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6DER MANN MIT DEM ANTONIUSFEUER

Die Zeit verstrich ohne weitere Fortschritte in unseren Ermittlungen. Erst am Tage des heiligen Ivo Helory stießen Meister Philippe und ich endlich auf eine neue Spur, welche uns aus dem Dickicht der Ratlosigkeit zu führen versprach. Heute, da ich mehr weiß, wenn ich auch nicht unbedingt weiser bin, erscheint es mir wie ein Scherz des HERRN, dass er uns ausgerechnet an jenem Tag in der Mitte des Monats Mai ein Zeichen sandte, da wir erstmals dieses Heiligen gedachten. Denn Ivo Helory war erst im Jahr zuvor vom Papst in diesen höchsten einem Menschen erreichbaren Rang erhoben worden - und er galt als Patron der Notare, also jener Männer, die das Recht in unzweifelhafte Worte gießen.

Tagelang hatten die Sergeanten de la Douzaine nach der entlaufenen Dirne gesucht — das zumindest hatten sie Meister Philippe immer wieder versichert. Doch Jacquette war von GOTTES Boden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Meine Gedanken an diese Schönfrau blieben beunruhigend zwiespältig: Einerseits sehnte ich mich danach, sie wiederzusehen, andererseits jubilierte mein Herz darüber, dass sie ihren Häschern scheinbar entkommen war.

Auch Klara Helmstede sah ich in jenen Tagen nicht ein einziges Mal. Doch wahrscheinlich ist es gerade so, dass wir dann, wenn wir eines Menschen nicht ansichtig werden, uns ganz besonders nach ihm sehnen.

Um meiner sündigen Seele Herr zu werden, verbrachte ich so manche Nacht im Gebet und in strengen Exerzitien. Doch selbst im Zwiegespräch mit GOTT schweiften - oh, wie verworfen ich da schon war- meine Gedanken ab. Mehr als einmal ertappte ich mich dabei, wie ich des Nachts, Gebete murmelnd, vor dem Altar lag und doch lauschte, ob ich nicht irgendwo im Kloster Stimmen und seltsame Geräusche vernähme .

Manchmal gar glaubte ich, dass dem so wäre. Doch stets, wenn ich mich dazu durchgerungen hatte, in den düsteren Gängen herumzuschleichen, sah ich so wenig wie ein Blinder und hörte nicht mehr als ein Tauber.

Ich freundete mich ein wenig mit dem Portarius an, der alt war und erfreut darüber, dass ich mir hin und wieder Zeit nahm für ein Schwätzchen mit ihm, da sein Schweigegebot nun offenbar nicht mehr galt. Ich vermeinte, mich geschickt genug anzustellen und ihn dabei unauffällig nach der Ursache jener geheimnisvollen nächtlichen Geräusche auszufragen. Doch entweder war ich doch nicht verschlagen genug oder der alte Mönche hatte tatsächlich noch nie etwas vernommen. Jedenfalls erfuhr ich von ihm nichts, das mir hätte nützlich sein können.

Auch Bruder Carborxnet, der Prior, erwies mir die Ehre, mit mir zu reden. Ja, es schien, als fände er Gefallen an mir, so wie ein wahrer Vater stolz ist auf einen strebsamen Sohn. Ich war ihm dankbar dafür und verdoppelte, so dies noch möglich war, meinen Eifer, um seine Erwartungen zu erfüllen.

Doch auch der Prior vermochte Meister Philippe und mir nicht mit weiteren Auskünften zu dienen — so sehr es ihn auch traurig stimmte, dass der Tod eines Dominikaners noch immer ungesühnt war. Manchmal vermutete ich gar, dass der Prior bereits resigniert habe und nicht mehr an den Erfolg unserer Nachforschungen glaubte. Dieser Gedanke betrübte mich noch mehr, doch vermochte ich dagegen nichts zu tun als zu beten.

In jenen Tagen gelang es mir nur ein weiteres Mal, mich unauffällig aus dem Kloster zu stehlen und zum Grand Pont zu gehen. Doch auch dieser Weg war vergebens, denn Pietro Datini hatte sich zwar schon bei diesem und jenem Geldwechsler umgehört, vermochte mir jedoch nichts Neues zu sagen.

Meister Philippe ließ mich des Öfteren allein, weil er ohne Zeugen so manchen Domherrn von Notre-Dame ins brüderliche Gespräch nahm. Nie verriet er mir, was er dabei erfahren hatte. Besonders Nicolas d'Orgemont, der Dekan der Domherren, hatte die zweifelhafte Ehre, regelmäßig vom Inquisitor visitiert zu werden. Doch nichts schien zu fruchten.

Schließlich, an besagtem Tag, zu Sankt Ivo Helory, nahm mich der Inquisitor nach der Prim beiseite. Es war ein ungewöhnlich kalter und trüber Maienmorgen.

»Wir wandeln auf Wegen, die uns nirgendwohin führen«, sagte Philippe de Touloubre grimmig.

»Wir werden neue Wege suchen müssen«, fuhr er nach einer gedankenvollen Pause fort. »Und diese Wege, fürchte ich, mein junger Freund, werden uns in den Schlamm und in den Bodensatz von Paris führen.«

*

Meister Philippe führte mich zur Kammer des Portarius, der offensichtlich vom Inquisitor schon einige Anweisungen erhalten hatte. Der alte Mönch verneigte sich nur stumm, fragte nicht nach unserem Begehr, und reichte uns zwei weite, zerschlissene Umhänge von unbestimmbarer Farbe.

»Es ist nicht gerade der Mönchshabit«, sagte Meister Philippe schmunzelnd, »doch auch nicht wirklich verboten. Die Regel erlaubt uns ja, uns bei schlechtem Wetter angemessen zu schützen.« Ich tat es dem Inquisitor nach und warf mir den Umhang über. Er roch nach nasser Wolle und verbarg mein Skapulier fast vollständig. Zog ich die Kapuze hoch, dann war auch meine Tonsur nicht mehr zu sehen. Wer genau hinsah, der konnte in uns immer noch die Dominikaner erkennen. Doch im Gedränge der Straßen mochten wir auf den ersten Blick wie Bauern in schweren Umhängen aussehen und nicht weiter auffallen.

Als wir das Kloster verließen, bemerkte ich, wie nass und kalt das Wetter tatsächlich war. Zwar hatte ich die Feuchtigkeit in der Luft schon gespürt, doch nun blickte ich die Rue Saint-Jacques entlang — und konnte kaum ein paar Schritte weit sehen: Grauer Nebel stand zwischen den Häusern, als hätte sich Paris über Nacht in einen Sumpf verwandelt, aus dem verhängnisvolle Dämpfe aufstiegen. Die Häuser glichen schwärzlichen Felsen zu beiden Seiten, die Menschen hatten sich gegen die klamme Kälte eingehüllt und wirkten wie Gespenster, die durch das Schattenreich gleiten.

»Niemand wird uns erkennen«, sagte Meister Philippe mit grimmiger Befriedigung und schritt weit aus. Er sagte mir nicht, wohin unser Weg führte, doch erkannte ich, dass wir die Straße hinab Richtung Seine gingen. Schon nach kurzer Zeit mussten wir unser Tempo allerdings zügeln, denn das Pflaster war nass und rutschig. Jeder Atemzug fiel uns schwer. Die Luft stank nach fauligen, nassen Abfällen und nach rußigem Qualm, der in diesem Nebel nicht abziehen konnte. Ich trat auf etwas Weiches - und schauderte. Es war eine tote Ratte, die Schnauze voller Blut. Hastig trat ich sie mit der Sohle meiner Sandale beiseite.

Der Nebel und der dicke Stoff meiner hochgeschlagenen Kapuze dämmten die Geräusche, sodass ich die Schritte anderer Menschen nicht hörte, ja kaum das Klappern eisenbeschlagener Karrenräder vernahm. Es war, als folgte ich dem Inquisitor durch die Landschaft eines düsteren Traumes.

Vorsichtig tasteten wir uns voran. Wir mussten auf jeden Schritt achten, damit wir nicht in Schmutz und Unrat traten. Bald schon erblickte ich das nächste verendete Tier und mir war klar, dass ich niemals zuvor so viele tote Ratten in den Straßen von Paris — oder irgendeiner anderen Stadt — gesehen hatte. Ich fragte mich, welcher Anblick sich mir wohl böte, gäbe es den Nebel nicht. Würde ich Hunderte toter Ratten erblicken? Oder war es vielmehr der Nebel, der die Tiere aus ihren Verstecken und ins Verderben lockte? Auch wenn die verendeten Tiere keinen schönen Anblick boten, so dankte ich doch im Gehen dem HERRN dafür, dass er zumindest diese Plage von Paris linderte.

Wir überquerten zögernden Schrittes die Seine auf dem Petit Pont, dann gingen wir über die Insel — die Türme von Notre-Dame waren nicht mehr zu erkennen - und schließlich ließen wir auch den Grand Pont hinter uns.

Am jenseitigen Ufer führte mich Meister Philippe durch ein Gewirr verwinkelter Gassen. Bald schon wusste ich nicht mehr, wo ich war, und ich bezweifelte, dass ich selbst dann, wenn sich der Nebel lichten würde, meine Orientierung wiedergefunden hätte. Schließlich gelangten wir in eine Straße, die mir noch enger, düsterer, schmutziger und lauter erschien als die anderen. Es stank nach beißendem Qualm und Schwefel. Und von überall her erscholl ein düsteres Dröhnen und Hämmern. Ich bekreuzigte mich hastig. Für einen Moment glaubte ich, dass mich der Inquisitor geradewegs in den Schlund der Hölle geführt hätte und ich mich nun im feurigen Reich des Antichristen befand.

»Wir sind in der Rue Ferroniere«, sagte Meister Philippe über den Lärm hinweg. »In der Straße der Schmiede.«

Er trat in eine Werkstatt - und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Verwundert und ein wenig eingeschüchtert blickte ich mich um: In der Mitte des lang gestreckten, doch niedrigen Raumes loderte eine große Feuerstelle, deren Holzkohlen glühten wie Satans tausend Augen. Es war heiß und stickig - und laut: Zwei halbnackte Gesellen hoben und senkten die Stange eines großen ledernen Blasebalges. Ein gewaltiger Schmied stand nah am Feuer, holte mit einer Zange in der Linken ein glühendes Stück Eisen aus den Kohlen, hob es rasch auf einen Amboss und schlug es mit einem gewaltigen Hammer zu einem Kreis — möglicherweise dem Ring eines Wagenrades, doch sicher war ich mir nicht.

Meister Philippe warf den Mantel ab. Die beiden Gesellen, die uns im Pandämonium ihrer Werkstatt bis dahin nicht bemerkt hatten, blickten zufällig auf, erkannten den Mönchshabit und hielten erschrocken in ihrer Arbeit inne. Dies wiederum weckte die Aufmerksamkeit des Schmiedes.

Als er uns sah, glaubte ich, dass sein Gesicht, obwohl es von Hitze und Anstrengung gerötet war, doch alle Farbe verlor. Der Schmied sagte etwas zu den beiden Gesellen, das ich nicht verstehen konnte. Dann warf er das noch immer glühende Werkstück in einen großen Zuber mir Wasser, wo es zischend unterging. Er legte die Zange beiseite und bedeutete uns mit einer Geste, ihm in eine Kammer am rückseitigen Ende der Werkstatt zu folgen. Es beunruhigte mich, dass er seinen schweren Hammer in der Faust behielt.

Der Schmied war sicherlich schon fünfzig Jahre alt, doch ein Hüne, dessen Arme und dessen Brust, ja dessen Rücken sogar so dicht mit dunklem Haar bedeckt waren, dass er beinahe aussah, als habe er ein Fell. Lange, gezackte Narben verunstalteten seinen kräftigen Rücken und auch die Hände zeigten Spuren längst verheilter, doch einst sicherlich äußerst schmerzhafter Misshandlungen. Seine Augen waren so grau wie der Nebel draußen.

»Dies ist Guibert, der Schmied«, sagte Philippe de Touloubre, als wir endlich in der kleinen Kammer standen.

»Meister Philippe«, brummte der Hüne und neigte demütig seinen Kopf, dann grüßte er auch mich. Der Inquisitor hielt es nicht für nötig, meinen Namen zu nennen, und so schwieg ich und neigte nur leicht das Haupt.

»Guibert«, fuhr Meister Philippe mir zugewandt fort, als könne der Schmied uns gar nicht hören, »fertigt nicht nur Wagenbeschläge und Haken. Seinem glühenden Feuer entspringen auch Spieße, Dolche und Schwerter. Nicht unbedingt die Waffen, welche die edlen Ritter Frankreichs führen. Seine Kunstfertigkeit wird eher von den Schlägern und Tavernenwirten, den Räubern und Vaganten geschätzt.«

»Ich habe nichts Unrechtes getan«, brummte Guibert. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und ich vermutete, dass sie nicht länger von der Hitze der Schmiede verursacht wurden.

»Du hast einst sehr wohl Unrecht getan«, korrigierte ihn der Inquisitor in scharfem Tonfall, »doch wollen wir hoffen und beten, dass dies heute nicht mehr so ist.«

Der Schmied schlug unbeholfen das Kreuz. »Womit kann ich Euch dienen, Meister Philippe?«, stammelte er. Ich fragte mich im Stillen, was dieses Unrecht gewesen sein mochte, an das ihn der Inquisitor erinnert hatte. Ich hoffte, dass es nicht eine im Jähzorn verübte Gewalttat gewesen war und starrte besorgt auf den schweren Hammer in seiner Faust.

»Hat einer deiner Kunden in den letzten Tagen etwas von einem toten Mönch erzählt?«, fragte Meister Philippe rundheraus. Guiberts Gesicht wurde grau. »Ich habe davon gehört«, murmelte er. »Der tote Bruder von Notre-Dame. Jeder weiß davon. Viele sagen, ein Fluch liegt über Paris und die Hölle wird sich auftun, wenn dieses Unrecht nicht gesühnt wird.«

Der Inquisitor nickte. »Ein Fluch, fürwahr. Und ein Unrecht, das gesühnt werden wird. Deshalb sind wir ja hier.«

Der Schmied schüttelte so heftig sein Haupt, dass die Schweißperlen wie ein kleiner Regenschauer zu beiden Seiten davonstoben und einige meinen Umhang benetzten.

»Mehr weiß ich nicht«, stammelte er. »Ich schwöre bei Jesus, Maria und allen Heiligen, dass mir niemand etwas gesagt hat! Ich weiß nichts.«

Meister Philippe hob begütigend die Hand. Der Hüne zitterte jetzt. Seine Angst vor dem Inquisitor war körperlich spürbar, ja, ich glaubte, dass ich sie riechen konnte.

»Ich glaube dir«, sagte Philippe de Touloubre und brachte es dabei fertig, seiner Stimme einen sanften und zugleich bedrohlichen Tonfall zu geben. »Ich bitte dich nur, dich umzuhören. Jedermann weiß, dass du nicht über die Männer redest, die in deine Werkstatt kommen, schon gar nicht mit einem der Sergeanten de la Dozaine. Das ist sündig und du wirst dich dereinst vor einem schrecklichen Richter dafür verantworten müssen. Doch ich habe dich damit nie behelligt und werde es auch weiterhin nicht tun — mit einer Ausnahme: Ich will alles wissen, was über den Tod unseres geliebten Mitbruders erzählt wird. Alles, verstehst du? Es mag dir wie dummes Geschwätz erscheinen, belanglos oder unsinnig. Mir ist dies gleich: Ich will es wissen. Sofort.«

Der Schmied schluckte. »Ja, Herr«, versprach er und bekreuzigte sich wieder. »Ich werde Euch jedes Wort berichten, das ich darüber höre.«

»GOTT segne dich«, sagte der Inquisitor und lächelte.

*

Ein paar Augenblicke später standen wir wieder in der verqualmten Rue Ferroniere. Meister Philippe musste wohl meinen fragenden Blick gesehen haben, denn er lachte und erklärte mir ungefragt: »Guibert stammt aus dem Süden. Ich traf ihn das erste Mal vor vielen Jahren — als Beschuldigten in einem Ketzerprozess. Zunächst war er verstockt, ja hochmütig. Doch nach einigen Wochen in einem Verlies von Carcassonne und ein paar Stunden auf der Streckbank besann er sich eines Besseren.

Es ist immer wieder verwunderlich, wie leicht gerade die jungen, bärenstarken Männer zusammenbrechen, kommt man ihnen mit glühenden Eisen und Daumenschrauben. In ihren gesunden Körpern wohnt eben doch eine gesunde Seele, die sich zum rechten Weg bekehren lässt. Die Kleinen, Schwachen, Verderbten hingegen, die sind oft zäh und verstockt bis zum Ende der Folter.« Der Inquisitor schritt eine Zeitlang schweigend aus und hing seinen eigenen unergründlichen Gedanken nach. Ich war klug genug, ihn nicht zu unterbrechen.

»Guibert jedenfalls«, fuhr er irgendwann fort, »schwor allen Irrlehren ab. Ich erlegte ihm eine Wallfahrt als Buße auf und verurteilte ihn dazu, zehn Jahre lang das gelbe Ketzerkreuz als Schandmal auf seiner Kleidung zu tragen. Jahre später sah ich ihn wieder - in Paris. Er schmiedet Waffen für jeden, der ihn bezahlt, und fragt nicht lange nach dem Warum und Wozu. Zunächst wollte ich ihn wieder verhaften, doch dann fand ich es viel nützlicher, ihn dort zu belassen, wo der HERR ihn offensichtlich hingestellt haben wollte.« Meister Philippe schmunzelte. »Es ist überaus nützlich für einen Inquisitor, seine Augen und Ohren überall zu haben. Guibert ist zuverlässig. Ihm verdanke ich schon so manchen wichtigen Hinweis auf Dolche und Schwerter und diejenigen, die sie führen. So überlasse ich ihn, den kleinen Sünder, der Gerechtigkeit GOTTES und führe doch mit seiner Hilfe den einen oder anderen großen Sünder der irdischen Gerechtigkeit zu.«

Ich bewunderte den Scharfsinn des Inquisitors - und seinen Mut. Denn ganz ohne Furcht, so schien mir, trat er Männern wie Guibert entgegen, die ihn um Haupteslänge überragten und seinen Hals mit einem einzigen Griff hätten brechen können. Es war die Kraft seines Geistes, die über die rohe Gewalt der Muskeln triumphierte.

Der Nebel blieb so undurchdringlich wie am frühen Morgen. Trotz des dicken Mantels, den ich mir übergeworfen hatte, fröstelte ich, denn die Nässe drang durch den Stoff hindurch bis zur Haut. Glücklicherweise war der Weg, den der Inquisitor mich nun führte, nicht sehr weit. Wir schritten die Rue Ferroniere entlang, wanderten dann durch einige Gassen und überquerten die Rue Saint-Denis, bis wir vor der Kirche Saint-Lenfroy standen. Vor dem Portal des Gotteshauses lag ein unregelmäßig geformter Platz, in dessen Mitte eine große Grube ausgehoben war, in der fauliges Wasser schwappte. Dies war eine der größten Kloaken von Paris. Die Grube wurde im Volk nicht umsonst »das Stinkloch« genannt, denn die Miasmen hier waren noch ungesünder als andernorts in der Stadt. Kohlstrünke, der aufgeblähte Kadaver eines Hundes und einige tote Ratten trieben in der düsteren Brühe. Selbst der Nebel schien diesen Ort meiden zu wollen, denn bis in eine Höhe von vielleicht zwei Mannslängen über der Grube waren die feuchten Schleier weniger undurchdringlich als andernorts.

Genau gegenüber des Stinkloches lag der niedrige Eingang einer der größten und verrufensten Tavernen von Paris: die »Rote Hand«. »Wir wollen dort unser Mittagsmahl einnehmen«, sagte der Inquisitor und lächelte mir aufmunternd zu.

»Iesus amen dico vobis quia publicani et meretrices praecedunt vos in regno DEI«, murmelte ich ergeben und folgte Meister Philippe. Hinter der schäbigen Fassade der »Roten Hand« verbarg sich ein überraschend großer Raum, von dem ich nicht zu sagen vermochte, ob er mehr wegen der niedrigen Decke oder doch eher wegen des trüben Lichtes wie eine in den feuchten Fels geschlagene Höhle wirkte. Die Balken der Decke waren schwarz geteert und bogen sich gefährlich nach unten durch, sodass es aussah, als könne sie jederzeit einstürzen. Die Wände waren stockfleckig, den Boden bedeckte fauliges Stroh. Ich hatte noch keine zwei Schritte in den Raum hinein getan, da juckten meine Füße, denn Wanzen und anderes Getier krabbelten in Scharen über den Boden.

Grob gezimmerte Bänke und Tische füllten die Taverne. An ihnen drängten sich Tagelöhner, Bettler, Diebe und unzüchtige Weiber, die sich lautstark unterhielten, in großer Zahl. Ich schauderte und schlang meinen Umhang enger um mich, auf dass niemand mich beachten mochte.

Doch diese Vorsichtsmaßnahme war kaum nötig: Im trüben, gelblichen Licht war nur wenig zu erkennen. Zudem drang grauschwarzer Qualm aus dem hinteren Teil der Taverne, wo ich irgendwo die Küche vermutete. Es roch nach saurem Wein, Leichtbier, Kohl und Schweiß. Auf einem Tisch standen ein paar Vaganten und spielten zu Flöte, Laute und Trommel ein Lied, dass die meisten Gäste kannten, denn viele grölten mit. Wer nicht sang oder aß, der klatschte in die Hände, denn zu den Vaganten gehörte eine Zigeunerin, die sich wirbelnd drehte und schamlos tanzte.

Niemand achtete auf Meister Philippe und mich, als wir uns, so weit entfernt von diesem musikalischen Pandämonium wie möglich, auf das äußerste Ende einer Bank zwängten. Mit gesenkten Köpfen, damit er unsere rasierten Gesichter, die unseren mönchischen Stand verraten mochten, nicht sah, verlangten wir vom zahnlosen, zittrigen Wirt einen halben Laib Roggenbrot, ein paar burgundische Zwiebeln und Wasser. Wenn ihn diese karge Mahlzeit verwunderte, dann zeigte der Greis es nicht. Gleichmütig zuckte er mit den Achseln, nahm unsere zwei Sous — in der »Roten Hand« wurde im Voraus bezahlt — und schlurfte von dannen.

Ich hatte kaum den ersten Bissen genommen — die Zwiebeln waren klein und schwarz, doch ihre Schärfe weckte meine Lebensgeister —, da hörten die Vaganten auf zu spielen. Nach einigem Hin und Her und lauten Rufen wurde einer der Gäste, halb geschmeichelt von den Anfeuerungen der Zecher, halb verlegen, auf den Tisch gehoben. Es war ein Mann mit dem Antoniusfeuer. Er war kaum dreißig Jahre alt und in ihm brannte die Geißel des inneren Feuers. Die schäbige wollene Tunika gab den Blick auf seine Arme frei, deren Haut gerötet war, als hätte er in Brennnesseln gelegen. Seine Finger waren zu schwärzlichen Klauen verformt. Der Mann war lahm, Speichel troff von seinem Mund.

»Erzähle uns Fabliaux, Honore!«, rief ein dicker Mann neben uns, der schon zur Mittagszeit rot und trunken war.

Honore hob seine schwärzliche Rechte - und wunderbarerweise kehrte fast klösterliche Stille ein an diesem sündigen Ort. Ich wand mich in Seelenqualen, auch wenn ich mich bemühte, mein Äußeres unbewegt zu halten. Fabliaux, das immerhin wusste selbst ein Mönch wie ich, waren lästerliche Geschichten. Es ziemte sich nicht für einen Mann GOTTES, ihnen zu lauschen. Doch was hätte ich tun sollen? Ich murmelte ein Gebet und erflehte SEINE Vergebung, doch bewegte ich dabei kaum die Lippen und sprach so leise, dass nicht einmal Meister Philippe neben mir ein Wort vernahm. Honore stand schwankend auf dem Tisch und einen Moment befürchtete — oder erhoffte — ich, dass er hinunterfallen könnte. Er kratzte sich mit seinen Klauenhänden die brennende Haut, sah uns mit irrem Blick an — und begann dann zu erzählen. Ich vermag seine Worte kaum wiederzugeben. Doch — ich gestehe es zu meiner Schande — ich lauschte jedem seiner Sätze, als wären sie eine Predigt. Seine Stimme war leise, ja sanft, als spräche er beruhigend zu einem Kind. Jedermann konnte sehen, dass sein Geist nicht bei ihm war — und dass etwas Anderes, Höheres aus ihm sprach. Honore hub unvermittelt an, ohne Begrüßung, ohne Einleitung, so, als hätte er irgendwann einmal seinen Monolog unterbrochen und würde ihn nun einfach fortsetzen.

Er erzählte vom Fluch der Templer, der den König hinweggerafft habe und seine Familie bis hinein ins siebte Glied. Den Papst dazu. Und nun auch die Stadt Paris und ihre Bürger. Denn, und hier hob er etwas die Stimme, großes Ungemach drohe uns allen. Ich vernahm aus seinem Munde, dass Menschen in Sizilien starben wie die Fliegen, im Hafen von Messina, wo eine Galeere eingelaufen war mit sterbenden Männern an Bord, ein Totenschiff, so wahr uns GOTT helfe. Auch in Rom, das vom Papst verlassen sei, habe nun der Tod die Herrschaft übernommen. Genauso wie in Avignon, wohin der Herr der Kirche sich unrechtmäßigerweise zurückgezogen habe. Und nun komme das Sterben näher, jeden Tag ein Stück. Auf den Straßen schreite es voran und entlang der großen Flüsse. Ein Geist, ein Gespenst, ein unsichtbares Leichentuch, ein Fluch des HERRN.

Dann, unvermittelt, so als gehöre beides zusammen, erzählte er, wie der Henker von Paris vor einigen Wochen einem Ritter, der eine Jungfrau aus edlem Haus geschändet und erstochen hatte, den Kopf abhauen wollte. Dabei habe der Holzblock, auf den das Schwert niedersauste, bedrohlich hin und her geschwankt — ein böses Omen. Und siehe, kaum eine Woche später habe der Henker selbst im Grabe gelegen. Den Körper des Ritters aber hätten die Armen von Paris, so wie sie es oft mit den Leichen Verurteilter machten, nachts heimlich aus seiner Gruft geholt, Schenkel und Arme abgetrennt und verspeist. Die Burgundischen und die Englischen lägen im Land, der König sei hilflos, die Königin böse — und was sollten die Armen sonst essen? Er hatte diese abscheuliche Geschichte kaum beendet — wir alle lauschten ihm atemlos -, da zählte er die nächsten bösen Omen auf: Ein Blitz habe eingeschlagen in der Kirche des Leprösenhospizes von Saint-Lazare. Mit seinen Klauenhänden bekreuzigte sich Honore — und wir taten es ihm nach.

Dann erzählte Honore plötzlich von einem toten Mönch im Schatten von Notre-Dame - und einem ehrlosen Vaganten, der dahergekommen sei und den Verstorbenen ausgeraubt habe. »So sind selbst im Tode die armen Brüder nicht mehr sicher«, sagte er mit seiner sanften Stimme.

Weiter und weiter gingen seine Geschichten, doch Meister Philippe und ich hörten nicht länger zu. Ich musste mich bezwingen, um nicht erregt aufzuspringen und zu dem Erzähler zu rennen, ihn zu schütteln und dazu zu bringen, uns mehr zu erzählen, alles, was er über den Tod Heinrichs von Lübeck wusste.

Selbst der Inquisitor war blass geworden. »Wir müssen unbedingt wissen, wer dieser Vagant war«, flüsterte er mir zu. »Und woher Honore diese Geschichte hat«, setzte ich ebenso leise hinzu. »Soll ich eilen und einen Sergeanten holen, auf dass er diesen Honore in den Kerker werfe?«, fragte ich eifrig. Doch Meister Philippe schüttelte den Kopf. »Vorerst nicht. Honore ist der Held der Männer hier, sie würden ihn mit Fäusten, Knüppeln und Spießen verteidigen. Du bräuchtest eine Hundertschaft Landsknechte und nicht nur einen Sergeanten, um ihn mit Gewalt fortzuschaffen. Außerdem will ich alles vermeiden, was zusätzliche Aufmerksamkeit auf das tragische Schicksal Heinrichs von Lübeck lenkt. Ich habe eine bessere Idee: Irgendwann wird Honore ermüden und mit seinen Fabliaux aufhören. Und irgendwann wird er die ›Rote Hand‹ verlassen. Und dann«, der Inquisitor lächelte mich plötzlich an, »dann werden du und ich, mein junger Bruder, diesem Geschichtenerzähler folgen, und sei es bis ans Ende der Welt.«

*

Und so war es. Zumindest beinahe, denn wenn wir Honore auch nicht bis ans Ende der Welt folgten, so doch bis in den Vorhof der Hölle.

So unvermittelt, wie er begonnen hatte, so plötzlich endete der Vortrag jenes seltsamen, sündigen Propheten mit dem Feuer im Körper auch. Honore war erschöpft, kletterte schwankend vom Tisch und achtete scheinbar nicht auf die beifälligen Rufe und den nun wieder einsetzenden allgemeinen Lärm, mit dem die Gäste ihn feierten. Irgendjemand reichte ihm einen Krug mit schäumendem Starkbier, den er in einem Zug leerte. Die Kupfermünzen, die man ihm von allen Seiten aufdrängte, steckte er gleichmütig in einen ledernen Beutel an seinem Gürtel. Dann verließ er, halb hinkend, halb schwankend, die »Rote Hand«. »Ihm nach!«, flüsterte mir der Inquisitor zu.

Wir hüllten uns noch enger in unsere Umhänge und standen eilig auf. Es war nicht leicht, Honore zu folgen. Zwar war sein Gang schleppend, sodass wir uns nicht sehr eilen mussten, doch zogen noch immer Nebelschleier durch die Gassen, die unseren Augen Trugbilder und Täuschungen vorgaukelten, Schemen, Geister und verlorene Seelen.

Honore wankte durch die Gassen, bis er die große Rue Saint-Denis erreichte, auf die er stadtauswärts einbog. Meister Philippe und ich mussten unsere Anstrengungen verdoppeln. Denn hier drängten sich Hunderte gesichtslose, wegen des Nebels dick eingehüllte Gestalten, die alle gleich aussahen.

Wir wagten nicht, mehr als ein paar Schritte Abstand zu Honore zu halten, aus Angst, ihn aus den Augen zu verlieren. Ich flehte den HERRN an, dass der Mann sich nicht plötzlich umdrehen und uns bemerken würde. Was hätten wir dann getan? Ihn ergriffen? Mich schauderte bei dem Gedanken, die vom Antoniusfeuer verbrannte Hand, die schwärzlichen Klauen berühren zu müssen. Doch wenigstens dieses Mal erhörte GOTT meine Gebete. Honore schritt langsam die Rue Saint-Denis hinunter, bis er an das gleichnamige Tor kam. Ohne zu zögern ging er weiter — und wir folgten ihm auf der Landstraße, hinaus aus Paris.

»Ich glaube, ich weiß, wohin er will«, flüsterte mir der Inquisitor zu. »Du wirst deine Seele wappnen müssen vor dem Anblick der Finsternis«, warnte er mich.

Es verging wohl eine halbe Stunde - der Nebel beschränkte nicht nur meine Sicht, er schien auf eine seltsame Art auch mein Gefühl für die Zeit zu täuschen, sodass ich bis heute nicht sicher bin, wie lange wir Honore nun wirklich über die Straße gefolgt waren —, bis wir den Weiler La Villette erreichten. Und dort erhob sich, zur Linken der Straße, eine Kirche, deren Kreuz auf der Turmspitze grotesk verbogen war. Das Haus GOTTES war von einer hohen Mauer umwallt, über deren Krone ich nur die Dächer zweier weiterer, lang gestreckter Gebäude erkennen konnte. »Das Leprösenhospiz«, flüsterte ich.

Meister Philippe nickte düster. »Die Mönche von Saint-Lazare nehmen sich der Aussätzigen an — und all jener, denen der HERR schreckliche Spuren in den Körper gegraben hat. Wer Aussatz hat, der darf das Geviert der Mauern niemals mehr verlassen. Doch die anderen können sich frei bewegen. Es überrascht mich nicht, dass ein Mann wie Honore hier Unterschlupf findet. Saint-Lazare ist weithin bekannt dafür, dass die Gebete, die in seiner Kirche gesprochen werden, das Antoniusfeuer manchmal zu heilen vermögen.« Ich blickte auf den Kirchturm, der noch vom Blitzschlag gezeichnet war - so, wie es uns Honore erst vor kurzem erzählt hatte. Dann schlug ich das Kreuz.

Niemals hätten wir - selbst als Inquisitoren in offizieller Mission - das Hospiz selbst betreten dürfen. Doch das war auch unnötig, denn Honore gesellte sich zu anderen Unglücklichen, die hier Aufnahme gefunden hatten, doch nun, vor den Mauern, unter einer Ulme saßen.

Unter normalen Umständen hätte ich vielleicht gelacht beim Anblick der zwei Dutzend Gestalten, die in diesem dichten Nebel unter einem Baum Schatten zu suchen schienen. Stattdessen schickte ich ein Gebet zum HERRN.

Ich erblickte, nachdem ich näher getreten war, Männer und ein paar Frauen, die der Hölle entstiegen zu sein schienen. Zum ersten Mal an diesem Tag war ich dankbar für den Nebel, der manchen Anblick gnädig verschleierte. Ich sah Männer, deren Arme oder Beine grotesk gebrochen und wieder zusammengewachsen waren, sodass sie aussahen, als hätte sie ein ungelenkes Kind gemalt. Ich sah Männer, die auf den Stümpfen ihrer abgehackten Beine stolzierten und solche, denen nicht einmal Stümpfe geblieben waren und die sich stattdessen, in einer schauderhaften Parodie des aufrechten Ganges, mit den Händen Schritt für Schritt vorwärtsschleppten. Da gab es Gesichter, die unter Blattern verborgen waren, als hätte sie der HERR aus schlechtem Teig geknetet, und solche, deren Haut von Pocken verwüstet war. Da gab es Zerlumpte, die mir auf den ersten Blick einen gesunden Eindruck machten, doch die gekrümmt gingen wie Gerste im Wind, weil schreckliche Schmerzen ihren Unterleib plagten. Meister Philippe erklärte mir, dass diese Unglücklichen Bauern waren, die burgundischen Landsknechten in die Hände gefallen waren. Die Soldaten hatten ihre Opfer, um ihnen das Versteck ihrer kläglichen Besitztümer abzupressen, an den Hoden aufgeknüpft, bis diese ihnen vom Leib gerissen waren. Am meisten jedoch erschreckten mich die Gestalten ohne Augen: Männer und Frauen, manche noch halbe Kinder, deren Augenhöhlen leer waren, schwarz und seelenlos.

»Landsknechte haben ihnen die Augen ausgedrückt«, flüsterte der Inquisitor, der meinem Blick gefolgt war.

»Beati mites quoniam ipsipossidebunt terram«, murmelte ich und schlug das Kreuz.

Meister Philippe führte mich zu einer Mauer und bedeutete mir mit einer Geste, mich ruhig zu verhalten. Still standen wir da und starrten auf die Versammlung der schrecklich verstümmelten Gestalten. Viele gingen ziellos auf und ab, ein paar murmelten Gebete oder redeten wirr, jemand, dem die Zunge herausgerissen worden war, presste gurgelnde Laute hervor, die meisten jedoch blieben stumm. Honore setzte sich auf eine Bank — niemand sprach mit ihm, niemand schien seiner zu achten.

Er war der einzige, in dem das Antoniusfeuer brannte, und plötzlich kam mir der Gedanke, dass Honore an diesem Ort als der Gesegnete galt, als der König der Verkrüppelten, als jemand gar, der auf die größte, allen anderen verwehrte Gnade hoffen durfte: geheilt zu werden. So still, wie wir uns verhielten, verschwammen unsere dunklen Umhänge mit der düsteren Mauer, an die wir uns drückten. Niemand sah uns, oder falls doch, dann ließ es sich keiner anmerken. Glücklicherweise mussten wir diesen Anblick des Leids nicht allzu lange ertragen, denn Honore erhob sich nach einiger Zeit wieder. Langsam wankte er hinter einige Büsche, die am Rand der Landstraße wuchsen. Wir folgten ihm und bemühten uns dabei, keinen Lärm zu machen. Selbst das Knirschen der Kiesel unter unseren Sandalen schien mir hier, außerhalb der Stadt, ungewöhnlich laut zu klingen; ich wagte nicht einmal zu atmen, als wir die letzten Meter zum Gebüsch entlangschlichen.

Hinter den Zweigen hockte Honore sich hin und erleichterte sich. Der Inquisitor gab mir ein Zeichen und warf den Umhang ab. Ich tat es ihm nach. Dann traten wir plötzlich vor, im vollen Habit der Dominikaner, wie zwei Racheengel, die aus dem Jenseits kamen. Honore, hockend, mit der Hose auf den Knöcheln, starrte uns einen Moment sprachlos an, dann schnappte er vernehmlich nach Luft. Seine Augen waren schreckgeweitet, seine Haut unter dem rötlichen Feuer plötzlich leichenblass. Für einen Moment glaubte ich, dass ihn der Schlag getroffen hätte und er vor unseren Augen tot niedersinken würde. Dann sprang er auf, nestelte mit seinen Klauenhänden an seinen Beinkleidern herum, stammelte leise wirres Zeug - und warf sich schließlich, noch immer unschicklich nackt, vor uns ins nebelnasse Gras.

»Fürchte dich nicht, mein Sohn«, sagte der Inquisitor und lächelte. »Wir haben deinen Fabliaux in der ›Roten Hand‹ gelauscht«, fuhr Meister Philippe freundlich fort, als Honore sich endlich erhoben und leidlich angekleidet hatte.

»Gnade, oh Herr, Gnade, Gnade«, stammelte dieser und wäre wieder auf den Boden gesunken, wenn wir ihn nicht aufgefangen hätten - Meister Philippe hatte ihn am rechten Arm gepackt; ich, der ich das Antoniusfeuer scheute, hatte es nur gewagt, seinen Kragen zu fassen, doch seine Haut wollte ich nicht anrühren.

»Mich interessiert deine Geschichte der Templer nicht und nicht die vom Blitz, der in eure Kirche gefahren ist — sicher zur Strafe unaussprechlicher Sünden, doch das soll heute nicht meine Sache sein. Mich interessiert nur, was du von unserem toten Mitbruder gehört hast — und von dem Spielmann, der seine Leiche entehrte.« Für einen Moment waren Honores Augen so blank wie zwei Seen bei Windstille. Ich befürchtete schon, dass er in seinem Wahn seine eigene Geschichte vergessen haben mochte. Doch da lächelte er — ein wenig verschlagen, wie mir schien — und nickte dann eifrig. »Ja, der tote Mönch von Notre-Dame«, murmelte er. »Welche unaussprechliche Sünde mag er wohl begangen haben?«

»Es steht dir nicht zu, dies zu fragen«, fuhr ihn der Inquisitor an. Nun war der Tonfall meines Meisters scharf, sein Gesicht verriet kalten Zorn. Oh ja, vor diesem Inquisitor musste auch der verstockteste Sünder zittern!

Honore duckte sich, als sei er geschlagen worden. »Was wollt Ihr wissen, Herr?«, stammelte er, jede Frechheit war aus seiner Stimme gewichen.

Meister Philippe blickte sich um, ob uns auch keiner der anderen Verstümmelten beobachtete. Doch niemand war zu sehen — wenn ich auch nicht ausschließen mochte, dass uns jemand in diesem Nebel unbemerkt belauschte. Dem Inquisitor kamen wohl ähnliche Gedanken, denn er trat näher an Honore heran und senkte die Stimme.

»Wer war jener Spielmann, der sich an unserem Mitbruder zu schaffen machte?«, flüsterte der Inquisitor.

Honore kratzte sich die schrundige Haut. »Ich fürchte, da werde ich Euch nicht helfen können, Herr«, murmelte er. Philippe de Touloubre lächelte kalt. »Wenn du mir nicht hilfst, guter Mann, dann werde ich dir helfen«, erwiderte er. »Ich werde deiner Erinnerung nachhelfen mit einem Feuer, das noch viel heißer ist als jenes, das dich verzehrt.«

Honore begann zu zittern, als habe er die Schüttellähmung. Speichel troff in langen Fäden aus seinem Mund, seine Augen wanderten wie irr zwischen dem Inquisitor und mir hin und her. Ich starrte ihn, wie ich hoffte, ausdruckslos an. Auf keinen Fall wollte ich, dass er in mir jemanden sah, von dem er sich eher Gnade erwarten könnte als von Meister Philippe. Ich wollte nicht schwach erscheinen. Schließlich ließ das Zittern seiner Gliedmaßen wieder nach. Honore nickte unterwürfig. »Jetzt fällt es mir wieder ein, Herr. Verzeiht, einem Mann, Herr, dem GOTT ein Leid in den Leib gesandt hat, das auch die Seele vergiftet. Ich bin ein guter Mann, müsst Ihr wissen. Ich habe Familie und Kinder und ich hatte einen rechtschaffenden Beruf. Ich…«

Der Inquisitor unterbrach ihn mit einer herrischen Geste. »Den Namen, gib mir den Namen!«, verlangte er.

»Der Spielmann ist Pierre de Grande-Rue«, antwortete Honore. »Er ist ein Findelkind, gefunden auf der Rue Saint-Denis und aufgezogen von den Oblaten des Klosters ebendort. Doch als Kind schon lief er den Mönchen davon und lebt seither als Vagant.« Honore kicherte, besann sich dann rasch anders, schlug die Hand vor den Mund und murmelte ein Gebet.

»Er mag wohl in den Zwanzigern sein. Er ist ein Feuerschlucker, spielt die Schalmei - und er öffnet mit geschickten Händen auch die bestverschnürte Tasche, ohne dass deren Besitzer es merkt.«

»Wo finden wir ihn?«, fragte Meister Philippe. Honore zuckte die Achseln, dann hob er seine Klauenhand zum Schwur. »Das weiß ich nicht, bei den Seelen meiner Kinder, Herr. Er soll in Paris sein, doch ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.«

»Woher weißt du denn, dass er es war, der sich an unserem Mitbruder zu schaffen machte?«

»Ein Spielmann hat es mir erzählt, gestern, in der ›Roten Hand‹. Der will es von Pierre de Grande-Rue selbst gehört haben, als dieser zu viel Burgunder getrunken hatte. Da habe er geprahlt, er hätte sogar die Taschen eines Dominikaners geöffnet — auch wenn sich dieser nicht mehr wehren konnte.«

»Was hat er ihm geraubt?«, fragte der Inquisitor.

Honore schüttelte den Kopf. »Was weiß ich? Was kann man einem Mönch schon stehlen? Geld? Ich weiß es nicht, Ihr wisst es besser, Herr.«

Meister Philippe überhörte diesen Anwurf. »Wie sieht er aus, dieser Spielmann und Halunke?«

»Pierre de Grande-Rue ist groß wie ein Bär, breit wie ein Fass und rothaarig wie ein Fuchs«, sagte Honore. »Ihr könntet ihn unter einer Menge von tausend Menschen auf dem großen Platz vor Notre-Dame erkennen.«

Meister Philippe überdachte, was er soeben vernommen hatte. Honore beobachtete ihn ängstlich; sein schmutziges Wams war an Brust und Bauch dunkel von seinem Speichel, der ihm noch immer unablässig aus dem Mund tropfte.

»Du wirst zur Buße für dein loses Gerede und deine Respektlosigkeit zehn PATER noster beten«, bestimmte schließlich der Inquisitor. »Und du wirst die Mauern von Saint-Lazare einen Monat nicht verlassen, es sei denn, ich lasse dich rufen.«

Honore nickte eifrig. Er war erleichtert, dass ihm nichts Schlimmeres widerfahren war.

Wir hatten uns schon abgewandt und waren beinahe auf der Straße, als Meister Philippe sich noch einmal zu ihm umdrehte. »Und du wirst nie wieder Fabliaux erzählen. Schon gar keine, in denen von einem toten Mönch berichtet wird. Solltest du mir nicht gehorchen, dann wirst du auf dem Scheiterhaufen brennen.«

*

Es dauerte wohl zwei Stunden oder mehr, bis wir zu unserem nächsten Ziel gelangten. Die ganze Zeit über schwieg Meister Philippe, sein Gesicht war verschlossen, sein Schritt eilig und energisch. Demütig und gehorsam ging ich eine halbe Mannslänge hinter ihm und ließ ihn allein mit seinen Gedanken.

So eilten wir zurück in die Stadt. Auf der Rue Saint-Denis ging es langsamer voran, denn Karren, Träger und die beladenen Ochsen und Esel der Bauern behinderten unser Fortkommen. An vielen Stellen lagen tote Ratten, ihre Körper von den unzähligen Tritten von Mensch und Tier blutig zerquetscht. Noch schlüpfriger als sonst war deshalb das Pflaster.

Der Nebel wollte sich nicht verziehen, doch waren seine Schleier nun nicht mehr weißlich, sondern grau, ja fast schwarz, denn Rauchfahnen unzähliger Herdfeuer, Backofen und Schmieden waren in den feuchten Schwaden gefangen. Bitter schmeckte die Luft und mühsam ging mein Atem.

Irgendwann bog Meister Philippe nach rechts ab. Ich folgte ihm durch mehrere Gassen, deren Namen ich nicht kannte, bis ich in der Ferne den düsteren Schatten des Louvre erahnen konnte, jener finsteren Burg an der westlichen Stadtmauer, die sich mit mehreren hohen, runden Türmen und mächtigen zinnenbekrönten Wällen wie ein gezackter Felsen am Ufer der Seine in den Himmel reckt. Wieder verließen wir die Stadt. Diesmal durch ein Tor, das ein Stück weit neben dem Louvre in die Mauer eingelassen war. Es kam mir wie ein Unheil verkündendes Omen vor, dass dieses Tor — und die Straße, die hindurch führte — ausgerechnet nach Saint-Honore benannt war. Diesmal jedoch mussten wir den Schutz der Mauer nicht allzu weit hinter uns lassen, denn schon nach wenigen Schritten führte mich Philippe de Touloubre zu einigen Zelten, die abseits des Weges aufgeschlagen waren.

Im Nebel erkannte ich zerschlissene Stoffbahnen, drei Ochsenkarren, die mit schweren Holzkeilen gesichert waren, und deren Zugtiere, die ein Stück weiter auf einer Wiese grasten. Ich sah schmutzige, halbnackte Kinder, die kreischend zwischen den Zelten spielten und Zigeunerinnen und andere liederliche Frauen, die nähten, kochten oder sich in sündigen Gesten das lange Haar bürsteten. »Vaganten«, sagte Meister Philippe. Es war das erste Wort, das er in den vergangenen zwei Stunden an mich gerichtet hatte. Bevor ich etwas erwidern konnte, tauchte aus dem Nebel blitzschnell ein Mann auf, stellte sich breitbeinig in unseren Weg und schwang einen schweren Knüppel.

»Was wollt Ihr hier?«, fragte er. Seine Stimme war tief, sein Dialekt verriet, dass er aus dem Norden Frankreichs kam. Dann erkannte er die Kutten unter unseren Umhängen. Sofort ließ er den Knüppel sinken und stieß einen schrillen Pfiff aus — ob als Warnung an die anderen Vaganten oder um noch versteckten Männern ein Zeichen zu geben, dass sie nicht losschlagen sollten, vermochte ich nicht zu sagen.

»Wo finde ich Pierre de Grande-Rue?«, herrschte Meister Philippe den Mann an.

Wenn dieser überrascht war, dass zwei Dominikaner ohne Erklärung, ja ohne Begrüßung oder Segenswunsch, sondern nur mit harschen Worten nach einem Vaganten verlangten, dann ließ er sich dies nicht anmerken. Der Mann hob und senkte die Schultern, was ich als Geste der Ahnungslosigkeit oder aber auch der Gleichgültigkeit deuten konnte.

»Das weiß ich nicht, Ihr Herren. Bei uns findet Ihr ihn jedenfalls nicht.«

Meister Philippe sah aus, als wollte er im Zorn einen schrecklichen Fluch aussprechen, doch er bezwang sich mühsam. »Ihr seid doch Vaganten. Haust er nicht hier?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Wir sind Spielleute aus Le Mans und ziehen durch Frankreich, so lange ich zurückdenken kann und noch viel länger, denn schon unsere Eltern und deren Eltern sind Spielleute gewesen. Wir spielen die Harfe, die Laute und die Fidel zum Tanz und wohl auch zu geistlichen Festen. Wir haben Hunde und Affen, die tolle Kunststücke vollbringen. Jongleure sind wir, Seiltänzer, Marionettenspieler und Messerwerfer. Aber«, und hier schüttelte der Mann den Kopf, »Bürger von Paris sind wir nicht. Ich habe Pierre de Grande-Rue schon ein paar Mal gesehen, in dieser Stadt und anderswo. Doch ich kenne ihn nicht gut. Er gehört einer anderen Truppe Vaganten an oder vielleicht ist er auch ein Einzelgänger, ich weiß es nicht.«

»Wann hast du ihn zum letzten Mal getroffen?«, fragte der Inquisitor. Der Mann drehte sich halb nach hinten um. »He, Guillaume«, rief er in den Nebel, »wann haben wir das letzte Mal Pierre de Grande-Rue gesehen?«

»Am Ende des Winters«, kam von irgendwoher die Antwort. »Das mag einen Monat her sein oder auch mehr. Wir waren alle in der ›Roten Hand‹. Das große Fest, du weißt schon.«

Der Mann lachte in plötzlich aufkommender Erinnerung. »Ja, in der Tat. Nun, Ihr Herren, verzeiht, dass ich Euch nur so wenig sagen kann.« Er bot nicht an, sich für uns umzuhören.

Meister Philippe nickte. »Messerwerfer gehören auch zu deiner Gruppe, Spielmann?«, fragte er.

Der Mann verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln. »Ja, Herr. Ich bin der beste Messerwerfer hier. Haltet ein kleines Brot hoch und auf zehn Schritte Entfernung und wohl auch auf zwanzig vermag ich den Laib zwischen Euren Fingern zu treffen, ohne Euch die Haut auch nur zu ritzen.«

»Ist dies auch eine Kunstfertigkeit, die Pierre de Grande-Rue beherrscht?«, wollte Meister Philippe wissen.

Jetzt lachte der Vagant. »Und ob! An jenem Tag in der ›Roten Hand‹ traten dreißig Mann zum Messerwerfen an. Es gab einen Krug Burgunder zu gewinnen — und ich schmeckte ihn schon auf meinen Lippen, das darf ich Euch sagen! Doch ich war, wie sich herausstellte, nur der zweitbeste Messerwerfer in der Taverne. Und nun ratet, wer als Einziger mit noch sichererer Hand warf als ich!«

*

An jenem Abend lag ich müde auf meiner Pritsche und konnte doch keinen Schlaf finden. Wir waren noch rechtzeitig zurückgekehrt, um mit unseren Brüdern eine Messe zu feiern für Heinrich von Lübeck. Anschließend hatten wir, noch schweigsamer als sonst, ein karges Abendmahl eingenommen.

»Salvandorum paucitas, damnandorum multitudo«, sagte der Inquisitor zum Abschied. Wenige Worte nur waren es, die er an diesem Tag an mich gerichtet hatte, und diese waren düster. So lag ich denn da, starrte mit offenen Augen ins Dunkle und grübelte. Sollte Pierre de Grande-Rue meinen Mitbruder vielleicht nicht nur bestohlen, sondern auch umgebracht haben? Geschickt mit dem Messer schien er zu sein. Doch wie mochte er Heinrich von Lübeck kennen gelernt haben? Oder waren sie sich nur zufällig begegnet? Und warum sollte der Vagant, wenn er denn ein berüchtigter Dieb war, ausgerechnet die Münzen des Mönches verschmäht haben? Oder sollten wir in Wahrheit nur glauben, dass er sie übersehen hatte? Wenn er sie jedoch gesehen und nicht genommen hatte — was hatte er dann gestohlen? Hatte er überhaupt etwas gestohlen? Wie passte dies alles zu Jacquettes Geschichte? Und zu einem der Domherren von Notre-Dame? Und zu jüdischen Geldwechslern? Und zu dem Reeder aus Lübeck und seiner Gemahlin und dem verfluchten Schiff?

Mir schwindelte. Was mich in jenen düsteren Stunden vielleicht am meisten beunruhigte, waren die Unrast und der Zorn, welche Meister Philippe befallen hatten. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass der Inquisitor mehr sah als ich — und dass ihn das, was er erblickte und ich nicht einmal zu ahnen vermochte, in höchste Erregung versetzte. Doch was mochte dies sein?

So warf ich mich denn Stunde um Stunde ruhelos auf meiner Pritsche hin und her. Doch genau in dem Moment, als eine Glocke irgendwo in Paris mit dünnem, kläglichen Läuten Mitternacht schlug, vernahm ich wieder leise Schritte auf dem Gang vor meiner Zelle. Ich warf mir den Umhang über, den ich am Abend in der Eile unserer Rückkehr nicht wieder beim Portarius abgegeben hatte. Vorsichtig trat ich hinaus auf den Gang. Ich konnte niemanden sehen, doch vermeinte ich, leise Schritte zu hören, die Richtung Kreuzgang verschwanden. Also eilte ich dorthin und bemühte mich, so lautlos zu sein wie ein Gespenst.

Im Kreuzgang stand der Nebel, der sich noch immer nicht verzogen hatte, nass, kalt und grau zwischen den Säulen. Ein seltsames Licht schien aus dem Innern der Schwaden zu dringen, die einzige Helligkeit in einer rabenschwarzen Nacht. Ich schlug das Kreuz und sah mich um.

Nichts. Hatte ich den geheimnisvollen Besucher schon wieder verloren?

Da gewahrte ich einen dunklen Schatten am gegenüberliegenden Ende des Kreuzganges. Einen Moment lang zögerte ich: Sollte ich quer über den Innenhof eilen, um an die Gestalt heranzukommen? Ich entschied mich dagegen, denn ich wusste, dass meine Füße auf den kiesbestreuten Wegen ein knirschendes Geräusch machen würden, das mich verriete.

Also den Kreuzgang entlang, immer dicht an der Mauer. Ich wandte mich nach rechts und betete, dass ich in meiner Eile nicht mit dem Unbekannten zusammenstoßen möge, falls dieser denselben Weg gewählt haben mochte.

Doch ich hatte Glück. Ich sah einen Schatten, der vom Kreuzgang aus zur Pforte flog: eine Gestalt in einem dunklen Umhang, wie auch ich ihn trug. Einen Augenblick lang glaubte ich, unter dem schwarzen Stoff eine zierliche Gestalt auszumachen. Handelte es sich etwa um eine Frau? Doch dann glaubte ich, dass meine überreizten Sinne mich täuschten. Als der Unbekannte an der kleinen Kerze vorbeieilte, die neben der Kammer des Portarius loderte, da erschien er mir plötzlich riesenhaft groß und mächtig wie ein finsterer Ritter. Wer immer es sein mochte: Er war auf jeden Fall schnell. Er huschte an der Kammer des Portarius vorbei - der schlief den Schlaf des Unschuldigen, wie immer -, machte sich an der Pforte zu schaffen und drückte dann lautlos das Schloss auf. Einen Moment später war er draußen.

»PATER in manus tuas commendo spiritum meum«, flüsterte ich, dann eilte ich ihm nach.

Es war leicht, am schlafenden Portarius vorbeizukommen, und noch leichter war es, durch die Pforte zu schlüpfen. Der Unbekannte hatte nicht wieder abgeschlossen, er hatte die schwere, eichene Tür nicht einmal richtig zufallen lassen.

Ich stand auf der Rue Saint-Jacques und blickte mich um. Zu beiden Seiten trieben Schwaden über die Straße, sie schienen aus dem nassen Pflaster, dem Unrat und den zerquetschten Körpern der toten Ratten aufzusteigen. Die Häuser waren dunkel wie Felsen, als lebten in ihrem Innern keine Menschen. Nirgendwo brannte eine Kerze, nicht einmal ein armseliges Talglicht schimmerte hinter einem Fenster — und doch war da dieses Leuchten, das aus dem Nebel selbst kam. Da sah ich den Schatten. Er war wohl zwanzig Schritte vor mir und eilte Richtung Seine.

Ich hielt mich so nah an den Häusern, dass meine rechte Schulter an den Mauern entlangstrich. Ich lief ein paar Schritte, dann zwang ich mich, langsamer zu gehen. Ich durfte nicht zu schnell werden, durfte dem Unbekannten nicht zu nahe kommen. Der Schatten vor mir bewegte sich nicht gleichmäßig: Mal eilte er ein kurzes Stück des Weges wie ein gehetztes Wild, dann wieder blieb er länger stehen, als es dauert, drei PATER noster aufzusagen. Er schien zu lauschen. Mir stockte der Atem: Hatte er meine Schritte vernommen? Ich krümmte mich zusammen, versuchte, so klein zu werden wie möglich. Dann bemerkte ich, dass wir nicht allein waren. Nun, da ich geduckt dastand und mit allen meinen Sinnen den Nebel und die Düsternis zu durchdringen versuchte, nun erst sah ich andere Schatten in engen Seitengassen und Hauswinkeln. Nun erst hörte ich von irgendwoher gedämpfte Stimmen, Flüstern, einen halb unterdrückten Schrei. Nun erst vernahm ich das Knirschen von Kieseln unter einer Sohle, das Kratzen eines langsam zurückgeschobenen Eisenriegels, das Würgen und Stöhnen von jemandem, der sich übergab. Ich war erleichtert und beunruhigt zugleich: Mir wurde klar, dass ich mich dem Unbekannten nicht so leicht durch ein unbedachtes Geräusch oder eine Bewegung verraten würde, wie ich zunächst befürchtet hatte. Doch zugleich ängstigte ich mich vor den Menschen und, wer weiß, vielleicht auch den verdammten Seelen, die durch das nächtliche Paris spukten.

Der Unbekannte schien noch eine Weile abzuwarten, dann lief er endlich weiter. Ich folgte ihm bis zum Petit Pont. Eine schwere, gusseiserne Kette spannte sich quer über den Zugang zur Brücke, doch war dies kaum mehr als eine symbolische Absperrung. Eigentlich hätten hier Sergeanten de la Douzaine stehen müssen, denn es war verboten, sich ohne Erlaubnis des Prévôt royal nächtens durch Paris zu bewegen. Deshalb versperrten Ketten die wichtigsten Brücken und Straßen der Stadt.

Doch zumindest am Petit Pont war kein Wächter zu sehen. Vielleicht waren den Sergeanten der Nebel zu dicht und die Luft zu feucht. Gut möglich war es aber auch, dass sie sich, wie alle vernünftigen Leute, vor der Nacht und ihren Geschöpfen fürchteten.

Der Unbekannte jedenfalls schien zu wissen, dass an der Kette niemand lauern würde. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern oder nach links oder rechts zu blicken, stieg er über die eisernen Glieder. Die Kette zitterte, ihr angerostetes Eisen gab kratzende Laute von sich. Dumpf klangen die Schritte der Gestalt auf dem hölzernen Boden der Brücke.

Ich zögerte kurz an der Kette. Noch immer konnte ich das dumpfe Klopfen hören, mit dem die Schuhsohlen des Unbekannten auf die Holzbalken trommelten. Musste er mich dann nicht auch hören? Verzweifelt zermarterte ich mir den Kopf und suchte nach einem Ausweg aus meinem Dilemma.

Schließlich, weil mir nichts Besseres einfiel und ich befürchtete, die Gestalt im Nebel endgültig zu verlieren, streifte ich meine Sandalen ab und stieg, Mantel und Kutte hebend, vorsichtig über die Kette. Ich erschauderte. Das feuchte Holz war glitschig und kalt wie der Tod. Ich lief weiter, nur mit den Ballen über die Balken tänzelnd wie ein übermütiges Kind. Ich machte, wie meinen überreizten Sinnen schien, gehörigen Lärm.

Doch der Schemen vor mir verlangsamte nicht seinen Lauf, im Gegenteil: Als er das jenseitige Ende der Brücke erreicht hatte, wurde er schneller und schneller. Er eilte durch die Gassen der Seine-Insel und strebte einem Ziel zu, das düster im Nebel schimmerte wie ein tausendfach gezackter Felsen, wie ein Titanenwald, in den niemals Licht fällt, wie die riesenhafte Burg des Herrn der Finsternis: der Kathedrale von Notre-Dame.

Der Unbekannte verschmolz mit der dunklen Masse, ein kleiner Schatten, der sich auflöste. Mit klopfendem Herzen hatte ich mich bis zum Rand des Platzes vor der Kathedrale geschlichen und starrte in den Nebel. Die Gestalt war verschwunden.

Schließlich schlug ich ein Kreuz, nahm all meinen Mut zusammen und rannte bis zum Hause GOTTES. Ich stand an der lang gestreckten Südfassade der Kirche. Über mir ragten Pfeiler und Türmchen auf. Steinerne Fratzen starrten auf mich herab, Teufel, Dämonen, Fabelwesen. Im milchigen Halblicht vermeinte ich, dass sich ihre Züge in schrecklicher Wut verzogen, da ich es wagte, in der Nacht an die Pforte ihres Reiches zu klopfen. Der Unbekannte war nirgendwo zu sehen.

Da hörte ich, ganz leise, ein Knarren. Nur wenige Schritte zu meiner Rechten erkannte ich schemenhaft eine winzige Tür, die zwischen den Streben zweier Kapellen ins Mauerwerk eingelassen war. Lange stand ich vor ihr, zu lange vielleicht. Schwer ging mein Atem, mein Herz schlug mir im Halse. Sollte ich hineingehen?

»Du hast dich auf diesen Weg begeben, nun musst du ihn auch zu Ende gehen«, flüsterte ich mir schließlich zu. Oder war es eine andere Stimme, die mir dies eingab? War es GOTT? Oder war es nicht vielmehr sein ewiger Widersacher, der mich lockte und trieb? Nach einer unendlich langen Zeit jedenfalls überwand ich die Lähmung meiner Glieder und drückte die Pforte so vorsichtig auf, dass ihre Angeln nur ganz leise knarrten.

Im Innern von Notre-Dame war es feucht und kühl und es roch nach kaltem Weihrauch. Die hohen Pfeiler strebten in die tintenschwarze Düsternis. Die Galerien hoch oben im Kirchenschiff, die Rosetten, die hohen Fenster, das Gewölbe, die Kapellen zu beiden Seiten - alles lag verborgen in undurchdringlicher Dunkelheit. Vor dem Altar jedoch brannten noch immer einige Kerzen, die Gläubige in frommem Eifer gespendet hatten. Rot und gelb flackerte ihr Licht durch den Chor, ließ dort die geschnitzten Stühle der Domherren dämonisch aufleuchten, warf Lichtzungen ins Kirchenschiff und erhellte die Grabplatten auf dem Boden.

Von meinem Unbekannten sah und hörte ich jedoch nichts. Ich blieb an der Pforte stehen und zwang mich, ruhig zu atmen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das seltsame Licht in der Kirche. Ich konnte die Bänke für die Betenden schemenhaft erkennen, zwei oder drei Beichtstühle, eine Statue der Mutter GOTTES, den goldenen Rahmen eines Bildes, der aufblitzte, als ein verirrter Luftzug einen Lichtstreif bis tief hinein in eine Kapelle warf. Nichts. In Notre-Dame war es still wie in einer Gruft. Nein, meine Erinnerung will mich hier täuschen: Notre-Dame glich in jener Nacht einem riesigen steinernen Gefäß, einem Reliquiar, randvoll angefüllt mit einer erhabenen, erschreckenden, mit einer jenseitigen Stille. Ich spürte sie, sie schnürte mir die Brust zusammen und verwirrte meine Sinne. Ich erschauderte. Was sollte ich nun tun?

Zögernd ging ich tiefer hinein ins gewaltige Kirchenschiff. Halb erwartete ich, meine Schritte tausendfach verstärkt von den Kapellen und Pfeilern als Echo zurückgeworfen zu hören. Doch es war, als schluckte die Dunkelheit jeden Ton. Ich konnte keinen meiner Schritte vernehmen, wie in einem Alptraum, in dem man sich bewegt und doch nicht von der Stelle kommt.

Das Licht der Kerzen am Altar war mein Leitstern. Sorgfältig vermied ich es, in den Lichtschein zu treten, um mich nicht zu verraten. Doch ihr Leuchten half mir, mich zurechtzufinden. Vorsichtig ging ich einmal durch das ganze Kirchenschiff: vom Hauptportal und den Zugängen zu den Türmen im Westen bis zu den äußersten Kapellen hinter dem Chor im Osten. Nirgendwo jedoch sah oder hörte ich etwas von dem Unbekannten, ich erblickte keine offene Tür, bemerkte keinen Lichtschein außer dem am Altar.

Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich jemand beobachtete. Ich glaubte, Blicke zwischen meinen Schultern zu spüren, ja fast vermeinte ich, sie greifen zu können, so wirklich erschienen sie mir. Doch stets, wenn ich mich rasch umdrehte, war die Düsternis hinter mir so undurchdringlich wie die vor mir. Meine Haare sträubten sich, Schauer liefen über meine Haut. Ich fror. »DOMINE, quo vadis?«, hauchte ich und irrte weiter, wohl eine Stunde lang.

Schließlich war ich erschöpft, halb erfroren, mutlos und verängstigt. Ich hatte die Spur des Unbekannten verloren. Langsam schlich ich zur Pforte zurück, durch die ich in die Kathedrale gekommen war. Draußen blieb ich einen Moment im Nebel stehen und sammelte mich.

Da erblickte ich Jacquette. Zumindest gewahrte ich in einer der Gassen, welche zu Notre-Dame führten, eine junge Frau, die sich gegen die Kälte in einen dunklen Umhang gehüllt hatte, der fast ihren ganzen Körper verbarg. Das Haar jedoch trug sie offen — und es schimmerte braun wie das jener Schönfrau, deren Bild ich nicht mehr aus meinem Geist vertreiben konnte. Ihre Bewegungen hatten noch etwas von der Ungelenkigkeit eines heranwachsenden Mädchens - genauso wie es bei Jacquette gewesen war.

Ich musste mich zwingen, nicht laut ihren Namen zu rufen, zu ihr zu eilen, um ihr Gesicht zu sehen und, oh Sünde, ihre Hände zu ergreifen. So nah stand ich bei ihr, dass ich meinte, sie fast berühren zu können. Doch der Nebel täuschte. Tatsächlich trennten uns doch einige Schritte - genug, dass sie mich, der ich mich an die Mauer von Notre-Dame drückte, nicht einmal bemerkte. Genug auch, dass ich ihre Gesichtszüge nicht deutlich erkennen konnte. War sie es wahrhaftig? Oder war es ein Trugbild Satans, mich zu locken und zu verhöhnen? Jacquette — wenn sie es denn war — verschwand nach wenigen Augenblicken in der Gasse. Und ich, ich wagte es nicht, ihr zu folgen. Nicht, weil ich Angst gehabt hätte vor ihr. Nein, ich hatte Angst vor mir. Ich spürte, dass ich etwas Unaussprechliches tun würde, ginge ich Jacquette nun nach. Ich wäre ihr nicht einfach durch eine Gasse von Paris gefolgt, nein, so gut kannte ich mein Herz nun schon. Ich wäre ihr gefolgt aus dem Kloster, aus meiner Berufung, aus allem, was mir heilig und wichtig dünkte.

So blieb ich denn im Schatten von Notre-Dame und atmete schwer und zitterte am ganzen Leibe, weil ich glücklich war und todtraurig zugleich. Und weil ich wusste, dass mein Leben langsam in Stücke zerfiel und ich nichts dagegen unternehmen konnte. Viel später erst - als ich endlich wieder im Kloster war, unentdeckt, wie ich hoffte —, ging mir auf, dass ich in Notre-Dame, als ich den Unbekannten verfolgte, meine Hand nicht ins Weihwasser getaucht und das Kreuz geschlagen hatte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Haus GOTTES betreten und dabei diese Bezeugung von Glauben, Ehre und Demut vergessen hatte. Noch ein böses Vorzeichen in dieser an bösen Vorzeichen überreichen Zeit.

*

Ich schwankte vor Müdigkeit in den Vigilien, doch fand ich keine Ruhe in Gesang und Gebet. Auch in den wenigen Nachtstunden, die mir danach noch blieben, konnte ich nicht in das gnädige Reich des Schlafes sinken.

Jacquette lebte und sie war frei! Das zumindest redete ich mir immer wieder ein. Doch war sie es wirklich? Mein Herz wollte es glauben. Mein Geist jedoch, geschärft vom Studium und mehr noch vom Vorbild des Inquisitors, wollte zweifeln. Hatte ich sie wahrhaftig erkannt? Hatte ich ihr Gesicht gesehen, ihre Stimme gehört? Nein und abermals nein. Doch falls es tatsächlich Jacquette gewesen war in jener düsteren Gasse: War es bloßer Zufall, dass ich sie im Schatten von Notre-Dame wiederfand? Hatte sie etwas mit dem Unbekannten zu schaffen, den ich zuvor verfolgt hatte? Und wer verbarg sich hinter dieser Gestalt? Und warum Notre-Dame? Wer oder was zog den Unbekannten dorthin? Und Jacquette? Und, ich schauderte, auch Heinrich von Lübeck, der dort sein schreckliches Ende gefunden hatte? Der Unbekannte und mein ermordeter Mitbruder hatten sich zudem im Kloster in der Rue Saint-Jacques aufgehalten. Hatten diese Vorgänge also etwas mit uns, den Dominikanern, zu tun?

So viele Fragen — und nur eine Sicherheit: Ich würde, auch wenn mich mein schlechtes Gewissen bedrängte, Meister Philippe weder von meinem nächtlichen Abenteuer erzählen noch davon, dass ich Jacquette gesehen hatte. Ich würde diese Ereignisse vorerst für mich behalten, bis ich klarer sah.

*

Als ich zum Morgenmahl ging, quälte mich die Furcht, Meister Philippe könnte mir meine durchwachte Nacht und meine Seelenqualen ansehen. Hätte er mir auch nur eine Frage gestellt - ich hätte es nicht über mich gebracht, ihn anzulügen, sondern auf der Stelle alles gestanden. Doch der Inquisitor kam an jenem Morgen nicht dazu, mich auch nur zu mustern.

Kaum hatten wir uns niedergelassen, bat ihn ein schüchterner Novize hinaus zum Portarius. Meister Philippe bedeutete mir mit einem Nicken, ihm zu folgen. So kamen wir zur Klosterpforte, wo uns einer der beiden Sergeanten erwartete, die uns den Leichnam Heinrichs von Lübeck gezeigt hatten.

Der Mann verbeugte sich würdevoll. Doch selbst mich täuschte er damit nicht, denn ich sah, dass er sein angstvolles Zucken, das ihm über die linke Gesichtshälfte lief, nur unvollständig verbarg. »Wir haben in der ersten Morgenstunde wieder einen Toten im Schatten von Notre-Dame gefunden, Herr«, verkündete der Sergeant. Das blasse Gesicht des Inquisitors wurde noch um eine Spur fahler. »Wer ist es?« Seine Stimme war eisig.

»Es ist der Dekan der Domherren, der ehrwürdige Nicolas d'Orgemont.«

»GOTT sei seiner Seele gnädig«, murmelte ich unwillkürlich. Der Sergeant schlug mechanisch das Kreuz und der Ausdruck nackter Angst stand ihm noch immer im Gesicht. »Der hohe Herr ist zu den Schönfrauen gegangen«, fuhr er mit sichtlichem Unbehagen fort, »dorthin, wo die Dirnen auf Männer warten: zwischen den Streben der Chorkapellen von Notre-Dame. Einige der Mädchen haben ihn gesehen und erkannt, er kommt ja regelmäßig. Er hat sich eine Schönfrau ausgesucht und ist mit ihr in einer Gasse verschwunden, die von der Kathedrale zur Seine führt. Dort habe ich ihn heute Morgen entdeckt. Erstochen. Von der Schönfrau fehlt jede Spur.«

»Weißt du, welche Dirne mit dem Domherrn gegangen ist?«, fragte der Inquisitor. Plötzlich klang seine Stimme müde — so, als ob er die Antwort schon kannte.

Und, wenn ich ehrlich sein muss, auch mich überraschten die nächsten Worte des Sergeanten nicht.

»Es war Jacquette, das Täubchen«, sagte er und schluckte. »So ein Zufall, nicht wahr, Herr?«

»In GOTTES Plan ist kein Platz für den Zufall«, murmelte der Inquisitor düster.