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8DAS GESTÄNDNIS DER SCHÖNFRAU

Die nächsten zwanzig Tage litt ich Qualen, deren Bitternis auch zwanzig Jahre hätte füllen können. Zwanzig Tage lang musste ich im Kloster verharren. Zwanzig Tage lang brannte ich darauf, durch die Stadt zu eilen, und musste doch vor Mauern und Pforten kapitulieren wie ein Gefangener im Verlies. Immer stärker schwoll der Strom der Fliehenden an, die in Paris einen sicheren Hafen sahen. Jetzt kamen auch die Bauern, die doch gewöhnlich als letzte das Land verlassen: grobe, ungeschlachte Gestalten in grauen und braunen Wollgewändern und Lumpen; Menschen, die, wenn sie denn überhaupt sprachen, einen gutturalen Dialekt gebrauchten, den ich kaum zu verstehen vermochte. Ihre Hände waren hart und kräftig wie eiserne Zangen, ihre Rücken stark gebeugt, ihre Münder ohne Zähne und ihre Haut stank erbärmlich nach Vieh und altem Stroh.

Wir hatten die strenge Anweisung unseres Priors, den Bauern gegenüber Barmherzigkeit zu üben, auf dass uns niemand nachsagen könne, wir seien weniger mitleidig als die Brüder vom Orden des heiligen Franziskus. Deshalb gebot er uns, in unserer Suche nach dem Unhold noch einmal innezuhalten. Also fügte ich mich, auch wenn das Feuer der Ungeduld in mir loderte. Ich säuberte Wunden, wusch Füße und legte lindernde Salben auf Schultern und Gliedmaße, wo die Krätze sich tief in die Haut gefressen hatte.

Müde war ich, denn selbstverständlich rief uns auch weiterhin die Glocke bei Tage und bei Nacht in die Kirche. Trotzdem schlief ich schlecht, denn wenn ich endlich auf meiner Pritsche lag, dann musste ich an Leas Botschaft denken.

»Et ascendente eo in navicula secuti sunt eum discipuli eius et ecce motus magnus factus est in mari ita ut navicula operiretur fluctibus ipse vero dormiebat«, flüsterte ich unzählige Male. Ein Boot, ein Sturm und jemand, der schlief. Was mochte das bedeuten? Die einzige Verbindung der biblischen Worte zu unserem Fall, die ich herstellen konnte, war die zur Kogge des Reeders Richard Helmstede. Mein ermordeter Mitbruder stammte aus Lübeck, ebenso der Reeder. Ein Sohn des Geldwechslers war Rabbiner in dieser nördlichen Hansestadt und mithin ein Bruder Leas: Hatte er seiner Schwester womöglich ein Geheimnis anvertraut? Eine fragile Kette verband diese Menschen und ihre Schicksale, vielleicht handelte es sich aber auch um nichts weiter als eine Reihe von Zufällen.

Andererseits: Hatte Nechenja ben Isaak möglicherweise etwas mit Richard Helmstede zu schaffen? Hatte er ihm Geld geliehen — oder schuldete er es ihm? War Heinrich von Lübeck, ein Vertrauter des Reeders, in diesem Fall vielleicht kaum mehr gewesen als ein Vermittler oder Überbringer von Geld? Waren die Münzen, die wir an seinem entweihten Leib gefunden hatten, dann vielleicht gar nicht die Seinen, sondern die des Geldwechslers? Oder des Reeders? Warum jedoch sollte mich Lea auf eine derartige Verbindung hinweisen, die doch ihren Vater in höchste Gefahr bringen könnte? In einer dieser Nächte, die ich schlaflos verbrachte, glaubte ich, wieder Schritte und Stimmen zu hören. So viele Mitbrüder und Kranke waren inzwischen in unserem Kloster, dass die Nächte längst nicht mehr still waren: Husten und Murmeln hörte ich und des Öfteren unruhige Schritte, denn die Flüchtlinge schienen mir immer in Bewegung sein zu wollen. Kaum waren sie stark genug, dass sie sich wieder von ihren Pritschen erheben konnten, so wanderten sie ziellos den Kreuzgang entlang, selbst zur dunklen Stunde.

Diese eine Nacht jedoch war es anders. Ich hörte Schritte, die verklangen. Dann kamen wieder Schritte. Und wieder. Und wieder. Wie die Male zuvor war es so, als fände irgendwo eine nächtliche Versammlung statt, als würden sich Gestalten tief ins Innere unseres Klosters schleichen, um ein geheimnisvolles Treffen abzuhalten. Also zwang ich meine bleierne Müdigkeit nieder und glitt hinaus auf den Gang. Nichts. Hatten mich meine überreizten Sinne getäuscht? Da erblickte ich den schwachen Schimmer eines flackernden Lichts in der Bibliothek.

So eilte ich denn den Gang hinunter und drängte mich im Schatten des Kreuzganges an die Wand. Schritt für Schritt näherte ich mich dem hohen, schlichten Bau, in dem sich Bibliothek und Skriptorium befanden.

Plötzlich war alle Müdigkeit von mir gewichen. Hinter einem der Fenster der Bibliothek glomm, wiewohl schwere Vorhänge vorgezogen waren, ein Talglicht. Ich glaubte, hinter dem Glas Schatten zu sehen, Geistern ähnlicher als Menschen. Wie viele es waren, das vermochte ich nicht zu sagen.

Langsam schlich ich mich näher heran. Vielleicht, so hoffte ich, konnte ich an der Tür zur Bibliothek lauschen und damit endlich herausfinden, wer die Nachtgestalten waren und warum sie sich heimlich versammelten.

Doch ich hatte mich erst wenige Schritte herangeschlichen, als die Tür der Bibliothek aufsprang — und eine dunkle Figur hinaustrat. Wer immer es war, die Gestalt kam direkt auf mich zu. Entsetzt floh ich. Ich wusste nicht, ob mich der Unbekannte entdeckt hatte oder ob nur eine Laune seine Schritte in meine Richtung lenkte. Doch musste er mich selbst dann, wenn ihn nur der Zufall hinausgetrieben hatte, bald entdecken, wenn ich mich nicht rasch versteckte. So eilte ich, ohne mich auch nur einmal umzublicken, mit bloßen Füßen zurück zu meiner Zelle. Ich flehte den HERRN an, mich vor der Entdeckung durch den Unbekannten zu bewahren - und GOTT gewährte mir zumindest diese Gnade.

Ich schlüpfte in meine Zelle, schweißgebadet, mit hämmerndem Herzen und schmerzender Lunge - doch ohne dass mich die Nachtgestalt behelligt hätte. Ich hatte noch genug Geistesgegenwart, meine Türe nicht zu schließen, denn das Klicken des Schlosses hätte mich womöglich verraten. So war sie nur angelehnt — und ich stand an der Mauer und lauschte.

Ich hörte keine Schritte mehr.

Wie lange ich so wartete, weiß ich nicht mehr. Irgendwann jedoch wagte ich es, die Tür Millimeter um Millimeter aufzuziehen. Unendlich langsam öffnete sich ein Spalt. Ich legte mich auf den Boden und schob meinen Kopf, die Wange am kalten Steinboden, so weit hinaus, dass ich den Gang entlangblicken konnte. Da stand der Unbekannte. Zu Tode erschrocken riss ich mein Haupt zurück und flehte den HERRN an, dass er mich ein weiteres Mal vor der Entdeckung bewahrte, auch wenn ich mein Schicksal erneut versucht hatte. Tatsächlich hielt ER wieder SEINE schützende Hand über mich.

Die dunkle Gestalt, das immerhin konnte ich mir nach meinem allzu hastigen Blick zusammenreimen, war ein Wächter. Er stand im Schatten am Ende des Ganges, dort, wo dieser in den Kreuzgang mündete. So würde er jeden sehen, der aus einer Zelle, aus dem Dormitorium oder aus der Krankenstube trat und sich dabei der Bibliothek näherte. Was würde der Unbekannte tun, sollte er jemanden erblickten? Einen Warnruf ausstoßen? Oder einen Dolch ziehen? Mir war jedenfalls klar, dass ich in meiner Zelle gefangen war. Erst als die Glocke zu den Laudes rief, trat ich hinaus - genau wie alle anderen Brüder.

Da es Juni war und mithin die Sonne besonders früh aufging, lag selbst zum Zeitpunkt dieses Frühgebets schon ein grauer Schimmer Licht in der Luft. Ich sah deshalb sofort, dass der Unbekannte am Ende des Ganges verschwunden war. In der Bibliothek brannte kein Licht mehr. Und in der langen Reihe der Mönche, die durch den Kreuzgang der Kirche entgegenschritten, fehlte niemand.

*

Erst in der dritten Juniwoche durfte ich das Kloster wieder verlassen. Es war zu Sankt Achatius, da der Prior nach der Terz Meister Philippe und mich zu sich rufen ließ.

Bruder Carbonnet war in den Wochen, da wir uns um all die Flüchtlinge sorgen mussten, alt geworden und abgemagert. Mehr noch als die Hilfsbedürftigen, derer wir uns annahmen, bedrückte ihn jedoch die Missachtung, die das Volk von Paris uns Dominikanern entgegenbrachte. Ganz zu schweigen selbstverständlich vom Tode Heinrichs von Lübeck, der noch immer ungesühnt war. Es gab inzwischen mehr als einen Bruder, der im Speisesaal, im Kreuzgang, ja selbst in der Kirche murmelte, dass allein der Fluch dieser Untat uns alle anderen Ungelegenheiten verursacht habe. Die Mönche hätten Meister Philippe und mir wohl auch manch bösen Blick zugeworfen, da wir den Sünder nicht fingen, doch die Angst vor dem älteren Inquisitor hielt sie davon ab.

»Ambroise de Lore hat mir heute Morgen einen Besuch abgestattet«, eröffnete uns der Prior.

»Der Prévôt royal?«, fragte Meister Philippe erstaunt und, wie ich seiner Stimme anhören konnte, mit aufkeimendem Zorn. »Warum habt ihr mir nichts davon gesagt, Ehrwürdiger Prior?« Bruder Carbonnet hob begütigend die Hände. »Ich wollte es tun, Meister Philippe, seid dessen versichert. Doch der Prévôt bat mich inständig darum, es nicht zu tun. Er war im ersten Morgenlicht hier. Denkt Euch: sogar ohne Diener oder Wachen! So heimlich ist er zu mir gekommen.«

Der Prior bemühte sich nicht länger, ein Lächeln zu verbergen. »Er ist gekommen, wie es einem Sünder geziemt: zerknirscht und um Vergebung heischend. Vergebung, die ich ihm selbstverständlich erteilt habe«, setzte er rasch hinzu.

»Das wird nicht der einzige Grund für Herrn de Lore gewesen sein, uns zu beehren, Ehrwürdiger Vater«, gab Meister Philippe zu bedenken, noch immer nicht ganz besänftigt.

»Gewiss nicht. Der Prévôt ist nicht mehr Herr von Paris, das ist es. Er weiß nicht mehr, wohin mit den Flüchtlingen. Woher soll er Mehl und Brot nehmen für die Menschen? Wo sollen sie ihre müden Häupter betten? Wo kann er noch Kranke niederlegen lassen? Vor allem aber: Wie kann er die Gerüchte vom Schwarzen Tod und vom Fluch des HERRN eindämmen? Immer wirrer werden die Menschen, immer weniger respektieren sie GOTTES Ordnung in dieser Welt. Manche scheren sich gar nicht mehr um die Sakramente. Sie behaupten, dass ihnen Taufe und Ehe nichts mehr bedeuten, da doch morgen die Welt untergehe. Diese Narren! Gerade wenn dies stimmte, dann müssten sie sich doch nach den Sakramenten sehnen. Doch es gibt Sünder, welche die Kirche nicht mehr achten und die Männer des Königs erst recht nicht.«

Der Prior machte eine bedeutungsschwere Pause. »Heute sind dies noch Worte, doch werden ihnen morgen Taten folgen? Was ist, wenn morgen jemand die Hand zur Faust ballt? Was ist, wenn morgen jemand das Schwert zieht? Wie wird es dann in Paris aussehen, mit all diesen Menschen in seinen Mauern?

Es wird ein Gemetzel geben, ein Strafgericht, wie es die Menschen seit Sodom und Gomorrha nicht mehr erdulden mussten. Das ist es, was den Prévôt umtreibt.«

Meister Philippe nickte. Sein Zorn war verraucht. »Ambroise de Lore will, dass wir hinausgehen und predigen wie nie zuvor«, murmelte er. Bruder Carbonnet segnete den Inquisitor. »Ihr seht in meine Seele, Meister Philippe. Ja, genau dies hat er sich von mir erbeten. Wir sollen hinausgehen und das Wort des HERRN verkünden. Wir sollen predigen, auf dass die Menschen ihre Hoffnung wiedererlangen - und gehorsam bleiben.«

»Das ist eine ernste Sache«, antwortete Meister Philippe. »Das Volk mag uns Dominikaner nicht. Wenn wir nun zu ihm sprechen und kein Gehör finden, dann schadet dies unserem Orden noch mehr. Und sollten wir gar - was GOTT verhüten möge - als Handlanger des Prévôts gesehen werden, dann wird man uns schließlich allgemein verachten. Wir müssen dem Herrn de Lore unmissverständlich klarmachen, dass wir predigen, was wir für richtig halten. Andererseits müssen wir bis ins Detail mit ihm absprechen, wo und wann wir predigen sollen. Ich möchte, dass stets ein paar Sergeanten bereit stehen, wenn einer unserer Brüder zum Volk spricht. So viele Scharlatane und sündige Propheten, so viele Schwätzer und entlaufene Priester verstecken sich inzwischen in den Gassen von Paris, dass wir bedauerlicherweise bei jeder Predigt damit rechnen müssen, dass jemand aus der Menge das Wort ergreift, um die Gläubigen noch ärger zu verwirren.«

»Ihr wollt, dass Sergeanten unsere Mitbrüder während ihrer Predigten schützen?«, fragte der Prior ungläubig.

»Unterschätzt nicht die Unruhe in Paris, Ehrwürdiger Vater«, mahnte der Inquisitor. »Ich will nicht, dass einer unserer Mitbrüder von einigen irregeleiteten Sündern verprügelt wird, und ich will erst recht nicht, dass noch ein Dominikaner stirbt.«

Bruder Carbonnet wurde blass und schwieg für eine lange Zeit. »So weit ist es also schon gekommen, HERR«, murmelte er schließlich. Dann seufzte er und tat uns noch mit allerlei Zeichen kund, dass seine Seele Qualen litt. Doch schließlich nickte er.

»Gut. Geht zum Grand Châtelet und redet mit dem Prévôt. Besprecht mit ihm alle Einzelheiten. Erst dann will ich die Brüder hinausschicken. Pax vobiscum.«

Der Inquisitor verneigte sich und eilte hinaus — und wie selbstverständlich nahm er mich mit.

*

Draußen auf den Straßen war es heiß und stickig. Die Luft brannte in den Lungen, als würde sie von tausend Flammen erhitzt. Mir war, als seien dies die Feuer der Hölle, und mit einem Mal war mir nicht mehr wohl. Ansonsten hätte dies ein Tag wie jeder andere sein können: Mensch und Tier drängten sich auf den Gassen, die Leute riefen, schrien und lachten durcheinander, ein paar junge Burschen spielten Ball, ungeachtet der Hitze. Ochsen und Esel schwitzten weiße Schaumflocken aus und waren zu müde, um Laut zu geben. Doch sah man genauer hin, dann fielen einem die Gesichter der Menschen auf: Viele, die fremd waren in Paris, sahen sich staunend um. Bei manchen blitzte die Angst in ihren Augen auf, bei anderen der Aufruhr. So mancher warf uns ein freches Wort hinterher, als wir die Rue Saint-Jacques Richtung Fluss entlangschritten. »Paris ist ein Kessel, der Teufel schürt das Feuer und braut in den Gassen den Hass zusammen wie einen Hexentrank«, murmelte Meister Philippe unvermittelt.

Ich schlug das Kreuz. »Wie meint Ihr das, Herr?«

»Nun, ich war in den letzten Tagen des Öfteren in der Stadt. Ich habe Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören. Die Menschen haben Angst vor der Seuche und noch mehr Angst vor den Geschichten, die man allerorten über diese Seuche erzählt. Doch wer sich fürchtet, will einen Schuldigen für diese Misere sehen. Wer aber glaubst du, Bruder Ranulf, ist dieser Schuldige?«

Ich dachte nach. »Wir alle, da wir Sünder sind«, antwortete ich ihm schließlich. »GOTT straft uns, auf dass wir in unserem falschen Tun innehalten und zu ihm finden.«

»So kannst du als Prediger sprechen und ich werde dich loben dafür«, versetzte der Inquisitor. »Doch so denken die meisten Menschen nicht, wenn sie allein sind mit ihrer Angst. Sie suchen einen Schuldigen — und sie werden niemals glauben, dass sie selbst Schuld auf sich geladen haben.«

»Und was folgert Ihr daraus?«, wollte ich wissen.

»Mich plagt die gleiche Sorge, die auch den Prévôt umtreibt: Die Menge wird sich einen Schuldigen suchen. Vielleicht entlädt sich der Zorn gegen die Vaganten und all die Fremden, die nun in unseren Mauern weilen. Vielleicht gegen den König, den Prévôt und seine Sergeanten. Vielleicht aber auch gegen uns Mönche, vor allem uns Dominikaner.«

Ich erschrak. »Und was sollen wir tun?«

»Predigen«, erwiderte der Inquisitor und lächelte. »Und dem Volk den wahren Sünder präsentieren. Wir müssen ihn nur noch finden.« Den Rest des Weges legten wir rasch und schweigend zurück. Ich bewunderte den Scharfsinn von Meister Philippe - und fragte mich zugleich, welch geheimnisvolle Aufträge ihn selbst in den letzten drei Wochen, da alle anderen Brüder Flüchtlinge pflegen mussten, durch die Straßen von Paris geführt hatten. Wusste der Inquisitor über die schrecklichen Mordtaten inzwischen mehr als er mir offenbart hatte? Endlich gelangten wir zum Grand Châtelet — und mein Verdacht, dass Meister Philippe mehr erfahren hatte als ich ahnte, verstärkte sich dort noch. Denn wieder einmal hieß mich der Inquisitor draußen zu warten, während er ein wichtiges Gespräch zu führen gedachte. So verneigte ich mich denn demütig und enttäuscht, während der Inquisitor hineinging, um mit dem Prévôt Worte zu wechseln, die offenbar nicht für meine Ohren bestimmt waren.

Um nicht unnütz vor dem massigen Tor des Grand Châtelet herumzustehen, ging ich die wenigen Schritte bis zum Ufer der Seine. Der Boden war in der Sommerhitze hart gebacken und tückisch uneben. Man musste Acht geben, dass man sich nicht den Fuß verrenkte. Ich blieb stehen, starrte auf das Wasser und hoffte, dass sich meine Seele ins Gebet versenken möge. Doch ein Dämon war in mir, der meinen Blick hob, bis ich über all die Barken und Kähne am Seinehafen hinwegsah — auf die Kogge des Herrn Helmstede, die noch immer burggleich die anderen Boote überragte. Einsam lag sie an der Spitze eines Kais. Kein Mensch zeigte sich an Deck.

Kaum hatte ich die Kogge erblickt, dachte ich an die Gattin des Reeders. Müsste sie nicht wenigstens ein paar der Geheimnisse ihres Mannes kennen? Wüsste sie vielleicht, wem das Geld gehörte, das Heinrich von Lübeck in seiner letzten Nacht bei sich getragen hatte?

Doch kaum dachte ich an die Frau und den Mönch, da folgte mein Geist seinem eigenen, verhängnisvollen Weg. Erinnerte sich die Reedersgattin wohl noch meiner? Wo mochte Klara Helmstede in diesem Moment gerade sein? Was mochte sie tun? Welche Kleidung mochte sie tragen? Schon schweiften meine Gedanken unwillkürlich zu ihrem Körper und Hitze wallte in dem meinem auf wie ein Feuer. »Oh HERR, banne die Sünde aus meinem Geist!«, flehte ich leise. Doch vergebens. Es gelang mir zwar, meinen Blick mit Gewalt von der Kogge zu lösen und so auch meine Seele von den peinigenden Bildern zu befreien, doch sofort fanden meine Augen die Gassen und düsteren Häuser im Schatten von Notre-Dame. Nur der Fluss trennte die Schiffe im Hafen von der Insel mit der Kathedrale - und den Häusern der Juden.

Nun hatte ich Leas Bild vor meinem inneren Auge. Welches Geheimnis wollte mir die Tochter des Geldwechslers nur mitteilen? Was wusste sie von der Kogge, die nur wenige Schritte von ihrem Vatershaus entfernt lag? Musste sie das Schiff nicht jeden Tag sehen, wenn sie aus dem Fenster blickte? Hatte sie vielleicht sogar Richard Helmstede und seine Gattin kennen gelernt? In Paris womöglich oder schon viel früher?

Meine Gedanken glichen den Wirbeln, die der Fluss an den Brückenpfeilern bildete: Sie drehten und drehten sich und kamen doch nicht voran. Sie drohten mich zu verschlingen, denn mal dachte ich an den toten Mitbruder, das Geld und was wohl der Reeder und der Geldwechsler damit zu tun haben mochten, dann wieder dachte ich nur an die beiden Frauen, die mir irgendwie in dieses Mysterium verstrickt zu sein schienen.

»Die Schwangeren kommen!«, rief plötzlich eine raue Männerstimme hinter mir und riss mich aus meinen verzehrenden Gedanken. Der Mann, ein junger, kräftiger Hafenträger, hatte einen staubigen Mehlsack abgesetzt und sich neben mich gestellt. Jetzt erst sah ich, dass viele Menschen — es mochten wohl einige Hundert sein — entlang des Ufers eine Art unordentliches Spalier gebildet hatten. Sie blickten stromab, gen Westen. Dort, winzig wirkend unter den düsteren Burgmauern des Louvre, erblickte ich eine Prozession. Ein Priester trug ein mit Silber beschlagenes Kreuz voran, ein anderer schwenkte ein Fässchen mit Weihrauch, dessen graue Rauchfahne sich in der heißen Luft kräuselte. Hinter ihnen schritten, das Haupt gesenkt und unter weiten, dunklen Schleiern verhüllt, wohl zwei Dutzend Schwestern der Augustinerinnen. Ihnen wiederum folgten, Kerzen in Händen haltend und fromme Hymnen singend, sicherlich an die hundert Bürgerinnen.

»Aber«, rief ich erstaunt aus, »die Frauen sind ja alle schwanger!« Der Träger lachte, doch Hohn lag nicht in seiner Stimme. »Ihr seid wohl nicht von hier, Bruder!«, rief er. »Es sind die schwangeren Frauen aus diesem Viertel. Sie haben eine Wallfahrt gemacht, vor drei Tagen sind sie losgezogen. Endlich sind sie wieder hier.«

»Eine Wallfahrt außerhalb der Stadtmauern?«, verwunderte ich mich. »In dieser unsicheren Zeit?«

»Eben deshalb«, sagte der Träger und nickte nun ernsthaft. »Fühlt eine Bürgerin von Paris die Frucht in ihrem Leib, so zieht es sie nach Chartres. Dort, in der Kathedrale, wird die Vorhaut unseres Herrn Jesus Christus verwahrt. Eine wundertätige Reliquie, fürwahr, die schon mancher Frau bei einer schwierigen Schwangerschaft und einer gefährlichen Geburt beigestanden hat.«

Er deutete stolz auf sich. »Auch meine Mutter ist nach Chartres gegangen, als sie mich im Leibe trug. Und seht, was aus mir geworden ist!« Er zeigte mir seine muskulösen Arme und entblößte seine gesunden Zähne, dann lachte er wieder. »Gut, dass sie wieder hier sind!«, rief er dann erneut.

Langsam und würdevoll kamen die Frauen näher. Lieblich sangen sie, fromm waren ihre Blicke und das Volk jubelte. Manch einer fiel sogar auf die Knie und dankte dem HERRN. Als die Prozession nahe bei mir war, da sah ich, dass die Schwangeren zwar alle ein schlichtes, weißes Gewand trugen, wie es sich für eine Prozession ziemt, doch erkannte ich sehr wohl, dass kaum eine von ihnen arm war. Sie waren wohlgenährt: Rosig waren ihre Gesichter und wenn ein Gewand aus Versehen kurz verrutschte, so entblößte es dralle Arme und Beine.

»Es sind Frauen aus deinem Viertel?«, fragte ich den Träger. Der nickte und deutete ein wenig stromab. »Seht Ihr die Kirche dort, Bruder? Saint-Jacques-de-la-Boucherie heißt sie, denn daneben, in dem prachtvollen Haus, residiert die Zunft der Metzger. Viele Metzger haben ihre Stuben in den Gassen rundum. Es sind, wie Ihr wohl unschwer sehen könnt, ihre Gattinnen und Töchter, die diese fromme Wanderung auf sich genommen haben. Ihre Wallfahrt wird in der Kirche enden, vor der Statue der heiligen Anna.«

»Der Patronin der Mütter«, murmelte ich, doch der Träger hörte mich nicht länger, denn er hatte sich umgewandt und zog nun, beladen mit seinem Mehlsack, gleich hundert anderen hinter den frommen Frauen her, um nach ihnen zur Messe in die Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie zu gelangen.

Ich stemmte mich, da ich nicht zu weichen gedachte, gegen den Strom der Leiber. Da jedoch spürte ich, wie eine Hand im Gedränge nach meiner Kutte fasste. Ich drehte mich um - und starrte Jacquette ins Gesicht.

Ich war so erschrocken, dass ich keinen Ton über die Lippen brachte. Und das war auch gut so, denn ein Mönch, der mit einem erstaunten Ausruf eine Schönfrau ansprach, hätte wohl selbst unter so vielen erregten Menschen Aufsehen verursacht.

Die junge Dirne hob die Hand an ihren Mund und bedeutete mir, zu schweigen. Dann schob sie mich voran und drängte sich neben mich. Nun musste es für alle Menschen, die unserer ansichtig wurden, so wirken, als gingen wir nur zufällig nebeneinander her: zwei Gläubige, die beide zur Kirche strebten, um die Gebete vor der heiligen Anna mitzusprechen.

Welche Qualen litt ich! Ich wollte nicht vom Grand Châtelet weichen, denn jeden Moment mochte Meister Philippe wieder erscheinen. Welche Schande gar, würde er gerade jetzt aus dem Portal treten und mich in Begleitung von Jacquette erblicken! Was würde er denken von mir?

Ich erschauderte kurz: Müsste er nicht gar einen Verdächtigen in mir vermuten? War ich nicht auch Deutscher? Passte meine Ankunft nicht zu der Zeit, da Heinrich von Lübeck erstochen worden war? Wenn mich der Inquisitor nun im Gespräch mit der Frau antraf, die vielleicht mehr als jeder andere Mensch — außer dem Mörder selbstverständlich - über diese abscheuliche Tat wusste, so mochte selbst ein so scharfer Verstand wie der von Meister Philippe in die Irre gehen und in mir den Sünder sehen, nach dem wir alle suchten. Trotzdem zögerte ich nicht, an der Seite der Schönfrau zur Kirche zu streben. Ich war noch ganz benommen von ihrer Berührung. Doch nicht nur die schändliche Lust des Fleisches durchströmte mich, sondern auch die womöglich noch schändlichere Lust des Geistes. Ich machte mich der Sünde des Hochmuts schuldig — denn mein Geist erregte sich daran, dass mir Jacquette etwas mitteilen würde über jene schicksalhafte Nacht. Denn warum sonst hätte sie mich ansprechen sollen? Bald, das spürte ich, würde ich etwas wissen, das selbst dem klügsten Inquisitor von Paris noch verborgen war. Saint-Jacques-de-la-Boucherie war eine prachtvolle Kirche, denn die Gilde der Metzger war wohlhabend und sie spendete viel Geld zum Schmuck der Heimstatt GOTTES. Zudem war die Kirche ein Wegpunkt auf der Pilgerreise nach Santiago de Compostela. So sah man stets Wanderer mit der Jakobsmuschel aus- und eingehen, fromme Lieder singend oder versunken in ihre Gebete.

Wir traten in den Schatten des schlanken, wohl über einhundert Ellen aufragenden Turmes. Dann drängten wir uns ins Innere, das dunkel war und - nach der staubigen Hitze der Straßen - erfrischend kühl.

Ich vermochte die Menschen nicht zu zählen, die zum Standbild der heiligen Anna drängten. Hymnen schallten hinauf zum Dach und hoch in den Himmel, Kerzen brannten tausendfach und tauchten den Altar in ein güldenes Licht.

Jacquette berührte kurz meine Kutte und deutete mit der Rechten auf eine kleine, düstere Seitenkapelle, die weit entfernt war von der Statue der Patronin der Mütter.

So kniete ich mich denn vor ein verschlossenes Triptychon und faltete die Hände zum Gebet. Die junge Schönfrau ließ sich eine Bank hinter mir nieder, etwas versetzt, sodass ich sie aus den Augenwinkeln gerade eben noch beobachten konnte, ohne den Kopf unziemlich zu wenden.

Sie hatte ein dunkles Tuch um ihr Haupt geschlungen. Ich sah, dass sie unauffällig ein Stück Fenchel in den Mund schob und kaute, wie viele Frauen es tun, um ihren Atem zu erfrischen. Zugleich bemerkte ich jedoch auch, wie mager ihre Hände waren und wie eingefallen ihre Wangen.

Ich hatte mir, bevor wir das Kloster verließen, einen Beutel umgeschlungen, in dem ein Laib Brot und ein paar Zwiebeln steckten, da ich inzwischen wusste, wie lang die Tage sein konnten, wenn man mit Meister Philippe den Spuren in Paris folgte. Mitleid überkam mich - und ich ging das Risiko ein und schob Jacquette meine kargen Vorräte zu.

Sie sah mich überrascht an, dann dankbar, bevor sie mit einer raschen Geste Brot und Zwiebeln nahm und in einer Falte ihres Gewandes verschwinden ließ.

»Der Teufel will mich holen«, flüsterte die Schönfrau dann.

Ich glaubte, mich verhört zu haben und schlug doch zugleich das Kreuz. »Weißt du, was du da sagst?«, fragte ich.

Jacquette nickte heftig. »Seit vielen Tagen schon, Bruder, verstecke ich mich bei …« Sie zögerte kurz und entschied, mir den Namen ihres Komplizen lieber doch nicht zu verraten. »Nun, das ist gleichgültig.

Doch oft bin ich noch in den Gassen rund um Notre-Dame. Ich muss doch Geld verdienen!«

Ich sah ihren flehenden Blick und bedeutete ihr, ruhig fortzufahren. Dankbar, dass ich sie nicht getadelt hatte, wagte die Schönfrau ein kurzes Lächeln. Oh, es war mir, als ginge in der Bank hinter mir die Sonne auf und wärmte mich! Welch Sünder war ich doch schon geworden.

Jacquette wurde jedoch sofort wieder ernst und sprach nun hastig weiter. »In den Gassen schleicht eine finstere Gestalt herum, ich schwöre es Euch, Bruder. Ein düsterer Schatten, niemand hat je sein Gesicht gesehen. Dieser Schatten — er sucht mich!« Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, doch gewann sie die Gewalt über sich zurück.

»Woher willst du wissen, dass dieser Unbekannte gerade dich sucht?«, fragte ich.

»Einmal, da erblickte er mich. Er stand am Ende einer Gasse, in die ich gerade einbog. Ich erkannte sein Gesicht nicht, doch ich sah, wie er erstarrte. Dann flog er direkt auf mich zu!

Ich drehte mich um und lief weg, so schnell ich konnte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so rannte, durch Gassen und Höfe und Schmutz. Irgendwann war der Schatten weg. Doch er schleicht noch immer durch die Gassen. Das haben mir Freundinnen erzählt, die«, sie zögerte kurz, »die auch des Nachts dort draußen sind. Keine hat ihn je erkannt, keine hat je gewagt ihn anzusprechen. Doch ich weiß, dass er mich sucht. Und ich weiß, dass es der Teufel ist!« Ich wollte etwas erwidern, doch sie ließ sich nun nicht mehr unterbrechen.

»Die Cordeliers sind gütig, Bruder. Jedermann liebt sie und verehrt sie gleich Heiligen. Euch Dominikaner jedoch fürchtet man und ich tue es ganz besonders. Ihr lasst auch nach mir suchen, oh ja, das weiß ich wohl.«

»Warum hast du mich denn dann angesprochen?«, unterbrach ich sie nun doch.

»Gerade weil Ihr Inquisitor seid, Bruder«, flüsterte sie. »Die Franziskaner mögen gütig sein, Ihr Dominikaner jedoch seid mächtig — und mächtige Männer GOTTES, die brauche ich wohl, wenn der Teufel hinter mir her ist. Allein deshalb habe ich mich Euch offenbart. Es ist besser, wenn ein Mönch mich sieht, als der Leibhaftige!«

»Warum gehst du nicht zu Meister Philippe?«, wollte ich wissen. »Wenn jemand in solchen Dingen erfahren ist, dann doch er.«

»Ihn fürchte ich fast so sehr wie den Teufel«, bekannte da Jacquette. »Ihr aber, Bruder, Ihr …«, sie suchte nach Worten. »Vor Euch habe ich auch Angst, jedoch nicht so große. Wenn Ihr versteht, was ich meine?«

»Ich verstehe dich«, murmelte ich — und wusste nicht, ob mir dieses Geständnis schmeicheln sollte oder ob es nicht eher einer Beleidigung gleichkam. So sind die Worte der Frauen: man weiß nicht einmal, ob sie süß sind wie Honig oder bitter wie Galle! Ich zumindest wusste es nicht und ich weiß es bis heute nicht.

»Wenn ich dir helfen soll, dann musst du mir die Wahrheit erzählen«, fuhr ich fort. »Alles. Ich muss alles erfahren von dem, was du in jener Nacht gesehen und gehört hast.«

»Ich habe gelogen«, gestand Jacquette. »Ich hatte so schreckliche Angst vor dem Inquisitor, da habe ich die Wahrheit verschwiegen.«

»Öffne deine Seele, bevor es zu spät ist«, ermahnte ich sie. »Ich habe gesehen, wie Euer Mitbruder niedergestochen wurde«, hauchte sie da — so leise, dass ich es kaum vernehmen konnte. Vor der Statue der heiligen Anna stimmten die Pilgerinnen nun einen frommen Gesang an und ihre Stimmen brausten durchs Kirchenschiff wie eine Sturmböe.

»Sprich lauter - und sprich schnell«, drängte ich die Schönfrau, denn solange die schwangeren Frauen sangen, mochte uns wohl niemand hören.

»Es war der Dekan der Domherren, dem ich in jener Nacht zu Diensten war«, gestand Jacquette.

»Nicolas d'Orgemont?«, fragte ich. »Bist du dir da ganz sicher?«

»Ja, er war schon häufiger bei mir und auch in jener Nacht, da ihn sein Schicksal ereilte, hatte er mich zuvor aufgesucht. Wir gingen zur zweiten Kapelle auf der rechten Seite von Notre-Dame, wo die Schatten besonders düster sind, und ich tat, was er mir zu tun befahl. Doch ich schwöre, dass er, als er mich verließ, gesund an Leib und Seele war! Ich schlich in mein Versteck zurück und hörte erst am nächsten Morgen, dass der Domherr in jener Nacht zu GOTT gerufen worden war. Herr d'Orgemont wird IHM viele Sünden gestehen müssen, denn ich habe die Wahrheit gesprochen, als ich sagte, dass er mich zu seinem Vergnügen schlägt. So war es auch in jener, seiner letzten Nacht.«

»Warum lässt du dies zu?«, fuhr ich auf.

Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Weil ich Hunger habe«, antwortete sie.

Ich schlug beschämt die Augen nieder.

»In jener Nacht nun, in der Heinrich von Lübeck ermordet wurde, da schlug mich Nicolas d'Orgemont wieder. Ich war schon zu Boden gegangen und versuchte, mein Haupt mit meinen Händen zu schützen, da erblickte ich plötzlich eine Gestalt, die aus der Kathedrale kam.«

»Langsam!«, unterbrach ich sie. »Jetzt musst du mir alles sehr genau erzählen: Wer kam heraus? Wo?«

Jacquette dachte einen Moment lang nach. »Ich sah eine dunkle Gestalt, mehr nicht. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mönch war. Die Gestalt kam aus der Roten Pforte von Notre-Dame, über der die Heilige Mutter GOTTES thront. Die Gestalt rannte. Da kam eine zweite Gestalt aus der Kirche, aus derselben Pforte. Auch sie konnte ich nicht klar erkennen. Der zweite Unbekannte rief etwas, das ich nicht verstehen konnte — da blieb der erste stehen. Die zweite Person kam nahe an die erste heran. Es schien mir, als würden sie sich unterhalten.«

»Wie lange?«, unterbrach ich sie.

»Nur ein paar Momente. Nicolas d'Orgemont hielt gerade inne mit dem Schlagen, weil es ihn so sehr erhitzte, dass er schwer atmete. Ich aber wagte nicht, mich wieder aufzurichten. Also lag ich da, blickte auf die beiden Gestalten und erwartete den nächsten Schlag des Domherrn.

Da plötzlich schienen die beiden Unbekannten miteinander zu verschmelzen und einen wilden Tanz aufzuführen. Dann fiel die erste Gestalt zu Boden - und die zweite rannte davon, zurück in die Kathedrale.«

»Der Unbekannte stürzte?«

»Ja, besser kann ich es nicht beschreiben. Es ging so schnell. Einen Augenblick standen sich beide noch gegenüber. Dann schien es mir, als umarmten sie sich. Und im nächsten Moment lag einer am Boden, der andere rannte in die Kathedrale Notre-Dame zurück.«

»Es muss ein kurzer Kampf gewesen sein«, murmelte ich. »Doch scheint es mir, als hätte Heinrich von Lübeck seinen Mörder gekannt. Warum sonst hätte er mit ihm reden sollen?« Laut sagte ich dann: »Was geschah danach?«

Jacquette schlug ein Kreuz. »Der Domherr prügelte wieder auf mich ein, bevor ich etwas sagen konnte. Dann, und das schwöre ich bei der Mutter GOTTES und allen Heiligen der Kirche, verlor ich das Bewusstsein.«

»Meinst du, dass auch Nicolas d'Orgemont die beiden Gestalten und ihren Kampf gesehen hat?«

Die Schönfrau schüttelte den Kopf. »Als er mich schlug, da stand er mit dem Rücken zur Kathedrale. Er wandte Notre-Dame stets den Rücken zu, wenn er bei mir war. Er hatte mir einmal gesagt, er könne nicht zu einer Dirne gehen und dabei auf das Haus GOTTES blicken. Doch was geschah, nachdem mich meine Sinne verlassen hatten, das weiß ich nicht zu sagen.«

»Und die Gestalt, die du gesehen hast, nachdem du wieder bei Bewusstsein warst, jener Unbekannte, der sich am Körper des toten Heinrichs von Lübeck zu schaffen machte — die gab es tatsächlich?«, fragte ich, obwohl ich ihr sowieso schon glaubte. Jacquette nickte. »Ja, das ist wahr. Aber«, sie zögerte, »es war nicht derselbe Unbekannte, der ihn auch niedergestreckt hat.« Ich zuckte zusammen. »Nicht?«, keuchte ich. »Bist du dir da ganz sicher? Schwöre es!«

»Ich schwöre es bei meinem Seelenheil! Die Person, die Euren Bruder niederstreckte, war recht groß, vielleicht sogar größer als der Unglückselige, vielleicht aber auch nicht, das konnte ich nicht genau erkennen, aber dick war er nicht. Die zweite jedoch war massig wie ein Mastschwein.«

Ich blickte auf das verschlossene Gnadenbild und murmelte ein kurzes Gebet. »Wir suchen also zwei Unbekannte«, flüsterte ich dann, und es war mir, als legte sich mir ein neues, großes Gewicht auf die Schultern. Je länger Meister Philippe und ich suchten, desto weniger schienen wir zu finden. Oder nein: Wir fanden zwar Spuren, doch führte uns die Lösung eines Rätsels stets nur zum nächsten. Es war wie in der Theologie, wo die Behandlung eines Dogmas stets nur zum nächsten führte, das geklärt zu werden verlangte. Niemals, niemals war ein Ende abzusehen.

*

Es war Jacquette, die mich aus meinen Gedanken riss.

»Glaubt Ihr, Herr, dass mich der Teufel holen will wegen all meiner Sünden?«, fragte sie mich.

Vor wenigen Wochen noch hätte ich diese Frage bejaht, denn wo sonst als in der Hölle sollten Schönfrauen schon enden? Doch nun war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Hatte nicht selbst unser Herr Jesus Christus den Sündern verziehen? Cum autem perseverarent interrogantes eum erexit se et dixit eis qui sine peccato est vestrum primus in illam lapidem mittat. Waren es tatsächlich die Künste Satans, die Menschen verführten, Sünden zu begehen? Wer brachte denn Not und Hunger und Leid in die Welt, wenn nicht wir Menschen? Waren wir es nicht, die einander zur Hölle verdammten?

»Fürchte dich nicht«, antwortete ich ihr deshalb. »Der HERR ist stärker als der Teufel. Und weil dies so ist, wird es für jeden von uns immer einen Weg geben, dem Finsteren zu entkommen.« Da weinte Jacquette plötzlich. Es war ein hemmungsloses, unbeherrschtes - ich weiß kein anderes Wort als dieses —, hingebungsvolles Weinen.

Heiß und kalt wurde mir, als ich sie so sah. Hinübergehen und sie zur Tröstung in den Arm nehmen konnte ich nicht, das hätte zu viel Aufsehen erregt. So achtete niemand auf uns, denn obwohl Tränen aus den Augen der Schönfrau flössen wie ein Strom, gab sie dabei keinen Laut von sich.

»Meister Philippe hatte Recht, als er mich der Lüge bezichtigte. Es gibt keinen Vater, der Lastenträger war und früh verstarb. Und auch keine jüngeren Geschwister. Ich war ein Bauernmädchen in Rampillon«, flüsterte sie, als sie sich ausgeweint hatte. Ich ahnte, dass sie mir nun ihre Geschichte erzählen musste, auch wenn sie mich nicht darum gebeten hatte, ihr die Beichte abzunehmen — abgesehen davon, dass ich dies auch gar nicht hätte tun dürfen, denn Mönch war ich zwar, doch nicht als Priester ordiniert.

»In Rampillon«, fuhr Jacquette fort, »haben wir eine große Kirche der Templer, errichtet zu der Zeit, da sie noch nicht als Ketzer galten. Viele prächtige Grabplatten schmücken ihr Inneres, steinerne Ritter mit Helmen und Schwertern. Unter irgendeinem, so sagt man, liege der legendäre Schatz der Templer versteckt. Vielleicht ist es diese Geschichte gewesen, welche die Burgundischen letztes Jahr in unser Dorf gelockt hat, ich weiß es nicht.

Eines Morgens jedenfalls waren Landsknechte da und plünderten die Kirche, doch fanden sie wenig, das zu rauben sich lohnte. Da wurden sie sehr zornig und steckten unsere Häuser an.

Meinen Mann«, Jacquette redete jetzt so schnell, dass ich ihr Flüstern kaum mehr verstehen konnte, »meinen Mann zwangen sie, gleich vielen anderen Bauern, in eine leere Mehlkiste. Ihr kennt sie vielleicht, Bruder? Es sind hölzerne Kisten, so groß wie ein Sarg. Während er dort drinnen eingesperrt war, warfen mich einige Landsknechte auf den Deckel und taten mir Gewalt an. Während sie dies taten, da verhöhnten sie meinen Mann und riefen, er solle doch seine Frau retten, wenn er könne. Ich biss mir auf die Lippen, damit er zu ihren Hohnworten nicht auch noch meine Schreie ertragen musste. Später, ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen sein mochten, verschleppten die Landsknechte meinen Mann und einige andere Bauern. Wir sollten Lösegeld zahlen, wenn wir sie lebend wiedersehen wollten.«

Sie schwieg nun, erschöpft. Dann raffte sie sich mit müder Stimme auf: »Wir hatten doch nichts, unser Dorf war ja niedergebrannt worden, unsere Ernte zertrampelt oder geraubt von den Burgundischen. Wir gingen zum Kloster der Benediktiner, das nicht weit von Rampillon aufragt, doch die Mönche mochten uns nicht einen Sou geben. Sie würden für uns beten, sagten sie.

So mussten wir also die Frist verstreichen lassen, die uns die Landsknechte gesetzt hatten. Mein Mann und die anderen Bauern wurden an einer Eiche aufgehängt wie Verbrecher. Wir durften ihre Körper abschneiden und beerdigen, als die Landsknechte weitergezogen waren.«

Jacquette blickte auf die Kerzen, die vor dem Altar flackerten, doch ich glaube, dass sie deren Licht nicht sah, sondern ein ganz anderes Bild vor Augen hatte. Ein Bild, wie es wohl kein Künstler je wird malen können — und das ist sicherlich auch gut so. »Also ging ich nach Paris und wurde, was ich bin, Bruder. Denn was sollte ich sonst noch tun? Mein Dorf war zerstört — und meine Ehre hatte ich sowieso schon verloren.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Zu verwirrt war mein Geist, zu unsicher wären meine Sätze gewesen, um der Schönfrau Trost zuzusprechen. Durfte ich dies überhaupt? Was hätte ich ihr schon sagen können?

Schließlich war es Jacquette, die wieder das Wort ergriff. Sie musste lauter sprechen, denn inzwischen hatten die gläubigen Frauen vor dem Standbild der heiligen Anna ein neues Lied angestimmt, das machtvoll durch die Kirche hallte.

»Ich wünsche, dass Ihr eine Messe lest für Euren toten Mitbruder, dem ich nicht habe helfen können«, sagte sie. Sie hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, dass eine Messe sechzehn Sous kostet und ein Pfund Kerzen sieben. So viel habe ich nicht. Die Zeiten sind schlecht — vor allem jetzt, da jeder sich vor der Krankheit fürchtet und davor, bald vor dem höchsten Richter zu stehen. Da ist es sicherlich nicht gut, zu gestehen, dass man noch vor kurzem bei einer Schönfrau gelegen hat. So geben mir die Männer, die überhaupt noch zu mir kommen, nur zwei Sous — und leben muss ich ja schließlich auch von irgendetwas. Deshalb habe ich nur vier Sous gespart.« Sie beugte sich rasch vor und drückte mir, bevor ich mich dagegen wehren konnte, vier Kupfermünzen in die Hand. »Das sollte, so hoffe ich, für eine stumme Messe reichen. Bitte Bruder, ich flehe euch an!«

Ich zögerte. Es war Geld der Sünde, sie hatte es mir ja gerade selbst gestanden. Die Münzen brannten gleich Feuer in meiner Hand. Und doch: Sollte ich es verweigern? Sollte ich es wegwerfen als Ausfluss schändlicher Lust?

Ich schloss meine Faust um die vier Sous und verstaute sie im Beutel an meinem Gurt. »Wir werden für Heinrich von Lübeck eine stumme Messe lesen«, versprach ich — auch wenn ich in jenem Moment noch nicht wusste, wie ich dies dem Prior erklären sollte. »GOTT segne dich, Bruder!«, flüsterte da Jacquette und lächelte mich an. Oh, ich spürte sehr wohl, dass mein Gesicht nun brannte wie ein Schmiedefeuer. Schnell wandte ich mich ab, dass sie die flammende Röte auf meinen Wangen und meiner Stirn nicht sah. Ich hätte ihr gerne etwas gesagt. Hätte ihr gestanden, dass nicht alle Hoffnung vergebens sei; dass sie nicht als Schönfrau ihre Tage vergeuden solle, sondern wieder auf den rechten Weg finden müsse; dass sie in meinen Augen nicht entehrt war — nicht durch das, was die Burgundischen ihr angetan hatten, nicht einmal durch das, was sie seither gemacht hatte. Ich — oh ja, ich gestehe es — hätte ihr wohl gar gestanden, dass sie schön sei und liebenswert.

Doch ich sollte niemals dazu kommen, ihr irgendetwas davon zu sagen, denn als ich noch nach Worten rang, da hörte ich plötzlich, wie Jacquette die Luft mit einem erschrockenen Zischen einzog: Zwei Sergeanten standen in der Kirchentür. Sie nahmen ihre Helme ab, senkten die Hellebarden und gingen umständlich in die Knie, bevor sie ins Haus GOTTES traten.

Ich weiß bis heute nicht, warum der HERR ihre Schritte ausgerechnet in jenem Augenblick in die Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie lenkte — vielleicht wollte er mich davor bewahren, das zu sagen, was mir auf der Seele lag. Die beiden Sergeanten suchten niemanden hier, sie wollten sich wohl nur das Ende der Prozession ansehen. Jedenfalls blickten sie sich nicht besonders aufmerksam um, sondern drängten sich nur näher an die Statue der heiligen Anna heran. Jacquette schlug, kaum dass sie die beiden Bewaffneten erblickte, ihr Kopftuch eng ums Haupt, schlüpfte lautlos aus der Bankreihe und verschwand mit eiligen Schritten aus der Kirche, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Ein Schatten unter Schatten war das letzte, was ich von ihr sah.

Wie betäubt blieb ich noch eine Weile sitzen. Ein schmerzliches Gefühl des Verlustes peinigte meine Seele und ich fühlte eine erschreckende Leere, obwohl ich mich einen Narren schalt, mir von einer Schönfrau so den Kopf verdrehen zu lassen. Bonus homo de bono thesauro profert bona et malus homo de malo thesauro profert mala. Schließlich raffte ich mich auf und ging langsam aus der Kirche, zurück zum Grand Châtelet. Es schien mir eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit ich mit der Schönfrau in die Kirche gegangen war, doch wahrhaftig mochte nicht mehr Zeit vergangen sein, als man braucht, um drei oder vier Hymnen zu singen.

Tatsächlich musste ich noch einige Augenblicke warten, bis Meister Philippe wieder aus dem Portal schritt. Er schien meine Abwesenheit also nicht bemerkt zu haben.

»Ich habe alles besprochen«, sagte der Inquisitor. »Morgen werden Brüder mit den Predigten beginnen. Wir werden je zwei auf die Place de Greve und zum Markt von Les Halles entsenden. Nirgendwo werden ihnen mehr Menschen lauschen als dort und nirgendwo werden ein paar Sergeanten weniger auffallen, wenn man sie nur geschickt genug postiert.«

Ich murmelte zustimmende Worte, doch lauschte ich Meister Phlippe nicht wirklich. Zu aufgewühlt war ich noch von der Geschichte, die mir Jacquette soeben erzählt hatte.

Schweigend legten wir den Weg bis zum Kloster zurück, doch als wir dort waren, blieb Meister Philippe unvermittelt stehen. »Was bedrückt dein Herz, mein junger Bruder?«, fragte er mich. Er war nicht misstrauisch, eher freundlich, ja besorgt.

Mich traf seine Frage trotzdem so, als hätte er mir eine Ohrfeige gegeben. Meine Hände zitterten, Schweiß perlte auf meiner Stirn und in meinem Innern fochten zwei Regungen: Sollte ich mich dem Inquisitor offenbaren oder sollte ich ihm alles verschweigen? Ich seufzte tief und entschloss mich dann, meinen Fehler nicht zu wiederholen. So erzählte ich Philippe de Touloubre alles so, wie es sich zugetragen hatte.

Je länger ich sprach, desto blasser wurde der Inquisitor. Zwar blieb seine Miene unbeweglich, doch seine Gesichtszüge wurden fahler und fahler. Als ich geendet hatte, erwartete ich deshalb schon ein schreckliches Zorngewitter.

Doch der Inquisitor hob nicht einmal die Stimme. »Du hättest Jacquette nicht gehen lassen sollen!«, sagte er leise. »Du hättest sie festhalten, du hättest die beiden Sergeanten rufen müssen! Du bist Inquisitor! Sie hätten dir gehorcht!«

»Aber die Schönfrau hat sich mir offenbart«, erwiderte ich. »Sie hat mir vertraut.«

»Welchen Wert hat das Vertrauen von Menschen, die nicht denken können?«, tadelte mich Meister Philippe.

»Sie hat dir vertraut, fürwahr. Doch was bedeutet dies vor allem anderen? Dass sie dir als Mönch und als Mann GOTTES vertraut, dass du ihre Seele zu erretten vermagst. Sind wir Männer geistlichen Standes nicht einzig deshalb herausgehoben aus der Menge der Menschen? Wir retten Seelen. Du jedoch magst sie zwar vor dem Kerker bewahrt haben, hast sie aber desto sicherer dem ewigen Verhängnis ausgeliefert. Außerdem«, und hier lächelte er plötzlich, »hätte ich der jungen Schönfrau gerne selbst ein paar Fragen gestellt.« Nun musste auch ich lächeln, denn so gut kannte ich Meister Philippe nun doch schon: Es reute ihn, dass er den einzigen Menschen nicht befragen konnte, der uns offensichtlich neue Spuren in Bezug auf diese grausame Tat aufzeigen konnte.

»Ihr habt nur meinen, wahrscheinlich höchst unvollkommenen Bericht«, erwiderte ich und neigte demütig das Haupt. Der Inquisitor segnete mich. »Immerhin den haben wir. Es mag mir eine Lektion sein wie dir: Ich nämlich vergaß meine Demut. Wärest du so gewesen, wie ich es dir riet, die Schönfrau hätte sich dir vielleicht nie offenbart. Doch da du so bist, wie du bist, und diese junge Dirne tief in deine Seele zu schauen vermag, vertraute sie sich dir an. So haben wir manche Dinge erfahren, von denen wir bis dahin nichts ahnten.«

»Es gibt zwei Mörder«, sagte ich eifrig.

Meister Philippe schüttelte den Kopf. »Es gibt einen Mörder. Und es gibt einen Unbekannten, der sich irgendwann später - genau hat Jacquette das nämlich nicht gesagt und du hast vergessen, sie noch einmal danach zu befragen - an dem Toten zu schaffen gemacht hat. Ein paar Augenblicke nur? Eine oder gar zwei Stunden? Womöglich war Heinrich von Lübeck noch gar nicht tot, als der zweite Unbekannte sich über ihn beugte. Hat dann seine letzte, in Blut geschriebene Botschaft eher etwas mit jenem zweiten Unbekannten zu tun? Oder hat jener Zweite die Hand des Toten genommen, um jene Worte zu schreiben? Doch wozu? Haben Mörder und zweiter Unbekannter etwas miteinander zu schaffen? Oder kam der Zweite nur zufällig seines Weges?

Oh, ich hätte die Schönfrau gerne so vieles gefragt: Hinkte vielleicht einer von beiden oder schwankte wie ein Betrunkener? Trugen sie noch etwas am Leib außer ihren Kleidern, einen Beutel vielleicht oder eine Waffe? Trug keiner der beiden, obwohl sie doch nachts in den Gassen unterwegs waren, eine Fackel bei sich? Vielleicht hat sie ja in der Nähe auf dem Pflaster gelegen?«

Beschämt blickte ich zu Boden. »Nichts dergleichen habe ich gefragt«, murmelte ich.

Der Inquisitor nickte. »Gräme dich nicht. Mit klugen Fragen entlockt man Menschen ein Wissen, von dem sie bis dahin nicht einmal wussten, dass es in ihrem Gedächtnis vorhanden ist. Du wirst diese Kunst noch lernen. Jetzt danke ich dir erst einmal für alles, was du mir trotzdem erzählt hast. Ich weiß nun so viel mehr als noch vor einer Stunde, dass deine Lässlichkeiten mehr als aufgewogen sind. Ich danke dir für deine Offenheit.«

Der Inquisitor segnete mich wieder. »Nun werde ich mich in meine Zelle zurückziehen. Ich brauche Zeit, um über diese neuen Entwicklungen nachzudenken.«

Ich verneigte mich und wagte nicht, mein letztes Anliegen vorzubringen. Doch auch dieses hatte Meister Philippe längst erraten. »Doch bevor ich in meine Zelle gehe, werde ich beim Prior vorbeischauen«, sagte er und lächelte verschwörerisch. »Ich werde ihm sagen, dass eine unbekannte Gönnerin eine stumme Messe für Heinrich von Lübeck wünscht. Ich glaube nicht, dass der Ehrwürdige Vater dieses Anliegen ablehnen wird.«