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5IN DER KATHEDRALE NOTRE-DAME

Nach dem Morgenmahl begaben Meister Philippe und ich uns zur Kathedrale Notre-Dame.

»Es hätte mir, ich gestehe diese Sünde gern, ein gewisses Vergnügen bereitet, die Schönfrau zur Messe fuhren zu lassen. Dort sitzen die zwölf Domherren zu Notre-Dame auf ihren hohen Stühlen im Chor- und unser Dirnchen hätte Muße gehabt, sie eingehend zu betrachten. Vielleicht hätte sie sich dann doch erinnert, welchem der fleischeslustigen Diener des HERRN sie in jener fatalen Nacht begegnet sein mag. Doch stark ist die Sünde des Weibes, stärker jedenfalls als mancher Plan eines Inquisitors.« Meister Philippe seufzte, schien jedoch nicht wirklich betrübt zu sein.

»Nun denn, dann werde ich die Domherren nach der Messe einzeln befragen. Wir wollen ja kein unnötiges Aufsehen erregen. Geredet wird in Paris sowieso schon genug.«

So kam es, dass wir uns zum Ende der Messe in GOTTES wundersames Haus schlichen wie zwei Diebe in der Nacht. Unauffällig trat Meister Philippe zu einem großen, rotgesichtigen Domherrn: Es war, wie ich später erfahren sollte, Nicolas d'Orgemont, der Dekan der zwölf Domherren.

Für einen Moment glaubte ich schon, den Geistlichen vor mir zu sehen, der seine Gelüste an Jacquette ausgelebt hatte - passte ihre Beschreibung denn nicht perfekt auf ihn? Doch als ich die unchristliche Wut, die sich meiner Seele bemächtigen wollte — und die meinen eigenen sündigen Gedanken mindestens genauso entsprang wie gerechtfertigtem Zorn —, bemeistert hatte, da erkannte ich, dass elf der zwölf Domherren feist und rotgesichtig waren. Nur einer war hager, hochgewachsen und schon im Greisenalter. Ihm allein traute ich jene nächtliche Unzucht nicht zu.

Der Inquisitor nahm Nicolas d'Orgemont beiseite und flüsterte ein paar Worte mit ihm. Dann zogen sich die beiden, zu meiner großen Enttäuschung, in eine Nische neben einer Kapelle im Chorumgang zurück. Ich erkannte die Absicht von Meister Philippe. Er wollte jeden Domherrn einzeln befragen — doch so, dass es einfachen Gläubigen, die auch jetzt noch in großer Zahl im Kirchenschiff wandelten, beteten, vor den Beichtstühlen anstanden oder Kerzen entzündeten, nicht weiter auffiel.

Und mich, den jungen Mönch aus der Fremde, ließ er bei diesen delikaten Befragungen diskret außer Hörweite warten. Deshalb sagte ich mir denn, dass Demut eine der schönsten Tugenden eines Mönches sei — und ich mich nun in ihr üben durfte.

So kniete ich mich vor den großen Altar und verharrte im Gebet, während der Inquisitor einen Domherrn nach dem anderen in abgelegenen Winkeln der Kathedrale zum brüderlichen Gespräch bat. Doch mein Flehen zu GOTT kam nicht aus tiefster Seele. Zwar murmelte ich die Bußformeln, doch noch während ich dies tat, schweifte mein Blick ab vom Altar. Ich betrachtete die reich verzierte Chorschranke - dort sah ich fein gearbeitete Skulpturen: Im Mittelpunkt stand der Engel, der Maria verkündete, dass sie den Heiland empfangen habe. Et ingressus angelus ad eam dixit have gratia plena Dominus tecum benedicta tu in mulieribus.

Die Heilige Mutter GOTTES hatte der Künstler allerliebst dargestellt. Sie war eine junge Prinzessin, ihr schlanker Körper umhüllt von einem wallenden Gewand, ihre langen wunderschönen Haare kunstvoll geflochten, der Blick demutsvoll gesenkt, das anmutige Gesicht fein und makellos.

Doch Frömmigkeit erfüllte mich nicht bei diesem Anblick, im Gegenteil. Oh, ich schaudere selbst jetzt noch, nach so vielen Jahren und so vielen Sünden, dies dem Pergament anzuvertrauen, doch ich muss gestehen, dass mir an jenem Tag in Notre-Dame der Anblick der Heiligen Maria ganz andere Dinge ins Gedächtnis rief. So inbrünstig ich auch meine Gebete murmelte, so hoffnungslos waren diese Exerzitien, denn unaufhaltsam stieg das Bild von Jacquette in meinem Geiste auf. Ich blickte auf das liebevolle Gesicht der Mutter GOTTES - und sah doch nur die Schmutz starrenden, müden, verängstigten Züge der Schönfrau. Ich blickte auf das kostbare Gewand der Himmelskönigin — und sah doch nur die Lumpen der Dirne. Und als ich an diese Lumpen dachte, kam mein Geist wie durch einen unentrinnbaren Zwang gelenkt auf den Leib, den jene Lumpen wohl verdecken mochten. Die Hitze lief durch meinen Körper wie ein Fieber und ich schämte mich, denn ich wusste sehr wohl, dass dies keine Krankheit des Körpers war, sondern eine der Seele. Ich zwang mich zum Aufstehen, verbeugte mich vor dem Abbild des gekreuzigten Heilands und riss meinen Blick los von jener Szene in der Chorschranke. Doch kaum hatte ich mich umgedreht, da erblickte ich zufällig in einer der Bänke eine reich gekleidete Bürgerin, völlig in ihr Gebet versunken. Sie war eine würdige Matrone mit ergrautem Haar und einem machtvollen Körper, doch sie trug einen Schleier über dem Haupt, ganz ähnlich dem, den ich erst vor kurzer Zeit erblickt hatte.

So wurden meine Gedanken plötzlich auf Klara Helmstede und auf ihr Lächeln gelenkt. Und meine Seele entkam auch jetzt nicht der Sünde der Wollust. Oh, wie ich mich schämte! Ich weiß nicht, wie weit meine verderbten Fantasien mich noch getragen hätten, doch an jenem Tag war es der HERR selbst, der mich rettete, indem er mir einen vom heiligen Wahnsinn Geschlagenen schickte.

»Das Ende der Welt ist nah! Bereut, solange ihr noch Reue zeigen könnt!«, rief plötzlich ein Mann, der mir bisher gar nicht aufgefallen war. Er war klein und hager, ziemlich alt, fast zahnlos und von der Gicht gekrümmt. Er hatte sich aufgerichtet und nun rief er mit hoher Stimme, während ihm Speichel aus den Mundwinkeln floss: »Die Menschen werden sterben wie die Ratten! Ohne Trost des HERRN! Denn der HERR zürnt unserem Menschengeschlecht und wird es vertilgen ob unserer Sünden. Furunkel werden die sündige Haut der Menschen überziehen, sie werden aufplatzen und faulige Miasmen werden ihnen entweichen! Und Weiber wie Männer werden Blut spucken und sterben am dritten Tag! Ich kann dies bezeugen, denn ich habe es schon gesehen zu Jerusalem!«

Für ein paar Augenblicke waren alle Menschen im riesigen Hause GOTTES vollkommen erstarrt, als diese Stimme mit ihren schrecklichen Prophezeiungen zwischen den Säulen hallte und zum Himmel hin verklang. Doch dann lachten zwei Buben lauthals und riefen ihm Hohnworte zu. Und als wäre dies ein Zeichen, so wich unser aller Beklemmung.

Die Matrone vertiefte sich wieder ins Gebet, ich wandelte - äußerlich demutsvoll, wie es sich für einen Mönch geziemt — langsam durch das Kirchenschiff. Kurz darauf eilten einige Knechte der Domherren herbei, griffen dem immer lauter und schrecklicher schreienden Alten links und rechts unter den Arm und zerrten ihn zum Portal, wo sie ihn mit Tritten und Hieben hinauswarfen.

Ich dankte GOTT, dass er mir jenen Wahnsinnigen geschickt hatte, denn seine erschreckenden Worte lenkten mich von meinen eigenen Gedanken ab.

Oh, hätte ich mich doch an das Wort erinnert, dass aus dem Munde der Verwirrten oft die Wahrheit am reinsten erklingt! So aber dachte ich nur an mich und meine Sünden - und hatte, kaum dass er fortgeschafft worden war, die düsteren Prophezeiungen des namenlosen Alten schon wieder halb vergessen.

In dem kleinen Tumult hatte ich Meister Philippe kurz aus den Augen verloren. Daher war ich überrascht, ja fast erschrocken, als der Inquisitor plötzlich vor mir stand. »Wir wollen gehen«, sagte er bestimmt.

Wir verließen Notre-Dame durch das Südportal. Zu unserer Linken erhoben sich die Streben des Chores zu einem gewaltigen, sich wölbenden steinernen Wald. Zwischen den Kapellen, Pilastern und Pfeilern stand allerlei Volk: Marketender, die mit lauten Stimmen Esskastanien und Nüsse anpriesen; Krüppel und Bettler, die um Almosen flehten; alte Weiber, die Kirchgängern kleine Kerzen anboten - und einige Frauen, die scheinbar müßig im Schatten der großen Streben standen und manchen Männern, die an ihnen vorüberliefen, Worte zuriefen, die ich nicht verstehen konnte. Ich sah einen Mann, der daraufhin stehen blieb und kurz mit einem der Mädchen flüsterte, bevor sie zusammen tiefer hineingingen ins Dickicht der Streben, wo die Schatten selbst zur Mittagsstunde so dicht sind, dass das Auge sie kaum zu durchdringen vermag.

»Wieder eine Todsünde mehr«, bemerkte Meister Philippe, der meinem Blick gefolgt war, und schlug das Kreuz. »Jetzt, da ich mit den Domherren geredet habe, wundere ich mich allerdings nicht mehr, dass sie diesem wollüstigen Treiben im Schatten von Notre-Dame keinen Einhalt gebieten.«

»Ihr habt den Mann gefunden, der Jacquette …«, fragte ich, doch ließ ich den Satz unvollendet.

Der Inquisitor schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich leugnen sie alle. Selbstverständlich sind sie empört, dass ich, nur aufgrund der Aussage einer verderbten Sünderin, überhaupt in Erwägung ziehen kann, dass ein Domherr zu Notre-Dame zu so einer Tat fähig wäre. Und selbstverständlich boten sie mir trotzdem ihre brüderliche Hilfe bei meinen Nachforschungen an.«

Meister Philippe schnaubte verächtlich. »Fürwahr, ich glaube, ich könnte jeden dieser feinen Diener GOTTES der Wollust wegen anklagen und ich würde immer den Richtigen treffen. Doch in Paris wird schon so viel geredet, die guten Bürger der Stadt sind in Angst. Du hast ja selbst gerade gehört, wer alles das Wort zu erheben wagt in diesen Tagen. Da kann ich schlecht alle zwölf Domherren von Notre-Dame offiziell vor ein Inquisitionsgericht laden. Was gäbe das für ein Gerede!«

Meister Philippe lachte und schien sich offensichtlich doch genau jene Szene vorzustellen. Dann schüttelte er den Kopf. »Ein paar Zeichen — ein unbedachtes Wort von ihm, die kleine, gehässige Bemerkung eines anderen Domherrn - lassen mich glauben, dass der Dekan selbst jener Mann war, der in der Nacht des Todes die Sünderin Jacquette schlug, bis ihr die Sinne schwanden.«

»Ihn hatte ich gleich in Verdacht!«, rief ich triumphierend. »Nur nicht so laut, mein junger Bruder«, beschwichtigte mich der Inquisitor und lächelte dünn. »Selbstverständlich hat die Inquisition das Recht, auch einen Domherrn vorzuladen und, wenn es denn sein muss, sogar auf der Streckbank zu befragen.

Doch Nicolas d'Orgemont ist nicht irgendein Bauer. Er entstammt einer der angesehensten Adelsfamilien der Ile de France und ist ein treuer Gefolgsmann des Königs. Könnte ich ihn einer schrecklichen Sünde wegen anklagen, dann würden seine mächtigen Freunde wohl aus Abscheu und auch aus Angst vor der Inquisition ein Verfahren hinnehmen. Doch wenn meine Anklage nur darauf lautet, dass der Domherr eine Dirne verprügelt hat? Dann würden sich Nicolas d'Orgemont und seine Gönner empören und sich in Avignon bei Seiner Heiligkeit beschweren. Selbst wenn ich mich durchsetzte — und dies wäre keineswegs sicher, wenn der Papst sich einmischte —, würde es mich Jahre kosten, bis ich den Dekan verurteilt hätte. Es wäre den Aufwand nicht wert, solange größere Sünder als er ungestraft auf GOTTES Erde wandeln.«

*

Am Abend jenes Tages warf ich mich auf meine Pritsche und grübelte, warum GOTT es wohl so eingerichtet hatte, dass manche Menschen SEINE Diener mehr zu fürchten haben als andere. Ob- zwar doch Jacquette und Nicolas d'Orgemont der gleichen Sünde, nämlich der der Wollust, gefrönt hatten, wurde die Schönfrau ohne Federlesens in den Kerker geworfen, der Dekan der Domherren hingegen musste nicht einmal zehn PATER noster aufsagen, zu denen doch selbst Kinder nach harmlosen Streichen verpflichtet sind.

Wog nicht die Sünde des Domherrn sogar schwerer als die der Frau, die ihm dabei zu Diensten war? Denn ihn trieb doch die Wollust, sie hingegen vor allem die Not, sich ein paar Sous zu verdienen. Er war ein Mann der Kirche, von dem die Lämmer GOTTES hoffen durften, in ihm einen Hirten zu sehen, während niemand dieses Vertrauen einer Schönfrau entgegenbringen würde.

Irgendwann wurde mir klar, dass ich in meinem Geiste eine Sünderin wie Jacquette beinahe schon verteidigte, während vor dem Inquisitionsgericht meiner Seele ein Mann der Kirche keine Gnade fand. So verhext das Weib unser Urteilsvermögen!

Um nicht selbst schon wieder sündiger Gedanken schuldig zu werden, erhob ich mich von meiner Pritsche. Es wurde Zeit, dass ich den nächtlichen Geräuschen nachging!

Oh, wie unwissend ich doch war. Ich stellte mir vor, dass ich nur heimlich durchs Kloster schleichen müsste, bis ich verdächtigen Lärm hörte, dann würde ich jenen seltsamen Begebenheiten schon auf die Spur kommen. Doch als ich mich — es musste wohl noch eine Stunde sein bis zu den Nocturnes - vorsichtig aus meiner Zelle wagte, da war das Kloster totenstill.

Lautlos brachte ich den Gang hinter mich, der zum Dormitorium führte. Als ich an dem offenen Bogen lauschte, der zum Schlafsaal der Brüder führte, da vernahm ich die üblichen Geräusche von ein paar Dutzend Menschen in der Nacht: Schnarchen und Grunzen, das Rascheln von Stroh, wenn sich ein unruhiger Schläfer von Seite zu Seite wirft, Husten und Keuchen, unverständliches Gemurmel von jemandem, den ein schwerer Traum heimsucht. Ich tastete mich zum Kreuzgang weiter. Hier, wie überall, brannten nur wenige Talglichter, deren gelblicher Lichtschein kaum ein paar Handbreit weit reichte und den größten Teil des Klosters in Dunkelheit beließ. In den Schatten hätten sich hundert Landsknechte verstecken können, ich hätte sie nicht bemerkt.

Im Kreuzgang erklang das leise Murmeln des Springbrunnens. Ich erschrak, als ich plötzlich ein kaum vernehmbares Sirren mehr spürte als hörte: Schwarze Schatten, noch dunkler als die Nacht, tanzten in der Luft.

»HERR, errette mich«, flüsterte ich und kniete nieder, denn ich glaubte, die Seelen verdammter Toter würden um mich tanzen. Doch es waren nur Fledermäuse, die in nächtlichen Flügen um mein Haupt kreisten.

So wanderte ich durch das Kloster wie durch ein finsteres Tal, doch niemand war mein Hirte. Das Skriptorium lag verlassen, die Bibliothek ebenso. Die Küche war kalt, der Kapitelsaal leer. In der Kirche war niemand. Und selbst, als ich all meinen Mut zusammengenommen hatte und den Gang entlangschlich, welcher zu den Zellen des Priors, Meister Philippes und anderer hochgestellter Brüder führte, war meine Beherztheit umsonst, denn auch hier war es dunkel und still.

So spukte ich denn im Kloster herum, als wäre ich selbst eine verlorene Seele, bis es Zeit wurde für die Nocturnes. Unauffällig reihte ich mich in die Kette der Mönche ein und schritt in die Kirche - mit Augenlidern und Beinen schwer wie Blei vor Müdigkeit, doch um nichts weiser als zuvor.

*

Am nächsten Morgen nahm mich Meister Philippe nach dem Mahl beiseite und lud mich ein, mit ihm im Kreuzgang zu wandeln. Langsam schritten wir um das Geviert. Licht fiel in den Hof, der Brunnen leuchtete, zwischen den Säulen, welche den Kreuzgang trugen, glänzte die Luft wie goldene Schleier. Doch es war noch kühl zu dieser frühen Stunde und fröstelnd verkroch ich mich in meiner Kutte, schlug die Kapuze hoch und schlang meine Arme ineinander. Der Inquisitor lächelte mich nachsichtig an. »Verzeih mir, mein junger Bruder«, hub er an, »du hast den langen, beschwerlichen Weg von den deutschen Landen bis nach Paris unternommen. Und hier bist du nun, statt an der Universität zu studieren, von morgens bis abends auf den Beinen, um einen finsteren Sünder zu jagen. Ich war etwas gedankenlos in meinem Eifer, das Böse zur Strecke zu bringen. Nicolas Garmel hat Heinrich von Lübeck aufgebahrt, heute Abend wollen wir ihn in geweihter Erde bestatten als Märtyrer seines Glaubens. Zuvor jedoch möchte ich vom Bader wissen, ob ihm, der den Toten entkleidet und gewaschen hat, vielleicht noch etwas aufgefallen sein mag.« Er deutete auf mich. »Du jedoch ruhst dich aus. Erstens schickt es sich nicht für einen jungen Mönch, das Fleisch zu betrachten, nicht einmal das eines toten Mitbruders. Und zweitens sollst du einen Tag haben, um zu Kräften zu kommen. Die Jagd nach dem Unhold wird länger dauern, als der Prior und ich zunächst gedacht hatten. Du wirst wohl noch viele Tage mit mir durch Paris streifen, bevor du endlich die Universität betreten darfst. Also nutze diesen Tag, um Seele und Leib zu sammeln.«

Ich hätte ihm gerne widersprochen, denn längst hatte mich die Neugier gepackt. Die Jagd nach dem Sünder schien mir weit spannender und GOTT gefälliger zu sein als das Studium uralter Folianten - auch wenn ich über eine solche Aussage vor ein paar Tagen noch heftig gelacht hätte. Doch am Tonfall des Inquisitors erkannte ich, dass mein Flehen nichts nützen würde. Ich verneigte mich deshalb demütig und murmelte Dankesworte.

Doch wo eine Sünde ist, da sind die anderen nicht weit. Nicht nur hatte ich mich im Geiste längst mit der Sünde der Wollust befleckt, auch Falschheit und Hochmut bemächtigten sich nun meiner. Ich dachte gar nicht daran, der Anweisung von Meister Philippe Folge zu leisten. Warum, so sagte ich mir, sollte ich im Kloster ausharren, wenn irgendwo auf den Straßen von Paris ein Mann herumlief, dessen Seele verdammt war? War nicht auch Faulheit eine der Todsünden? Würde ER es gerne sehen, dass ich untätig herumsäße, während der ältere Inquisitor die beschwerlichen Untersuchungen allein auf sich nahm?

So redete ich mir selbst Mut zu - wie jeder Narr, der bereit ist, sehenden Auges in sein Unglück zu rennen.

Ich wartete, ins Gebet versunken, in der Kirche, bis ich sicher war, dass Philippe de Touloubre das Kloster verlassen hatte. Viele meiner Mitbrüder beugten im Skriptorium oder in der Bibliothek ihre Häupter über heiligen Schriften und hatten keinen Blick für das, was außerhalb der Mauern ihrer Räume geschah. Ein paar ältere Mönche und die Novizen harkten den Kies im Kreuzgang und arbeiteten im Kräutergarten oder in der Küche.

Doch wir Dominikaner beschränken uns ja nicht auf das klösterliche Leben. Brüder, denen GOTT in besonderem Maße die Gabe der Rede geschenkt hat, gehen hinaus in die Welt und predigen SEIN Wort zu den Menschen, wie Jesus es einst getan hat. So gingen auch im Kloster an der Rue Saint-Jacques einige Brüder, manche allein, andere in kleinen Gruppen, auf die Straße und strebten dort verschiedenen Kirchen und Plätzen zu, an denen sie SEIN Wort verkünden wollten.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, hüllte mich tief in meine Kapuze — und schritt dann mit der Selbstsicherheit desjenigen, der ein heiliges Ziel vor Augen hat, am Portarius vorbei. Der blickte kaum auf und nickte nur, ohne mich nach meinem Weg zu fragen. So verließ ich das Kloster - und stand zum ersten Mal allein auf den Straßen von Paris.

Doch was sollte ich nun tun? Ich war so erregt und zugleich auch ratlos, dass ich zusammenzuckte, als mich ein herrenloser Hund anbellte. Dann jedoch lächelte ich und nahm es als ein Zeichen, das ER mir gesandt hatte. War ich nicht einer der DOMINI canes? Verbeißt sich nicht auch ein Hund in eine Spur, schnüffelt, die Nase am Boden, und verfolgt sie über Stunden, bis er sein Ziel gefunden hat? Vergräbt er nicht Dinge in der Erde? Sind nicht die Knochen, die er so verbirgt, seine Schätze? Schätze — das war es, was mir in der Seele hängenblieb: das Geld, das Heinrich von Lübeck bei sich getragen hatte! So wandte ich mich denn nach rechts, die Rue Saint-Jacques hinunter Richtung Seine. Nun hatte ich ein Ziel: den Grand Pont, die Brücke der Geldwechsler.

Ich strebte, so schnell es meine Würde als Mönch zuließ, zum Herzen der Stadt. Auf der Straße drängten sich, wie üblich, Mann und Weib, Herr und Diener, Greis und Kind, dazu Schweine, Hunde, Katzen. Ich vermag bis heute nicht zu sagen, woran es lag, doch an jenem Tag glaubte ich zum ersten Mal, dass Menschen und Tiere auf den Straßen von Paris plötzlich lauter geworden seien, zugleich zorniger und ängstlicher. Die Fuhrleute schienen mir noch rascher zur Peitsche zu greifen als sonst; Betrunkene grölten obszöne Vagantenlieder, selbst zu dieser frühen Stunde; zwei Marktfrauen beschimpften sich kreischend; ein räudiger Hund folgte mir wohl hundert Schritte und bellte mich unaufhörlich an, bis ich, die Würde meines Standes vergessend, einen Klumpen Dreck aufhob und nach ihm warf; ein halbes Dutzend Katzen fauchten in einer dunklen, nach Ausscheidungen stinkenden Gasse ein verletztes Schwein an, das vor und zurück rannte, von seinen Peinigern jedoch stets wieder gestellt wurde; und selbst die Ratten, sonst doch tückisch und scheu, waren frech geworden, versuchten nicht mehr, sich zu verbergen, sondern huschten den Bürgern fast über die Füße.

Einige Bengel machten sich einen Spaß daraus, die Ratten mit Stöcken und Steinen zu jagen. Ein paar wurden ihnen zum leichten Opfer, denn sie waren ungewöhnlich langsam und bluteten schon aus der Schnauze, noch bevor sie einer der Jungen zum ersten Mal getroffen hatte.

Ich jedoch ging die Straße hinunter, als gehörte ich nicht in diese Welt. Manche Menschen grüßten mich respektvoll, die meisten allerdings wichen vor mir zurück. Ich erlag der Sünde der Hochmut, denn ich spürte, dass die Bürger Angst hatten - wenn nicht vor mir, so doch vor meiner Kutte. Stolz war ich und ich fühlte mich wichtig und als Abgesandter des HERRN. Und doch gab es an jenem Tag keinen größeren Narren auf der Rue Saint-Jacques als mich. Vor dem Grand Pont erblickte ich den jungen Sergeanten de la Douzaine, der uns zwei Tage zuvor die Nachricht von Jacquettes Flucht überbracht hatte. Ich ging auf ihn zu, erwiderte seinen respektvollen Gruß mit segnender Hand und sagte ihm geradeheraus, dass ich einen Geldwechsler suche, der mir Aufklärung geben könne über alte Münzen und solche aus fernen Ländern.

Der Sergeant lachte kurz. »Jeder Geldwechsler kennt Münzen aus den Ländern der Christenheit und sogar solche, die in den Ländern der Heiden geprägt worden sind. Das ist ja ihr Beruf, Bruder«, erklärte er mir — offensichtlich froh darum, mir diesmal keine unangenehme, sondern eine nützliche Neuigkeit kundzutun.

»Und alle Geldwechsler sind Schurken, denen man nicht vertrauen darf. Auch das gehört zu ihrem Beruf.«

»Möchtet Ihr selbst Geld anlegen, Bruder?«, fragte er dann. »Aber nein«, erwiderte ich empört. »Ich bin Mönch, ich besitze nichts von dieser Welt. Ich verlange nur nach einer Auskunft. Sie wird mir bei einer Untersuchung der Inquisition vielleicht von großem Nutzen sein.«

Der Sergeant blickte mich einen Augenblick lang mit ausdrucksloser Miene an, sodass ich nicht zu erraten vermochte, ob er den richtigen Schluss zog und mein Anliegen mit dem Tode Heinrich von Lübecks in Verbindung brachte oder ob er meine Erklärung nur für eine vorgeschobene Lüge hielt, die verbergen sollte, dass ich doch heimlich ein Vermögen anlegen wollte.

»Der erfahrenste und, wenn man so will, der ehrlichste der Geldwechsler ist Pietro Datini«, sagte der Sergeant schließlich nach einigem Nachdenken. »Ein Florentiner, doch wohnt er schon seit vielen Jahren in Paris. Er hat seine Wechselstube im ›Haus zum Falken‹. Es ist das größte Haus auf der rechten Seite des Grand Pont. Ihr könnt es nicht verfehlen, Bruder.«

»GOTT segne dich«, erwiderte ich zufrieden und begab mich auf die Brücke.

*

Der Sergeant hatte Recht: Das »Haus zum Falken« erhob sich auf der rechten Seite der großen Brücke, ungefähr auf halbem Wege über den Strom. Es war, wie alle Anwesen auf dem Grand Pont, aus Holzbalken gezimmert, schmal und hoch. Doch es war eine Winzigkeit höher als die Nachbarhäuser. Diese kleine Unregelmäßigkeit musste Datini, ein Vermögen gekostet haben, schließlich hatte der König die Höhe der Gebäude auf der Brücke einst genauestens beschränkt. Die Balken waren glatt gehobelt und grün und rot gestrichen, die Fenster verglast, den Eingang zierte feines Schnitzwerk: Eine üppige — und wie ich fand höchst sündige, ja heidnische — Dame schüttete ein Füllhorn aus. Ein Symbol des Reichtums, vermutete ich. Die Barmherzigkeit oder die Freigebigkeit würde es bei einem Geldwechsler wohl kaum darstellen. Über dem Kopf der Frauengestalt war ein vergoldeter Raubvogel mit gespreizten Schwingen angebracht, was diesem Haus zu seinem Namen verholfen hatte.

Ich zögerte kurz und blickte mich um. Gedränge und Lärm herrschten auf dem Grand Pont, doch niemand schien meiner zu achten. Also holte ich noch einmal tief Luft und trat mit einem raschen Schritt über die Schwelle ins »Haus zum Falken«. Ich fand mich in einem großen, sauber gefegten Raum wieder. Es roch nach Holz und Kerzenwachs. Die großen Fenster ließen ungewöhnlich viel Licht herein, doch dämpften sie den Lärm der Marktschreier und eisenbeschlagenen Karrenräder, die über die Brücke rumpelten. Nur ein ständiges, feines Zittern des Fußbodens verriet einem in dieser Stube noch, dass man sich auf einer Brücke, nur ein paar Mannslängen über der schäumenden Seine befand und nicht auf GOTTES fester Erde.

Zu meiner Rechten erstreckte sich ein großer Tisch fast über die ganze Länge des Raumes. Auf seiner mit Filz überzogenen Platte stand eine bronzeschimmernde Waage, daneben lag ein Rechenbrett. Geldstücke konnte ich keine erblicken, doch hinter dem Tisch gewahrte ich einige eisenbeschlagene, mit je zwei oder drei Schlössern gesicherte Kisten - und es war nicht schwer zu erraten, was darinnen sein mochte.

Zu meiner Linken öffnete sich die Rückwand zu einer schmalen Stiege, die in die oberen Stockwerke führte.

Ein junger Mann in unauffälliger dunkler, doch wohl geschneiderter Kleidung stand hinter dem Wechseltisch und blickte mich einen Augenblick erstaunt und furchtsam an. Dann fing er sich wieder, verbeugte sich und eilte geschäftig um den Tisch herum, um mich zu begrüßen.

»Was kann ich für Euch tun, Bruder?«, fragte er. Sein Französisch hatte einen starken Akzent, der mir unbekannt war. »Ich wünsche den Herrn Datini zu sprechen«, entgegnete ich und vermied es absichtlich, meinen Namen zu nennen. Mein Mönchshabit reichte aus, um den Mann von meiner Ernsthaftigkeit zu überzeugen. Ohne mir weitere Fragen zu stellen, führte er mich, unter vielerlei Verbeugungen, die Stiege hinauf. Im ersten Stock öffnete sich vor mir ein Raum, der zur Rückseite der Grand Pont lag. Ein breites Fenster gab einen berauschenden Blick auf die Türme und Dächer von Paris frei, auf die Pinassen und Wassermühlen, welche die Wellen der Seine bedeckten, und auf die himmelstrebende Kathedrale von Notre-Dame. Das Fenster war geöffnet und ließ eine erfrischende Brise in die Stube. An der Seite standen ein paar Truhen unterschiedlicher Größe, in der Mitte ein Schreibpult und mehrere bequeme, hochlehnige Stühle.

Auf einem saß ein Mann in rotem Wams, der eine Urkunde studierte. Nach dem, was mir der Sergeant gesagt hatte, hätte ich erwartet, dass Pietro Datini schon ein älterer Mann war. Doch er war jünger, als ich vermutet hatte, sicherlich kaum jenseits der Dreißig. Er war groß und hager und hatte lange, lockige, dunkle Haare. Sein Gesicht war schmal, seine Augen standen eng beisammen. Am Auffälligsten war jedoch seine Nase: Sie war lang, leicht nach rechts gebogen und von Wucherungen entstellt. Sie allein zerstörte Ebenmaß und Schönheit seiner Züge.

Ich zwang mich, nicht auf seine entstellende Nase zu starren, als sich der Geldwechsler mit einer eleganten Bewegung erhob, die Urkunde zusammenrollte, sich formvollendet verbeugte und mich höflich begrüßte.

»Womit kann ich Euch dienen?«, fragte er. Sein Französisch hatte denselben Akzent wie das des jungen Mannes, der sich, kaum dass wir eingetreten waren, auch schon wieder geräuschlos zurückgezogen hatte. Seine Stimme klang hoch und gepresst - eine Folge der Wucherungen, die ihm den Atem nahmen, vermutete ich. Zugleich bot er mir mit einer Geste einen Platz an.

Ich nickte dankend und nahm auf einem der hochlehnigen Stühle Platz. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich auf einem so bequemen Stuhl gesessen, doch bemühte ich mich, mir die angenehme Freude, die mich darob erfüllte, nicht anmerken zu lassen. Unterwegs hatte ich mir den Kopf zermartert, welche Geschichte ich dem Geldwechsler auftischen sollte, um mein Anliegen zu verschleiern. Doch schließlich beschloss ich, zu meinen vielen Sünden nicht auch noch die der Lüge hinzuzufügen. Außerdem fürchtete ich, dass ein Geldwechsler, erfahren in Dingen dieser Welt, mein Lügengespinst durchschauen könnte. Also blieb ich bei der Wahrheit. »Mein Name ist Ranulf Higden«, hub ich an. »Ich diene dem Inquisitor Meister Philippe de Touloubre. Wir untersuchen den Fall unseres so tragisch dahingeschiedenen Mitbruders Heinrich von Lübeck. Ihr habt davon gehört?«

Pietro Datini blickte mich aufmerksam an, dann nickte er. Kein Wort kam über seine Lippen, seine Züge verrieten nichts: weder Interesse, noch Neugier, noch Entsetzen, Abscheu, Trauer oder sonst eine Reaktion, die man doch von einem Christenmenschen erwarten mochte.

»Wir haben bei Heinrich von Lübeck einen Beutel mit Münzen gefunden. Nun fragen wir uns, wo die wohl herkommen mögen.« Dann beschrieb ich dem Geldwechsler möglichst genau die alten, doch wenig benutzten Gold- und Silberstücke, die der Tote bei sich gehabt hatte.

»Wir Mönche sind arm«, fuhr ich fort. »Heinrich von Lübeck hat dieses Geld auch nicht von unserem Orden bekommen, um dafür irgendetwas zu kaufen. Wir wissen weder, wie er in den Besitz eines solchen Vermögens gelangte, noch, ob und — falls ja — wofür er es hätte ausgeben wollen. Da dachte ich mir, dass vielleicht ein so erfahrener und angesehener Geldwechsler wie Ihr, Herr Datini, etwas gehört habe.«

»Was sollte ich denn gehört haben?«, fragte mich der Geldwechsler. Doch in seiner Stimme lag kein Spott, sondern auf einmal echtes Interesse.

»Nun«, ich wusste nicht recht weiter, sprach jedoch rasch, da Datini meine Ratlosigkeit nicht bemerken sollte, »das Geld ist doch euer Geschäft. Hört Ihr da keine Gerüchte? Spricht es sich nicht in euren Kreisen herum, wenn da jemand Dutzende, vielleicht Hunderte Gold- und Silbermünzen hat? Sie vielleicht einzahlen will? Oder damit etwas kaufen möchte? Ein Mönch zumal — und noch dazu einer, der erst seit ein paar Tagen in Paris weilt?«

»Wäre Heinrich von Lübeck mit so einem Vermögen zu einem Geldwechsler gegangen, ich hätte davon gehört. Nicht nur, wenn es sich dabei um einen Geldwechsler in Paris handelte, sondern um irgendeinen Geldwechsler im Abendland«, antwortete Datini bestimmt. »Es sei denn …« Er schien plötzlich nachdenklich zu werden. »Es sei denn was?«, hakte ich nach, plötzlich erregt wie ein Jäger, der einen Hirsch im Unterholz erspäht.

»Es sei denn, er hat es von einem Juden«, antwortete Datini. Bevor ich empört aufspringen konnte, beschwichtigte er mich mit einer Handbewegung. »Verzeiht, Bruder, ich weiß, dass es ungehörig ist, einen Dominikaner auch nur mit einem Satz in die Nähe eines Juden zu rücken, doch will ich es Euch erklären: Geld — große Summen zumindest, wie Heinrich von Lübeck sie bei sich getragen hatte - bekommt ihr im Abendland von einigen ehrbaren christlichen Geldwechslerhäusern. Von angesehenen Häusern in Florenz und in der Lombardei, von den Fuggern und Welsern in deutschen Landen, von einigen Herren in Flandern.

Wir mögen Rivalen sein in geschäftlichen Dingen, doch«, und hier lächelte Datini, »letztlich gibt es weniger große Geldwechsler im Abendland als Könige. Wir kennen uns. Alle. Wir hören, wer seine Zinsen zahlt und seine Pfänder wieder einlöst — und wer nicht. Wir wissen, ob ein hoher Herr, gleich ob Fürst oder Kleriker, Geld braucht - und wir wissen wofür. Die Summe, die ihr bei Heinrich von Lübeck gefunden habt, mag längst nicht so groß sein wie das, was wir hohen Herren bereit sind zu leihen, doch, wie Ihr selbst sagtet, wäre es so ungewöhnlich gewesen, dass ein einfacher Dominikanermönch sie erfragt - und auch tatsächlich erhält —, dass sich dies herumgesprochen hätte.

Es sei denn, er wäre zum Juden gegangen. Denn die Juden leihen ja ebenfalls Geld, wie es ihnen der HERR und die Mutter Kirche geboten haben. Auch sie findet ihr überall im Abendland, auch sie kennen sich und hören sich um. Doch wir christlichen Geldwechsler reden nicht mit den jüdischen — und die Juden nicht mit uns. Sollte Heinrich von Lübeck seine Münzen also von einem Geldwechsler haben, dann von einem Juden.«

Ich holte tief Luft, um zu protestieren, doch dann besann ich mich eines Besseren. Datini hatte Recht. »Wie viele Juden leben in Paris, bei denen man sich eine solche Summe leihen könnte?«, fragte ich. Der Florentiner zuckte mit den Achseln. »Ein Dutzend? Zwei Dutzend? Ich weiß es nicht. Wenn euer verstorbener Bruder, wie Ihr sagtet, erst einige Tage in der Stadt war, dann wäre es selbstverständlich auch möglich, dass er sich die Münzen bereits in Lübeck besorgt hat. Oder irgendwo unterwegs.«

Das schien mir von unbestechlicher Logik zu sein und ich nickte. »In Lübeck ist er bekannter als hier. Er wird dort eher jemanden gefunden haben, der bereit war, ihm Geld zu leihen, als hier in Paris, wo ihn niemand kannte.«

Datini nickte ebenfalls, doch, wie mir schien, nur, um mich nicht durch Widerspruch zu beleidigen.

»Oder denkt Ihr darüber anders, Herr Datini?«, hakte ich nach. Der Geldwechsler lächelte dünn, zögerte lange und schien dann einen Entschluss gefasst zu haben. »Ich will vollkommen aufrichtig sein zu Euch, Bruder Ranulf, so aufrichtig, als säße ich bei Euch im Beichtstuhl und würde mein Gewissen erleichtern. Ich verrate Euch nun etwas, das kein Geldwechlser gerne irgendjemandem gegenüber erwähnen würde, nicht einmal gegenüber der eigenen Gattin: Die Geschäfte gehen schlecht zurzeit.«

Ich blickte ihn fragend an, war jedoch klug genug, nichts zu sagen. »Seit Jahren schon herrscht Krieg im Königreich. Die Englischen und Burgundischen belagern die Städte und verwüsten das Land. Viele edle Herren, Barone und Grafen darunter, sind in den verlorenen Schlachten in die Hand des Königs von England gefallen. Der gibt sie allerdings nur gegen hohes Lösegeld wieder heraus. Doch woher soll man die Summen nehmen? Die Freunde und Verwandten der Ritter klopfen bei uns Geldwechslern an, doch welche Sicherheiten bieten sie uns? Erträge? Privilegien? Was sind die jetzt wert, in Zeiten des Krieges? Da mag mir ein französischer Ritter die Einkünfte aus einem Bergwerk oder einen Brückenzoll zur Sicherheit übertragen und dann kommen ein paar englische Bogenschützen oder burgundische Landsknechte und verwüsten das Bergwerk und zerstören die Brücke — und ich bin mein Geld los.«

Datini machte eine entschuldigende Geste und lächelte Verständnis heischend. »Wenn ich den legendären Schatz der Templer hätte, Bruder Ranulf, ja, dann wollte ich wohl jedem Ritter Frankreichs das Lösegeld vorstrecken, und wenn die hohen Herren noch so viele Schlachten verlieren. Doch das Templergeld ist verschwunden, seitdem Seine Heiligkeit den Orden für ketzerisch erklärt hat, und das Geld der guten Christenmenschen steckt fest verschlossen in versteckten Truhen.«

Datini zögerte kurz. »Zudem gibt es da noch Gerüchte …« Er seufzte. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Die Muselmanen haben Caffa angegriffen, einen Handelshafen der Genueser am Schwarzen Meer. Doch der HERR zürnte ihrer und schickte ihnen eine Krankheit ins Heerlager, auf dass sich ihre Soldaten in alle Winde zerstreuten. Das taten sie auch - allerdings haben sie zuvor die Leichen ihrer verstorbenen Soldaten mit ihren großen Katapulten über die Mauern von Caffa geschleudert. So ist auch dort die Krankheit ausgebrochen. Seither sterben Christenmenschen an den fernen Gestaden von Mittelmeer und Schwarzem Meer, Byzantiner und italienische Händler. Kein Gebet, so sagt man, hat bis jetzt dagegen geholfen. In manchen Städten der Levante, so gehen Gerüchte, soll jeder Dritte gestorben sein, ja, es soll Orte geben, in denen keine Seele mehr lebt, in denen nicht einmal mehr Hunde und Schweine streunen. Ich weiß nicht, ob ich selbst solches Gerede glauben soll oder nicht. Ich weiß jedoch sehr wohl, dass andere Menschen es glauben: So gibt es viele Reeder und Händler, die es nicht mehr wagen, mit ihren Galeeren gen Osten zu fahren. Schon herrscht auf manchen Märkten des Abendlandes ein Mangel an teuren Gewürzen und edlen Stoffen, an Elfenbein und Seide und Silber. Wenn derlei wertvolle Waren nicht angeboten werden, dann kann sie auch niemand kaufen. Und wenn niemand kauft, dann braucht auch keiner Geld, das er beim Geldwechsler leihen muss.«

Datini hob die Hände. »Ihr seht also, Bruder Ranulf, ob an diesen Geschichten aus dem Osten nun etwas Wahres dran ist oder nicht, ist für unsereins fast gleichgültig. So oder so will niemand unser Geld. Und wenn niemand mehr zu uns ehrbaren christlichen Geldwechslern kommt, dann gehen noch weniger zum Juden, da es unehrenhaft ist und von der Mutter Kirche gar nicht gerne gesehen wird.

Wenn ich ein Jude wäre«, der Florentiner lächelte dünn und schien diesen Gedanken offensichtlich höchst amüsant zu finden, »dann wäre ich in unseren unsicheren Zeiten auch bereit, einem Mönch - für welches Vorhaben auch immer — eine hübsche Summe zu leihen. Es ist besser, so ein ungewöhnliches Risiko einzugehen, als gar nichts zu tun.«

Ich dachte lange über seine Worte nach. »Ihr meint also«, sagte ich schließlich, »dass Heinrich von Lübeck dieses Geld sehr wohl auch von einem der Juden von Paris erhalten haben könnte, selbst wenn er hier kaum bekannt war. Und, immer vorausgesetzt selbstverständlich, dass er sich das Geld wirklich geliehen hat, er ist zum Juden gegangen, damit sich sein Vorhaben nicht in der Welt der christlichen Geldwechsler herumspricht.«

Datini nickte nachdenklich. »Das wäre sehr wohl möglich«, gab er schließlich zu.

»Herr Datini«, bat ich ihn, »wärt Ihr so gütig und würdet Ihr Euch ein wenig in eurer Welt umhören? Ihr mögt von den Juden wenig wissen, aber ich mag kaum glauben, dass jemand, der Gerüchte aus dem fernen Caffa kennt, gar nichts weiß vom Juden, der vielleicht nur ein paar Straßen weiter lebt.«

Der Geldwechsler lächelte. Er schien mein Anliegen nicht beleidigend zu finden, sondern, im Gegenteil, aufrichtig erfreut darüber zu sein. »Ihr seid, obgleich noch jung an Jahren, schon ein guter Inquisitor«, murmelte er. »Eure Bitte ist mir Befehl und Ehre zugleich. Ich werde, verschwiegen selbstverständlich, Erkundigungen nach Eurem Mitbruder und seinem Geld einziehen. Sollte ein Jude etwas darüber wissen, dann, das verspreche ich Euch, werdet Ihr es auch bald erfahren.«

*

Ich segnete den Geldwechsler und stand ein paar Augenblicke später wieder im geschäftigen Treiben auf dem Grand Pont — nicht unbedingt viel klüger als zuvor, doch sehr mit mir zufrieden. »Nun, Bruder Ranulf, ist GOTT euch heute besonders nah? Ihr seht so heiter drein.«

Als ich dieser Stimme so plötzlich hinter meinem Rücken gewahr wurde, da zuckte ich zusammen, als hätte Satan selbst mich angesprochen. Noch bevor ich mich umdrehte, wusste ich schon, wem sie gehörte. Klara Helmstede.

Die Frau des Lübecker Reeders trug ein schlichtes, doch teures Gewand aus feinstem dunkelgrünen flämischen Tuch. Das wallende, blonde Haar hatte sie nur unvollkommen unter einer hohen Haube und einem durchsichtigen, spitzenbesetzten Schleier verborgen. Für einen winzigen Moment fragte ich mich, warum sich eine Frau wie Klara Helmstede, die ich schon bei unserer ersten, flüchtigen Begegnung für ungemein selbstbewusst, ja geradezu aufreizend frech gehalten hatte, mit diesem zwar edlen, doch schlichten Putz zufriedengab. Dann jedoch sah ich, dass sie offensichtlich ohne Begleitung durch die Straßen von Paris ging. Ihr Gatte war nicht zu sehen und nicht einmal eine Magd, wie es doch schicklich gewesen wäre, war bei ihr. Ihr Gewand war schlicht genug, dass sie nicht allzu sehr auffiel in der Menge - und doch so fein, dass jeder, der genauer hinsah, erkannte, dass sie weder Bauersfrau noch Dienerin war.

Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. So verbeugte ich mich nur, ungelenker, als mir lieb war.

»Habt Ihr ein Schweigegelübde abgelegt?«, fragte sie mich keck. Ich schluckte. »Nein, Frau Helmstede«, brachte ich schließlich mühevoll heraus.

»Das beruhigt mich ungemein«, antwortete sie und schenkte mir ein Lächeln - offensichtlich blind dafür, dass sie mitten auf dem Grand Pont stand und sich mit einem Mönch unterhielt. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken und doch versuchte ich nicht einmal, mich mit einer knappen Geste zu verabschieden. Oh, unsichtbar ist das Netz, welches das Weib auswerfen kann! »Habt Ihr schon den Sünder gefunden, der unserem armen Bruder Heinrich derart Schreckliches angetan hat?«, fuhr Klara Helmstede fort. Sie schien nicht ernsthaft um ihn zu trauern, zumindest hörte ich kein echtes Bedauern in ihrer Stimme, eher die kecke Neugier eines vorwitzigen Mädchens.

Ich räusperte mich. »Nein, denn Satan steht den Seinen bei und versteht es, Spuren zu verwischen. Doch wir Inquisitoren dienen dem HERRN und nicht einmal der Teufel selbst kann seine Pläne für immer vor unseren Augen verbergen. Ich war gerade dabei, einer viel versprechenden Fährte zu folgen«, setzte ich überflüssigerweise hinzu. Es war die Sünde der Hoffart, die mich diesen Satz sagen ließ - und ich bereute ihn sofort.

»Eine Spur, die zu den Geldwechslern führt?«, entfuhr es Klara Helmstede. Sie schien überrascht zu sein und interessiert. Ihr Tonfall jedoch verhehlte nicht einen gewissen Spott.

Ich verfluchte meine lose Zunge. Wie oft hatte mich schon der Novizenmeister davor gewarnt, mit dem Weibe zu sprechen - und nun war ich hier, ein gelehrter Magister und Inquisitor dazu, und benahm mich wie ein angeberischer Straßenbengel. »Mehr darf ich dazu nicht sagen«, stotterte ich.

»Wie schade«, rief sie aus und machte mit ihren Händen eine weit ausholende Geste. Dann seufzte sie. »Wisst Ihr, Bruder Ranulf, es ist nicht immer leicht, die Gattin eines wohlhabenden Mannes zu sein. Eines Mannes zudem, der so alt ist, dass er mein Vater sein könnte.« Ich starrte sie verständnislos an.

Klara Helmstede lächelte nun. »Ich lebe in Lübeck in einem großen Haus. Mägde versorgen mich von der ersten Stunde des Tages bis zum Anbruch der Nacht. Kaum je kann ich das Haus verlassen, wenig nur gibt es für mich zu tun, außer zu sticken.

Ich musste meinen Gatten regelrecht anflehen, dass er mich auf diese Reise mitnimmt. Endlich einmal hinaus aus Lübeck! Und, verzeiht es mir, Bruder Ranulf, wenn dies eine Sünde ist, dann bitte ich Euch um Eure Fürbitte, doch der tragische Tod von Bruder Heinrich ist für mich«, sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen, »so aufregend«, vollendete sie schließlich.

»Mein Gatte ist ganz außer sich«, fuhr sie dann fort, »auch wenn er sich mir mit keinem Wort anvertraut. Oh, würden die Männer doch in Dingen, die sie wichtig nennen, ihren Frauen vertrauen! Wie viel Schlechtes ließe sich da verhindern. Nun ja, ich aber bin weder blind noch taub, ich kann auch so manches Zeichen deuten. Mein Gatte jedenfalls weiß nicht ein noch aus, weiß nicht, warum er nach Paris kommen sollte und wie es nun weitergehen soll. Der Tod von Bruder Heinrich jedoch versetzt ihn in Furcht — in eine größere Angst, als es der Tod seines leiblichen Bruders auf jener verfluchten Kogge getan hat.

Ich möchte meinem Gatten helfen. Doch dazu muss ich nicht nur wissen, was passiert ist; ich brauche auch Eure Hilfe. Denn was kann ich allein schon ausrichten? Ihr, Bruder Ranulf, seid doch Inquisitor. Wollt Ihr nicht einmal in unserem Pariser Domizil vorbeischauen und ganz im Vertrauen mit mir reden? Vielleicht vermag ich Euch nützlich zu sein und kann Dinge herausfinden, die einem Mönche verborgen bleiben?«

Klara Helmstede lächelte. »Selbstverständlich könnte ich es so einrichten, dass niemand euer Kommen bemerken würde. Ich würde die Diener wegschicken und …«

»Nein!«, unterbrach ich sie und ich hörte selbst das Entsetzen in meiner Stimme. »Das ist ganz unmöglich. Das ist … eine Sünde!«, entfuhr es mir. »Nein, ich darf mich nicht mit Euch treffen — und heimlich schon gar nicht.«

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, mein Körper zitterte, als schüttelte mich das Fieber. Flucht vor diesem satanischen Weibe! Das war mein einziger Gedanke in jenem Augenblick. Mit einer hastigen Segensformel verabschiedete ich mich, drehte mich um und ging so schnell über den Grand Pont, dass ich fast lief. »Auf Wiedersehen, Bruder Ranulf«, rief mir Klara Helmstede lachend nach. In meinen Ohren klang es wie eine Drohung — und doch zugleich auch wie ein Versprechen.

*

Am Abend jenes Tages standen wir auf dem kleinen Friedhof des Klosters am Grab von Bruder Heinrich. Es regnete und wir Mönche waren nicht mehr als dunkle Schatten, eingehüllt in unsere Kapuzen, beleuchtet nur von wenigen, flackernden Fackeln. Ich hörte das Totengebet und murmelte die vorgeschriebenen Formeln. Irgendwo erklang dünn das Totenglöcklein, dann senkten wir Heinrich von Lübeck in den schweren, feuchten Boden hinab.

Schweigend stand ich da. Ich hatte Meister Philippe nichts von meinen nächtlichen Nachforschungen im Kloster erzählt, genauso wenig wie von meinem Besuch beim Geldwechsler Pietro Datini oder gar meinem Gespräch mit Klara Helmstede.

Stolz war ich darauf, das gestehe ich, dass ich etwas allein gewagt hatte. Doch verwirrt, ja ängstlich, dachte ich an meine Begegnung mit der Gattin des Reeders zurück. Ich spielte mit dem Feuer. Und wer mit dem Feuer spielt, das ahnte ich selbst in jenem düsteren Moment sehr wohl, der wird sich irgendwann verbrennen. »Wärest du doch nie gestorben«, murmelte ich Heinrich von Lübeck zu, als zwei Novizen damit begannen, Erde auf seinen Körper zu schaufeln. »Ich hätte meinen Seelenfrieden noch.« Dann fragte ich mich, welches Geheimnis Heinrich von Lübeck wohl mit ins Grab genommen hatte. Ein Geheimnis, das, wie ich spürte, nicht nur ihn ins Verderben gerissen hatte, sondern auch mich unwiderstehlich hinabzog.