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7DIE TOCHTER DES GELDWECHSLERS

In anderen Zeiten hätte das Volk von Paris sich wohl höchlich um die Ermordung des würdigsten Domherrn von Notre-Dame erregt — doch in diesem Frühjahr verhielt es sich anders. Denn genau an jenem Morgen, da uns der Sergeant den Tod des Nicolas d'Orgemont meldete, zogen wohl hundert ärmliche Flüchtlinge aus Lyon durch die Porte Saint-Jacques in die Stadt. Erschöpft und voller Schrecken erzählten sie allenthalben vom Schwarzen Tod. Großherzige Bürger nahmen sich ihrer an, dazu wir Mönche, die Nonnen der Klöster, die Ratsherren von Paris. Die Neuankömmlinge berichteten, dass in Lyon der Tod herrsche wie nie zuvor. Sie beschrieben eitrige Geschwüre und Beulen, die sich plötzlich auf der Haut zeigten. Die Menschen, so sagten sie uns, begännen zu faulen und stänken nach Verwesung und Tod, noch bevor sie gestorben seien. Leiden müssten sie nicht lange, denn der Schwarze Tod schlug schnell zu. So mancher, der einen Kranken in dessen Haus besucht habe, um ihm Tröstung zuzusprechen, habe die heimtückischen Beulen auf seiner Haut wachsen sehen in einer Zeit, in der man kaum zwei PATER noster sprechen könne. Und noch ehe der Unglückliche sein eigenes Haus wieder erreicht habe, da sei er schon gestorben. Zunächst wollten wir diese Geschichten nicht glauben, doch den Flüchtlingen folgten noch am gleichen Tag weitere aus Toulon und Marseille. Dann kamen sie sogar von den Häfen des Westens, aus Nantes und La Rochelle und Calais, und von Norden, aus Lille und Rouen, und von Osten, aus Strassburg und Basel. Manche wankten geschwächt in die Stadt - sie kamen aus Katalanien und Italien und Flandern und weiß GOTT noch woher. Und sie alle erzählten die gleiche Geschichte.

Mein Herz zitterte, auch wenn ich mir sagte, dass der HERR uns alle prüfen wolle und ich, als Mönch und Inquisitor, doch den Bürgern ein besonderes Vorbild an Standfestigkeit und Vertrauen sein müsse. Ich fühlte mich - und da war ich nicht allein - wie in einer belagerten Stadt. Von überall, so schien es mir, wälzten sich unsichtbare, schreckliche Armeen auf Paris zu.

In Notre-Dame und den anderen Kirchen wurden Messen zelebriert und die Häuser GOTTES waren von Menschen gefüllt wie nie zuvor. Reliquien und Heiligenbilder wurden in Prozessionen durch die Straßen getragen und zu den Klöstern des Umlandes. Überall erschollen die Fürbitten der Menschen zum Himmel. Doch GOTT hatte sich abgewandt und hörte sie nicht.

Zu allem Unglück brach nach dem nebligen, feuchten Mai auch noch eine Maikäferplage über das Land herein. Das braune Getier war plötzlich auf allen Feldern, Wäldern und Wiesen und fraß die Mandel-, Apfel-, Birnen- und Kirschbäume kahl. Die Preise für Obst stiegen ins Unermessliche, sodass sich selbst die Reichen kaum mehr als ein oder zwei verschrumpelte Früchte kaufen konnten. So kam zur Angst auch noch der Hunger nach Paris.

Mit den Flüchtlingen kamen auch viele Dominikaner in die Stadt, vor allem aus dem Süden, wo unsere Gemeinschaft gegründet worden ist und wo sie von jeher besonders stark ist. Ihrer nahmen wir uns natürlich besonders fürsorglich an, und so war unser Kloster bald überfüllt, als wären wir Gastgeber eines Konvents.

Tagelang war gar nicht daran zu denken, unsere Nachforschungen weiterzuführen, so brennend wir dies auch wollten. Demütig übernahm es der Inquisitor, in der Stadt das immer teurer werdende Mehl zu kaufen, Zwiebeln und was er sonst noch auf den Märkten erstehen konnte, damit wir die Flüchtlinge anständig versorgen konnten. Ich ging in den Krankensaal, wusch den erschöpften Mitbrüdern, die oft wochenlang auf den Straßen gewandert waren, die Füße, verband wund gescheuerte Fersen, trug eine Paste, die unser heilkundigster Bruder gemischt hatte, auf sonnenverbrannte Haut auf und linderte mit kalten Umschlägen und Kräutersud wohl manches Fieber. Die Tage verbrachte ich so und auch die meisten Nächte. Ich empfand, ich muss es gestehen, eine heimliche Freude an dem, was ich tat, denn ich erlegte mir diesen Dienst selbst als Buße auf. Indem ich fast pausenlos arbeitete, vermied ich es, zu viel über die Toten und über die Lebenden nachzudenken — vor allem über die Lebenden.

Trotzdem bekam ich Jacquette nicht vollständig aus meinem Sinn. In jenen Tagen sah ich sie nicht, denn ich verließ das Kloster nie. Doch fragte ich mich manchmal, wo sie wohl sein mochte und wie es ihr erging in dieser unruhigen Zeit.

Auch an Klara Helmstede dachte ich und an ihr aufreizendes Wesen. Vor allem, da Meister Philippe mir nach einem seiner Gänge durch die Stadt gesagt hatte, dass die Kogge noch immer im Seinehafen dümpelte.

»Jetzt ist der Reeder gefangen«, murmelte der Inquisitor grimmig. »Richard Helmstede wird es nicht wagen, mit seinem Schiff durch ein Land zu segeln, in dem der Tod an beiden Ufern regiert. Wenn er uns etwas verheimlicht, dann wird er es uns früher oder später gestehen.«

Vom Vaganten Pierre de Grande-Rue hingegen fehlte jede Spur. Wie hätten wir ihn auch aufstöbern können? Wir waren in unserem Dienst ans Kloster gebunden. Die Sergeanten hatten alle Hände voll zu tun, in der übervölkerten Stadt für Ordnung zu sorgen. Und zwischen all den Flüchtlingen mochte es dem Spielmann noch leichter fallen als zuvor, unentdeckt zu bleiben.

*

So verging ein Tag nach dem anderen, die Zeit schien zu fliegen, und schließlich wuchs auch in mir die Ungeduld. Ich wollte wieder hinaus aus dem Kloster, wollte suchen, forschen, wollte - doch das gestand ich mir nicht ein - zwei Gesichter sehen, die ich nur in meinem Innern betrachtete.

Der Juni kam und es wurde heiß und stickig in Paris. Es stank bis hinter unsere Klostermauern, denn mit den zusätzlichen Menschen gelangte auch mehr Unrat auf die Straßen. Immerhin waren wir die Ratten los, denn seit dem großen Sterben im nebligen Frühjahr sah man nur noch wenige Tiere. Dafür plagten uns nun Flöhe und Wanzen und anderes Getier ärger als in anderen Jahren. Es war zu Sankt Erasmus, am zweiten Juni-Tag, dass ich die Gelegenheit fand, mich aus dem Kloster zu stehlen. Es war nach der Terz: Ich ging zum Portarius und sagte ihm, dass mich unser heilkundiger Bruder hinausschickte, auf dass ich irgendwo in Paris getrockneten Salbei und noch einige andere lindernde Kräuter kaufen möge. Das war nicht einmal gelogen, denn tatsächlich hatte ich mich entboten, an Medizin zu kaufen, was überhaupt noch zu kaufen war. Tatsächlich streifte ich dann wohl zwei Stunden über die Plätze und durch die Gassen, um bei Apothekern nützliche Dinge zu erstehen. Die Preise waren hoch, ja wucherisch - oft zahlte ich vier, fünf Sous und noch mehr für ein kleines Säckchen mit Kräutern vom letzten Jahr. Doch sagte ich mir, dass es, so, wie die Dinge standen, in den nächsten Wochen kaum besser werden mochte. Als ich schließlich alle Besorgungen erledigt hatte, ging ich zurück über den Grand Pont. Dort, auf der Brücke der Geldwechsler, sah ich mich im Gedränge rasch um — und trat mit einem eiligen Schritt ins »Haus zum Falken«.

»Endlich seid Ihr gekommen, Bruder!«, rief der junge, höfliche Gehilfe in der Wechslerstube. »Messer Datini erwartet schon seit Tagen mit Ungeduld Euren Besuch.«

Ich verzichtete auf eine Antwort und nickte nur würdevoll, doch am liebsten hätte ich jubiliert: Denn was konnte dies anderes sein als eine gute Nachricht?

Und es war eine gute Nachricht. Pietro Datini hieß mich, auf einem Stuhl in seinem Arbeitszimmer Platz zu nehmen. Ich bewunderte heimlich sein prächtiges blaues Wams, das seiner kurzgewachsenen, hageren Statur etwas Imposantes verlieh.

»Ich habe eine Geschichte gehört, die Euch schwerlich gleichgültig lassen wird«, begann er das Gespräch. Vorsichtig und höflich wie immer; nur sein Florentiner Akzent, der seine Worte noch mehr tränkte als sonst, verriet seine innere Anspannung.

»Vor einigen Wochen«, fuhr Datini fort, »soll ein Dominikaner zum jüdischen Geldwechsler Nechenja ben Isaak gegangen sein. Niemand von denen, mit denen ich sprechen konnte, vermochte mir seinen Namen oder sein Aussehen zu nennen. Doch er ist der einzige Mönch Eures Ordens, der in letzter Zeit bei einem Pariser Geldwechsler vorstellig geworden ist.«

Ich vermochte meine Erregung kaum hinter der Fassade frommen Gleichmuts zu verbergen. »Wisst Ihr, Messer Datini, wann dieser Mönch zum Juden gegangen ist?«, fragte ich und hörte selbst, wie meine Stimme vor Aufregung halb erstickt klang. Der Florentiner lächelte dünn. »Einen Tag, bevor Heinrich von Lübeck erstochen aufgefunden worden ist.«

Mir schwindelte. »Wie viel Geld hat der Mönch bekommen?«, krächzte ich.

»Darf ich Euch ein Glas Wasser anbieten, Bruder? Oder Wein?«, fragte Datini besorgt. Als ich energisch den Kopf schüttelte, nickte er. Ein Hauch von Betrübnis schien sich für einen Moment über seine ebenmäßigen Züge zu legen, dann wirkte er wieder so gefasst wie zuvor. »Mehr kann ich Euch leider nicht sagen, Bruder. Niemand hat davon gehört, dass dieser Dominikaner eine größere Summe Geldes bekommen — oder eingezahlt — hätte. Bewegt sich irgendwo ein Vermögen von einer Hand in eine andere, dann spricht sich das unter uns Geldwechslern herum. Wenn überhaupt, kann es sich nur um eine geringe Summe gehandelt haben, welche jener Dominikaner beim Juden erhalten oder eingezahlt hat. Vielleicht wollte er sich nur nach den Bedingungen einer solchen Transaktion erkundigen und später wiederkommen - was ihm dann der HERR verwehrte.« Wir schlugen beide das Kreuz.

»Sagt mir, Messer Datini, was wisst Ihr über diesen Juden?«

»Nechenja ben Isaak?«, Datini machte eine Geste, die ebenso weit ausholend wie vage war. »Er ist schon lange in Paris, sechzehn Jahre bereits, glaube ich. Gleich mir ist er nicht hier geboren. Manche sagen, dass er aus Deutschland stammt. Andere behaupten, er komme aus Spanien. Aus dem maurischen Teil, nicht dem katholischen. Seine Geschäfte sind jedenfalls solide, wenn auch nicht spektakulär. Ich glaube, dass er wohlhabend ist, doch dass es wohl drei Dutzend Geldwechsler in Paris gibt, die reicher sind als er.«

Datini ließ offen, ob er sich selbst dazu rechnete, doch ich konnte es mir denken.

»Er ist ein Büchernarr, sagt man, und sammelt alte Schriften. Aber das ist ja nichts Ungewöhnliches für einen Juden.« Der Florentiner lächelte wieder dünn. »Wenn überhaupt etwas ungewöhnlich ist an ihm, dann ist es seine Tochter Lea. Eine junge Witwe. Nach dem Tod ihres Gatten ist sie zu ihrem Vater zurückgekehrt. Offiziell hilft sie ihm in seiner Wechselstube, denn seine beiden Söhne sind, so sagt man zumindest, nach Deutschland gegangen, wo sie in großen Städten - in welchen, das weiß ich nicht - als Rabbiner eingesetzt worden sind. Die, mit denen ich geredet habe, behaupten, dass Nechenjas Tochter in Wahrheit die wichtigen Geldgeschäfte regelt.« Datini erlaubte sich ein kurzes Lachen. »Aber ist es nicht oft so, dass es die Frauen sind, die im Namen der Männer das Geld durch unsere Welt pumpen?«

Ich musste unwillkürlich an Klara Helmstede denken und fragte mich, ob auch sie mehr mit Schiffen und Waren zu tun hatte, als ich bislang glaubte. Zögernd nickte ich. »Wo finde ich ihn, diesen Juden?«

»Nechenja ben Isaak wohnt im Haus ›Zum bunten Ochsen‹ in der Rue de la Juiverie, wie alle Juden. Im gleichen Haus hat er auch seine Wechselstube. Es steht direkt neben der kleinen Kirche Saint-Denis-de-la-Chattre. Ihr könnt es kaum verfehlen, Bruder. Saint-Denis-de-la-Chättre liegt auf der Cite, am Nordufer der Insel. Nur wenige Schritte vom Grand Pont entfernt.«

»Und wenige Schritte von Notre-Dame«, murmelte ich düster. Nachdem ich mich von Messer Datini verabschiedet hatte, machte ich mich auf den Rückweg zum Kloster. Unterwegs hatte ich kaum Augen für die Stadt und widerstand auch der Versuchung, vom Grand Pont direkt in die Rue de la Juiverie zu gehen. Ich ahnte, dass die Verstrickungen, in die ich nun hineingeraten war, zu groß waren für einen jungen Mönch allein. Ich musste Meister Philippe meine Eigenmächtigkeit gestehen, sein Verzeihen erflehen und mit ihm zum Juden gehen.

Nachdem ich mich zu diesem Entschluss durchgerungen hatte, fiel mir eine Last von der Seele. Freier, ja fröhlich marschierte ich zurück in die Rue Saint-Jacques.

Nach der Vesper hätte ich mich gerne dem Inquisitor offenbart, doch es war der Prior, der uns, noch in der Kirche, zu sich zitierte. Bruder Carbonnet wartete vor dem Altar, bis die anderen Mönche lautlos das Haus GOTTES verlassen hatten. Der alte Prior sah müde aus und ungeduldig.

»Nun, Brüder«, begrüßte er uns, »ich hoffe, dass Ihr über der Barmherzigkeit, die Ihr den Flüchtlingen zuteil werden lasst und die der HERR ohne Zweifel gerne sieht, nicht den Tod Heinrichs von Lübeck vergessen habt.«

Ich erschrak. Hatte der Prior irgendwie von meinem Besuch bei Messer Datini erfahren? Warum sonst zitierte er uns ausgerechnet an diesem Tag zu sich?

Doch Bruder Carbonnet gab mir die Antwort, wiewohl unwissentlich, selbst. »Seit gestern«, so fuhr er fort, »lesen die Franziskaner vom ersten Glockenschlag am Morgen bis zum Läuten der Abendglocken pausenlos Messen. Die Cordeliers sind, wie Ihr wisst, im Volk beliebter als wir Dominikaner. Doch auch in das Kloster der Augustiner strömen viele Bürger von Paris. Selbst nach Saint-Julien-le-Pauvre, dem Priorat der Cluniazenser, das sich nur ein paar Schritte die Straße hinunter erhebt, zieht es Ritter und Bauern, Edelfrauen und Marktweiber. Unseren Beistand jedoch sucht kaum jemand, nicht einmal ein Ratsherr der Stadt.«

Der Prior seufzte und bereitete die Arme weit aus wie ein etwas ratloser, doch gütiger Vater. Seine Augen jedoch musterten uns kalt. »Früher wenigstens hat uns das Volk ob unserer Gelehrsamkeit geschätzt und ob des Scharfsinns unserer Inquisitoren gefürchtet. Jetzt allerdings, scheint mir, haben wir nichts mehr, das ihnen noch Achtung gebietet.«

Meister Philippe verneigte sich demutsvoll, doch sah ich, dass sein Gesicht weiß geworden war und seine Lippen zitterten vor unterdrücktem Zorn. Ich tat es ihm gleich und senkte ebenfalls mein Haupt.

»Ut omnes honorificent Filium sicut honorificant PATREM qui non honorificat Filium non honorificat PATREM qui misit illum«, murmelte Bruder Carbonnet und ließ seine Worte wirken. Dann endlich hob er wieder die Stimme: »Man sagt sich auf den Straßen von Paris, dass auf uns Dominikanern ein Fluch liegt, seit einer von uns vor Notre-Dame ein so schreckliches Ende gefunden hat. Der Fluch wird, so gehen die Gerüchte, auf uns lasten, bis dass wir den Schuldigen gefunden und diese Tat gesühnt haben. Liebe Mitbrüder, ich brauche Euch bestimmt nicht daran zu erinnern, dass die Angst das Volk von Paris gepackt hält wie schon lange nicht mehr. Ihr kennt die Geschichten vom Schwarzen Tod. Wiewohl ich sie nicht glauben mag, so muss ich doch sehen, dass viele andere sie für bare Münze nehmen. Daher sind die Menschen reizbar und bereit, jedes Wort zu glauben, sofern es von finsteren Taten und Blut und Sünde kündet.

Zumal ja nicht allein der Tod Heinrichs von Lübeck ungesühnt ist…«

Die Stimme des Priors verklang, dann jedoch räusperte er sich, stand auf und ging unruhig vor dem Altar auf und ab. »Der Prévôt royal gab sich gestern die Ehre eines Besuches«, verkündete Bruder Carbonnet und der Zorn in seiner Stimme war unverkennbar. »Er machte mir in ziemlich deutlichen, um nicht zu sagen unhöflichen Worten klar, dass er mit den vielen Flüchtlingen und ihren Gerüchten und mit den Burgundischen und Englischen, die in der Nähe von Paris die Felder verheeren, schon genug Sorgen habe. Er möchte die Mörder, die Heinrich von Lübeck und Nicolas d'Orgemont ein so schimpfliches Ende bereitet haben - oder den Mörder, sollte es sich in beiden Fällen um ein und denselben Täter handeln — endlich unschädlich machen.

Der Prévôt will sie auf dem Richtplatz vor aller Augen vierteilen lassen, auf dass die Bürger von Paris abgelenkt werden von den Geschichten der Flüchtlinge - und auf dass sie sich beizeiten erinnern, dass es stets besser ist, der Obrigkeit zu gehorchen. Wir, meine Brüder, sollen ihm endlich die Schuldigen benennen. Ich habe auf den Prévôt mit solch kunstvollen Worten eingeredet, wie ich sie nur selten in einer Predigt finde. So gibt er uns noch ein paar Wochen. Doch spätestens zu Mariae Himmelfahrt wird er dem König Bericht erstatten. Sollte er dies tun, dann wird diese unselige Geschichte unfehlbar auch Seiner Heiligkeit zu Ohren kommen. Der Papst wird in dieser Situation, da uns Krieg und Krankheit drohen, um keinen Preis Streit haben wollen mit Ihrer Majestät. Ich möchte lieber nicht daran denken, was Seine Heiligkeit in so einem Fall zu unternehmen gedenkt.

Also werden wir, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die unser Leben zurzeit plagen, die verruchten Täter finden. Das heißt, Ihr, meine Brüder, werdet sie finden.«

»Ich danke Euch für Euren Großmut, Ehrwürdiger Vater«, murmelte der Inquisitor.

Der Prior segnete uns. »Ihr dürft gehen«, sagte er freundlich. »Geht und sucht!«

*

Als wir das Haus GOTTES verließen, bebte der Inquisitor noch immer vor Wut. Es hätte kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt geben können, ihm meine Missetat zu gestehen, doch so sollte es sein: Der HERR lässt uns keine Tat ohne Schwierigkeiten bereuen, denn wenn Reue einfach wäre, dann würden wir schwachen Menschen noch viel mehr Sünden begehen als wir es sowieso schon tun. »Meister Philippe, lasst uns bitte für eine Weile durch den Kreuzgang wandeln, bevor wir uns wieder in Paris auf die Suche nach den Mördern machen«, bat ich ihn.

Der Inquisitor sah mich erstaunt an, sagte allerdings nichts, sondern nickte nur zustimmend.

So gingen wir denn langsam unter dem Säulengang dahin, der uns noch kühlen Schatten bot, während die Sommersonne den Innenhof buk. Ich gestand dem Inquisitor meine heimlichen Wege zu Pietro Datini. Immerhin erleichterte es mich, dass sie, wie ich hoffte, nicht vergebens gewesen waren. Denn selbstverständlich erzählte ich auch getreulich all das, was ich von Nechenja ben Isaak in Erfahrung gebracht hatte.

Philippe de Touloubre hörte sich meinen Bericht schweigend an. Er war noch immer sehr blass - ob noch aus Zorn über die Worte des Priors oder nun wegen meiner eigenen Worte, das vermochte ich allerdings nicht zu deuten.

»Nun«, sagte er, als ich endlich geendet hatte, »du wärst ein guter Ketzer geworden, mein junger Bruder. Du beherrscht, wie mir scheint, die Kunst der Heimlichtuerei und der Verstellung geschickt genug. Du kannst deine Zunge im Zaum halten und du scheust dich nicht, dich auch mit anrüchigen Leuten einzulassen, wie mit Geldwechslern, sogar mit jüdischen. Andererseits«, und nun lächelte Meister Philippe dünn, »sind dies auch genau die Eigenschaften, die einen guten Inquisitoren ausmachen. Deinde ego te ab so Ivo.«

Ich beugte mein Haupt unter seiner segnenden Hand. Die Last, die in jenem Augenblick von meiner Seele fiel, war so groß, dass ich vermeinte zu fliegen.

»Jetzt aber«, fuhr der Inquisitor fort, »wollen wir zum Juden gehen.« Die alte Jagdlust leuchtete wieder in seinen Augen auf.

*

Eilig verließen wir das Kloster. In den Straßen von Paris drängten sich Männer, Weiber und Kinder sonder Zahl, Ritter und Mönche, Bauern, Handwerker, Kaufleute, Mägde, Waschfrauen, Boten, dazu unzählige Flüchtlinge, kenntlich an ihrer fremden Tracht, an ihren seltsamen Dialekten und fremden Sprachen und am verwirrten Blick, mit dem sie jeden Vorbeikommenden musterten. Alle schwitzten sie Furcht aus wie ein Fieber und ich vermeinte, die Angst fast mit Händen greifen zu können. Große, blau schimmernde Fliegen schwebten in dunklen Wolken über den Köpfen der Menschen und quälten uns mit ihrem Gesumm. Lauter noch als sonst waren die Leute, schneller erregt und im Zorn bereit, mit Fäusten und Knüppeln wegen Nichtigkeiten aufeinander loszugehen.

Uns aber schützte noch immer die Ordenstracht. Unbehelligt gelangten wir zur Seine und über den Petit Pont auf die Insel Cite. Wir überquerten den Platz vor Notre-Dame, wo viele Flüchtlinge, die in der Stadt kein anderes Obdach gefunden hatten, unter Stoffbahnen ihr Lager aufgeschlagen hatten und von den mildtätigen Gaben der Gläubigen lebten, welche die Messen in der Kathedrale besuchten. Auch vor dem Hotel Dieu, dem größten Hospiz von Paris, das neben dem Hause GOTTES aufragte, hatten sich viele Gestalten eingefunden: Fremde, von der langen Flucht durch Frankreich geschwächt und von Krankheiten gezeichnet; Angehörige, die ihre Lieben im Hospiz besucht hatten — und zwei oder drei erbärmliche Gestalten, die glaubten, die schreckliche Seuche, von der alle Welt erzählte, bereits in sich zu tragen. Laut begehrten sie Einlass, doch da sie offensichtlich am Leib, wiewohl vielleicht nicht an der Seele, gesund waren, verwehrten ihnen die Mönche, die hier Dienst taten, energisch den Zutritt.

Ein paar Schritte hinter dem Hotel Dieu lag das andere Ufer der Insel. Meister Philippe führte mich ein Stück weit nach Osten, zur Spitze der Cite, die gegen die Strömung des Flusses wies. Ich erblickte von dort aus schon die beiden unbewohnten Eilande Ile-aux-Vaches und Ile-de-Notre-Dame, die wohl einige hundert Schritt stromauf in der Seine lagen. Sie trugen Ginster und Eiben, Schilf und kleine, versumpfte Weiden, aber kein einziges Gebäude von Menschenhand. An ihren Ufern jedoch waren Wassermühlen festgemacht, welche die Kraft des Flusses nutzten, um Getreide für den ewig hungrigen Magen von Paris zu mahlen. Fischernetze steckten im flachen Wasser entlang der Schilfgürtel. Ein losgerissener Lastkahn, längst von seinem Besitzer aufgegeben und schon halb vermodert, hatte sich in einem der Netze verfangen und schwankte in der Strömung langsam hin und her. Der dunkle, morsche Kahn kam mir in diesem Augenblick vor wie ein riesiger Zeigefinger, der mahnend geschwenkt wurde. Doch wenn es so war, dann wollte dies in ganz Paris niemand sehen.

Auch ich schüttelte die Vision ab und folgte dem Inquisitor in die Rue de la Juiverie, die vom Uferkai abzweigte.

Die Gasse war ungewöhnlich eng und nur ein paar Dutzend Schritte lang. Das Haus »Zum bunten Ochsen« war leicht zu finden. Schlicht war es und schmucklos; nur ein geschnitzter, farbig bemalter Ochsenkopf wies auf den Namen hin.

Der Inquisitor trat energisch auf die Tür des Gebäudes zu. »Dann wollen wir mal zum Juden gehen«, sagte er grimmig. »Möge GOTT, dass es uns besser ergeht als dem letzten Dominikaner, der hier eingetreten ist!«

Ich schlug das Kreuz und folgte ihm.

Der Raum zur Straße hin war weiß gekalkt, schmucklos, sauber und im Übrigen fast so eingerichtet wie jener im Hause des Pietro Datini. Man hätte denken können, dass hier Christenmenschen arbeiteten — wenn nicht die beiden Gehilfen, die gerade am großen Tisch Münzen abwogen, den gelben, aufgenähten Flicken an ihren Gewändern getragen hätten. Den gelben Stoff hatte Seine Heiligkeit Innozenz III. vor über einhundert Jahren den Juden als Kennung befohlen. Er symbolisiert, wie jedermann weiß, die Geldstücke, die diesem Volk mehr bedeuten als uns Christenmenschen. So dachte ich damals zumindest. Doch was geschrieben steht, das gilt, so glaube ich heute, für alle Seelen: Vendite quae possidetis et date elemosynam facite vobis sacculos qui non veterescunt thesaurum non deficientem in caelis quo für non adpropiat neque tinea corrumpit.

Die beiden jüdischen Geldwechslergehilfen erbleichten vor Furcht, als sie unserer ansichtig wurden. Der ältere der beiden, der uns ins Hinterhaus führte, zitterte am ganzen Leib, der jüngere, der zurückblieb und eilig hinter uns die Türe verriegelte, auf dass kein Kunde hineinkam und uns erblickte, verzog sein Gesicht, als wolle er gleich in Tränen ausbrechen. Meister Philippe war kalt und höflich und richtete nur wenige Worte an die beiden. Ich schwieg. Im Hinterhaus wurden wir eine Stiege hinaufgeführt, dann betraten wir eine große Bibliothek. Erstaunt blieb ich an der Türschwelle stehen und hätte wohl auch einen Ruf der Verwunderung, ja des Lobpreises ausgestoßen, wenn mir nicht im letzten Augenblick bewusst geworden wäre, wo ich mich befand.

An der dem Eingang gegenüberliegenden Seite waren drei schmale, jedoch sehr hohe Fenster in die Wand eingelassen. Durch das Glas ging der Blick ungehindert über die Dächer einiger ärmlicher Häuser und die oberen Geschosse des Hotel Dieu bis zum gewaltig aufragenden, im Nachmittagslicht rot leuchtenden Steingebirge der Kathedrale Notre-Dame.

»Ein Ausblick, welcher der Residenz eines Prälaten würdig wäre!«, rief auch Meister Philippe aus, der im hell hereinflutenden Sonnenlicht die Augen zu Schlitzen zusammengezogen hatte. »Deine Worte ehren mich, Herr!«, antwortete ein Mann, der hastig von einem Lehnstuhl aufgesprungen war, als er uns erblickt hatte. Nechenja ben Isaak war vielleicht vierzig Jahre alt; ein kurzgewachsener, rundlicher Mann in ledernem Wams und wollenen Beinkleidern. Hätte nicht auch er den gelben Flicken getragen, ich hätte ihn nicht von einem Christenmenschen unterscheiden können. Doch kaum hatte er erkannt, wer wir waren, da überzogen hektische rote Flecken sein Gesicht und der Schweiß trat ihm aus allen Poren, dass er ein Spitzentaschentuch hervorziehen musste und sich damit über das Gesicht fuhr.

Der Inquisitor bemerkte dies wohl und lächelte dünn. »Keine Sorge, mein Freund«, fuhr er fort. »Ich möchte dir nur ein paar Fragen stellen.«

»Gerne beantworten wir diese, Ihr Brüder vom Orden des heiligen Dominicus«, kam da eine Stimme aus einer links neben der Tür eingelassenen Wandnische. Eine Frauenstimme.

Erschrocken fuhr ich herum und erblickte dort, an einem fein geschnitzten Lesepult stehend, eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen. Ihr Gesicht war schmal und fein, ihre Augen glänzten dunkel wie Opale und ihr langes, schwarzes, lockiges Haar ließ sich nur widerwillig von einer golddurchwirkten Spitzenhaube bändigen. Sie trug ein langes, gegürtetes blaues Gewand aus edlem Florentiner Tuch, das ihr vom schlanken Hals bis zu den Füßen reichte. Ein schlichtes und doch würdevolles Kleid, das jedem Edelfräulein angemessen gewesen wäre, wäre da nicht dieser gelbe Flicken mitten auf der Brust gewesen, der die dünne blaue Wolle verunstaltete wie eine Wunde. Nun war es an mir, zu erbleichen und vor Angst zu zittern, denn es kam mir vor, als hätte mich diese junge Frau, die uns furchtlos anblickte, hinterrücks überfallen. Oh, ich Narr! Ich suchte den Mörder eines Mönches - und fand doch, wo ich auch hinblickte, bloß Frauen, die meine Sinne betörten und meinen Geist verwirrten. »Das ist Lea, meine Tochter«, murmelte der jüdische Geldwechsler und ich konnte sehen, wie unangenehm es ihm war, dass wir ihrer ansichtig wurden.

Wir verneigten uns, das Lächeln auf Meister Philippes Zügen wurde eine Spur milder.

»Was hat unseren so tragisch verstorbenen Bruder Heinrich von Lübeck in dieses Haus geführt?«, fragte der Inquisitor dann unvermittelt. Er machte sich nicht die Mühe nachzufragen, ob jener unbekannte Dominikaner überhaupt der unglückselige Mönch aus Deutschland gewesen war.

Und richtig, Nechenja ben Isaak schluckte und nickte. »Er wollte, er kam zu mir, der Mönch suchte …« Der Geldwechsler brach seine unruhige Rede ab, sammelte sich und hub dann von vorne an. »Heinrich von Lübeck wollte von mir wissen, zu welchen Bedingungen er Geld von mir haben könne.« Er schwitzte wieder so stark, dass er zum Taschentuch greifen musste.

Da, zu meiner großen Enttäuschung und meinem fast ebenso großen Schrecken, nickte Meister Philippe kurz und sagte: »Nechenja ben Isaak, wir wollen uns zurückziehen und unter vier Augen darüber sprechen.«

Einen Moment später waren die beiden durch die Tür verschwunden. Ich blieb ratlos zurück, gedemütigt wie ein Novize — und allein mit Lea.

Scham ließ mein Gesicht glühen, auch wenn ich mir sagte, dass mir dies recht geschehe und mir eine Lehre sein sollte. Hatte ich nicht vor Meister Philippe von meinen Abenteuern geschwiegen? Hatte ich ihm so nicht gezeigt, dass es Gründe gab, mir nicht in allen Dingen zu vertrauen? Jetzt bekam ich die Rechnung dafür präsentiert. Der Inquisitor machte mir deutlich, dass er nicht gewillt war, sein Wissen mit mir zu teilen.

Während mir diese Gedanken durch den Kopf schössen, bebte allerdings auch eine Art freudiger Schrecken in mir. Mir war sehr wohl bewusst, dass die junge Jüdin in der Bibliothek zurückgeblieben war und mich aufmerksam musterte.

Doch was sollte ich nun tun? Wie lange mochte es dauern, bis Meister Philippe und der Geldwechsler zurückkehrten? Welche Worte sollte ich an Lea richten? Sollte ich sie befragen? Oder war es nicht vielmehr unschicklich, überhaupt ein Wort an sie zu richten? War es nicht gar schon eine Sünde, in ihrer Gegenwart auszuharren? Wenn man bedenkt, dass mich meine Mutter wahrscheinlich direkt nach meiner Geburt an jenem Abtritt ausgesetzt hatte, kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich bis zu jenem Nachmittag im Haus in der Rue de la Juiverie noch nie in meinem Leben mit einer Frau allein war. Selbst an jenem Tag auf dem Grand Pont, da mich die Frau des Reeders angesprochen hatte, war zwar glücklicherweise niemand dabei gewesen, der uns kannte, doch waren Dutzende, vielleicht Hunderte Menschen an uns vorbeigegangen. Nun aber war ich allein. Mein Hals war wie zugeschnürt, ich wusste nicht, wo ich meine Hände lassen sollte, und mein Gesicht glühte, als quälte mich ein Folterknecht mit seinem Marterwerkzeug. Es war Lea, die meine Pein zwar nicht vertrieb, doch linderte, indem sie meine Starre löste. Denn sie richtete das erste Wort an mich - mit einer Frage, die mir seltsam dünkte. »Ihr seid sehr gelehrt, nicht wahr, Bruder?«

»Bruder Ranulf heiße ich, mein Fräulein«, antwortete ich mit zugeschnürter Kehle.

»Frau, nicht Fräulein. Ich bin Witwe«, korrigierte sie mich. Sie blickte mich aufmerksam an, nicht unhöflich, nicht freundlich, sondern so, als wartete sie ab. »Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet, Bruder Ranulf.«

Ich wusste nicht, wohin mit meinem Blick, wohin mit meinen Händen. »Gelehrt bin ich wohl schon«, murmelte ich, merkte dann, wie dumm dies klang, und setzte rasch hinzu: »Selbstverständlich nicht so gelehrt wie Meister Philippe, der Inquisitor.«

»Selbstverständlich«, pflichtete sie mir ohne die Spur eines Lächelns bei.

»Aber ich bin ein Magister der Sieben Freien Künste. Und ich werde, so GOTT es will, in Paris Theologie studieren«, setzte ich hinzu, langsam ein wenig von meiner Selbstsicherheit zurückgewinnend. »Ihr seid nicht von hier?«, fragte Lea. Ich schüttelte den Kopf. »Aus Köln komme ich.« Zum ersten Mal lächelte sie. »Ich bin in Paris geboren.« Dann wechselte sie unvermutet ins Deutsche, das sie mit einem seltsamen Akzent sprach, den ich nicht zu bestimmen vermochte. »Aber mein Vater hat mir oft von Würzburg erzählt, woher er stammt. Ich wünschte, ich würde es einmal sehen können. Genauso wie Spanien, wohin mein Vater für viele Jahre gegangen ist, als er noch ein junger Mann war.« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und beschränkte mich daher auf eine unverbindliche Geste.

»Meine Stiefmutter ist dagegen, dass ich reise, denn das schickt sich nicht. Schon gar nicht für eine Jüdin«, fuhr sie fort und musterte mich dabei noch immer aufmerksam. »Mein Mann hätte mir dies wohl erlaubt, doch war er nicht mehr jung, als er mich zum Weibe nahm. Er wurde krank und starb, ohne dass ich auch nur einmal aus Paris herausgekommen wäre.«

»GOTT sei seiner Seele gnädig«, murmelte ich mechanisch. »Seid Ihr schon weit gereist, Bruder Ranulf?«

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Das ziemt sich nicht für einen Mann von meinem Stand. Die Reise von Köln nach Paris ist die einzige, die ich bislang unternommen habe. Doch wer weiß, wohin mich der HERR noch schicken wird.«

»Und trotzdem habt Ihr es besser getroffen als ich.« Lea seufzte, dann wandte sie sich um und ging zu einem der bis zur Decke reichenden Regale, wo acht besonders große, in feinstes Leder gebundene Folianten aus den Reihen der Bücher herausstachen. Sie nahm den ersten der acht Bände zur Hand.

»Ich«, fuhr sie fort, während sie fast träumerisch die schweren pergamenten Seiten umblätterte, »darf nur im Geiste reisen, indem ich die Beschreibungen der Geografen lese.«

»Ihr lest?«, rief ich verblüfft. »Aber«, ich suchte nach Worten, um meiner Fassungslosigkeit Herr zu werden, »Ihr seid doch eine Frau!« Da lachte die junge Jüdin. »Bruder Ranulf«, tadelte sie mich, doch ihr Ton war plötzlich freundlich geworden, »gelehrt mögt Ihr sein, doch die Welt kennt Ihr nicht. Wir Juden lesen Thora, Mischna und Talmud, wusstet Ihr das nicht? Ich studiere unsere heiligen Texte — und was mir sonst lesenswert erscheinen mag - auf Hebräisch und Latein, auf Französisch und Deutsch, ganz wie es mir gefällt.« Da ich ihr nicht antwortete, denn ich wusste nichts zu erwidern, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort: »Kennt Ihr die ›Geografie‹ des Ptolemaeus?«

Ich erholte mich wenigstens so weit von der Überraschung, ja dem Schock, eine Frau über Bücher reden zu hören, dass ich ihr vernünftig antworten konnte. »Ptolemaeus ist der größte Geograf der Alten«, murmelte ich, während ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich über ihn gelesen hatte. »Ein Grieche, wenn ich mich nicht irre.« Lea lächelte. »Immerhin kennt Ihr seinen Namen. Ptolemaeus lebte vor über eintausend Jahren«, fuhr sie dann fort und strich wieder fast zärtlich über den Folianten, »doch vieles von dem, was er in seinen acht Bänden festgehalten hat, ist niemals an Wissen übertroffen worden. Das zumindest behauptet mein Vater — und er sollte es wissen: Das Sammeln von Büchern über Geografie, über ferne Länder und fremde Menschen ist nämlich seine Leidenschaft. Fast alle Werke, die Ihr hier seht, handeln von diesen Dingen und im Laufe der Jahre habe ich sie alle studiert. Ich gestehe — doch ich hoffe, dass das in Euren Augen keine Sünde ist, Bruder Ranulf —, dass ich Werke über ferne Länder fast lieber lese als den Talmud. Und niemand ist mir dabei so lieb wie Ptolemaeus. Seht her.«

Sie hatte den Band auf einem Lesepult abgelegt und aufgeschlagen. Ich trat näher, bis ich direkt neben ihr stand.

»Seht Ihr?«, fragte sie mich und deutete auf die Seiten. Das Pergament war gelb, aber nicht brüchig. Die Linien, die ich erblickte, waren fein. Doch erst nach einiger Zeit entwirrte sich meinen Augen das Bild: Es war eine Landkarte, hineingezeichnet in den Text: Inseln sah ich und ein Meer, in dessen Wogen Wale, Oktopusse und anderen schauderhafte Wesen schwammen.

»Glückliche Inseln« las ich die Beschriftung, die in feiner, sauberer Handschrift neben den Eilanden stand. Es war Griechisch.

Die junge Jüdin lächelte. »Ein schöner Name, nicht wahr? Nein, kein Name mehr,« korrigierte sie sich rasch, »sondern ein Lockruf.« Sie duftete ganz zart nach Rosenwasser und ich Sünder stand so nah bei ihr, dass ich vermeinte, die Wärme ihrer Haut zu spüren. »Wo liegen diese Inseln?«, fragte ich närrisch - nur um einen Vorwand zu haben, auf den Folianten zu starren und an Leas Seite stehen bleiben zu dürfen.

Sie deutete hinaus aus dem Fenster. »Irgendwo dort draußen im Meer, jenseits der Küsten von Spanien. Jedenfalls steht es so bei Ptolemaeus. Seht her: Hier ist die iberische Küstenlinie, da sind die Glücklichen Inseln. Und dahinter…« Ihre Stimme verklang. »Finis mundi«, vollendete ich. »Dahinter ist nur noch der Ozean, der bis zum Ende der Weltenscheibe reicht. Dahin wird mich, so hoffe ich, mein Orden wohl nicht schicken.«

Die junge Jüdin lächelte mich an, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Dann jedoch wurde sie unvermittelt ernst, klappte den Folianten zu und wandte sich zum Regal. »Der einzige ferne Ort, den ich wohl je in meinem Leben sehen werde, wird Orleans sein«, flüsterte sie.

»Orleans?«, fragte ich und atmete dabei tief ein, um noch den letzten Rest ihres Rosenduftes in mich aufzusaugen, denn ich wagte es selbstverständlich nicht, ihr zu folgen, sondern war am Lesepult stehengeblieben.

»Mein Vater und meine Stiefmutter wollen, dass ich im Herbst, wenn mein Jahr Witwentrauer zu Ende geht, Moses ben Joseph heirate«, sagte Lea. »Er ist der reichste Geldwechsler von Orleans.« Mir war, als hätte sie mir eine Ohrfeige gegeben. Ich musste mich ans Lesepult klammern, um nicht zu wanken.

»Fühlt Ihr Euch unwohl, Bruder Ranulf?«, fragte Lea besorgt. »Soll ich Euch Wasser kommen lassen?«

»Nein, nein«, wehrte ich ab, beschämt darüber, dass ich mich schon zum zweiten Mal an jenem Tag so gehen ließ, dass ich die Aufmerksamkeit meiner Mitmenschen erregte und dass mich Meister Philippe so sehen könnte — das wäre das Letzte gewesen, was mir in jenem Moment behagt hätte.

»Wir sind nur schon seit Stunden auf den Beinen«, versuchte ich eine Erklärung.

»Warum seid Ihr eigentlich hier, Bruder Ranulf? Ihr und der gefürchtetste Inquisitor von Paris. Was sucht Ihr bei meinem Vater?« Alle Freundlichkeit war plötzlich wieder aus Leas Zügen und aus ihrer Stimme gewichen.

Ich schluckte. Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Durfte ich dies überhaupt - oder wäre dies erneut ein Bruch des Vertrauens gegenüber Meister Philippe gewesen? Dann sagte ich mir allerdings, dass Nechen- ja ben Isaak, kaum, dass wir dieses Haus verlassen würden, mit seiner Tochter über uns sprechen und sie deshalb sowieso alles erfahren würde.

Also entschloss ich mich, Lea die Wahrheit zu sagen. Und je länger ich sprach, desto leichter wurde mir ums Herz. Ich erzählte ihr vom toten Heinrich von Lübeck - und wie ich, der ich doch gerade erst in Paris eingetroffen war, dank der Vorsehung unseres HERRN zum Inquisitor geworden war. Ich berichtete, wie wir Jacquette gefunden und wieder verloren hatten, vom Reeder Richard Helmstede und vom Domherrn Nicolas d'Orgemont - auch wenn ich dessen Sünden nicht beschrieb. Meine nächtliche Verfolgungsjagd durch Paris ließ ich lieber unerwähnt und ebenso verriet ich nicht, wie ich letztlich darauf gekommen war, dass Heinrich von Lübeck bei Leas Vater gewesen sein musste. Trotzdem hoffte ich, dass die junge Jüdin nun verstand, warum wir in ihrem Haus waren.

Lea nickte. »Ich danke Euch für Eure Offenheit, Bruder Ranulf«, sagte sie ernst. Dann hob sie den Kopf, sah mir direkt in die Augen und ich hätte schwören mögen, dass sie mir etwas ungemein Wichtiges mitteilen wollte. Doch genau in jenem Moment traten der Inquisitor und der Geldwechsler wieder in die Bibliothek - und Lea senkte das Haupt und trat schweigend und demütig zurück.

*

Meister Philippe war würdevoll und höflich, als er gemessenen Schrittes das Zimmer durchmaß. Doch ich kannte den Inquisitor inzwischen gut genug, um sofort zu erkennen, dass er loderte von innerem Zorn.

Wir wechselten noch ein paar unverbindliche Worte mit Nechenja ben Isaak. Ich wagte nicht, zu Lea hinüberzublicken, die sich inzwischen zu einem Schreibpult zurückgezogen hatte und dort mit gesenktem Haupt wartete. Ich befürchtete, dass der Inquisitor sonst meinen Blick auffangen und wenig schmeichelhafte Dinge über mich denken mochte. So bemühte ich mich, beflissen zu nicken, als der Geldwechsler seine Abschiedsworte sprach.

Erst, als wir schon an der Tür der Bibliothek standen und Nechenja ben Isaak einem seiner Diener geläutet hatte, auf dass er uns hinausgeleiten möge, wandten wir uns alle, wie es die Höflichkeit gebietet, der anwesenden Dame zu.

Bescheiden trat Lea hinter dem Schreibpult hervor, einen kleinen Kodex in der Hand haltend. Doch gerade in jenem Augenblick, da sie sich zu uns verbeugte, glitt ein Seidenband, das ihr als Lesezeichen diente, zwischen den Seiten heraus und segelte zu Boden. Rasch hob sie das rote Band auf. So rasch, dass sie strauchelte, einen Schritt nach vorne tat — und für einen Augenblick in meine Arme taumelte.

Oh, welch süße, sündige Wonne mich in jenem Moment durchschauerte, da ich ihren Körper auffangen durfte! Sie, für einen Augenblick wenigstens, in den Armen zu halten, bevor ich ihr — rasch, verlegen und ungeschickt — mit schamrotem Gesicht auf die Beine half.

Plötzlich fühlte ich, wie mir ein Stück Pergament in die Hand geschoben wurde. Lea hatte mir unauffällig einen Fetzen in die Rechte gedrückt, als ich ihr beistand. Für einen winzigen Moment nur blickte sie mich beschwörend an, dann senkte sie schnell das Haupt. Eine Entschuldigung murmelnd und mit einem tiefen Knicks sagte sie uns Lebewohl und verschwand noch vor uns aus der Bibliothek. Der Inquisitor und ihr Vater mussten denken, dass sie sich ob ihres unschicklichen Sturzes schämte. Ich jedoch stand in der Bibliothek, als hätte mich der Flügel eines Engels gestreift. Das Pergament brannte wie Feuer in meiner Hand. Wohin damit? Meine Kutte hatte ja nicht einmal eine Tasche. Also ballte ich mit schwitzenden Fingern eine Faust und hoffte, so den Fetzen zu verbergen, bis ich irgendwann Gelegenheit fände, ihn unbeobachtet zu lesen. Denn dass er eine Botschaft enthielt, bezweifelte ich nicht einen Augenblick. Wahrscheinlich hatte Lea sie hastig hingekritzelt, als sie ans Schreibpult getreten war, während Meister Philippe und ich die letzten Worte mit ihrem Vater gewechselt hatten — und keiner sie eines Blickes gewürdigt hatte.

Auf dem Weg zurück zu unserem Kloster bemühte ich mich, stets einen halben Schritt hinter dem Inquisitor zu gehen, damit er nicht meiner eines Mönches so unwürdigen Faust ansichtig wurde. Doch diese Vorsicht war, wie sich rasch herausstellte, unnötig, denn Meister Philippe ließ nun seinem Zorn und mit ihm seinem Körper freien Lauf. In mächtigen Schritten eilte er die Straße hinunter und achtete meiner so wenig wie der Hitze, welche die Luft über den engen Straßen buk.

»Der Jude lügt!«, schnaubte der Inquisitor. »Ich möchte wissen, was Nechenja ben Isaak alles bei den Mauren in Spanien getan hat, und warum er dann fortgegangen ist. Seine beiden Söhne, sagt er, sind Rabbiner geworden. Einer in Speyer - und der andere? Der Geldwechsler wand sich ein wenig, doch schließlich gestand er es mir: Sein zweiter Sohn ist Rabbiner in Lübeck!«

Mir, der ich eine geheime Botschaft von Nechenja ben Isaaks drittem Kind in Händen hielt, schwindelte so, dass ich einen Moment glaubte, auf der Straße zu stolpern. »Das mag die Verbindung zu Heinrich von Lübeck erklären«, warf ich ein.

Der Inquisitor nickte. »Und auch zum Reeder Richard Helmstede.« Er schüttelte den Kopf, als grüble er über ein Rätsel nach. »Nechenja ben Isaak gab unumwunden zu, dass er Geldgeschäfte nicht nur mit manchen Edlen Frankreichs und mit vielen Pariser Kaufleuten macht, sondern auch mit den Burgundischen und Englischen, wiewohl diese doch Feinde des Königs von Frankreich sind. Ein Geständnis also, dass dem Geldwechsler durchaus gefährlich werden kann.

Derselbe Mann jedoch, der in diesen Dingen mir gegenüber so offen ist, leugnet in starken Worten, dass er vor jenem Besuch je von Heinrich von Lübeck gehört oder ihn gar gesehen habe. Stimmen beide Geschichten? Oder spricht er in diesem die Wahrheit und lügt mich in jenem an? Die Juden sind falsch, Bruder Ranulf, hüte dich vor ihren Worten! Dilexerunt enim gloriam hominum magis quam gloriam DEI.«

Ich nickte und dachte an die Botschaft Leas in meiner Hand. Ob wahr oder falsch, wie gerne hätte ich sie endlich zu lesen gewagt! »Nechenja ben Isaak behauptet jedenfalls, dass Heinrich von Lübeck zu ihm gekommen sei, um ihn zu fragen, zu welchen Zinsen er eine größere Summe leihen könne. Der Jude behauptet weiterhin, dass unser verstorbener Bruder weder gesagt habe, wie hoch genau jene Summe sein solle, noch, wozu er das Geld haben wolle. Nechenja ben Isaak gab ihm daraufhin angeblich seine Bedingungen kund, worauf Heinrich von Lübeck, so sagt der Geldwechsler, sich mit den Worten verabschiedet habe: ›Ich muss mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich werde zurückkehren, wenn mir das Geldgeschäft tatsächlich zupass kommt.« Nechenja ben Isaak behauptet weiterhin, seit jenem Tag Heinrich von Lübeck nicht mehr gesehen zu haben. Aber kann ich dies alles glauben?«

Den Rest des Weges legten wir rasch und schweigend zurück. Es war schon später Nachmittag, als wir das Kloster in der Rue Saint-Jacques wieder betraten. Wir hatten nicht einmal Zeit, den Staub der Stadt aus unseren Gewändern zu schütteln, denn der Prior hatte dem Portarius aufgetragen, uns sofort zu ihm zu führen.

»Ihr habt den Juden nicht verhaften lassen, Meister Philippe?«, fragte uns Bruder Carbonnet und hob missbilligend eine Augenbraue. »Dazu ist es noch zu früh, Ehrwürdiger Vater«, antwortete der Inquisitor. »Aber was heute noch nicht geschehen ist, kann sich schon morgen zutragen.«

Dann berichtete er von dem, was ihm Nechenja ben Isaak erzählt hatte.

»Und was sind Eure Schlussfolgerungen?«, wollte der Prior wissen. Meister Philippe durchmaß mit großen Schritten den Raum. »Sicher ist, dass der Jude ein geschickter Mann ist. Er spielt ein doppeltes Spiel und verleiht sein Geld an den König von Frankreich ebenso wie an dessen Todfeinde. So wird er, wie immer dieser Krieg ausgehen mag, stets auf der Seite der Sieger stehen. Verschlagen mag er sein, doch sind dies nicht alle Geldwechsler?

Das allein sagt noch nichts darüber aus, ob er auch etwas mit jenem Todesfall zu tun hat, der uns alle so erschüttert. Angenommen, Nechenja ben Isaak spricht nur die halbe Wahrheit: Möglicherweise wollte sich unser verstorbener Mitbruder kein Geld leihen. Dann ist das Geld, das wir bei Heinrich von Lübeck fanden, vielleicht eine Summe, die der Unglückselige bei dem Geldwechsler zu gutem Zins anlegen wollte. Doch woher sollte Heinrich von Lübeck dieses Geld haben? Und wozu sollte er damit zum Juden gehen? Es wäre auch möglich, dass dieses Geld doch geliehen ist — von einem anderen Geldwechsler, der bessere Bedingungen unterbreitet hat als Nechenja ben Isaak. Doch unser junger Bruder hier«, er deutete auf mich, »hat Pietro Datini befragt, in diesen Dingen einer der erfahrensten Wucherer von Paris. Dieser Datini weiß von niemandem sonst, bei dem Heinrich von Lübeck gewesen sein könnte. Wäre es also ein unbekannter Geldgeber — wer könnte dies sein, dass ihn nicht einmal Seinesgleichen kennen?

Gehen wir andererseits davon aus, dass der Jude lügt, was folgt daraus? Dass die Summe — eine beträchtliche Summe immerhin — doch von Nechenja ben Isaak an unseren Mitbruder ausgeliehen worden ist. Warum aber sollte Nechenja ben Isaak dies leugnen? Wenn es sein Geld ist, er es jedoch abstreitet, dann wird er all die Taler und Münzen nie wiedersehen.«

»Er verzichtet lieber auf sein Geld, als etwas zuzugeben, dass ihn in Verbindung mit einem ermordeten Mönch bringt«, vermutete der Prior. »Vielleicht kennt er einen Zusammenhang zwischen diesem Geld und der schrecklichen Untat. Vielleicht ist er gar selbst der Mann, der jenen tödlichen Stich führte. Wir sollten ihn verhaften lassen und verhören. Glühende Zangen und erzene Daumenschrauben haben schon bei vielen Sündern den Panzer der Verstocktheit um ihre Seelen überwunden.«

Der Inquisitor schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Ehrwürdiger Vater. Ich lasse nur jemanden auf die Streckbank legen, wenn ich weiß, dass er mir auf präzise Fragen auch ebensolche Antworten zu geben vermag. Unter der Folter gesteht früher oder später fast jedermann alle Sünden — doch was sind solche Geständnisse wert? Wenn ich nicht wenigstens eine ungefähre Vorstellung von dem habe, was wahr ist und was falsch, dann vermag ich auch nicht, die Gültigkeit einer Antwort richtig einzuschätzen. In diesem Fall habe ich so viele Fragen, deren Antworten ich nicht einmal ahne, dass mir die Folter wenig nützt. Was, beispielsweise, hat dieser Vagant mit allem zu schaffen? Gibt es eine Verbindung zwischen Pierre de Grande-Rue und Nechenja ben Isaak? Und von beiden zu Heinrich von Lübeck? Ich kann mir keine vorstellen.

Lege ich den Geldwechsler jetzt auf die Streckbank, dann wird er mir, nenne ich den Namen des Vaganten, sicher vor Angst und Schmerz eine Geschichte vortragen. Doch welchen Wert hätte diese für uns? Vielleicht gibt es keine Verbindung zwischen Geldwechsler und Vaganten. Oder, noch schlimmer, vielleicht gibt es eine — doch die ist so verschlungen, dass Nechenja ben Isaak sie selbst nicht sieht. Lasse ich ihn jetzt foltern, dann könnte dies eine Verdunkelung seiner Seele oder gar seinen Tod zur Folge haben — und wir hätten keine Möglichkeit mehr, jene hypothetische Spur zwischen ihm und Pierre de Grande-Rue zu entdecken.

Rätselhaft ist auch, wie der Reeder aus Lübeck in unsere Geschichte passt. Soll ich den Juden nach Richard Helmstede fragen? Aber was eigentlich soll ich ihn fragen? Hat der sündige Domherr Nicolas d'Orgemont, den wahrscheinlich eine Schönfrau erstach, irgendetwas mit dem Mord an Heinrich von Lübeck zu tun? Soll ich auch dazu den Geldwechsler befragen?

Nein«, Meister Philippe schüttelte den Kopf, »ich muss erst die Zahl der offenen Fragen verringern, bevor ich irgendeinen Verdächtigen der peinlichen Befragung unterziehen lasse. Sonst bekomme ich zwar ein Geständnis — aber nicht den Mörder!«

*

Ich litt derweil Qualen der Ungeduld - und ich musste weiterleiden. Denn als uns der Prior endlich entließ, da mussten wir uns eilen, um noch der Vesper beizuwohnen. Oh, wie lange schien mir der Lobpreis GOTTES zu dauern, wie zäh zerfloss die Zeit, wie getragen waren unsere Hymnen zu SEINEM Ruhm! Nie wohl hat es einen Mönch gegeben, der so ungeduldig auf dem harten Boden einer Kirche kniete wie ich.

Dann, endlich, verklang der letzte Psalm. Die Glocke läutete. Gemessenen Schrittes schlichen wir in Zweierreihen aus dem Hause GOTTES. Im Kreuzgang verneigte ich mich vor Meister Philippe und bat ihn demütig, mich in meiner Zelle von den Strapazen des Tages ausruhen zu dürfen.

Der Inquisitor segnete mich und empfahl mir, mich ein wenig auszustrecken. Dann wandte er sich um und eilte fort in Richtung Skriptorium.

Ich zwang mich, meine Schritte zu mäßigen. Langsam ging ich zu meiner Zelle, öffnete die Tür, schlüpfte hinein und schloss die Tür wieder. Zitternd stand ich, ich weiß nicht, wie lange, in dem kargen Raum und atmete schwer.

Dann öffnete ich das Pergament und las: »8,23+24«.

Mehr nicht. Ich drehte und wendete den Fetzen, doch fand ich keine weitere Notiz darauf.

Ich fühlte mich leer, getäuscht, ja verhöhnt. Das war alles? Drei Ziffern? Hatte sich Lea etwa einen albernen Scherz mit mir erlaubt? Wagte sie es tatsächlich, mich, einen Inquisitor — wenn auch den jüngsten und unerfahrensten Hund des HERRN - derart zum Narren zu halten?

Dann jedoch sagte ich mir, dass Lea eine Vorsicht hatte walten lassen, an die ich nicht einmal gedacht hatte. Hätte sie ihre Nachricht in klarer Sprache niedergeschrieben, sie hätte bei ihr oder bei mir entdeckt werden können. Das wollte sie offensichtlich vermeiden - und so bekam ich einen Fetzen, den man, zumindest auf den ersten Blick, bloß für ein zufällig abgerissenes, gänzlich bedeutungsloses Stück Pergament halten musste. Eine Notiz, wie sie wohl hundertmal gemacht wurde in der Stube eines Geldwechslers. Was aber mochte sich hinter 8,23+24 verbergen? Wohl eine Stunde lang grübelte ich. Hatte es etwas mit dem Geld zu tun, das wir bei Heinrich von Lübeck gefunden hatten? Ich kam auf keinen Zusammenhang. Was sonst sollte es sein?

Auf einmal schoss mir die Schamröte ins Gesicht, weil ich nicht eher darauf gekommen war: Was wusste Lea schon von mir? Dass ich Mönch war, sonst fast nichts. Das eine, dessen sie sich sicher sein konnte, war, dass ich einen bestimmten Text kannte. Raschen Schrittes ging ich hinüber zur Wand, wo ein rohes Brett mir als Regal diente. Dort griff ich zur Bibel, dem einzigen Buch in meinem Raum.

Mit zitternden Händen schlug ich die Seiten des Alten Testaments auf: Doch ob in den Büchern Mose oder in den Psalmen, ob bei den Propheten oder in den Geschichten der Richter und Könige — nirgendwo fand ich unter dem Kapitel 8 und den Versen 23 und 24 ein Zitat, das einen Sinn ergab für mich.

Ich stockte. Konnte es sein, dass Lea, eine Jüdin, die Evangelien kannte? Wer würde dies vermuten? Andererseits hätte ich auch nicht geglaubt, dass sie die Werke der alten Geografen kannte. Vielleicht also war dies nur noch eine weitere Verschleierung. Hastig blätterte ich nun im Neuen Testament. Und schließlich schwebte mein Zeigefinger über dem Text des Matthäus: »Et ascendente eo in navicula secuti sunt eum discipuli eius et ecce motus magnus factus est in muri ita ut navicula operiretur fluctibus ipse vero dormiebat«, flüsterte ich: »Und er stieg in das Boot, und seine Jünger folgten ihm. Und siehe, da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See, sodass auch das Boot von Wellen zugedeckt wurde. Er aber schlief.«