fesseln mehr anlegen zu müssen.
Und wie sollten sie sich auch erhöhen, wenn selbst ihre Herren es ihnen nicht besser vormachen? Der König von Frankreich ist ein Feigling, seine Gattin ob ihrer Grausamkeit dem Volk verhasst. Und Eduard III., der König von England, der auch gerne der Herr Frankreichs wäre? Ein großer, kraftvoller Ritter ist er, fürwahr. Doch sein Vater und der Geliebte seiner Mutter starben keines natürlichen Todes, und nicht nur am englischen Hof munkelt man, dass Eduard dabei seine Hände im Spiel hatte. Und sicher ist, dass er vor sechs Jahren eine Gräfin schändete. Das ist der Mann, der unser neuer Herr werden will: ein Vergewaltiger und vielleicht auch ein Vatermörder! Und vom Heiligen Vater in Avignon, von ihm wollen wir gar nicht erst reden!«
Der Inquisitor hatte sich in Rage geredet und schritt nun so energisch aus, dass ich ihm kaum zu folgen vermochte.
»Kein Menschenalter ist es her«, fuhr er fort, »dass die Pastorellen vor den Mauern Avignons zum Kreuzzug aufgerufen haben: verhetzte Bauern, angeführt von einem entlaufenen Mönch und einem sündigen Priester, die Edle angriffen, Klöster plünderten, Aussätzige töteten und wohl auch manchen Juden erschlugen. Am Ende wartete der Galgen auf sie. Dann kamen die Fraticelli aus Italien zu uns, die gegen die Kirche und die Ehre und die Macht predigten. 1318 ließ der Heilige Vater einige von ihnen in Marseille verbrennen, doch das waren nur Bauern. Wer aber hatte sie verhetzt? Die Franziskaner! Seit einhunderteinunddreißig Jahren steht unser Haus nun in Paris. So lange schon wachen wir, die
DOMINI canes, über die Herde des HERRN. Doch dankt man es uns? Nein, das Volk meidet die Dominikaner, ja die Leute spucken uns hinterher, wenn sie glauben, dass wir es nicht sehen. Doch die Franziskaner, die sie wegen ihrer Kordel, die sie um die Kutten gewunden haben, ›Cordeliers‹ nennen, die lieben sie und pilgern zu deren Kloster am Tor Saint-Germain wie zu einem Reliquienschrein. Und das, obwohl doch manche von ihnen schlimmere Ketzer sind als die Katharer und Fraticellen und Pastorellen und all die anderen zusammen.«
»Der HERR will uns prüfen, doch am Ende werden wir siegen«, sagte ich, da mir nichts Besseres einfiel.
Meister Philippe lächelte dünn, beruhigte sich jedoch langsam wieder. »Dafür lass uns beten, mein junger Bruder. Lass uns beten dafür, dass wir uns nicht mit Sünde beflecken, obwohl wir uns doch mit Sündern einlassen müssen — ja, obwohl wir ihrer Hilfe bedürfen. Denn wen haben wir, um den schändlichen Mord an unserem Mitbruder nicht ungesühnt zu lassen? Zwei Sergeanten, die kaum besser sind als Straßenschläger, die man zufällig in das Wams der Douzaine gesteckt hat. Eine Schönfrau, die einmal in einem tiefen Kreis der Hölle brennen wird. Und den Bader Nicolas Garmel, der in seinem Haus ›Wappen der Lilie‹ nicht nur aromatische Kräuter zu heißem Wasser in die Zuber gibt, sondern der den Männern auch Mädchen wie Jacquette zuführt, wenn sie ihn dafür bezahlen. Es würde mich nicht wundern, wenn er das Täubchen sogar kennt und sich bloß nichts anmerken ließ. Er kann sich geschickt verstellen, das hat er mir schon einmal gezeigt. Doch nicht geschickt genug für einen Inquisitor.«
»Kein Sünder wird mich vom Pfad des Glaubens abbringen«, antwortete ich. Doch noch während ich dies sprach, formte sich in meinem Geist das Bildnis von Jacquette und ich spürte, wie die Röte mein Gesicht erhitzte. Obwohl es bereits dunkel war, schlug ich die Kapuze wieder hoch, um mich in ihrem Schatten zu verbergen. Meister Philippe schien nichts bemerkt zu haben und schritt schweigend weiter aus. Hinter uns marschierten zwei Sergeanten der Nachtwache auf und spannten eine eiserne Kette quer über die Rue Saint-Jacques.
»Paris wird für die Nacht gesperrt. Wir müssen uns eilen«, murmelte Meister Philippe.
*
So gelangten wir denn zu später Stunde zurück ins Kloster, wo uns der Portarius eilends zur Kirche geleitete. Die Brüder hatten sich dort schon längst versammelt, doch hatten sie die Kapuzen hochgeschlagen, sodass ich nur dunkle Schatten sah, wo Gesichter hätten sein müssen.
Es erklang bereits der Lobgesang und mir wurde das Herz weit. Die Stimmen der Mönche klangen zum Gewölbe SEINES Hauses und füllten es mit Freude und Demut und Zuversicht. Auf dem Altar brannten sieben große, weiße Kerzen. Für jede einzelne von ihnen hätte ein Bauer wohl eine Woche schuften müssen, denn sie waren dick und lang wie der Oberschenkel eines Mannes und das helle Wachs und der Docht waren von solcher Qualität, dass die Flamme rot und gelb züngelte, doch kein Ruß die nach Weihrauch duftende Luft beschmutzte.
Der Lobgesang und das warme Licht, das vom Altar her die Kirche durchflutete und selbst alte Steine milde glänzen ließ, machten mir mein Herz leicht. Für den Moment vergaß ich gar den Toten vor Notre-Dame und stimmte in den Hymnus ein. Danach las ein junger Bruder einen Vers aus dem Matthäus-Evangelium. Schließlich erhob sich der Prior und sprach das Bittgebet. »PATER noster«, murmelten alle Brüder, dann ließen wir uns den Segen von Bruder Carbonnet geben. Schweigend verließen die Mönche die Kirche.
Ich schloss mich ihnen an, ein Schatten unter vielen. Stumm gingen wir, die Hände gefaltet und unter unseren Kutten verborgen, in Zweierreihen den Kreuzgang entlang. Neben mir schritt Meister Philippe, den Kopf gesenkt und offenbar tief in Gedanken versunken oder vielleicht auch in ein Gebet. Zwei Ölleuchten erhellten das Gewölbe des Kreuzganges. Obwohl wir leise schritten, hallten die Ledersandalen auf dem glatten Steinboden, und es klang, als bewege sich ein tausendfüßiges Tier langsam durch das Kloster.
So gelangten wir ins Refektorium. Der Speisesaal war weiß gekalkt und wurde von einigen Fackeln erhellt. Ein großer Tisch aus polierten Eichenbalken nahm fast die gesamte Länge des Raumes ein, an seinen beiden Seiten stand je eine große Bank. Etwas abseits des großen Tisches, an der Stirnseite des Refektoriums und auf einer Empore leicht erhöht, erhob sich ein kleinerer, feiner gearbeiteter Tisch, der von hochlehnigen Stühlen umgeben war. Hier nahmen der Prior, der Dekan und der Probst, der Bibliothekar sowie Meister Philippe Platz. Danach setzten wir gewöhnlichen Mönche uns auf die Bänke. Ich fand mich am rechten Ende der Tafel wieder, mein Nachbar war ein hünenhafter Mitbruder unbestimmbaren Alters, denn sein Gesicht war von Pockennarben so entstellt, dass man es kaum anzusehen wagte. Er nickte mir zu, doch sprach er, wie alle, während der Mahlzeit kein Wort.
Ein junger Mitbruder - derselbe, den ich eben in der Kirche aus den Evangelien hatte vorlesen sehen - trat an ein Pult, das an der linken Längsseite des Raumes aufgestellt war, und las während des Essens aus dem Neuen Testament. Es war der erste Brief des Paulus an die Korinther - eine Mahnung an die Gemeinde, stark und diszipliniert im Glauben zu sein. Ich war mir sicher, dass der Prior diese Stelle ausgesucht hatte — aus nahe liegenden Gründen. Denn was mochte es zwischen den Brüdern an Geflüster und Gemunkel gegeben haben, seitdem bekannt geworden war, dass ein Dominikaner sein Ende vor Notre-Dame gefunden hatte?
Ich brach ein Stück vom Brot ab, das weiß war, weich und so frisch, dass es noch warm war, und aß es mit etwas Butter. Dazu wurden Zwiebeln und gekochte Eier gereicht und es gab Wasser, gut gekühlt aus irdenen Krügen. Später reichte uns ein Diener - ein Laie, der zum Kloster gehörte und, wie ich seinem Gesichtsausdruck entnehmen musste, nicht der hellste Bürger der Stadt Paris zu sein schien - Honig und gedörrte Pflaumen.
Das Essen war gut und doch musste ich mich zwingen, es hinunterzuschlucken. Denn nun, im Schweigen der Mitbrüder, das von der monotonen Lesung aus dem Korintherbrief eher verstärkt als gemildert wurde, fand mein Geist nicht länger Ablenkung. Meine Gedanken gingen zurück zu Heinrich von Lübeck. Und allein die Erinnerung an seinen blutigen Körper nahm mir den Appetit. Am Ende der Mahlzeit ließ mich der Prior an seinen Tisch rufen. Demütig stand ich auf und schritt nach vorne. Ich spürte die Blicke der Mitbrüder, die meinen Gang verfolgten. Es schien mir ein langer Weg zu sein, bis ich endlich vor dem erhöhten Tisch stand und mich verneigte.
»Ich erteile dir einen Dispens von der stabilitas loci«, verkündete mir Bruder Carbonnet. »Du magst - allerdings nur auf Anordnung von Meister Philippe, dem du zu dienen hast - das Kloster zu jeder beliebigen Zeit verlassen und so lange außerhalb unserer Mauern bleiben, wie es notwendig ist. Du magst den Gebeten und sogar der Messe fernbleiben, wenn es denn dem Inquisitor hilft. Du magst in einer eigenen Zelle schlafen, damit du keinen Mitbruder störst — und damit keine neugierigen Blicke und keine neugierigen Ohren etwas von deinem Tun auffangen mögen. Dies alles gilt so lange, bis ihr den Frevler gefunden habt, der unseren geliebten Bruder Heinrich von Lübeck gemeuchelt hat.«
Der Prior hatte so laut gesprochen, dass seine Stimme im ganzen Refektorium gut zu vernehmen gewesen war.
»Ehrwürdiger Vater, ich danke dir«, antwortete ich und bemühte mich, meiner Stimme einen ähnlich festen Klang zu geben, allerdings vergebens.
*
So fand ich mich denn bald darauf allein in einer Zelle, die so schmal war, dass ich mit ausgestreckten Armen beide Seitenwände zugleich berühren konnte. Durch ein winziges, vergittertes Fenster schien das fahle Mondlicht herein. Eine Pritsche stand in dem Raum, daneben erhob sich eine Truhe, die zugleich als Sitz, Tisch und Altar dienen mochte. Ein schlichtes Kreuz aus zwei mit Lederriemen verbundenen Stöcken war der einzige Schmuck der dunklen, unverputzten Steinwände.
Ich warf mich auf die Pritsche, stolz und unzufrieden zugleich. Stolz, weil ich vom Prior so hervorgehoben worden war und weiterhin an der Suche nach dem Sünder teilhaben durfte. Offensichtlich hatte Meister Philippe mit Bruder Carbonnet über mich gesprochen und mein Tun für immerhin bedeutungsvoll genug gehalten, dass er mir weitere Hilfe zugetraut hatte.
Unzufrieden war ich allerdings auch, denn nun war ich kein Bruder unter Brüdern mehr. Ich schlief nicht im Dormitorium mit den anderen, ja, hatte kaum ein Wort mit einem der Mönche wechseln können. Und ich studierte nicht die heiligen Schriften — weswegen ich doch eigentlich nach Paris entsandt worden war. Das alles musste nun warten. Mir wurde klar, dass ich erst ein Student der Theologie werden würde, wenn wir den Mörder Heinrich von Lübecks seiner gerechten Strafe zugeführt hätten.
So dachte ich wieder an den Toten und der Schlaf wollte nicht kommen, obwohl ich erschöpft war. In meinem Geiste glitzerte wieder das Geld golden und silbern: Münzen aus vielen Ländern der Christenheit, alt und doch kaum je berührt. Wo mochten sie herstammen? Wie war Heinrich von Lübeck an sie gelangt? Hatte er sie schon aus seiner Heimat mitgebracht? Oder hatte er sie in Paris gefunden? Waren sie ihm hier gegeben worden? Oder, mich schauderte, hatte er sie gar hier oder irgendwo sonst gestohlen? War er vielleicht deshalb niedergestreckt worden? Aus Rache?
Dann schweiften meine Gedanken ab zu den letzten beiden Worten des Sterbenden: terra perioeci. War dies ein Land? Doch welches? Hatte es etwas mit dem Geld zu tun? Und wenn es kein Land war - was sonst mochte sich dahinter verbergen?
Unruhig warf ich mich auf meiner Pritsche hin und her - jetzt doch froh darum, dass ich nicht im Dormitorium neben den Mitbrüdern liegen musste. So sehr sich mein Geist auch anstrengte, so liefen meine Gedanken doch stets im Kreise und kamen dort wieder an, wo sie ihren Ausgang genommen hatten - bis meine Gedanken schließlich eine andere Wendung nahmen. Eine, vor der ich mich fürchtete, ja, die ich abzuwehren mich zwingen wollte. Vergebens. Ich dachte an Jacquette.
Müssen denn Frauen immer zur Sünde führen?, sprach eine Stimme in mir. Hat nicht Maria den HERRN geboren? Sah nicht Maria Magdalena als Erste unter den Sterblichen das leere Grab vor den Toren Jerusalems? Und haben nicht unzählige gelehrte Doctores, haben nicht Kirchenväter und Heilige gar unsere Kirche als mater ecclesia gerühmt? Sollte, ja musste dann nicht ein Mann, selbst ein Mönch, milde sein, wenn er an Frauen dachte?
Doch meine Selbsttäuschung hielt nicht lange. Ich dachte an Jacquette, doch meine Gedanken an das Täubchen waren nicht die eines Heiligen. Ihr Gesicht sah ich vor meinem inneren Auge, ihre Haare, ihre Augen, ihren Mund, ihre Brust — ich fuhr von meiner Pritsche auf und heiße Scham glühte in mir.
So verbrachte ich schließlich die erste Nacht in Paris - dem Ort meiner Sehnsucht — nicht auf der harten Pritsche meines Klosters, sondern ausgestreckt auf dem kalten Boden vor dem Altar der Kirche. Hierhin hatte ich mich geschlichen, hatte mich niedergeworfen und gedemütigt vor IHM und IHN angefleht, mir Stärke zu geben. Doch GOTT der HERR beschloss in jener Nacht in SEINER unergründlichen Weisheit, meine Gebete nicht zu erhören, sondern mich zu verdammen.