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Ich erhob mich, als ich den ersten Bruder zur Kirche schleichen hörte. Es war ein älterer Mann, der Nachtwache hatte und nun die Kerzen anzündete vor den Laudes. Der Tag von Sankt Markulf brach an, der Maientag, der Tag der Freude und des Lichts. Doch meine Gelenke schmerzten, meine Knochen waren kalt, meine Seele verfroren - ich fühlte mich kaum lebendiger als der Tote von Notre-Dame. Mühsam schleppte ich mich in das Dunkel zwischen zwei Pfeilern, damit mich der Bruder, der zu meinem Glück schläfrig war und noch vor Müdigkeit wankte, nicht erblickte. Als die anderen Mönche in einer langen Zweierreihe eintraten, schloss ich mich dem letzten Bruder unauffällig an.
»Gloria« schollen unsere Stimmen zum Himmel, doch meine Seele mochte nicht folgen; zu sündig fühlte ich mich, beschmutzt und unwürdig, in diesem heiligen Hause zu sein.
»HERR, DU GOTT der Vergeltung, DU GOTT der Vergeltung, erscheine!«, so lasen wir den 94. Psalm: »Erhebe DICH, DU Richter der Welt; vergilt den Hofifärtigen, was sie verdienen!« Ich schämte mich, denn ich fühlte, wie ER in jenem Augenblick bis ins Innerste meiner Seele blickte. Doch verzweifelt rezitierte ich weiter, auch wenn mir heiße Tränen über die Wangen rannen. »HERR, sie zerschlagen DEIN Volk und plagen DEIN Erbe. Witwen und Fremdlinge bringen sie um und töten die Waisen und sagen: Der HERR sieht's nicht, und der GOTT Jakobs beachtet's nicht.«
Erst in den letzten Zeilen fasste ich wieder Mut. Ja, ER verzeihe mir, in meiner Vermessenheit meinte ich, dass sie allein für mich geschrieben worden waren. Mit neuer Kraft las ich vor, so laut, dass sich mancher Mitbruder verstohlen zu mir umblickte. »Wenn der HERR mir nicht hülfe, läge ich bald am Orte des Schweigens. Wenn ich sprach: Mein Fuß ist gestrauchelt, so hielt mich, HERR, DEINE Gnade. Ich hatte viel Kummer in meinem Herzen, aber DEINE Tröstungen erquickten meine Seele. DU hast ja nicht Gemeinschaft mit dem Richterstuhl der Bösen, die das Gesetz missbrauchen und Unheil schaffen. Sie rotten sich zusammen wider den Gerechten und verurteilen unschuldig Blut. Aber der HERR ist mein Schutz, mein GOTT ist der Hort meiner Zuversicht. Und ER wird ihnen ihr Unrecht vergelten und sie um ihrer Bosheit willen vertilgen; der HERR, unser GOTT, wird sie vertilgen.«
»GOTT wird die Bösen sicher vertilgen, so wie es geschrieben steht«, murmelte ein verhüllter Bruder, der neben mir schritt, als wir kurz darauf zusammen die Kirche verließen. »Aber SEINE Diener müssen ausgeschlafen sein, um IHM dabei zu helfen. Der kalte Boden vor dem Altar ist ein Platz, um zu IHM zu beten, aber nicht, um im Kampf gegen das Böse die Kräfte zu sammeln.« Der Mönch deutete ein Nicken an, dann ging er durch den Kreuzgang lautlos davon. Ich blickte Philippe de Touloubre nach und fragte mich, ob es auf dieser Welt auch nur ein Geheimnis geben mochte, das dem Inquisitor verborgen bleiben würde.
*
Am Morgen dieses Tages nahm mich Philippe de Touloubre beiseite. Es war die Stunde nach dem Mahl, es war noch dunkel draußen und still und friedlich. Wir schritten mit verhüllten Häuptern den Kreuzgang entlang. Der Inquisitor murmelte im Gehen — so leise, dass ich ihn kaum vernehmen konnte.
»Klostermauern haben Ohren«, erklärte er mir und deutete ein Lächeln an, als er bemerkte, dass ich meinen Kopf zur Seite neigen musste, um ihn verstehen zu können. »Ich möchte nicht, dass im Dormitorium über unsere Nachforschungen noch heftiger geflüstert wird, als es die geschätzten Mitbrüder sowieso schon tun.«
Dann erklärte mir der Inquisitor, er habe nach den Vigilien den Portarius noch einmal »brüderlich befragt« und tatsächlich dazu gebracht, sein Schweigegelübde aufzugeben. Ich konnte mir inzwischen lebhaft vorstellen, wie dies wohl ausgesehen haben mochte: Philippe de Touloubre, scheinbar ausgeruht und frisch wie nach langem Schlaf, hörte in finsterster Nacht einen verängstigten und übermüdeten Mitbruder aus.
»Der Portarius gab schließlich — gebührend zerknirscht, selbstverständlich — zu, dass ihm Heinrich von Lübeck einen Schlauch Burgunderwein gegeben habe. Dafür sollte der Portarius ihn, wann immer es unserem nun leider verstorbenen Mitbruder beliebte, ohne große Fragen aus dem Kloster lassen. Unser Torwächter, neugierig wie jeder gute Mönch, behauptet, dass er weiß, wohin Heinrich von Lübeck gegangen ist: zu einem deutschen Händler, der in Paris weilt. Angeblich sollen sie sich aus ihrer Heimat kennen.«
»Seinen Namen wusste der Portarius aber nicht?«, fragte ich. Philippe de Touloubre schüttelte den Kopf, was ich unter der Kapuze kaum erkennen konnte. »Nein«, antwortete er. »Es liegt an uns, den Namen herauszufinden — und dem Kaufmann dann einen Besuch abzustatten. Wir wollen uns nun eilen.«
»Wohin gehen wir?«, fragte ich ratlos.
»Zum Prévôt royal«, antwortete der Inquisitor. »Ihm unterstehen alle Wachen der Stadt. Vielleicht wird er es wissen. Ganz sicher wird er unseren Besuch erwarten, denn er weiß, dass wir den Tod des Mönches untersuchen. Eigentlich wäre es seine Aufgabe, den Mörder zu finden, denn die Tat fand ja auf städtischem Boden statt.«
»Hätten wir ihn dann nicht sofort aufsuchen sollen?«, erdreistete ich mich zu fragen.
Philippe de Touloubre lächelte. »Wir wollen ihm zeigen, wie wichtig wir ihn nehmen«, erwiderte er.
*
Als wir das Kloster verließen, sah ich mich überrascht um. Allerorten, so schien mir, waren die Häuser geschmückt: Eichen-, Buchen- und Birkenzweige waren mehr oder weniger kunstvoll um viele Hauseingänge gewunden.
Philippe de Touloubre bemerkte meinen Blick und lächelte nachsichtig. »Es ist Maientag«, sagte er. »Ein Tag, der dir und mir nichts bedeutet, wohl aber vielen Jünglingen in Paris. Sie sind des Nachts in den Bois de Boulogne und andere Wälder gezogen, um frisches Grün zu schneiden für ihre Angebeteten. Dies winden sie dann zum Zeichen ihrer Zuneigung um die Hauseingänge ihrer Liebsten. Dieser Brauch, befürchte ich, mag auf heidnische Zeiten zurückgehen. Und ich befürchte noch viel mehr, nämlich dass mancher Jüngling seiner Angebeteten, aber noch nicht Angetrauten, nicht nur in keuscher Liebe zugetan ist. Nur zu oft wird das frische Grün weniger Zeichen reiner Liebe sein als Symbol des Triumphes der Sünde, denn die Wollust war zu Gast in den geschmückten Häusern. Doch der Kampf gegen diese Sünde muss Sache unserer Brüder sein, die an Sonntagen predigen und mit der Hölle und ihren Qualen drohen. Wir Inquisitoren müssen uns finstereren, doch glücklicherweise auch weniger häufig vorkommenden Sünden stellen.«
Philippe de Touloubre hatte, wie immer, Recht. Doch als wir die Straßen Richtung Seine hinunterschritten, warf ich immer wieder verstohlene Blicke auf die Zweige. Ich konnte nicht anders: Ich versuchte, mir auszumalen, was wohl in der vorangegangenen Nacht hinter den geschmückten Mauern vorgegangen sein mochte. Unweigerlich kam mir ein Bild in den Kopf, ein Bild von einer jungen Straßendirne, die in Furcht war vor der Inquisition. Oh, wie sündigte ich im Geiste! Wir überquerten die Seine und die Cite, bis wir am jenseitigen Ufer angelangt waren. Dort wandten wir uns nach links und gingen die Rue Saint-Honore entlang, wo sich zu dieser frühen Stunde schon die Fuhrwerke der Händler drängten und die Karren der Bauern, auf denen die Landleute Rüben und Feuerholz zu den Märkten brachten. Vor allem aber duftete die Rue Saint-Honore wie keine andere Straße von Paris - denn in den Häusern zu beiden Seiten der Straße standen, dicht gedrängt wie Landsknechte vor einer Schlacht, die Backstuben der Stadt. Mochte es anderswo nach Kot, Kohlstrünken und wilden Schweinen stinken, so waren hier die üblichen Miasmen der Stadt überlagert von einem betäubenden Duft nach weißem Brot und Blätterteig, nach Pastetenrollen, mürbem Gebäck und Torten.
Mein Bauch, der vor jenen Tagen in Paris bloß das dunkle Klosterbrot kannte, zog sich zusammen, mein Mund wurde mir wässrig - und nach der ersten Todsünde, der Wollust im Geiste, beging ich an jenem Morgen schon die zweite: die der Völlerei im Geiste. Mit knurrendem Magen und beschämt gesenktem Blick schritt ich hinter Philippe de Touloubre einher, vorbei an den Backstuben, wo Diener, Mägde und Bürgersfrauen aus und ein gingen, runde Brote unter den Armen, die in der frischen Morgenluft noch dampften. Manchmal konnte ich durch die geöffneten Verschläge einen raschen Blick erhaschen auf Backöfen, in denen Holzkohlen glühten, und auf hölzerne Regale, auf denen kleine, tellerförmige Kuchen zu kunstvollen Türmen aufgebaut waren.
Endlich, es kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor, obgleich wir nur ein paar Dutzend Schritte gegangen waren, verflüchtigte sich der verführerische Duft und ich roch wieder den Gestank und die Pestilenz von Paris, was mich an die Endlichkeit unseres Daseins und den Schmutz unserer Sünden erinnerte.
Wir standen vor einem wuchtigen Bau — halb Patrizierhaus, halb Burg— mit schmalen, hohen Fenstern und einer großen Tür in der Front, deren mächtige, eisenbeschlagene Flügel weit geöffnet waren. Davor allerdings standen zwei Sergeanten de la Douzaine und hatten die Hellebarden gekreuzt.
Als sie uns erblickten, hoben sie ihre Waffen, grüßten respektvoll und ließen uns ohne weitere Fragen passieren. Wir gelangten auf einen engen, düsteren Innenhof.
»Wo sind wir?«, fragte ich. Mir schien dieser Ort bedrückend zu sein, finster, bedrohlich.
»Im Grand Châtelet«, antwortete der Inquisitor knapp und schritt zu einer steinernen Treppe, die auf eine Galerie im ersten Obergeschoss führte.
Ich musste in diesem Moment an unseren Herrn Jesus Christus denken, wie er vor Pontius Pilatus geführt wurde. So düster, glaubte ich, musste der Palast ausgesehen haben, in dem der Prokurator über den Messias zu Gericht gesessen und später seine Hände in Unschuld gewaschen hatte. Et Pilatus adiudicavit fieri petitionem eorum dimisit autem Ulis eum qui propter homicidium et seditionem missus fuerat in carcerem quem petebant Iesum vero tradidit voluntati eorum. Mich schauderte.
Philippe de Touloubre führte mich, vorbei an weiteren Wachen, in einen großen Saal, der in ein helles, jedoch seltsames Licht getaucht war, denn die Sonne flutete durch große Fenster mit unterschiedlich dunklem, gelbem Glas. Ein großer Mann in scharlachroter Tracht stand an einem Schreibpult. Er blickte auf, als er unsere Schritte vernahm, und starrte uns finster an.
»Ihr kommt ein wenig spät, verehrte Brüder«, knurrte Ambroise de Lore. Er strich sich mit der Rechten durch seinen gestutzten Bart; an zwei Fingern funkelten goldene Ringe, mit Rubinen besetzt, die wie erstarrte Blutstropfen aussahen.
»Ich wollte nicht mit leeren Händen kommen, Durchlaucht«, antwortete Philippe de Touloubre und verneigte sich leicht. Dann führte er in knappen Worten aus, was wir am Körper des Toten gefunden und welche Schlussfolgerungen wir daraus gezogen hatten. Meinen Namen erwähnte er nicht — wohl aber den des Baders Nicolas Garmel —, ja, er stellte mich nicht einmal vor. Auch der Prévôt royal beachtete mich nicht. Es war, als wäre ich ein Geist, durch den beide hindurchsähen. Ich war klug genug, mich nicht zu rühren und mein Gesicht im Dunkel der Kapuze zu verbergen. Der Inquisitor mochte seine Gründe haben, meinen Namen aus diesen Ermittlungen herauszuhalten.
Zuletzt erwähnte Philippe de Touloubre, dass die beiden Sergeanten die Dirne verhaftet hatten, und bat darum, dass man ein aufmerksames Auge auf sie habe, sie jedoch nicht der peinlichen Befragung unterziehe. Der Inquisitor befürchtete wohl, dass Jacquette, sollte sie von den Sergeanten gefoltert werden, sterben würde, noch ehe sie uns gegenüber ihre Seele hätte retten können, indem sie uns endlich alles sagte, was sie wusste.
Ambroise de Lore nickte widerwillig. »Meine Männer haben eigentlich Besseres zu tun, als auf Freudenmädchen aufzupassen«, brummte er. »Seltsame Gerüchte gehen um in der Stadt. Mehr als das übliche Geschwätz der selbst ernannten Wanderprediger und Marktweiber über die Sünden dieser Welt und die drohende Eroberung unserer Stadt durch die Burgundischen oder Englischen. Irgendetwas braut sich zusammen in Paris, ich kann es spüren.«
Der Inquisitor nickte. »Mag sein, dass dieser schreckliche Mord etwas damit zu tun hat. Wir werden die Augen offenhalten und Euch unterrichten, sobald wir etwas Verdächtiges vernehmen.« Der Prévôt nickte und entließ uns, nachdem er Philippe de Touloubre um seinen Segen gebeten hatte, den dieser auch gnädig gewährte.
*
»Meister, glaubt Ihr wahrhaftig, dass Heinrich von Lübecks Ermordung etwas mit den Gerüchten vom Feuerregen und den anderen wirren Geschichten zu tun hat?«, fragte ich, als wir das Grand Châtelet wieder verlassen hatten und ich freier zu atmen wagte. »GOTTES Wege sind vollkommen, so heißt es im Psalter. Doch wir Menschen sind nicht dazu geschaffen, sie in all ihren Windungen und Verästelungen zu erkennen. Wir schreiten sie nur ab, blind für das, was mehr als ein paar Handbreit vor uns liegt. Was wissen wir also schon?«, antwortete Philippe de Touloubre.
»Ich weiß, dass seine Durchlaucht, der Prévôt royal Ambroise de Lore ein prunksüchtiger Mann ist«, fuhr der Inquisitor dann fort. »Ich weiß, dass er die Schönfrauen liebt und seine Sergeanten deshalb nicht gerade mit der Peitsche antreiben wird, eine dieser sündigen Frauen streng zu bewachen. Ich weiß, dass er wenig weiß und wenig wissen will. Doch in einem gebe ich dem Prévôt, der seine Sorgen hinter seinem rauen Auftreten nur unzulänglich verbergen kann, Recht: Irgendetwas geht vor in dieser Stadt.«
Philippe de Touloubre führte mich ein Stück die Straße zurück, Richtung Place de Greve. »Wir werden nun dem Vorsteher der Flussschiffergilde einen Besuch abstatten«, erklärte er mir im Gehen. »Sie ist die mächtigste Gilde der Stadt. Wenn jemand weiß, wer jener Kaufmann aus deutschen Landen sein mag, den Heinrich von Lübeck kurz vor seinem Tod getroffen hat, dann der Gildenmeister.« Als wir auf der Place de Greve standen, mussten wir uns den Weg durch eine Menschenmenge bahnen. Ich begriff zunächst nicht, was dies zu bedeuten hatte - ja, ich gestehe, dass ich ängstlich war, vielleicht einen jener Aufrührer mit ihren gefährlichen Reden zu erleben, von denen der Inquisitor und der Prévôt royal gesprochen hatten. Doch dann erblickte ich einen Galgen, der aus ein paar rohen Balken schief und schlecht zusammengezimmert worden war. Zwei Henkersknechte zerrten einen jungen, abgerissenen Burschen zur Richtstatt. Die Leute pfiffen und riefen ihm Schmähworte und Verwünschungen zu; zwei oder drei schleuderten sogar Kohlstrünke und Kot, ein Stein traf den Jungen am Kopf. Er taumelte benommen, Blut floss über seine Stirn und die Menge grölte.
Wir erfuhren von Schaulustigen, dass der Verurteilte am Tage zuvor auf einem der an den Kais vertäuten Seineschiffen aufgespürt worden war, wie er gerade die Wämser der Matrosen in deren Verschlag durchwühlte.
»Zehn Sous hat man in seiner Tasche gefunden!«, rief uns ein älterer Mann erregt zu, und eine Frau, vielleicht seine Gattin, kreischte: »Seit Tagen verschwinden hier Geldstücke, Kupfernägel und andere Sachen. Das war dieser Kerl, nur kann es ihm niemand mehr beweisen.« Dann erst schien sie unseren Mönchshabit zu bemerken. Die alte Vettel bekreuzigte sich, deutete eine Verbeugung an und murmelte: »Doch GOTT in SEINER Gnade hat uns Gerechtigkeit widerfahren lassen.«
» Vae autem vobis scribae et Pharisaei hypocritae«, antwortete Philippe de Touloubre würdevoll. Die alte Frau, die kein Latein verstand und deshalb nicht wusste, dass der Spruch auf sie gemünzt war, schlug ein zweites Mal das Kreuz über ihrer Brust.
Wir blieben stehen, um den Dieb sterben zu sehen. Die Henkersknechte hatten nun weniger Mühe mit ihm, da ihn der Stein offenbar betäubt hatte. Taumelnd ließ er sich die letzten Schritte zum Galgen zerren, wo er auf eine Kiste steigen musste. Dort legte ihm der in Scharlach gekleidete Henker die Schlinge um den Hals. Dann trat er die Kiste weg.
Der Bursche fiel ein Stück nach unten, die Menge schrie erwartungsvoll auf - doch der Henker hatte das Seil zu lang bemessen. Der Verurteilte traf auf den Boden auf, wo er, halb ohnmächtig vor Schreck und Schmerz, auf dem schmutzigen Pflaster zusammensank.
Die Frauen und Männer verhöhnten den Henker, der sich nun ebenfalls vor Schmutz und Steinen ducken musste, die auf ihn niedersausten. Eilig rissen die Henkersknechte den Bursche wieder hoch, während ihr Meister das Seil mit drei großen Knoten verkürzte. Dann stießen sie den Unglücklichen ein zweites Mal ins Nichts. Wieder stürzte der Dieb nach unten — und diesmal zitterten seine Füße, nur eine Handbreit über dem Pflaster, in der Luft. Doch der Schwung hatte nicht ausgereicht, ihm das Genick zu brechen. So hing er nun in der Schlinge, das Gesicht zuerst blass, dann rot, dann blau, und würgte und spuckte. Einige Zuschauer verhöhnten den Henker erneut, da sie ihn für einen Stümper befanden. Andere hingegen lobten seine Kunstfertigkeit, dem Sünder den Übergang in GOTTES Reich nicht gar zu leicht und schmerzlos zu machen. So hing der Bursche wohl so lange am Galgen, wie es dauert, einen Psalm zu singen, und konnte nicht sterben. Urin und Kot troffen ihm aus den Hosenbeinen, rannen an seinen zuckenden Füßen herab, und sammelten sich unter ihm auf dem Pflaster. Erst nach einer kleinen Ewigkeit wurden seine Bewegungen schwächer, seine Augenlider flatterten, dann verdrehte er seine Pupillen zur Todesfratze. Endlich baumelte er im Wind, ruhig und erlöst.
»Wir wollen uns nun eilen«, sagte der Inquisitor und schlug das Kreuz.
Wir drängten uns vorwärts. Zu unserer Rechten öffnete sich der Platz zu den Kais der Seine, doch wir wandten uns nach links, wo eine Reihe mächtiger Gebäude stand, welche die Place de Greve flankierten. Aus dieser Reihe stach ein Haus hervor wie ein König aus dem Kreis seiner Ritter: das Maison aux Piliers. Es trug seinen Namen zu Recht, denn wahrhaftig schmückten Säulen die Fassade, stützten Gesimse und Balkons, hoben sie fast so hoch wie die Pfeiler, die in unseren größten Kirchen gen Himmel streben. Wahrhaftig, den Ratsherren gebrach es nicht an Selbstbewusstsein, dass sie sich ein Haus bauten, das mit dem GOTTES wetteifern konnte. Hier wurde nicht SEIN Name verherrlicht, sondern hier wurde dem Geld und dem Geschäft gehuldigt. Nicht in Gebet und Hymnus erging sich hier die Andacht, sondern in Verhandlung und Niederschrift: Allenthalben erblickten wir, nachdem wir eingetreten waren, Händler, welche sich in den Hallen des Maison aux Piliers versammelt hatten und leise miteinander feilschten. Schreiber trugen Pergamente hin und her, standen an Pulten und füllten lange Listen aus. Es wurde getuschelt, gefordert, gefleht: ein leises, tausendstimmiges Gesumm des Geldes und der Nichtigkeit. Hatte nicht Christus selbst solch weltliches Treiben verdammt?
Et intravit Iesus in templum Dei et eiciebat omnes vendentes et ementes in templo et mensas nummulariorum et cathedras vendentium columbas evertit. Doch hier studierte man lieber Depeschen und Anweisungen als die Heilige Schrift. Kaum jemand hatte sein Tun unterbrochen, um der Hinrichtung draußen vor dem prachtvollen Portal dieses Hauses zuzusehen. Doch als wir eintraten, die große Freitreppe ins erste Obergeschoss emporschritten und zum Raum des Gildenmeisters gingen, da folgte uns so mancher erstaunte und wohl auch ängstliche Blick. Und Recht hatten diese Sünder: Wie viele Ewigkeiten Hölle mochten sie hier täglich ansammeln mit ihren goldenen und silbernen Münzen, die sie in prall gefüllten Lederbeuteln herumtrugen! Über der Tür, die zu den Gemächern des Gildenmeisters führte, prangte ein Gesims, welches, in Marmor gefasst und farbig bemalt, das Wappen der Gilde trug und ihren Spruch:
Fluctuat nec mergitur. Ein Diener öffnete uns - und vor uns stand der Prévôt des marchands de l'eau, einer der mächtigsten Männer von Paris. Andre d'Epernon war wohl fünfzig Jahre alt. Sein Haupt war kahl, auf seiner Nase erhob sich ein Sehglas aus Venedig, doch hinter dessen geschliffenen Gläsern funkelten dunkle, gescheite Augen. Seinen schmächtigen Körper hatte d'Epernon in dunkles Brokat gehüllt, was ihm, trotz seines niederen Wuchses, eine gewisse Gravität verlieh. Vor seiner Brust blitzte die goldene Kette des Gildenmeisters. »Philippe de Touloubre!«, rief er aus - und schien ehrlich erfreut zu sein. Er eilte uns mit ausgestreckten Armen entgegen, dann verbeugte er sich. »Womit kann ich den Männern GOTTES dienen?« Auch der Inquisitor neigte sein Haupt und war offensichtlich angetan, den Gildenmeister zu sehen. In wohlgesetzten Worten brachte er unser Anliegen vor.
Andre d'Epernon kratzte sich am Kopf und dachte nach. »Von dem«, er zögerte vorsichtig, »bedauerlichen Zwischenfall, der sich im Schatten von Notre-Dame ereignet hat, habe ich natürlich gehört«, sagte er schließlich. Er verriet uns allerdings nicht, woher er diese Information hatte. »Ich wusste jedoch nicht«, fuhr der Gildenmeister fort, »dass dieser Mönch - GOTT sei seiner Seele gnädig - etwas mit einem Kaufmann aus deutschen Landen zu schaffen hatte. Wozu sollte er das auch? Und noch dazu in unserer guten Stadt Paris? Doch kann es sich dabei eigentlich nur um einen Mann handeln: Richard Helmstede.«
»Diesen Namen habe ich noch nie gehört«, gab Meister Philippe zur Antwort.
Andre d'Epernon nickte. »Aber Ihr werdet sein Schiff schon gesehen haben.« Er deutete aus dem Fenster. »Es liegt direkt an der Place de Greve.«
»Der große Segler, der eher einer schwimmenden Burg gleicht denn einem Schiff?«, platzte ich heraus.
»Ja«, bestätigte mir der Gildenmeister und ich meinte, ein spöttisches Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen. Wahrscheinlich hielt er mich für einen unerfahrenen Jungen, kaum besser als ein Novize — und er hatte damit ja auch Recht.
»Es ist eine Kogge«, fuhr er fort. »So zumindest werden Segler dieser Art in deutschen Landen genannt. Sie gehört Richard Helmstede und ankert schon seit etlichen Tagen in Paris.«
»Ich habe nie zuvor eine Kogge in Paris gesehen«, warf Philippe de Touloubre ein.
»Ich auch nicht«, erwiderte Andre d'Epernon lachend. »Und ich habe weiß GOTT viele Schiffe in meinem Leben erblickt. Richard Helmstede hat die Abgaben für den Liegeplatz und die Steuern für den König ordnungsgemäß und pünktlich bezahlt, ohne zu feilschen oder zu jammern. Er ist höflich, aber verschlossen. Ich bekomme ihn kaum zu Gesicht - ich weiß nicht einmal, wo er hier in Paris abgestiegen ist und wo er sich aufhält.
Niemand aus der Gilde der Flussschiffer kann sich erklären, was er hier laden oder handeln will mit seinem gewaltigen Schiff. Es muss ihn Unsummen gekostet haben, all die Treidler zu bezahlen, die nötig gewesen sein mögen, um diese schwere Kogge die Seine gegen die Strömung hochzuziehen. Und ich weiß nicht, ob sie, sollte sie wirklich einmal beladen werden, nicht zu tiefliegt, um ihren Weg stromab bis zum Meer zu machen.
Ganz sicher muss sich Richard Helmstede eilen, denn im Spätsommer wird das Wasser des Flusses so weit fallen, dass er selbst ein leeres Schiff nicht mehr hinausbekommt. Ganz zu schweigen davon, dass er irgendwie an den Englischen und Burgundischen vorbei muss, welche die Gegend zwischen Paris und der Küste heimsuchen.« Meister Philippe hatte ihm aufmerksam zugehört. »Wisst Ihr, aus welcher Stadt dieser Richard Helmstede stammt?«, fragte er. »Aus Lübeck«, antwortete der Gildenmeister.
*
Wir wechselten noch einige höfliche Worte mit Andre d'Epernon, obwohl ich darauf brannte, aus dem Maison aux Piliers zu stürzen, über den Platz zu eilen und das geheimnisvolle Schiff zu entern wie ein sarazenischer Pirat. Doch selbst nachdem wir das Haus der Flussschiffergilde verlassen hatten, gab mir Meister Philippe eine Lektion in Geduld und Demut.
»Es ist die Zeit der Sext«, sagte er und blickte gen Himmel. »Wir wollen das Gebet nicht vergessen.«
Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste mich fügen. Wir gingen ein paar Schritte, die Seine zu unserer Rechten, am Ufer entlang. Sehnsüchtig blickte ich auf den Wald der Masten, in dessen Mitte einer besonders groß aufragte, wie eine uralte Eiche in einem Wald dünner, schlanker Birken.
An diesem Mittag zur zwölften Stunde geschah es — ich gestehe es beschämt —, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben mit Widerwillen in das Haus GOTTES eintrat. Saint-Gervais-et-Protais war eine kleine Kirche am Ufer der Seine, doch sah man schon von weitem, dass ihre Gemeinde wohlhabend sein musste. Skulpturen der Mutter GOTTES und der Namenspatrone schmückten das Portal und ein schlanker Turm ragte hoch in den Himmel hinauf und sein kupferbeschlagenes Dach funkelte rotgolden in der Frühlingssonne.
»Es ist die Kirche der Weinhändler«, erklärte mir Philippe de Touloubre schmunzelnd, als ob er meine Gedanken erraten hatte. »Es gibt ein Sprichwort in Paris: ›Je mehr die Leute trinken, desto heller erstrahlen die Kerzen in Saint-Gervais-et-Protais‹. Falsch ist es nicht.« Und in der Tat: Im Innern flackerten Hunderte Kerzen, deren gelber und roter Lichtschein das Kirchenschiff erstrahlen ließ wie einen Märchenpalast. Ich schämte mich meines Widerwillens, bekreuzigte mich und kniete nieder, um IHM, der alles erschaffen hat, zu danken. Wir sangen drei Psalmen und hörten eine Stelle aus dem Johannes-Evangelium, die ein junger, rotgesichtiger Priester vortrug. Der Geistliche war des Lateinischen so wenig mächtig, dass ich Schwierigkeiten hatte, seine Worte zu verstehen.
Nach einem weiteren Hymnus segnete er uns und sprach das Abschlussgebet. Neben uns hatten sich nur ein paar feiste Weinhändler in die Bänke gezwängt und einige verschleierte Frauen — Witwen, vermutete ich. Ich spürte die Blicke der Gläubigen in meinem Rücken, die sich wohl ängstlich fragten, was zwei Dominikaner in Saint-Gervais-et-Protais zu suchen hatten.
Endlich durften wir uns erheben und die Kirche verlassen. Mir schien es eine Ewigkeit gedauert zu haben, doch selbstverständlich war es nur eine ganz gewöhnliche Sext.
»Und nun: Klar zum Entern des Schiffes!«, sagte Philippe de Touloubre spöttisch.
Ich wurde rot, verbarg mein Gesicht im Dunkel meiner Kapuze und versuchte, würdevoll dahinzuschreiten, wie es sich geziemte. »Verzeiht Meister. Es kommt mich hart an, meine Leidenschaft für dieses Rätsel zu zügeln«, antwortete ich demütig. Philippe de Touloubre lachte. »So lange es nur diese Leidenschaft ist, will ich dir gerne vergeben«, erwiderte der Inquisitor. An der Place de Greve betraten wir die hölzernen Kais, die Fingern gleich in den Strom ragten. Ihre dicken Planken zitterten unter den Schritten unzähliger Träger, die, mit Säcken und Kisten beladen, unablässig von den Pinassen zu den Lagerhäusern und zurückliefen. Doch die Männer machten uns respektvoll Platz, als wir uns der geheimnisvollen Kogge näherten. Der Segler lag am größten Kai ganz außen, nur ein paar Schritte stromauf überspannte der Grand Pont den Fluss.
Eine wenig vertrauenswürdig aussehende Planke führte vom Kai aus die vor uns aufragende Bordwand hinauf. Philippe de Touloubre schien dies nichts auszumachen. Mit energischen Schritten betrat er das Schiff. Ich schalt mich einen kleingläubigen Narren und tat es ihm nach. Während ich mit zittrigen Beinen den kaum schulterbreiten Laufsteg entlangging, erkannte ich, dass am Bug der Kogge ihr Name in verblassenden weißen Buchstaben prangte: Ich betrat die »Kreuz der Trave«.
Auf dem Deck roch es nach nassem Holz, nach Salz und Teer und gepökelten Fischen. Ich sah mich um: Vorne ruhten zwei mächtige, schwarze Anker auf den Planken, in der Mitte ragte der Mast hoch auf. An ihm war die Rah festgebunden, an der das Segel zusammengerollt war. Mast und Rah zusammen glichen mir einem Galgen für Riesen und mich schauderte. Am Heck ragte ein Kastell in die Höhe, eine Art quadratisches Haus aus grob zurechtgehauenen Brettern. Quer vor dem Kastell lag eine Winde in mächtigen Verankerungen. Raue Hanfseile führten von ihr zur Rah, als wären es die Fäden eines gigantischen Spinnennetzes. Im Kastell standen ein paar Fässer und Kisten zu beiden Seiten der mit zwei Stricken festgezurrten schweren Ruderpinne.
Alles machte einen von den Gezeiten und dem Wetter geprüften, doch gepflegten Eindruck - zumindest auf mich, der ich nicht einmal den Rhein mit einem Kahn überquert hatte, geschweige denn zur See gefahren war. Doch ich konnte die Kogge mit jenen Pinassen vergleichen, die ich vom Kölner Rheinhafen her kannte - und mit jenen, die neben der »Kreuz der Trave« vertäut waren. Verglichen mit diesen Booten wirkte die Kogge wie ein zwar älterer, doch ehrwürdiger Ritter inmitten einer Versammlung unsolider kleiner Marketender.
Wir erblickten zunächst jedoch niemanden. Im ganzen Hafen von Paris, der vor Geschäftigkeit summte, schien ausgerechnet das größte Schiff von allen so ausgestorben zu sein wie ein Friedhof. »Ist jemand an Bord?«, rief Philippe de Touloubre.
Da tauchte ein roter Haarschopf an der Luke zum Schiffsbauch auf: Ein vierschrötiger Mann in seinen Dreißigern kam polternd eine Leiter hochgeklettert. Sein Gesicht war oberhalb seines dichten, roten Bartes von Wind, Salz und Sonne dunkel gebrannt, doch seine Augen waren ungewöhnlich hellblau - so als wären sie aus Glas und ganz ohne Tiefe. Gekleidet war er in ein dunkles Wams aus Leder und hellen Beinkleidern, die allerdings viele Flecken unbestimmbarer Farbe verunstalteten.
Ich sah, dass er wütend war und einen Fluch auf den Lippen trug. Wahrscheinlich hatten wir ihn unsanft aus einem Mittagsschlummer geweckt. Doch als er unseren Habit sah, schluckte er schnell und verbeugte sich beflissentlich.
»Ich bin Gernot, Steuermann auf der ›Kreuz der Trave‹«, sagte er und machte eine unbeholfen wirkende, einladende Geste. Sein Französisch war schauderhaft.
Meister Philippe grüßte ihn mit einem lateinischen Segenswunsch, dann wandte er sich an mich. »Du wirst übersetzen müssen, fürchte ich. Mein Deutsch ist nicht besser als sein Französisch und ich glaube nicht, dass wir uns auf Latein unterhalten können.« So wandte ich mich denn an den Steuermann und entbot ihm einen Gruß in seiner Heimatsprache.
Gernot war überrascht, als ich ihn so ansprach. Misstrauisch und auf unbestimmbare Art auch schuldbewusst blickte er uns an. »Womit kann ich Euch dienen?«, fragte er.
»Mit einer Auskunft«, antwortete der Inquisitor, nachdem ich übersetzt hatte. »Wir suchen Richard Helmstede. Wo mögen wir ihn wohl antreffen?«
Der Steuermann schien erleichtert zu sein, dass wir nicht ihn befragen wollten. Doch seine Haltung blieb die eines Wächters, der einen verdächtigen Laut vernommen hat und nun in die Nacht hineinhorcht. »Mein Herr wohnt nicht an Bord«, gab er zurück. »Wir sind schon«, er zögerte kurz, »länger in Paris. Da hat er sich ein Haus gemietet. Es heißt das ›Haus zum Hahn‹, doch ich kann Euch die Straße nicht nennen, denn ich verlaufe mich immer in dieser Stadt, die so unglaublich groß ist.« Verlegen sah er zu Boden.
Philippe de Touloubre lächelte freundlich. »Ich kenne das Haus. Es steht bei der Kirche Innocents, an der Rue Saint-Martin. Kein Haus der einfachen Leute.«
»Mein Herr ist Reeder zu Lübeck«, erwiderte Gernot stolz. »Und einer der angesehensten dort«, setzte er dann hinzu, als ob er glaubte, dass uns seine Aussage nicht reichen würde. »Bist du allein an Bord?«, fragte der Inquisitor.
Der Steuermann wurde sofort wieder nervös. »Nicht ganz«, gab er zurück. »Herr Helmstede hat die meisten Männer der Besatzung zu sich ins Haus genommen, wo sie in den Zimmern der Diener schlafen - auf dass niemand während der Liegezeit den Reizen von Paris erliege und sich davonmache. Nur ein paar Mann und ich sind zurückgeblieben, um die ›Kreuz der Trave‹ zu bewachen. Ich habe die Männer vor einer Stunde fortgeschickt, um Brot und Wein zu holen.«
»Dann bist du ja gut versorgt«, murmelte Philippe de Touloubre und zog eine Augenbraue spöttisch in die Höhe. Ich folgte seinem Blick, der über die Schulter des Steuermanns ging - zum Achterschiff, wo im Kastell eine Luke aufging. Für einen Augenblick gewahrte ich dort die blonden Haare eines liederlich gekleideten Frauenzimmers. Als die Dirne uns erblickte, schlug sie erschrocken eine Hand vor den Mund und verschwand geräuschlos wieder im Bauch der »Kreuz der Trave«. Selbst ein Mönch wie ich konnte sich denken, warum Gernot seine Männer fortgeschickt hatte. Ich zog es vor, dem Steuermann, der das kleine Schauspiel hinter seinem Rücken nicht bemerkt hatte, die Bemerkung Meister Philippes nicht zu übersetzen. Auch der Inquisitor tat Gernot gegenüber so, als hätte er niemanden gesehen, und blickte sich mit freundlichem Lächeln um. »Die Farben sind abgeblättert, der Teer rissig, die Segel scheinen ein wenig zerschlissen zu sein. Sagt, Steuermann Gernot, hatte die ›Kreuz der Trave‹ eine lange Reise hinter sich, als sie in Paris anlangte?« Gernot sah unsicher drein. »Nun, Herr, wir mussten ganz Dänemark umsegeln. Im Skagerrak sind Wind und Strömung tückisch, wir mussten vier Tage gegenan kreuzen. Auch die Nordsee ist gefährlich, manchmal mussten wir lange beidrehen. Es war ja noch Winter, als wir gen Frankreich fuhren.«
»Doch könnt ihr kaum mehr als ein paar Wochen unterwegs gewesen sein«, hakte Meister Philippe nach.
»Es waren vier, um genau zu sein«, gab der Steuermann zur Antwort. »Die ›Kreuz der Trave‹ scheint mir aber auszusehen, als sei sie Monate auf See gewesen«, stellte der Inquisitor mit gefährlicher Freundlichkeit fest.
»Das mag sein«, murmelte Gernot. Dem Steuermann standen feine Schweißtropfen auf der Stirn, die in der Sonne glänzten wie ein leichtes Perlendiadem. »Ich kann es nicht sagen, denn dies ist meine erste Fahrt auf der ›Kreuz der Trave‹. Zuvor diente ich Herrn Helmstede auf einem anderen Schiff.«
Er blickte sich nervös um, als fürchtete er, ein Dämon könnte jeden Augenblick irgendwo aus einem finsteren Winkel der Kogge hervorspringen.
Dann fiel er plötzlich auf die Knie - dies geschah so unvermittelt, dass ich erschrocken zurückwich und einen Augenblick innehielt, bevor ich es wagte, das, was nun aus ihm hervorsprudelte, meinem Meister zu übersetzen. Es war, als sei ein Seil in Gernot, das unter hoher Spannung gestanden hatte, ganz plötzlich zerrissen.
Er küsste den Saum der Kutte des Inquisitors. »Betet für mich«, flehte er, »denn dieses Schiff ist verflucht.«
Meister Philippe blieb unbewegt und sah streng auf ihn hinab. »Sag dies nicht leichtfertig, mein Sohn, manchmal kommt das Böse erst zu uns, wenn wir es rufen.«
Gernot blieb auf den Knien und blickte sich wieder gehetzt um. »Die anderen Seeleute sind einfache Matrosen oder liederliches Pack, angeheuert von meinem Herrn in Lübeck und anderen Häfen der Ostsee. Sie verstehen sich nicht auf die Kunst, ein Schiff zu steuern, und sie kümmert es auch nicht, solange sie nur ihr Geld bekommen. Nur mein Herr und ich verstehen uns auf die Navigation, doch ihm wagte ich nicht, zu gestehen, was auf meiner Seele lastet.« Gernot sprach nun leiser, sodass wir uns zu ihm hinabbeugen mussten, um ihn zu verstehen.
»Im letzten Herbst schleppte sich die ›Kreuz der Trave‹ in den Hafen von Lübeck«, flüsterte der Steuermann. »Lange war sie auf See geblieben, so lange, dass wir sie schon verloren gegeben haben. Im Dom war sogar schon eine Messe für die Seelen der Seeleute gelesen worden und ihre Frauen trugen Witwentracht.
Nicht zu Unrecht. Denn eines Tages schlich die Kogge in den Hafen, nur ein zerfetztes Segel hatte sie gesetzt. Kräftige Männer mussten ihr in Kähnen entgegenrudern und sie bis an den Kai schleppen. Als sie an Bord kamen, da fanden sie nur noch einen Mann vor: den Kapitän - und der lag im Sterben. Es war Otto Helmstede, der ältere Bruder meines Herrn. Sonst war keine Seele an Bord zu finden, nicht einmal die Bordkatze.
Herr Helmstede weilte in jenen Tagen in Hamburg, sodass er seines Bruders nicht mehr ansichtig wurde, so sehr er sich auch eilte, denn dieser starb noch an demselben Tag, da die ›Kreuz der Trave‹ Lübeck erreichte. Nur die Gattin meines Reeders war zugegen. Sie hat die Männer befohlen, die an jenem Tag an Bord der Kogge gingen, und alles auf das Beste und Wohlgefälligste unternommen.«
»Was hat der sterbende Kapitän erzählt?«, unterbrach Meister Philippe den Bericht des Steuermannes.
Gernot kratzte sich am Kopf. »Das weiß niemand«, antwortete er. »Oder besser gesagt: Das weiß nur einer. Ein Mönch eilte mit an Bord, ein alter Freund des Kapitäns seit Kindesbeinen und dessen Beichtvater. Er war bei ihm, als der Kapitän im Achterkastell seines Schiffes verschied. Gut möglich, dass der Mönch etwas von den schrecklichen Dingen erfahren hat, die an Bord vorgefallen sein müssen. Der Kapitän wollte sicherlich seine Seele erleichtern, bevor er vor SEINEN Richterstuhl trat.
Doch der Mönch hat niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verraten, selbst Herrn Helmstede nicht.«
»Wie hieß der Mönch?«, fragte Philippe de Touloubre. »Das weiß ich nicht«, gab Gernot zur Antwort. »Er trug einen Habit in Schwarz und Weiß wie Ihr, und er war dünn und kahl. Ich sah ihn manchmal, wenn ich im Hause der Helmstedes zu tun hatte, doch sprach ich nie mit ihm.«
»Trug er ein Sehglas vor den Augen?«, wollte Meister Philippe wissen. Gernot sah den Inquisitor überrascht, dann erschrocken an. »Ja, in der Tat, manchmal setzte er sich Gläser auf den Nasenrücken und wir Seeleute lachten darüber. Woher wisst Ihr das?«
»Der HERR hat manche Menschen auf diese Welt befohlen, um Fragen zu stellen, und andere, um diese zu beantworten. Wir wollen doch nicht gegen SEINE Ordnung verstoßen«, gab Meister Philippe zur Antwort. »Was geschah nach dem Tod des Kapitäns?« Gernot schluckte. »Niemand wollte an Bord der ›Kreuz der Trave‹ gehen, sie galt fortan als verfluchtes Schiff. Auch mein Herr betrat sie nicht. Sie lag an einem verlassenen Hafenkai und ich glaube, dass selbst die Ratten, die doch sonst jeden Segler heimsuchen, sie mieden. Dann, wohl einige Wochen später, entschied Herr Helmstede plötzlich, mit der ›Kreuz der Trave‹ nach Paris zu segeln. Das Volk von Lübeck verwunderte sich. Denn erstens war noch nie eine Kogge der Hansestadt bis dorthin gefahren. Zweitens war es zu jener Zeit Winter - die Zeit, in der Schiffe und Seeleute von Gesetzes wegen im Hafen bleiben sollen. Und drittens fragte sich jeder, warum er ausgerechnet mit diesem verfluchten Segler fahren wollte. Doch der Mönch, der alte Beichtvater des Kapitäns, hielt an Bord der ›Kreuz der Trave‹ eine Messe ab, um das Böse aus ihr zu vertreiben. Da Herr Helmstede doppelte Heuer zahlte und während des Winters sowieso keine andere Anstellung zu finden war, gab es dann auch genügend Männer, die auf der Kogge anheuerten.«
»Und einen Steuermann«, ergänzte Meister Philippe. Gernot blickte zu Boden. »Ja«, murmelte er, »denn ich hatte Schulden bei einem jüdischen Geldverleiher. So ging ich denn an Bord. Die Fahrt gen Paris war, wenn auch langwierig, so doch nicht gefährlich. Aber trotzdem«, er zögerte lange, »trotzdem glaube ich, dass ich nachts Stimmen höre: Die verlorenen Seelen der Seeleute rufen mich. Dieses Schiff ist verflucht. Ich wünschte, oh Vater, dass ich von Bord gelangen könnte, doch ich wage nicht zu gehen.«
»Was glaubst du denn, was mit den Männern auf der Kogge geschehen ist?«, fragte der Inquisitor.
Gernot schüttelte den Kopf. »Es muss etwas Schreckliches gewesen sein, das spüre ich. Doch ich weiß nicht, was es gewesen sein könnte.«
»Redest du nicht mit den anderen Matrosen darüber?«
Der Steuermann schüttelte den Kopf. »Niemand wollte in den ersten Tagen unserer Reise darüber reden. Und nun, da wir so glücklich in Paris angekommen sind, glauben die Männer, dass die Predigt des Mönches das Böse tatsächlich aus den Planken der ›Kreuz der Trave‹ vertrieben habe. Sie machen sich keine Sorgen mehr.« Meister Philippe legte ihm begütigend die Hand auf den Kopf und sprach einen Segen. »Auch du sollst keine Furcht mehr haben«, sagte er dann und fügte noch hinzu: »Der Segen des Mönches wird dieses Schiff fortan vor Unglück bewahren.« Seine letzten Worte überraschten mich nicht wenig, schließlich war Heinrich von Lübeck, um den es sich doch unzweifelhaft handelte, so grausam aus dieser Welt geschieden.
Nach weiteren Worten der Tröstung wandten wir uns zum Gehen. Meister Philippe war nun begierig darauf, ins »Haus zum Hahn« zu gehen und dem Reeder aus Lübeck von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.
Wir waren schon an der Laufplanke, als sich der Inquisitor noch einmal umdrehte und den Steuermann wie beiläufig fragte: »War die Kogge eigentlich unbeladen, als sie mit dem sterbenden Kapitän in den Hafen segelte?«
Gernot blickte einen Moment verwirrt drein, dann zuckte er die Achseln. »Ich habe es selbst nicht gesehen, doch man sagt, dass einige Felle an Bord gewesen seien, dazu ein paar Säcke, die vielleicht Linsen enthielten oder Erbsen oder etwas Ahnliches, da widersprechen sich die Leute in Lübeck. Losgesegelt ist sie mit einer ganzen Ladung Bier für Oslo. Dort allerdings ist die Kogge nie eingelaufen. Die Fässer jedoch waren nicht mehr im Frachtraum, als die ›Kreuz der Trave‹ endlich in ihre Heimat zurückkehrte.«
»Und in Paris? Habt ihr etwas gebracht? Habt ihr etwas geladen?« Gernot schüttelte den Kopf. »Wir sind mit Ballast hierher gesegelt. Bisher haben wir auch noch nichts geladen. Weiß der Himmel, was mein Herr hier zu laden wünscht.«
»Er hat dir nichts gesagt?«, forschte der Inquisitor nach. »Keine Andeutung? Keine Anweisung, etwa Fässer zu kaufen oder Kisten oder Säcke?«
»Nein, nichts bislang. Die Laderäume sind leer.«
»Bis auf ein sündiges Weib«, sagte Meister Philippe und lächelte dünn, »obwohl du dir doch so viele Sorgen machst über das Schicksal dieses Schiffes und du doch weißt, dass Frauen an Bord Unglück bringen.« Als ich dies übersetzt hatte, wurde Gernot dunkelrot und begann zu zittern — doch da war der Inquisitor schon die Laufplanke hinuntergestiegen und ich beeilte mich, ihm zu folgen.
*
Wir schritten ein Stück die Seine entlang, stromab, bis wir nach rechts in die Rue Saint-Denis einbogen, die große Straße, die von Nord nach Süd ganz Paris durchquert.
Hier drängten sich Bürgersleute und Mägde, Händler und Mönche, Ritter und Bettler, Vaganten und Juden. Das Pflaster war beschmutzt vom Kot der Ochsen, welche die schweren Karren der Fuhrleute zogen, und der Esel, auf denen Wandertrödler allerlei Waren zu Markte brachten. Schweine und Hunde flitzten zwischen den Menschen dahin, wühlten im Dreck und bekamen wohl mancherlei Tritte, wenn sie nicht schnell genug beiseite sprangen. Das Quieken, Bellen und Heulen der Tiere mischte sich mit dem Rattern der eisenbeschlagenen Karrenräder und dem Geschrei der Marketender und dem Flehen der Bettler; auch hörte ich manch lästerlichen Fluch. Vor einem Haus hatte sich ein zerlumpter Mann auf ein leeres Fass gestellt und redete wirr. Er war laut und gestikulierte, als wären seine Arme die Flügel einer Windmühle im Sturm. Er sprach vom Ende der Welt und davon, dass die Juden die Brunnen vergiften, um gute Christenmenschen zu töten. Kaum jemand hörte ihm zu. Plötzlich öffnete sich in einem der oberen Stockwerke des Hauses, vor dem er sich aufgestellt hatte, ein Fenster und auf den selbst ernannten apokalyptischen Prediger regneten die Exkremente einer zehnköpfigen Familie herab. Und holla, nun war ihm alle Aufmerksamkeit sicher! Schadenfreude ist eine Sünde, der HERR möge sie mir nachsehen - zumal ich doch viel schwerere Schuld auf mich geladen habe —, doch freute ich mich kaum weniger als die Kerle und Dirnen, die sich nun um den Unglücklichen, gewaltig Fluchenden scharten und ihn verhöhnten. Unter Schimpf und Schande schlich er davon, stinkend wie ein Aussätziger, verfolgt von Kindern, die ihn mit Steinen und Stöcken bewarfen.
Si me persecuti sunt et vos persequentur si sermonem meum servaverunt et vestrum servabunt.
Wir bogen nach einigen hundert Schritt links in die Rue Saint-Martin, die schmaler war als die große Straße und deren Häuserzeilen mir etwas weniger hoch und prachtvoll dünkten. Doch schoben sich auch hier Menschen ohne Zahl und scheinbar ohne Ziel mal hier-, mal dorthin, sodass wir uns weniger auf geradem Wege, denn in einer Art Zickzack zwischen Menschen und Unrat vorwärtsbewegten. Wir überquerten den Markt von Les Halles, wo Händler und Bauern Weizen scheffelweise anboten, Starkbier in Fässern, Feuerholz in Bündeln und Wein, so viel, dass man damit einen ganzen See hätte füllen können. Weiber standen schwatzend am Brunnen — einem der wenigen von Paris, in dem man frisches, sauberes Wasser schöpfen konnte — und wechselten unzüchtige Worte mit den Knechten, die, von schwerer Arbeit und wohl auch ungehörigen Gedanken erhitzt, hier mit einer Kelle Nass ihren Kopf kühlten.
Auf der Mitte des Platzes, direkt neben dem Brunnen, erhob sich einer der berüchtigtsten Galgen der Stadt. Dort hing die halb verweste Leiche eines Strauchdiebes, den man, wie mir Meister Philippe unter Schlagen des Kreuzes erklärte, vor drei Wochen seiner gerechten Strafe zugeführt hatte. Raben umschwirrten ihn und ich musste daran denken, was mir einst ein altes Marktweib in Köln zugeflüstert hatte: dass jeder Rabe die Seele eines unerlösten Sünders in sich trägt. Auch ich schlug das Kreuz und hastete weiter.
Hinter Les Halles erhob sich die Kirche Innocents — so benannt nach dem Friedhof der unschuldigen Kinder, der sich im Schatten der Mauern des Hauses GOTTES erstreckte.
Das »Haus zum Hahn«, das ich endlich erblickte, lag nicht weit vom Katzenplatz entfernt - dem Ort, an dem sich die Wandertrödler Frankreichs trafen, um alte Kleider, zerbeulte Töpfe und andere windschiefe Waren feilzubieten.
Das Gebäude selbst hatte jedoch nichts mit den schäbigen Händlern vor seinen Pforten gemein: Groß war es, drei Stockwerke hoch, darüber ein schön geschindeltes Dach, aus dessen Giebel ein Kran ragte, mit dem man Säcke und Fässer in den Speicher heben konnte. Die Fenster glänzten in hellem und in gelbem Butzenglas, das Tor war massiv, ein schönes Schild schwankte leicht knarzend im Wind. Auf ihm war, kunstvoller als üblich, das Tier gemalt, welches diesem Anwesen seinen Namen gab.
Meister Philippe klopfte dreimal kräftig an das Tor. Wir mussten nur wenige Augenblicke warten, bis uns eine Magd öffnete, ob unseres Habits große Augen machte und uns unter vielerlei Knicksen und Ehrbezeugungen ins »Haus zum Hahn« bat.
Sie führte uns in ein großes Studierzimmer, dessen Wände mit Regalen verstellt waren, in denen wohl hundert oder mehr Bücher standen, und dessen Fenster zur Vorderseite hinausgingen und einen guten Blick auf den Katzenplatz und die Straße boten. Doch der Mann, der sich hier an einem Stehpult über einen Folianten beugte, hatte kein Auge für das Leben vor seinem Haus. Er merkte von seiner Lektüre auf und starrte uns für einen Moment erschrocken an, bevor er seine Selbstbeherrschung wiedererlangt hatte und uns würdevoll zunickte.
Richard Helmstede war ein großer, massiger Mann von vielleicht fünfzig Jahren, ein Reeder von imposanter Gestalt, mit rotem Gesicht und dünnem Haarkranz. Er war in Brokat und Atlasseide gehüllt, seinen Wams umspannte eine schwere, goldene Kette. Seine Füße steckten in Stiefeln aus weichem Cordobaleder. Derartiges Schuhwerk kostete über zwanzig Sous - eine Summe, von der eine Familie in Paris wohl ein Vierteljahr leben mochte.
Nemo potest duobus dominis servire aut enim unum odio habebit et alterum diliget aut unum sustinebit et alterum contemnet non potestis Deo servire et mamonae.
Meister Philippe stellte uns vor und kam ohne Umschweife zur Sache: Er erklärte, dass Heinrich von Lübeck getötet worden sei und wir Inquisitoren nun Helmstede aufsuchten, da der tote Mönch doch der Beichtvater des ebenfalls erst vor kurzem verstorbenen Bruders des Reeders gewesen sei. Er verriet jedoch nicht, woher er dies wusste. Das gerötete, fleischige Gesicht Richard Helmstedes verfärbte sich, wurde zuerst blass wie Leinwand, dann blau wie eine überreife Weintraube. Einen Moment lang befürchtete ich, ihn würde der Schlag ereilen. Tatsächlich wankte er, hielt sich am Lesepult fest und ging dann mit schleppendem Schritt zu einem hochlehnigen Stuhl, auf den er kraftlos niedersank.
»Auch Bruder Heinrich«, murmelte er. »Oh, welcher Fluch mag nur auf uns lasten?«
»Das genau würde ich auch gerne wissen«, sagte mein Meister, als der Reeder wieder etwas zu Atem gekommen war.
Der Inquisitor setzte sich auf einen Schemel, obwohl ihm Richard Helmstede mit einer Geste den zweiten hochlehnigen Stuhl im Raum angeboten hatte. Dabei sah er den Reeder aufmerksam an. Der Mönch war freundlich, ja man hätte meinen können, er warte demütig auf jedes Wort des Lübeckers. Doch ich war sicher, dass sein bescheidenes Auftreten Richard Helmstede nicht zu täuschen vermochte: Der Reeder wusste genau, wie gefährlich es war, von einem Inquisitor befragt zu werden.
So wurde ich denn die nächste halbe Stunde Zeuge eines Duells der Worte: Meister Philippe war höflich, aber beharrlich. Richard Helmstede war zurückhaltend und übte sich in der Kunst, in langen Sätzen wenig zu sagen.
Der Reeder erzählte uns von der Kogge und dem Schicksal ihrer Besatzung - das, was wir schon andernorts gehört hatten. Meister Philippe vermied es jedoch, zu erwähnen, dass wir schon mit dem Steuermann Gernot gesprochen hatten. Mochte der Reeder selbst irgendwann herausfinden, woher wir wussten, was wir wussten. »Ich habe meine Ladung verloren, GOTT allein weiß, wo. Und ich habe meinen Bruder verloren sowie zwei Dutzend tüchtiger Seeleute. Ohne Zweifel liegt ein Fluch auf dem Schiff«, lamentierte Richard Helmstede.
»Ohne Zweifel«, gab der Inquisitor ungerührt zurück. »Doch wer mag ihn ausgesprochen haben? Und warum?«
Der Reeder hob die Hände zum Himmel. »Ein Schiffsherr aus Lübeck oder einer anderen Hansestadt? Jemand, der mir meinen Erfolg missgönnt? Oder eine Hexe? Oder ein Jude? Ich weiß es nicht.«
»Und Ihr habt nicht die leiseste Ahnung, wo die ›Kreuz der Trave‹ in all den Wochen, die sie verschollen war, gewesen sein könnte?«, fragte Meister Philippe.
Richard Helmstede schüttelte betrübt den Kopf. Ich mühte mich, ihn unauffällig zu mustern, doch vermochte ich in jenem Moment wahrhaftig nicht zu sagen, ob der Reeder uns anlog oder die Wahrheit sprach.
»Hat Euch Bruder Heinrich denn nie etwas gesagt? Eine Andeutung? Ein unbedachtes Wort?«, wollte der Inquisitor wissen. »Nein, nie«, seufzte Richard Helmstede.
»Meint Ihr denn, dass unser verstorbener Mitbruder überhaupt mehr gewusst haben könnte?«
Der Reeder blickte Meister Philippe lange schweigend an. Dann seufzte er. »Wie ich ja schon sagte: Bruder Heinrich hat nie etwas Derartiges gesagt. Doch ich glaube, ich spüre es eher, als dass ich es weiß, er muss etwas gewusst haben. Er war so«, er suchte lange nach Worten, »so schweigsam, selbst für einen Mönch, so niedergedrückt. Irgendetwas muss auf seiner Seele gelastet haben — und was könnte dies anderes sein als sein Wissen um das Schicksal meines Schiffes?«
»In der Tat«, murmelte Meister Philippe, »was könnte dies anderes sein? Wenn diese Vermutung stimmt, dann ist der einzige Mensch, der weiß, wohin die ›Kreuz der Trave‹ gesegelt sein mag und was ihrer Besatzung zugestoßen ist, nun tot. Mag sein, dass dies ein Zufall ist, doch als Inquisitor habe ich gelernt, dass hinter jedem Zufall der Teufel steckt.«
Richard Helmstede bekreuzigte sich hastig bei der Nennung von Satans Namen.
»Warum seid Ihr nach Paris gereist? Und warum ausgerechnet mit diesem Schiff?«, fuhr der Inquisitor mit seiner Befragung fort. Schweißperlen standen auf der Stirn des Reeders. Er wischte sie mit einem spitzenbesetzten Tuch fort. Einen Moment lang glaubte ich, er würde verzweifelt nach einer Ausrede suchen, doch dann schien er sich eines Besseren zu besinnen und zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, gestand er müde. Helmstedes Stimme klang schwach.
»Was soll das heißen: Ihr wisst es nicht?«, hakte der Inquisitor nach. Seine Miene war die eines skeptischen Weisen, dem ein amüsantes Rätsel gestellt wird. Doch ich ließ mich nicht täuschen: Es war eine Frage auf Leben und Tod. Hätte der Reeder jetzt die falsche Antwort gegeben, so wäre er auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Doch Helmstede sagte einen Satz, der ihm, zumindest in diesem Augenblick, das Leben rettete: »Bruder Heinrich bat mich eines Tages im vergangenen Winter inständig darum, mit der Kogge nach Paris zu segeln. Er sagte mir nicht, warum, und auch nicht, warum er gerade dieses Schiff haben wollte. Ich bot ihm sogar andere an. Er jedoch bestand auf der ›Kreuz der Trave‹. Das einzige, was er mir in Aussicht stellte, war, etwas für das Heil meiner Seele zu tun.«
»Kein Geld?«, fragte Philippe de Touloubre verwundert. Richard Helmstede wurde rot. »Nun, Bruder Heinrich deutete an, dass ich dabei reich werden könnte. So reich, wie nur irgendein Kaufmann der Christenheit je geworden wäre.«
»Und Ihr habt Euch darauf eingelassen, obwohl Ihr weder die Fracht noch das Ziel dieser seltsamen Reise kanntet?«
Der Reeder hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Der Mönch war der Beichtvater meines verstorbenen Bruders!«, rief er. »Jedem anderen hätte ich bei einem solchen Vorschlag ins Gesicht gelacht. Doch Bruder Heinrich …« Er zögerte, dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Bruder Heinrich klang so überzeugend«, fuhr er fort, »so bezwingend. Anders weiß ich es nicht zu benennen. Irgendetwas trieb mich, ihm zu Diensten zu sein.«
»Und was habt Ihr seither in Paris getan?«
»Nichts«, er seufzte abermals tief. »Nichts als gewartet. Keine Ladung, kein Ziel. Meine Männer wurden schon unruhig, sie haben schließlich Familien in Lübeck. Doch was sollte ich tun? Mir brennt das Feuer unter den Nägeln, ich muss zurück in mein Kontor, die Zeit der Winterstürme ist vorüber, die Schiffe laufen aus. Doch ich sitze in Paris, gebe ein kleines Vermögen für dieses Haus aus und warte und warte. Zunächst hat Bruder Heinrich mich hingehalten. Hat mir gesagt, ich müsste mich nur noch ein Weniges gedulden. Aber nun: Was soll ich tun? Muss ich mit leerer Kogge zurückkehren?«
Während dieses Spiel aus Fragen und Antworten noch einige Zeit weiterging, sah ich mich - wie ich glaubte, unauffällig - im Raum um, ohne mich, der ich demütig hinter Meister Philippe stand, von der Stelle zu rühren. Ich schielte zum Lesepult hinüber, auf dem der aufgeschlagene Foliant lag, den der Reeder studiert hatte, bevor wir eingetreten waren.
Es handelte sich um eine Landkarte. So etwas Ähnliches hatte ich schon öfter in Bibliotheken studiert: Sie war aus grobem Pergament. Die Ländereien konnte ich nicht klar erkennen, die Küstenlinien verwirrten mich, in die Meere waren Wale, Kraken und allerlei andere Ungeheuer eingezeichnet. Doch ich sah, dass die Karte nach Norden ausgerichtet war, denn das Symbol dieser Himmelsrichtung — der Polarstern - prangte ganz oben auf der Seite. Eine Kompassrosette war links als Symbol für den Westen eingezeichnet, ein Kreuz rechts im Osten, unten, im Süden, ein halb verschattetes Erdenrund. Doch warum waren kaum Straßen auf dieser Karte zu sehen? Warum keine Burg und kein Kloster? Und warum war, wie es doch jedermann in der Christenheit besser wusste, Jerusalem nicht als Mittelpunkt der Welt eingezeichnet, sondern als eine Stadt unter vielen rechts am Rand?
Die Karte schien mir ein Werk der Ketzer zu sein. Ich täuschte einen Hustenanfall vor, um mich zu krümmen, einen Schritt zur Seite zu treten und rasch auf die Legende unterhalb der seltsam geformten Küstenlinie zu blicken. Ich konnte nur den ersten, größer geschriebenen Satz lesen: Petrus Vesconte fecit.
Den Namen Petrus Vesconte hatte ich noch nie gelesen, auch wenn er mir vage bekannt vorkam. Mehr konnte ich in jenem Moment nicht tun, als mir diesen Namen zu merken, denn wollte ich nicht unerwünschte Aufmerksamkeit erregen, so musste ich mich nun wieder möglichst still und unbeweglich hinter dem Inquisitor aufstellen. »Ich möchte Euch im Namen des HERRN bitten, noch einige wenige Tage hier auszuharren«, sagte Meister Philippe gerade gefährlich freundlich. »Bis wir den Sünder gefunden haben, der den Beichtvater eures teuren Bruders so schändlich niedergestochen hat. Vielleicht entdecken wir, sozusagen nebenbei, nicht nur den Täter, sondern auch den Zweck eurer Reise.«
Richard Helmstede nickte eifrig und verbeugte sich tief. »Ich gehorche der Kirche gern und bin ein treuer Diener ihrer Inquisition«, murmelte er.
Doch genau in diesem Augenblick, da Richard Helmstede der Inquisition zu dienen versprach, betrat Satan selbst den Raum in der Gestalt von Klara Helmstede, der Gattin des Reeders. Sie war kein junges Mädchen mehr, doch war sie deutlich jünger als ihr Mann. Ich schätzte sie auf fünfundzwanzig Jahre — was ihr wohl geschmeichelt hätte, denn sie hatte just in jenem Frühjahr, wie ich später erfahren sollte, ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Sie war groß: Klara Helmstede hätte mir in die Augen sehen können, wäre sie nicht in den Raum getreten, ohne mir auch nur einen Blick zu gönnen. Sie trug hochgebundene Kleider nach der Mode jener Tage, eine spitzengeschmückte Haube und einen hellen Schleier. Rock, Mieder und Oberkleid, alles kunstvoll geschnürt, betonten ihre üppigen Formen, unter ihrer Haube quoll ungebärdiges blondes Haar in langen Strähnen hervor und ihr Schleier war so fein, dass er ihre hellen, blitzenden blauen Augen, ihre kleine Nase und ihre sinnlichen Lippen nicht sittsam verbarg, sondern schmeichelnd umhüllte. Ich blickte erschrocken zu Boden und hoffte, mein flammendes Gesicht vor den anderen verbergen zu können.
»Seid gegrüßt, ihr Brüder, und willkommen in unserem bescheidenen Haus«, sprach Klara Helmstede und blickte Meister Philippe für einen Moment — und ich möchte schwören: herausfordernd - an, bevor sie zunächst vor dem Inquisitor, dann vor ihrem Gatten einen tiefen Knicks vollführte.
Ihre Stimme klang klar wie Quellwasser in den Bergen und ich hatte für einen Augenblick die Vision, wie sie in einer Kirche sang zum Lobe des HERRN. Ihre Bewegungen, als sie uns formvollendet grüßte, waren fließend und grazil wie die einer Katze. Und ich, ein Sünder und schwach im Fleische, konnte meinen Blick nicht länger am Boden halten, sah auf und blickte - oh, welch sündiger und wonniglicher Moment - für die Dauer eines Wimpernschlages in Klara Helmstedes Kleid, das am Hals ausgeschnitten war und mir, da sie knickste, die Ansätze zweier runder Hügel feilbot — zweier Hügel, die kein Mönch, und wanderte er auch noch so weit, je zu Gesicht bekommen darf.
Ich schauderte und blickte wieder zu Boden. Heiß war mir, wie im Fieber, doch zugleich auch kalt, als seien meine Hände in Eiswasser getaucht.
Meister Philippe deutete eine Verbeugung an und segnete Klara Helmstede. Bewundernd stellte ich fest, dass sein Gesicht unbewegt war und kein Zittern in seiner Stimme erklang. Höflich stellte er sich und mich und unser Anliegen vor, höflich fragte er, ob die Reedersgattin vielleicht etwas wisse, an das der Herr Reeder zufällig und in leicht entschuldbarer Weise nicht gedacht hatte, und höflich lächelte er, als ihm Klara Helmstede in wohl gesetzten Worten ihre Trauer über den Tod unseres Mitbruders ausdrückte und im Übrigen bedauernd verneinte, irgendetwas Gewichtiges beitragen zu können. »Wenn dies so ist, dann werden wir uns jetzt zurückziehen und Euch Euren Pflichten überlassen«, murmelte Meister Philippe. »Wir werden wieder von uns hören lassen.« Er nickte, segnete huldvoll die demütig gesenkten Köpfe der beiden Eheleute und schritt aus dem Gemach.
Doch ich, der ich hinter ihm herstolperte - begierig, diesen Ort rasch zu verlassen, da die Sünde so mächtig an mir zog —, beging den Fehler, mich im Türrahmen noch einmal umzudrehen. Richard Helmstede stand noch immer da, den Kopf tief gesenkt, doch seine Gattin hatte sich schon wieder aufgerichtet — und nun blickte sie mich an.
Und ich, ich versank in diesen klaren blauen Augen wie in einem bodenlosen Ozean. Klara Helmstede sprach kein Wort, machte keine Geste, und doch verstrickte sie mich in jenem Augenblick in ein Netz, aus dem ich nicht mehr entkommen sollte. Kurz bevor ich meinen verwirrten Blick endlich von ihrem Gesicht fortreißen konnte, da schenkte sie mir ein Lächeln, das freundlich war und spöttisch zugleich.
Zitternd taumelte ich hinter Meister Philippe ins Freie, der mit energischen Schritten den Rückweg antrat. Er folgte den Straßen, die wir gekommen waren, und achtete weder auf meine Verwirrung noch auf das Gedränge zwischen den Häusern.
»Der Reeder verbirgt etwas vor uns«, murmelte der Inquisitor und schlug die Hände zusammen, bevor er sich besann, wie unschicklich diese Geste war, und die Arme vor der Brust verschränkte, wie ein guter Mönch es tun sollte.
»Mag sein, dass er wirklich nichts über das Schicksal seines Bruders und seiner Kogge weiß. Doch ich glaube ihm nicht, dass er ebenso ahnungslos ist, was den Zweck seiner Fahrt nach Paris betrifft. Er wäre kein erfolgreicher Reeder geworden, wäre er wahrhaft so leichtgläubig, nur auf die Versprechungen Heinrichs von Lübeck hin in diese Stadt zu segeln. Und warum sollte er hier ausharren? Nein, es muss etwas geben, das ihn an die Seine gelockt hat. Einen Mann wie ihn, den locken weder Seelenheil noch Ruhm — den lockt nur das Geld. Ich muss an die Münzen denken, die Heinrich von Lübeck am Tage seines Todes bei sich getragen hat…« Seine Stimme verlor sich in einem gedankenvollen Murmeln, während wir durch die Stadt eilten.
Während der Geist von Meister Philippe um den toten Mitbruder und den rätselhaften Reeder kreiste, hatte ich nur Klara Helmstede im Sinn.
Als wir das Kloster erreichten, erwartete uns dort bereits das nächste Problem: Ein zerknirscht dreinblickender Sergeant de la Douzaine — allerdings keiner der beiden Kerle, die wir am Ort jenes schändlichen Verbrechens angetroffen hatten — war vom Portarius in den kargen Raum neben der Kirche geführt worden, in dem sich Gäste aufhalten durften. Er verbeugte sich, stammelte etwas Unverständliches und rückte erst nach einigem Hin und Her damit heraus, dass sich Jacquette nicht mehr im Gewahrsam der Sergeanten befand. »Sie ist geflohen?«, rief der Inquisitor ungläubig. Der Sergeant, er war noch sehr jung, wurde rot. »Jacquette La Pigeonette ist eine Dirne«, stammelte der Wächter, »eine sehr raffinierte Dirne und vielleicht eine Hexe zudem. Sie hat die beiden Sergeanten, die sie in den Kerker fuhren sollten, mit einem magischen Spruch belegt, sodass sie, wie die beiden später aussagten, plötzlich nichts mehr sahen, so als gingen sie durch einen dichten Nebel. Als sich ihre Augen endlich wieder aufklarten, da war die Schönfrau fort.«
»Hinfort auch mit dir«, grollte der Inquisitor und schickte den Sergeanten mit einer verärgerten Handbewegung hinaus, ohne ihm den Segen zu erteilen.
»Welcher Art die Hexerei dieser Schönfrau ist, das kann ich mir denken«, sagte er, nachdem der Wächter gegangen war. Ich bekreuzigte mich erschrocken, doch Meister Philippe lachte nur grimmig.
»Dazu bedurfte es wahrscheinlich keiner besonderen satanischen Künste, sondern nur jener Sünde der Verführung, die jedes Weib beherrscht. Jacquette wird den Wächtern ihre Dienste angeboten haben. Entweder ließen die Sergeanten die Dirne dann freiwillig laufen oder sie ist geflohen, während den beiden Wächtern noch die Hosen um die Fußknöchel hingen.«
Ich blickte ihn empört an, doch der Inquisitor atmete nur tief durch, murmelte ein kurzes Gebet und bezwang so seinen aufbrausenden Zorn. »Verzeih, mein junger Bruder«, sagte er dann. »Ich habe einen Moment nicht mehr daran gedacht, dass man dergleichen nicht in unseren frommen Studien lernt. Doch ich habe Ähnliches schon viel zu häufig sehen müssen, als dass mich dies noch überraschen würde. Den Zorn jedoch, den kann ich selbst nach all den Jahren kaum bemeistern. Welche Kräfte hat doch das Weib!«
Fürwahr, da sprach mir der Inquisitor aus der Seele. Denn tief in mir, da jauchzte eine leise, sündige Stimme über den Streich der Schönfrau und freute sich, dass Jacquette nicht im Kerker schmachten musste. In meinem Geiste beschwor ich ihr Bild herauf, wie sie uns, sich aus dem Schlamm der Straße erhebend, im Schatten von Notre-Dame gegenübertrat. Ihre Züge vermischten sich mit denen von Klara Helmstede und meine Seele brannte in den Feuern von Wollust und Scham.
In jener Nacht gedachte ich der Mahnungen von Meister Philippe und bezwang mein Bedürfnis, mich wieder zum Altar zu schleichen und dort in Demut um die Vergebung meiner Sünden zu flehen. Stattdessen legte ich mich gehorsam auf meine Pritsche, doch der Schlaf wollte auch diesmal nicht über mich kommen. In meiner Seele tanzten Heinrich von Lübeck mit seinen toten Augen, ein gesichtsloser, sterbender Kapitän, ein verängstigter Reeder und ein Geisterschiff einen wilden, satanischen Reigen um einen riesigen Kopf, der, einer Chimäre gleich, mal die Züge einer sündigen Schönfrau annahm und mal die einer respektablen Lübecker Bürgerin. Erst nach den Nocturnes um Mitternacht, zu denen ich mich, schwankend vor Erschöpfung, wie ein Kranker geschleppt hatte, fiel ich endlich in einen tiefen Schlummer — doch sollte dieser viel zu kurz sein.
Ich wachte auf, lange vor dem Morgengrauen. Es mochte die letzte Stunde der Nacht sein, bald würde ein Bruder zu den Laudes läuten. Doch noch war es zu früh, um in die Kirche zu gehen. Ich lag, gerädert, als wäre ich von den Folterern der Inquisition befragt worden, auf der Pritsche und fragte mich benommen, was mich wohl geweckt haben mochte.
Da vernahm ich es erneut. Schritte.
Ich hob meinen Kopf und horchte — es gab keinen Zweifel: Jemand ging den Gang vor meiner Zelle entlang. Ich konnte die leisen Schritte von zwei, drei, wohl noch mehr Menschen unterscheiden. Für einen Moment glaubte ich, dass sich alle meine Mitbrüder zu einer nächtlichen Messe versammeln würden und nur ich, der ich aus der Fremde kam, von ihr ausgeschlossen wäre.
Vorsichtig erhob ich mich von meiner Schlafstatt und trat geräuschlos an die Tür, wo ich mit dem Ohr an den Brettern lauschte. Ich konnte leise Stimmen vernehmen, doch konnte ich kein Wort verstehen. Einmal fiel der unruhige Schein einer kleinen Kerze durch den Spalt unter meiner Tür in meine Zelle. Ich presste mich erschrocken an die Wand und wagte nicht mehr zu atmen. Mein Herz hämmerte mir im Halse und ich glaubte, dass jeden Augenblick ein nächtlicher Besucher - aber wer? - in meine Zelle treten würde.
Doch der Lichtschein verlosch, das Murmeln verklang, die Schritte verhallten.
Erst nach einer Zeit, die mir unendlich lang vorkam, die jedoch kaum mehr als eine Viertelstunde betragen haben mochte, wagte ich es, meine Tür um eine Handbreit zu öffnen und in den düsteren Flur hinauszuspähen.
Nichts. Das Kloster war, soweit ich sehen und hören konnte, ruhig wie eine Gruft.
Ich warf mich wieder auf meine Pritsche und fiel in einen wirren Traum, an dessen Einzelheiten ich mich nicht mehr erinnern konnte, als mich die Glocke zu den Laudes rief. In der Kirche, als meine Brüder und ich die Psalmen anstimmten, sagte ich mir, dass auch die nächtlichen Schritte und Stimmen meinem Traum entsprungen sein mussten. Wer sollte es wagen, nachts durch ein Kloster der Dominikaner zu schleichen? Welcher Mönch würde dies tun? Welcher Fremde so verwegen sein?
So hatte ich mich bis zum Ende der Laudes schon selbst überzeugt, dass ich Opfer einer Täuschung der Nacht gewesen war. Doch als ich erleichtert zu meiner Zelle zurückging, um mir vor dem Morgenmahl die Hände zu waschen, da erblickte ich im ersten fahlen Dämmer des Tages auf dem Gang kurz vor meiner Zellentür einen kleinen weißen Fleck auf dem Boden. Einen frischen Tropfen Kerzenwachs.
Später, beim Morgenmahl, rang ich mit mir, ob ich Meister Philippe von dem nächtlichen Spuk erzählen sollte. Vielleicht hatte er eine simple Erklärung dafür? Womöglich würde meine Erzählung seinen inquisitorischen Ehrgeiz wecken und ihn dazu anspornen, dieses Rätsel zu lösen? Doch schließlich sagte ich mir, dass die nächtlichen Geräusche wohl kaum etwas mit den schwer wiegenden Untersuchungen zu tun haben mochten, die uns der Prior aufgetragen hatte. Außerdem wusste ich viel zu wenig, um Meister Philippe irgendetwas Sinnvolles vortragen zu können - er würde mich auslachen. Und schließlich war ich doch nun selbst Inquisitor. Warum also sollte ich meinen Geist und meine Sinne nicht darin üben, jenes nächtliche Geheimnis allein aufzuklären?
Dann, so sagte ich mir in meiner Vermessenheit, gäbe es ja immer noch Gelegenheit genug, mich Meister Philippe zu offenbaren. Wie töricht doch der Hochmut macht und wie eifrig das Bemühen ist, seinem Oberen zu gefallen, wenn man gesündigt hat!