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9DIE LOCKENDE PFORTE DER HÖLLE

Der nächste Tag, der der heiligen Edeltraud geweiht war, sollte mich endgültig auf den Weg in die Verdammnis führen. Ich kniete zur Vesper in der Kirche, umgeben von meinen Mitbrüdern, doch meine Gedanken waren nicht die ihren. Als der Vorsänger im Responsorium die ersten Zeilen eines Psalms anstimmte, da sang ich den Kehrvers im Chor der Mönche.

Seit dem frühen Morgen war Meister Philippe verschwunden - er hatte das Kloster noch vor der Prim verlassen, wie mir der Portarius gestand. Wohin mochte er gegangen sein? Warum war er verschwunden? Ich war enttäuscht, dass er mir nichts gesagt hatte, wenn er es denn schon für notwendig erachtet hatte, auf meine Begleitung zu verzichten.

Während der Lesung aus der Heiligen Schrift durch einen Bruder - es war, so weit ich mich erinnern kann, eine Stelle aus dem Römerbrief—, lauschte ich nicht etwa diesen Worten, sondern dachte daran, dass der Inquisitor sich vielleicht auf eigene Faust aufgemacht hatte, um Jacquette zu suchen. Oder hatte etwas, das die Schönfrau mir verraten hatte, in ihm irgendeinen Verdacht erweckt? War er vielleicht gar nicht auf der Suche nach der jungen Dirne, sondern hatte sich zu jemand ganz anderem begeben? Zu wem?

Hymnus, Vers und Lobgesang erklangen im Hause GOTTES - doch ich, ich dachte nur daran, was ich nun unternehmen sollte. Wenn der Inquisitor Nachforschungen betrieb, warum sollte ich dies nicht auch wieder tun? War ich nicht selbst Inquisitor? Hatte uns nicht letztlich alles, was ich getan hatte, weitergebracht auf dem Weg zum Mörder unseres Mitbruders?

Der Florentiner Geldwechsler Pietro Datini hatte mich zum Juden geführt. Nechenja ben Isaak und seine Tochter hatten uns wieder auf Richard Helmstede und seine Kogge verwiesen. Jacquette hatte uns zudem gezeigt, dass wir nach zwei Unbekannten zu suchen hatten. War es denn so unwahrscheinlich, dass einer der beiden, nach denen wir suchten, Richard Helmstede sein mochte?

»PATER noster«, murmelten wir, doch ich dachte an Leas Botschaft vom Schiff im Sturm. Ich musste den Reeder aufsuchen — und ich durfte keine Zeit mehr vertun. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und aus der Kirche geeilt, doch selbstverständlich bezwang ich mich und betete weiter.

»Alma redemptoris mater« erscholl es nun. Endlich legte sich meine Verwirrung und Geistesabwesenheit. Ich sang den Hymnus mit und legte alle Kraft und Sehnsucht in meine Stimme. Oh ja, wie hoffte ich auf die Gnade der Muttergottes. Wie sehr sehnte ich mich danach, endlich, endlich eine Gewissheit zu erlangen in jenem finsteren Fall von Mord und Lüge, von Sünde und Täuschung! Nach der Vesper gesellte ich mich zu den Mitbrüdern, die auserwählt waren, noch an diesem Abend zum Volk von Paris zu predigen. Ich schlug gleich ihnen die Kapuze hoch und schritt als Teil ihrer Gruppe gemessen durch die Pforte hinaus. Der Portarius hielt mich nicht auf, keiner meiner Mitbrüder achtete auf mich. Jeder glaubte, dass auch ich zum Predigen eingeteilt worden war.

So folgte ich den Mönchen die Rue Saint-Jacques hinunter. Langsamer und langsamer wurde dabei mein Schritt: Aus der Mitte der Gruppe fiel ich unmerklich ans Ende zurück. Dann trennten mich wohl ein, zwei Ellen von den anderen und schließlich tat ich so, als müsse ich mir einen Stein aus meiner Sandale klauben. Ich lehnte mich an eine Hauswand, beugte mich zu meinem Fuß hinunter, richtete mich wieder auf — und war mit einem raschen Sprung in einer kleinen Quergasse verschwunden.

Auf Umwegen wanderte ich Richtung Seine, auf dass mich keiner meiner Mitbrüder zufällig erblickte. Ich musste langsam gehen, um nicht in Schweiß auszubrechen, denn es war heiß und schwül. Wie eine feuchte Decke lastete die Luft auf der Stadt, der Himmel hatte die Farbe von Milch angenommen. In den Gassen stank es mehr noch als sonst nach Fäulnis, Kot und nach dem Schimmel, der an feuchten Hauswänden in großen Flecken wucherte. Ich hätte gerne meine Kapuze zurückgeschoben, denn mein überhitzter Kopf schien mir zu kochen. Doch selbstverständlich behielt ich sie auf, um mich zu verbergen.

Glücklicherweise schien niemand auf mich zu achten. Vielmehr waren Arm und Reich, Pariser wie Fremde damit beschäftigt, überall auf Plätzen und Kreuzungen Äste und Scheite zu großen Stößen aufzuschichten. Die nächste Nacht war die Johannisnacht. Auch wenn die Angst vor der Seuche und vor unaussprechlichen Sünden umging, auf das Johannisfeuer wollte doch niemand verzichten. So gelangte ich unbemerkt über die Brücken der Seine bis zum Hafen. Dort blieb ich jedoch erschrocken stehen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Ich sah Männer auf der »Kreuz der Trave«, Matrosen — und sie machten die Kogge fertig zum Auslaufen. Man musste kein Seemann sein, um das zu erkennen.

Einige Matrosen bestrichen die Außenseite des Rumpfes mit Teer, andere überprüften das Tauwerk, zwei nähten einen Riss im Segel, das ausgebreitet auf Deck lag. Ich sah Gernot, den Steuermann, der am Heck auf und ab schritt. Damit nicht auch er mich erblickte, versteckte ich mich schnell hinter einigen leeren Weinfässern, die am Rande des Kais standen.

»Der heilige Nikolaus allein mag wissen, wohin die segeln wollen«, hörte ich da eine krächzende Stimme hinter meinem Rücken. Erschrocken fuhr ich herum. Gegen einen Turm weiterer Fässer gelehnt, lag ein alter, von Wind und Sonne gezeichneter Mann im Schatten. Ich versuchte ihm gegenüber gar nicht erst zu leugnen, dass ich zur »Kreuz der Trave« hinübergestarrt hatte, denn der Alte musste mich beobachtet haben.

»Sag, alter Mann, spricht man im Hafen nicht über dieses seltsame Schiff?«, fragte ich ihn, denn ich hielt ihn für einen ehemaligen Lastenträger, der auch die Tage seines Lebenswinters noch am Hafen verbringen wollte.

Der Mann lachte. »Was glaubt Ihr wohl, Bruder! Die Männer zerreißen sich das Maul wie tollwütige Hunde - verzeiht meine Worte, ich bin kein gelehrter Mann, wie Ihr es ohne Zweifel seid, und lebe einfach und bescheiden.«

Ich verstand seine Anspielung und warf ihm ein Stück Brot aus meinem Beutel zu. »Geld habe ich nicht«, sagte ich etwas verlegen. »Das tut es auch«, antwortete der Alte. Er zerkrümelte das Brot zu kleinen Brocken, denn er hatte keine Zähne mehr. Dann stopfte er sie sich langsam und genussvoll in den Mund und ließ sie dort vom Speichel wässern, bis er den Brei schlucken konnte. »Ah«, sagte er schließlich, »das stärkt mir Herz und Seele. Diese Kogge also«, kam er endlich auf das Thema zurück, »verwundert nicht wenige, die hier arbeiten. Doch, ich schwöre es Euch, Bruder, niemand hat all die Tage, die sie hier schon im Hafen liegt, Genaueres über sie erfahren. Nichts hat sie in all der Zeit geladen, keinen Ballen Stoff, nicht einmal einen Sack Getreide. Doch vor drei Tagen haben die Matrosen angefangen, Vorräte zu kaufen, wie man sie für eine lange Seereise braucht: Zwieback, Salzheringe, Branntwein, Wasser in Fässern, viel Wasser.«

»Wohin mag der Kapitän bloß wollen?«, murmelte ich, mehr zu mir selbst, als zu dem Alten.

Doch der lachte. »Ihr seid der Dominikaner, Bruder, Ihr müsst das herausfinden. Seit den Geschichten von der schrecklichen Seuche, die irgendwo im Land wüten soll, sind wohl einhundert oder mehr Schiffe hier in Paris angekommen.

Seht Euch im Hafen um! In drei, vier, fünf Reihen liegen Kähne und Barken an den Kais. Kaum ein Schiffer hatte Fracht geladen — außer der auf zwei Beinen. Viele brachten Menschen mit, die vor der Seuche geflohen sind, doch niemand hat sich seither wieder hinausgewagt. Warum auch? Wer fährt freiwillig in ein Land, in dem der Teufel regiert?«

Wir bekreuzigten uns beide.

»Außerdem gibt es ja nichts, was ein Schiff jetzt in Paris laden könnte«, fuhr der Alte fort. »Getreide und Wein brauchen wir selbst für all die Menschen in unseren Mauern. Und feine Stoffe und edles Geschmeide, wie es unsere hochmütigen Gildenmeister fertigen? Wer sollte dies jetzt noch kaufen wollen? Nein«, er schüttelte entschieden den Kopf, »es gibt nichts, was jemand aus Paris bringen könnte in diesen Tagen.

Wenn Ihr mich fragt, Bruder: Der Kapitän der »Kreuz der Trave« will hier verschwinden. Vielleicht hat er Angst vor der Seuche und will nicht warten, bis sie auch Paris erreicht. Wenn er deshalb flieht, wäre dies allerdings dumm von ihm. Denn er muss ja durch ein Land fahren, in dem die Krankheit schon wütet. Oder aber …«

»… er flieht aus Paris, weil jemand hinter ihm her ist«, vollendete ich und erschauderte.

Was sollte ich tun? Meister Philippe alarmieren? Doch wo mochte er sein? Auf die Kogge eilen und die Abreise verbieten? Mit welcher Autorität? Mit welcher Begründung? Würde jemand auf mich hören? In meiner Ratlosigkeit fiel mir schließlich nichts anderes ein, als zum »Haus zum Hahn« zu eilen. Richard Helmstede hatte ich nicht auf Deck der »Kreuz der Trave« erblickt. Vielleicht, so hoffte ich, war er noch in seinem Anwesen in Paris. Dort wollte ich sehen, ob ich das Rätsel der Abreise zu lüften vermochte. So dankte ich denn dem Alten, segnete ihn und eilte davon.

Zunächst wandte ich mich zur Rue Saint-Denis, schließlich bog ich ab zum Katzenplatz. Dort, wo noch ein paar Wochen zuvor die Trödler aus ganz Frankreich ihre schäbigen Waren feilgeboten hatten, hatten sich nun Bauern, fahrendes Volk und wohl auch viele Bürgersleute aus anderen Städten niedergelassen. Mann und Weib, Alt und Jung lagerte hier ohne Rücksicht auf den Stand und die Schicklichkeit. Decken, leere Getreidesäcke und altes Stroh dienten überall als Schlafstatt, dazwischen standen Handkarren und abgespannte Ochsenwagen, hoch beladen mit Säcken, Kisten und allerlei Mobiliar. Es stank nach Kot, Urin und all den anderen Ausdünstungen von Menschen, die sich seit Tagen in der Sommerhitze nicht mehr vom Fleck gerührt hatten. Kleine Kinder schrien, ich hörte Dirnen lästerlich fluchen und Männer aufrührerische Reden schwingen. Doch noch machte jedermann mir Platz, als ich mit wehender Kutte durch die Menge eilte.

Hinter einem der mit Habseligkeiten überladenen Karren blieb ich stehen und beobachtete das »Haus zum Hahn«. Prachtvoll stand es da wie eh und je — so, als könne das menschliche Gewühl und Elend vor seinen Mauern ihm nichts anhaben. Ich hatte erwartet, Diener und Matrosen hinein- und hinauseilen zu sehen, beladen mit Vorräten und vielleicht sogar schon dem Gepäck des Reeders und seiner Gattin. Ich hätte, so hatte ich es mir auf meinem Weg vom Hafen kommend zurechtgelegt, einen dieser Diener auf dem Platz angesprochen, ihn unauffällig an einen Ort geführt, wo uns niemand sah, und mit der Strenge des Inquisitors befragt.

Doch nun stand ich ratlos hinter dem Karren und wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Da mir nichts Besseres einfiel, nahm ich mir vor, zunächst einmal zu warten. Hätte ich nur Geduld, würde ich früher oder später sicherlich jemanden erblicken.

Doch es kam genau andersherum: »Seht an, der junge Mönch! Wie freue ich mich, Euch endlich wiederzusehen, Bruder Ranulf!«, ertönte eine Stimme hinter mir.

Erschrocken fuhr ich herum — und stand vor Klara Helmstede. Die Reedersgattin hatte sich einen schlichten, braunen Schleier übergeworfen, sicherlich deshalb, um auf dem Katzenplatz kein unnötiges Aufsehen zu erregen mit prachtvollen Gewändern und funkelndem Geschmeide. Sie war wieder allein unterwegs, kein Diener, keine Magd war bei ihr. Unter dem Schleier drängte sich machtvoll ihr blondes Haar hervor, ihre blauen Augen blitzten mich spöttisch an und ihr weites Gewand trug sie so locker, dass ich unwillkürlich auf die helle Haut unterhalb ihres Halses starren musste. »Pax vobiscum«, murmelte ich verwirrt.

Da lachte sie wieder, so laut, dass es mir peinlich war, hier auf dem Platz, wo uns doch jeder sehen mochte. »Frieden, ja Frieden hätten wir alle gerne!«, rief sie.

Ich beschloss, mich weder zu rechtfertigen, noch lange um den heißen Brei herumzureden. »Warum wollt Ihr Paris verlassen?«, fragte ich. »Und wohin?«

»Immerhin«, erwiderte sie und wurde ernst, »das ist Euch nicht entgangen.«

Dann blickte sie mich forschend an. »Ihr seid nicht zufrieden mit dem, was Ihr schon wisst, junger Inquisitor, habe ich Recht? Ihr wollt mehr wissen von meinem Gatten, von meinem Schwager und seiner letzten, verfluchten Fahrt auf dieser Kogge - und von unserem neuen Ziel.«

Ich neigte mein Haupt und verzichtete auf eine Antwort. »Nun gut«, sagte sie. »Erweist mir die Ehre und nehmt ein frühes Abendmahl im ›Haus zum Hahn‹ mit mir ein, dann werde ich Euch ein paar Geschichten erzählen, die Euch gewiss zu denken geben werden.«

»Ich soll mit Euch ins Haus kommen?«, stammelte ich - zu verblüfft, um in diesem Moment an meine Würde zu denken. Da lachte Klara Helmstede wieder ihr beunruhigendes, fröhliches, auffälliges Lachen. »Ja, Bruder, Ihr sollt mit mir ins Haus kommen! Oder wollt Ihr, dass ich Euch hier auf dem Katzenplatz alles erzähle? Oder dass wir uns in die nächste Taverne setzen, um sauren Wein und die Blicke des fahrenden Volkes zu genießen?«

So zögerte ich nur kurz — dann schlug ich meine Kapuze hoch und folgte Klara Helmstede zum Haus. Der Drang, endlich das Geheimnis der Kogge zu ergründen, trieb mich. Das zumindest redete ich mir ein. Doch selbstverständlich - der HERR wusste es längst - trieb mich auch noch etwas ganz anderes.

*

Klara Helmstede führte mich in eine Stube im ersten Geschoss, wo ein eichener Tisch direkt an einem Butzenfenster stand, durch das man auf den Katzenplatz hinunterblicken konnte. Sie läutete nach einer Dienerin und wies sie an, aufzudecken. Die Dienerin, eine junge Magd, mied meinen Blick.

Auch mir war es unangenehm, dass ich vor einer Zeugin mit der Gattin des Reeders zusammensaß. Noch peinlicher berührt war ich allerdings, als ich sah, dass die Magd nur zwei Teller auf den Tisch stellte.

»Euer Gatte speist nicht mit uns?«, fragte ich und hörte dabei, wie meine Stimme zitterte.

Da lachte Klara Helmstede wieder. »Er hat dringende Geschäfte in Paris zu erledigen. Fragt mich nicht, Bruder, welche Geschäfte das sind!«

»Uxori vir debitum reddat«, murmelte ich.

So sicher war ich mir, dass die Reedersgattin kein Latein verstand, dass ich vor Scham am liebsten in den Boden versunken wäre, als sie antwortete: »Similiter autem et uxor viro. Mögt Ihr ein wenig Wein, Bruder? Kostet diesen hier, ein weißer Burgunder, eisgekühlt. Das Richtige bei einer Hitze wie heute. Ihr zittert ja und Schweiß perlt auf Eurer Stirn. So nehmt doch wenigstens Eure Kapuze ab!« Ich kostete, verschluckte mich und hustete, denn ich trank selten Wein - und sicherlich niemals einen so edlen wie an jenem Abend. Verlegen sah ich mich in der Stube um, während die Dienerin die Speisen brachte. In einer Ecke des Raumes stand die Statue eines Heiligen: Sie war aus Holz geschnitzt und fast mannshoch, doch so grob ausgeführt, dass ich nicht erkennen konnte, wer dargestellt sein sollte.

»Das ist der heilige Nikolaus«, sagte Klara, die sich gesetzt hatte und meinem Blick gefolgt war. »Der Patron der Seefahrer. Mein Gatte hat die Figur von seinem Vater geerbt. Er nimmt sie immer mit, wenn er eine längere Reise tut, auf dass der Heilige ihn alle Zeit beschützen möge.«

Ich deutete auf einen kleinen Ledersack, der an den rechten Arm der Statue gehängt worden war. »Ist dies auch ein Erbstück Eures Schwiegervaters?«

Da lachte Klara Helmstede und schüttelte den Kopf. »Nein, diesen Brauch habe ich in die Ehe mitgebracht: Ein Säckchen, gefüllt mit Alraunenwurzeln. Das schützt mich.«

Hastig schlug ich das Kreuz. »Aber das ist Magie. Wenn nicht Hexerei!«, rief ich empört.

»Wollt Ihr mich nun bei Meister Philippe denunzieren?«, fragte die Reedersgattin spöttisch.

Ich rang nach Fassung. Wieso hatte dieses Weib keine Angst, keinen Respekt? Sie schien sich ihrer Sache vollkommen sicher zu sein. Doch war sie das nicht auch? Ich müsste sie in der Tat anzeigen, denn dies war die Pflicht eines jeden Christenmenschen und eines Inquisitors noch viel mehr. Nur wie hätte ich Meister Philippe erklären sollen, was ich allein in einer Stube mit einer ehrbaren Frau gemacht hatte? Mit der Gattin eines Mannes zudem, der möglicherweise in den Tod eines Mönches verstrickt war — eine Schandtat, die wir Inquisitoren aufzuklären hatten? Denunzierte ich Klara Helmstede, so würde ich mich selbst denunzieren. Also schwieg ich und blickte auf meinen Teller.

Die Speisen, die uns von der Magd aufgetischt worden waren, sahen verführerisch aus und so gab ich mich der Sünde der Völlerei hin. Jakobsmuscheln und helles Brot ließ ich mir zum weißen Burgunder munden, ich hatte dergleichen noch nie gekostet. Dann trug die Dienerin zarten Rinderbraten in dunkler Soße auf. Als ich den ersten Bissen genommen hatte, war mir, als brenne Feuer in meinem Mund — ein Feuer jedoch, das Zunge, Gaumen und Lippen wollüstig kitzelt, das aufflammt, lodert und vergeht mit einem Schluck. Tränen sprangen aus meinen Augen und doch war ich glücklich. »Das ist Pfeffer aus dem Land der Feinde Gottes«, bemerkte Klara Helmstede, die sich nicht einmal bemühte, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. »Mein Gatte lässt ihn aus Venedig kommen.«

»Pfeffer ist so kostbar, Ihr könntet ihn mit Gold aufwiegen«, keuchte ich, als ich wieder zu Atem gekommen war.

»Gold kann man nicht essen«, erwiderte die Reedersgattin und schenkte mir aus einem großen Zinnkrug kühles Starkbier ein. Ich wollte nur einen Schluck nehmen, doch der Pfeffer entzündete meinen Durst, sodass ich, kaum das ich mich versah, den Krug geleert hatte.

So aß ich das zarte Fleisch und trank das Bier aus Gerste und verbrannte mir den Mund an der dunklen Pfeffersoße. Später gab es Äpfel aus der Normandie, vom letzten Jahr zwar, doch kaum faltig und noch leidlich süß, dazu Honig und einen großen Krug Brombeerwein, der süßer noch war als die Frucht selbst und dunkel wie Blut.

In all der Zeit plauderte Klara Helmstede mit mir, der ich vor allem aß wie ein Verhungernder. Sie war freundlich, doch weiß ich heute nicht mehr zu sagen, über was sie eigentlich mit mir sprach. Erst nach dem Mahl, da ich meine Hände in Rosenwasser tunken durfte wie ein edler Herr und meinen Mund mit einem linnenen Tuch abwischte wie ein Kardinal, kam ich wieder zu mir. »Ich danke Euch für all diese Köstlichkeiten, Frau Helmstede«, so hub ich an, »doch nun verratet mir, seid so freundlich, was Ihr von der seltsamen Unglücksfahrt der Kogge wisst.«

»Verratet mir zunächst, warum Ihr so begierig seid, dies zu erfahren, Bruder Ranulf.«

Es lag mir schon auf der Zunge, ihr zu antworten, dass sich ein Inquisitor nicht rechtfertigen müsse, doch irgendeine Macht hinderte mich, diese Respekt heischenden Worte zu äußern. So erklärte ich ihr, dass Heinrich von Lübeck, wie sie sicherlich wisse, der Beichtvater des toten Kapitäns — ihres Schwagers — gewesen sei, und wir Inquisitoren müssten nun einmal allen Spuren nachgehen, so dunkel und abwegig sie auch erscheinen mögen. »Nun gut«, sagte die Reedersgattin schließlich, »ich erinnere mich noch genau an diese Fahrt, denn mein Gatte war natürlich aufs Höchste erregt, als er feststellte, dass sein Bruder nicht zurückkam.«

»Wann war das?«, fragte ich.

Klara Helmstede dachte einen Moment lang nach. »Die ›Kreuz der Trave‹ lief Anfang Mai des letzten Jahres aus Lübeck aus. Genau weiß ich dies nicht mehr zu sagen, denn zu diesem Zeitpunkt schien es ja noch eine normale Fahrt zu sein. Weder ich noch sonst jemand in unserem Hause machte sich Gedanken darüber. Doch aus dem Mai wurde Juni und aus dem Juni wurde Juli, und als dann immer noch kein Wort kam von der Kogge, da sandte mein Gatte Boten aus zu allen Häfen entlang der Nordsee und der Ostsee, bis nach England und nach Norwegen. Doch nirgends hatte jemand die ›Kreuz der Trave‹ gesehen. So gingen August und September dahin und wir gaben das Schiff und seine Besatzung verloren und ließen eine Messe lesen für den älteren Bruder meines Gatten und die Seeleute, die mit ihm gefahren waren.

Doch Anfang Oktober — es war der Tag des heiligen Franziskus, ich erinnere mich genau — schleppte sich die ›Kreuz der Trave‹ in den Hafen von Lübeck.

Man sah der Kogge an, dass sie eine lange Reise getan haben musste. Niemand war mehr an Bord, nur Otto Helmstede, mein Schwager, war noch am Leben — wenn auch bloß für wenige Stunden.«

»Habt Ihr noch mit ihm sprechen können?«, fragte ich. »Nein«, sie schüttelte den Kopf, »auch wenn ich dies gern getan hätte.« Aufrichtiges Bedauern schwang in ihrer Stimme mit. Ich wunderte mich, ob es der enttäuschten Neugier entsprang, nicht mehr von der rätselhaften Fahrt erfahren zu haben, oder ob sie in echter Anteilnahme um ihren Schwager trauerte.

»Otto Helmstede«, fuhr sie nach einer Pause mit ihrem Bericht fort, »lag am Heck zusammengesunken an der Steuerpinne, seine Hände waren fest ins Holz gekrallt. Seine Sinne waren fast geschwunden — doch noch war er so klar im Geiste, dass er jeden, der sich ihm nähern wollte, mit müder Geste und leisen, doch schrecklichen Verwünschungen fortscheuchte.

Nur Bruder Heinrich ließ er zu sich kommen. Der Mönch kniete neben meinem Schwager, flüsterte wohl eine halbe Stunde lang mit ihm, bis dem Kapitän die Sinne schwanden und er sein Leben in den Armen seines Beichtvaters aushauchte. Erst dann durfte ich hinzutreten und Bruder Heinrich bat einige Matrosen, den Leichnam meines Schwagers von Bord zu tragen.«

Klara Helmstede verstummte und starrte lange aus dem Fenster. »Wie auch immer«, sagte sie schließlich, als müsse sie sich zwingen, ihre abschweifenden Gedanken wieder auf unser Gespräch zu lenken, »ich bat Bruder Heinrich, mir Bericht zu erstatten, doch er verriet mir nicht, was ihm der sterbende Kapitän gesagt hatte. Dann ordnete ich an, die ›Kreuz der Trave‹ an einen abgelegenen Pier zu schleppen.«

»Ihr tatet dies?«, hakte ich verwundert nach.

Sie lachte. »Wer denn sonst? Mein Gatte war doch, wie er Euch sagte, nicht in Lübeck in jenen Tagen. Männer gehorchen meinen Worten, glaubt mir das, Bruder.« Wieder lachte sie und mir lief ein Schauder über den Rücken.

»Warum ließet Ihr die Kogge so rasch an einen abgelegenen Pier bringen?«, wollte ich wissen.

»Weil das Gerede anfing, kaum dass die ›Kreuz der Trave‹ im Hafen lag. Ein ›verhextes Schiff sei sie, sie habe den Teufel selbst an Bord gehabt — was ja vielleicht auch stimmte.«

Ich nahm gerade einen Schluck Brombeerwein, als Klara Helmstede dies fast gleichmütig sagte, und musste husten vor Überraschung. »Wieso glaubt Ihr das?«, keuchte ich. »Ich habe die Ladung gesehen«, gab sie zur Antwort. Ich hustete wieder. »Aber Euer Gatte und der Steuermann Gernot sagten, dass das Schiff nichts geladen hatte!«

Klara Helmstede schüttelte den Kopf. »Die beiden haben nichts gesehen, das ist etwas anderes. Die Kogge hatte fast nichts geladen. Ein paar Matrosen, die das steuerlose Schiff beim Einfahren in den Hafen geentert hatten, um es unter Kontrolle zu bringen, führten mich hinunter in den Frachtraum. Dort lag«, sie zögerte kurz, »ein Fell.«

»Ein Fell?«

»Ja, ein Fell. Ich kenne mich aus mit Pelzen, glaubt mir Bruder! Hermelin und Fuchs schmücken meine Gewänder. Ich dachte zunächst, dass dieses Fell, das übrigens stank wie Aas und Schwefel, einem Bären abgezogen worden sei. So groß war es und braun, wie es das der Bären aus den Pyrenäen und aus Polen ist. Doch, denkt Euch, am Fell hingen lange Beine — mit einem Huf. Und ein langer Schwanz. Und auf dem wuchtigen Kopf, da wuchsen zwei Hörner!« Ich schlug das Kreuz und schluckte. Auch die Stimme der Reedersgattin zitterte.

»Oh ja, es war, als habe jemand dem Leibhaftigen das Fell abgezogen! Die Matrosen flohen, als sie die Hörner und den Huf erkannten. Und ich«, ihre Stimme verlor sich. »Ich blieb unten, in jenem düsteren, stickigen Raum unter Deck, und betete. Da glaubte ich, eine Stimme zu vernehmen: ›Verbrenne es!‹, befahl sie mir.«

»Ihr habt das Fell verbrannt?«, fragte ich ungläubig. »Was hätte ich sonst tun sollen? Schon flogen Gerüchte durch die Gassen von Lübeck. Ich ließ eilig nach Bruder Heinrich schicken, der in die Kirche geeilt war, um eine neue Totenmesse - denn wir hatten ja schon vor langem eine abhalten lassen - vorzubereiten. Ich beriet mich mit ihm. Auch er glaubte, dass irgendwie - GOTT allein mag wissen, wie - ein Wesen der Finsternis an Bord gekommen sein muss.

Er befahl also auf der Stelle einigen Matrosen, noch am Pier einen Scheiterhaufen aufzuschichten. Da die Männer ihn liebten und fürchteten, überwanden sie ihre Angst, schleppten das scheußliche Fell hinaus und warfen es in die lodernden Flammen. Hinterher schworen alle, die dabei gewesen waren, dass sie eine schwärzliche Seele gesehen hatten, die schreiend aus den Flammen stob und in einer Spalte der Erde verschwand.

Ich habe meinem Gatten nichts davon erzählt. Ich wollte nicht, dass ihm noch mehr Schmerzen zugefügt werden, als er sie durch den Tod seines Bruders sowieso schon erdulden musste. Mag sein, dass er später trotzdem von der Geschichte erfahren hat. Die Seeleute haben sie sicherlich herumerzählt. Wir beide haben darüber jedoch nie ein Wort verloren.«

Wie betäubt saß ich da. Ich sollte fieberhaft nachdenken, doch irgendwie wollte es mir nicht gelingen, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

»Gab es noch eine andere Fracht?«, fragte ich schließlich, da mir nichts Besseres einfiel.

»Nein«, Klara Helmstede schüttelte den Kopf. »Das heißt, doch, ja, es gab da noch ein paar Säcke mit einem seltsamen Getreide. Einem Korn, so groß wie Erbsen, doch fahl und hart und ungenießbar. Wir warfen es auch ins Feuer, wie auch einige Lumpen und Papiere, die im Achterschiff verstreut herumlagen.«

»Sonst nichts?«

»Nichts.«

Ich starrte lange auf den Tisch und dachte nach. »Ich mag nicht glauben, dass die ›Kreuz der Trave‹ in die Hölle gefahren ist. Denn wäre es so gewesen, Satan hätte sie niemals mehr freigegeben«, murmelte ich. »Wenn sie allerdings auch nicht in einem Hafen der nordischen Länder der Christenheit war, wo war die Kogge dann all die Monate?«

»Ihr glaubt, dass Bruder Heinrich deshalb umgebracht worden ist, weil er von meinem Schwager, dem sterbenden Kapitän, das Ziel der Reise erfahren hat?«, fragte Klara Helmstede. »Aber vielleicht ist das alles nur ein tragischer Zufall und mein Gatte und seine Kogge haben nichts mit jener Untat zu schaffen.«

»Das mag wohl sein«, gab ich zu, doch ich erinnerte mich an die Nachricht, welche mir die Tochter des Geldwechsler zugesteckt hatte. Ich war leider nicht sehr geschickt darin, ein Gespräch zu führen - und bin es auch heute noch nicht —, schon gar nicht mit einer Frau wie Klara Helmstede, die einem die Sinne und den Geist verwirrte. So fiel mir denn keine unauffällige Äußerung ein, mit der ich unserer Unterhaltung eine neue Wendung hätte geben können. Stattdessen fragte ich schließlich rundheraus, auch wenn es grob war: »Hat Euer Gatte etwas mit den Juden von Lübeck zu schaffen? Gar mit ihrem Rabbiner?«

Aus den Augen der Reedersgattin schössen Blitze zu mir und einen Moment lang glaubte ich, sie würde mir einen Teller ins Gesicht schleudern oder meine Wange mit ihren langen, wohlgepflegten Fingernägeln zerkratzen.

»Seid Ihr von Sinnen, Bruder Ranulf? Wir sind gute Christen«, rief sie empört.

Dann jedoch stockten ihr die Worte. Sie dachte nach — und urplötzlich änderte sich, ich vermag es nicht anders zu beschreiben, das Blitzen ihrer Augen. Und ich, Narr, der ich war, sonnte mich auf einmal in ihrer Bewunderung. Sie, die mich stets mit einer Spur Hochmut behandelt hatte, dachte nun nicht mehr an Spott. »Jetzt weiß ich, Bruder Ranulf, warum Meister Philippe Euch zum Gehilfen erkor. Ihr werdet einen guten Inquisitor abgeben, nein, Ihr seid es schon!«, rief sie aus.

In gespielter Demut neigte ich mein Haupt, um meinen Hochmut zu verbergen - und meine Verlegenheit. Zwar schmeichelte mir die überraschende Bewunderung dieser Frau, doch warum sie meine so plumpe Frage dermaßen in Erregung versetzte - das wiederum vermochte ich nicht zu ergründen. Doch ich musste nicht lange auf die Aufklärung dieses Rätsels warten.

»Seekarten!«, rief sie nun. »Ihr spielt darauf an, Bruder Ranulf. Ja«, sie nickte, während sie weitersprach, »mein Gatte vertraut diesen neumodischen Dingen mehr als der überlieferten und erprobten Tradition und er befiehlt auch seinen Kapitänen, es so zu halten.« Ich blickte sie fragend an, doch verzichtete ich klugerweise darauf, etwas zu sagen.

»Wisst Ihr, Bruder Ranulf, wie ein Kapitän seinen Kurs findet?« Ich schüttelte den Kopf und schwieg.

»Es ist ein Ding der Erfahrung, der langen Jahre auf See, der unzähligen Fahrten entlang der Küsten. Irgendwann kennt ein Seemann — ein guter Seemann zumindest, einer, der das Zeug hat zum Kapitän - alle diese Küsten. Kennt jeden Hügel und jede Windmühle, jede Kirchturmspitze und jede Halbinsel, hat Tausende und Abertausende Ellen Küstenlinie im Kopf. Ein Blick genügt ihm und er weiß, wo er ist, bei Tag und selbst bei Nacht - vorausgesetzt, dass der Mond ein wenig Licht spendet.«

»Und wenn er einen entfernten Hafen ansteuern muss? Oder ihn ein ungünstiger Wind forttreibt? Was macht ein Kapitän, wenn die Küste hinter dem Horizont versunken ist?«

»Der Kapitän sieht auf das Wasser«, antwortete die Reedersgattin, die offenbar nicht nur in Dingen des Geldes mehr wusste, als einem Weibe anstand. »Mancherorts ist das Wasser tiefblau wie Eisen, andernorts schwarz oder grün oder braun wie eine helle Soße. Oft lässt er auch das Senkblei werfen. Das Meer, das uns doch immer gleich scheint, ist in Wahrheit an manchen Stellen bloß einige Klafter tief, an anderen hingegen Hunderte. Kennt ein Kapitän die Farbe und die Tiefe des Wassers, so mag er schon wissen, wo er sich befindet. Reicht ihm dies nicht, müssen ein paar Matrosen mit einem kleinen Eimer, der an ein festes Tau gebunden ist, Meeresgrund nach oben schöpfen. Denn mancherorts liegt gelber Sand in der Tiefe, an anderen Stellen ist es weißer, an wieder anderen Stellen sind es Steine oder schwarzer Schlamm oder brauner.«

»Also müssen Eure Kapitäne, Frau Helmstede, nicht nur die Küsten der Meere kennen, sondern auch ihren verborgenen Grund und die Farbe ihres Wassers.«

»Ja, und genau das plagt meinen Gatten: Denn um ein guter Kapitän zu werden, muss man jahrelang zur See gefahren sein. Wir jedoch handeln mit Hamburg und Bergen, mit Brügge, Stockholm, London, mit Danzig und Riga und mehr Häfen, als ich aufzuzählen vermag. Jahr für Jahr werden die Fässer, Säcke und Ballen, die unsere Koggen transportieren, zahlreicher und größer. Wir schicken Schiffe hinaus, mehr und immer mehr.«

»Das wird gut sein für das Geschäft«, warf ich ein und dachte in jenem Augenblick an die Münzen, die wir bei meinem toten Mitbruder gefunden hatten.

»Ja«, sagte Klara Helmstede, die kaum auf meinen Einwurf geachtet zu haben schien. »Gulden füllen unsere Kasse. Mit Gulden kann man neue Schiffe auf Kiel legen lassen und Seeleute anheuern, auf dass sie diese Schiffe auch bemannen. Aber Kapitäne? Die kann man sich nicht einfach kaufen: Es gibt nur wenige, denn Jahre dauert die Ausbildung, und auch von jenen, die diese lange Zeit zur See gefahren sind, sind viele nicht gut genug, um ein ganzes Meer in ihr Gedächtnis zu zwingen.

Also sann mein Gatte darüber nach, wie wir schneller Kapitäne ausbilden könnten. Es muss, so glaubt er, eine Möglichkeit geben, guten, wenn auch noch relativ unerfahrenen Männern ein Mittel an die Hand zu geben, auf dass sie die Häfen finden, die sie ansteuern sollen. Da hörte er von neuen Karten, die in Italien und Spanien gezeichnet werden. Von Seekarten.«

»Seekarten?«

Sie lächelte mich an. »Bruder Ranulf, ihr seid gelehrt. Ihr wisst, dass Jerusalem der Mittelpunkt des Erdenrundes ist. Doch zeichnet man unsere Welt mit der Heiligen Stadt im Zentrum, dann, so erinnert Euch, sind Nord- und Ostsee kaum mehr als blaue Tintenkleckse irgendwo am linken Rand der Weltenscheibe. Das ist so, denn es ist GOTTES Wille, dass sie unbedeutende Meere nur sind. Doch einem Kapitän, der auf diesen vielleicht unbedeutenden, doch stürmischen und gefährlichen Meeren fährt, dem nützt eine Karte wenig, wie sie wohl einem Mönch im Kloster gefiele. Was soll ein Seemann, der von Lübeck über die Ostsee bis Gotland segelt, mit einer Karte anfangen, welche alle Straßen um Jerusalem zeigt und alle Burgen der Kreuzritter im Heiligen Land und die Mauern von Rom und wohl auch noch die Kirchen von Paris — aber nicht eine einzige Insel in der Ostsee?

So sind einige Gelehrte aus Genua, die ein ähnliches Problem plagt, wiewohl sie das Mittelmeer befahren, als Erste auf die Idee gekommen, Karten zu zeichnen, die nichts anderes zeigen als die Küsten eines Meeres sowie alle Häfen, Inseln und sogar tückische Riffe und Sandbänke.

Mit ihnen - sofern man sie zu lesen versteht, doch das lernt sich recht schnell — ist es nun nicht mehr notwendig, alle Küsten im Kopf zu haben. Man kann ja nachsehen, wo jener Hügel liegt, den man gerade erblickt hat, oder dieser Kirchturm. Ist er noch zehn Meilen von meinem Hafen entfernt oder gar einhundert? Auch dies muss man sich nicht länger merken — ein Blick auf die Karte genügt, dann kennt man die Distanz.

Das, was die Italiener seit einigen Jahren umtreibt, ist keine geheime Kunst. So haben es die Spanier von ihnen gelernt und haben nicht nur das Mittelmeer gezeichnet, sondern auch den jenseitigen, großen Ozean sowie das Meer zum Norden, zwischen Frankreich und England, weil auch dort ihre Schiffe kreuzen. Und dann haben sie einfach weitergemacht - da Männer wie mein Gatte den Wert dieser Karten erkannt haben und ihnen gutes Geld dafür bieten. Wir haben selbst einige unserer erfahrensten Kapitäne nach Barcelona und Sevilla geschickt und sogar auf die Insel Mallorca, wo die besten Kartografen arbeiten. Unsere Schiffsführer haben alles berichtet, was sie von der Ostsee und der Nordsee wissen - und sie sind mit Karten zurückgekehrt, auf denen Ihr genau sehen könnt, wie Ihr Euren Kurs abzustecken habt, wollt Ihr von Lübeck nach Gotland segeln.« Endlich dämmerte es mir, warum mich Klara Helmstede so bewundernd angestarrt hatte. »Diese spanischen Kartenzeichner«, hub ich an, »sind Juden?«

»Sie verstehen sich aufs Zeichnen besser als so manche Christen, die einfach nicht einsehen wollen, warum wir Jerusalem nicht in der Mitte unserer Karte haben wollen.«

»Es riecht nach Ketzerei«, flüsterte ich.

Klara Helmstede lachte. »Das mag sein, Bruder Ranulf. Deshalb ist es den Juden, deren Seelen sowieso verdammt sind, vielleicht gleichgültig. Mein Mann denkt zumindest in diesem einen Punkt genauso wie die Juden: Wenn es einem Kapitän hilft, seinen Hafen zu finden, dann kann es keine Sünde sein.«

»Kennt Ihr die jüdischen Zeichner aus Spanien?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nie einen zu Gesicht bekommen, doch Namen habe ich schon gehört. Mein Gatte sprach bewundernd von einem Meister mit Namen Angelino Dulcert aus Mallorca. Und von einem Abraham Cresques, einem jungen Mann, der mit feinem Strich arbeitet.«

»Habt Ihr von einem Nechenja ben Isaak gehört?« Ich wagte kaum, diese Frage zu stellen.

Klara Helmstede dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, nie. Wer soll das sein?«

»Das ist gleichgültig. Es war nur so ein Gedanke«, antwortete ich rasch und bemühte mich, meine Stimme nicht allzu enttäuscht klingen zu lassen.

Klara Helmstede musterte mich aufmerksam. »Bruder Ranulf, darf ich zur Abwechslung auch an Euch eine Frage stellen?« Ich machte eine vage Geste. »Stellt Eure Frage, Frau Helmstede.«

»Wohin will mein Gatte reisen?«

Verblüfft starrte ich sie an. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich verstanden hatte, was sie von mir wissen wollte. »Ich dachte, das könntet Ihr mir erklären!«, rief ich dann.

Da lachte Klara Helmstede. »Mein Gatte ist in den letzten Tagen ständig in Paris unterwegs. Ich weiß nicht, was er tut, oder wo er hingeht. Selbstverständlich sehe ich, dass die ›Kreuz der Trave‹ für eine Fahrt bereit gemacht wird - für eine sehr lange Fahrt, wie mir scheint-, doch mein Gatte redet nicht mit mir darüber. Ich kenne nicht einmal den Tag unserer Abreise, auch wenn ich vermute, dass er nicht mehr allzu fern ist.«

Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich muss Euch gestehen, dass ich in diesen Dingen um nichts klüger bin als Ihr«, antwortete ich betrübt. »Warum glaubt Ihr, dass er nicht einfach nach Lübeck zurückkehren will?«

»Wir laden mehr Vorräte, als wir für eine solche Reise eigentlich an Bord haben müssten. Wir könnten doch unterwegs in vielen Häfen anlegen, um Wasser und Speisen aufzunehmen, so wie wir es auf der Hinfahrt auch getan haben.«

»Das könntet Ihr nicht, Frau Helmstede«, sagte ich. »Die Seuche, von der alle Menschen sprechen, wütet in Frankreich und in vielen anderen Ländern der Christenheit. Vielleicht erscheint es Eurem Gatten da sicherer, Paris zu verlassen und nirgendwo anzulegen, bis Ihr Lübeck erreicht habt.«

Und, doch das verriet ich der Reedersgattin nicht, schneller war es obendrein: Bereitete Richard Helmstede seine Flucht vor? Fürchtete er Verfolger, die ihn in einem Hafen einholen und stellen könnten? Würde er sich überhaupt nach Norden wenden, nach Lübeck? Wer könnte ihn, hätte er erst einmal die hohe See erreicht, daran hindern, gen Süden zu segeln? Nach Spanien etwa, zu den jüdischen Kartografen? Würden ausgerechnet Juden, die ketzerische Seekarten zeichneten, einen Mann - und guten Kunden - wie Richard Helmstede an die Inquisition verraten?

Mir schwindelte bei diesen Gedanken und ich griff nach dem Wein, den Klara Helmstede mir bereitwillig reichte. Sie schien erleichtert zu sein.

»Ich danke Euch, Bruder Ranulf«, sagte sie freundlich. »Nie zuvor ist ein Kapitän von Frankreich bis nach Lübeck — oder irgendeinen anderen Ostseehafen - gesegelt, ohne unterwegs gar manchen Hafen anzulaufen. Deshalb habe ich an eine solche Möglichkeit gar nicht gedacht. Sicherlich will mein Gatte die ›Kreuz der Trave‹ ungestört nach Lübeck bringen, auch wenn ich noch immer nicht zu sagen vermag, warum er dann mir gegenüber so verschlossen ist. Ich hatte bislang, zumal er so schweigsam war, befürchtet, er könnte«, sie schien einen Augenblick lang nach den richtigen Worten zu suchen, »nun, um es frank und frei zu sagen: Ich hatte Angst, dass mein Mann dorthin reisen will, wohin auch sein Bruder gereist ist. Zum Land der Teufel.«

Ich verschluckte mich am Wein und hustete. »Selbst wenn es ein solches Land gäbe — und warum sollte GOTT dies zulassen? —, so wüsste Euer Gatte doch nicht, wo es liegt.«

»Bruder Heinrich hätte es ihm sagen können«, antwortete Klara Helmstede knapp.

»Er hat dem sterbenden Kapitän die Beichte abgenommen!«, rief ich empört. »Niemals würde ein Dominikaner das Beichtgeheimnis verletzten, schon gar nicht …« Ich verstummte.

»Schon gar nicht einem Laien gegenüber, der zudem bloß ein Krämer ist«, vollendete die Reedersgattin und lachte. »Da habt Ihr wohl recht gesprochen, Bruder Ranulfl Ich danke Euch noch einmal. Ihr habt eine große Last von meiner Seele genommen, die mich all die letzten Tage bedrückte. Doch nun glaube ich, dass mein Gatte nicht finsteren Ländern entgegensteuern will, sondern, im Gegenteil, meiner Heimatstadt. In den nächsten Wochen oder vielleicht nur Tagen werden wir Paris verlassen.«

Ich sagte nichts dazu und neigte nur leicht mein Haupt. So sicher war ich mir nicht, dass Richard Helmstede bald aus der Stadt verschwinden konnte. Ich würde mit Meister Philippe reden müssen. Außerdem, auch wenn ich mich verzweifelt bemühte, nicht daran zu denken, versetzte es meinem Herzen doch einen Stich, wenn ich mir vorstellte, dass ich Klara Helmstede womöglich niemals mehr wiedersehen würde.

Vielleicht war es dieser Trübsinn, vielleicht war es auch der Wein — ich war jedenfalls nicht so wachsam, wie es einem Mönch doch gerade in Gegenwart eines Weibes geziemt.

Klara Helmstede erhob sich vom Tisch, zum Zeichen dafür, dass das Mahl beendet sei. Hastig sprang auch ich auf und wollte schon Abschiedsworte murmeln, da neigte die Reedersgattin leicht das Haupt. »Erlaubt Ihr, Bruder Ranulf, dass ich Euch ein Stück weit des Weges zurück zum Kloster begleite?«

Als sie meinen entsetzten Blick sah, hob sie die Hände und lachte. »Oh, seid unbesorgt! Meine Dienerin wird uns weite Umhänge bringen, niemand soll uns erkennen. Ich werde Euch nicht lange begleiten, vielleicht nur bis zum Ende des Katzenmarktes. Ich glaube nur, dass ich noch einmal aus den Mauern dieses Hauses entkommen, dass ich die frische Luft - und seien es nur die Ausdünstungen der Stadt - atmen muss, bevor die Nacht anbricht. So befreit fühle ich mich jetzt, da ich glaube, das Ziel unserer baldigen Abreise zu kennen!« Und ich? In meiner Seele regte sich kein Widerspruch, nicht ein abweisendes Wort kam über meine Lippen. Nein, im Gegenteil: Ich verneigte mich, murmelte meinen Dank und sagte, wie sehr ich mich freue, dass sie noch einige Schritte an meiner Seite gehen wolle. So kam es, dass die Dienerin, die mich nicht anblicken mochte, mir mit gesenktem Haupt einen weiten, grauen Umhang reichte, der meinen Mönchshabit vollkommen verbarg. Einen ebensolchen Umhang warf sich Klara Helmstede über, sodass man in ihr, sah man nicht allzu genau auf den Gang, nicht einmal eine Frau erkennen konnte. Wie zwei graue Schatten glitten wir aus dem Haus. Hinein in eine Nacht der Feuer.

*

Erst vor dem Haus fiel mir wieder ein, dass nun die Johannisnacht anbrach. Wobei »Nacht« noch nicht das richtige Wort war für jenen sommerlichen Dämmerzustand, da die Sonne zwar nicht mehr am Himmel stand, die Dunkelheit sich jedoch noch nicht einstellen wollte. Schwer und feucht stand die Luft in den Gassen und Straßen. Blassblau war der Himmel, wie ein verwaschenes Gewand. Schwärzliche und gräuliche Schwaden durchzogen ihn, denn überall loderten bereits die Feuer auf: In den Gassen, auf den Plätzen, an den Ufern der Seine, ja auf den Brücken selbst, obzwar diese aus Eichenbalken gezimmert waren, standen hoch aufgerichtete Scheiterhaufen. Auch auf dem Katzenplatz leckten die ersten Lohen an Reisig und Holz, als Klara Helmstede und ich das »Haus zum Hahn« verließen. »Lasst uns näher zum Feuer gehen, Bruder Ranulf, ich bitte Euch!«, rief die Reedersgattin. Und wahrhaftig, sie fasste meine Hand und zog mich mit. Welche sündige Wonne es war, ihre Hand in der meinen zu spüren!

Niemand achtete unser. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich so viele Menschen auf einem so engen Platz zusammengedrängt gesehen, wie in jener vom Gewitter bedrohten Nacht auf dem Katzenplatz hinter Les Halles in Paris. Die Bürger der Stadt waren wohl alle auf den Beinen, dazu Bauern aus dem Umland, fahrendes Volk und unzählige Flüchtlinge aus allen Städten und Provinzen des Reiches. Wir drängten uns an lachenden Männern und Frauen vorbei, an kreischenden Kindern und kläffenden Hunden. Es war, als habe jedermann beschlossen, in der Johannisnacht nicht an die Seuche zu denken, die irgendwo jenseits der Stadtmauern auf uns Sünder lauerte. Ich roch Ochsenbraten, heißes Fett und warmes Brot und die Weinschläuche kreisten von Mund zu Mund. Ich schloss meine Hand fester um die von Klara Helmstede.

So gelangten wir denn tatsächlich bis an den Rand des größten Holzstoßes, der sich mitten auf dem Platz erhob. Heiß waren die Flammen, rot und gelb loderten sie hoch, fast bis zu den Dachfirsten der Häuser am Rande. Funken stoben wie leuchtende Gespenster durch die Luft und erloschen mitten im Flug. Das Holz knackste und ächzte, als würde ein schwerer Sturm durch einen alten, müden Wald fahren.

Ein paar Vaganten spielten mit Fidel, Laute und Schalmei auf. Ich blickte mich flüchtig um, ob ich wohl die mächtige Gestalt des Pierre de Grande-Rue ausmachen könnte, doch sah ich niemanden, der ihm ähneln mochte. Die lustigen Weisen vermischten sich mit dem Prasseln des Feuers, mit den Rufen und Gesängen der Feiernden. Mir schwindelte.

Ich weiß nicht, wie lange Klara Helmstede und ich dort standen am Rande des Feuers, das brannte und brannte und doch das Holz nicht zu verzehren schien. Immer lauter wurden Musik und Geschrei, immer dunkler wurde der Katzenplatz, denn endlich kam die Nacht über die Stadt wie ein heimlicher Besucher und legte ein schwarzes Tuch über die Dächer von Paris — ein Tuch, in das unzählige Scheiterhaufen rote Löcher hineinbrannten.

Plötzlich kam von irgendwoher wie ein Windhauch, der an einem Sommertag die Oberfläche eines stillen Sees kräuselt, Bewegung in die Menge, die dicht gedrängt am Feuer stand. Lauter spielte nun die Musik und schneller, immer schneller. Und dann tanzten die Menschen. Zuerst waren es nur einige Männer und Frauen, die sich die Arme um die Schultern legten und einen kleinen Kreis formten. Dann wurden es mehr und immer mehr. Auch ich spürte an meiner rechten Schulter plötzlich einen fremden, weichen Arm mit duftender Haut: Es war eine Magd oder Bäuerin, nicht mehr jung, doch fröhlich und mit erhitztem Gesicht. Sie wollte tanzen, doch blickte sie mich kaum an, war vielleicht auch schon verwirrt vom Wein, sodass sie selbst dann nicht den Mönch in mir erkannte, da sie sich an mich drückte. Da legte Klara Helmstede ihren Arm um meine andere Schulter und lachte hell. Ihren zweiten Arm hatte sie um einen jungen Burschen in einem roten Wams geschlungen.

So fand ich mich, der Dominikaner und Gehilfe eines Inquisitors, auf einmal gefangen in einem wilden Reigen. Nach rechts tanzte die Menge, dann nach links, dann wieder nach rechts. Große, wogende Kreise bildeten die Menschen um das Feuer und sangen Weisen, deren wilde Worte ich nie zuvor vernommen hatte. Sie dünkten mir wolllüstig, sündig, ja heidnisch - und doch berauschte ich mich am Wogen der Leiber, am Gesang, an der wilden Musik, am Feuer. Tanzen konnte ich nicht, doch stolperte ich mit, mal ein paar Schritte nach rechts, dann wieder einige Schritte nach links, hin und her, hin und her, bis ich nicht mehr wusste, wo ich eigentlich war. Mein einziger Halt war der warme, anschmiegsame Körper der Reedersgattin, die ich nun fest im Arm hielt. Aus dem Schreien und Toben und Singen hörte ich stets das helle Lachen von Klara Helmstede heraus. Schließlich, es mag wohl schon zur elften Stunde gewesen sein, drängten wir uns hinaus aus dem tobenden Reigen der Feiernden. Ich vermag heute nicht mehr zu sagen, wie dies vor sich gegangen sein mag. Klara Helmstede und ich sprachen kein Wort miteinander - dazu war es auch viel zu laut -, doch wie durch einen geheimnisvollen Zauber wussten wir beide, dass es nun genug war mit Tanz und Musik. Wir strebten vom Katzenmarkt Richtung Les Halles und ich, verblendeter Narr, der ich war, glaubte, dass mich die Reedersgattin nun vielleicht doch bis zum Ufer der Seine begleiten und mir dann Lebwohl sagen würde. Schon der Gedanke, dass ich noch einige Schritte an ihrer Seite gehen durfte, machte mich glücklich und trunken. Doch ihr Sinn stand nicht nach einem nächtlichen Spaziergang. Als wir bei Les Halles waren, fasste mich Klara Helmstede bei der Hand und zog mich mit erstaunlicher Kraft in eine Sackgasse, die einige Schritte vom Marktplatz wegführte.

Auch bei Les Halles brannten hohe Feuer, doch ihr Lichtschein drang nur noch als rötliches Glimmen zwischen die Hauswände, welche die Gasse umschlossen. Ich erkannte, dass es fensterlose Speicher waren, deren Ziegelwände links und rechts und am Ende der Gasse fast bis zum Nachthimmel aufragten wie die Mauern einer Festung. Noch schwerer und feuchter schien mir die Luft hier zu drücken, ich glaubte, im Schacht eines großen Brunnens zu stehen. Wir waren nicht allein. Über die Musik der Spielleute und die Lieder der Tanzenden, die von Ferne zu uns hinüberwehten, hörte ich ein Wispern und Flüstern, ein Stöhnen und Stammeln, wie ich es nie zuvor vernommen hatte. Erschrocken blickte ich mich um: Die Laute schienen aus den fensterlosen Mauern selbst zu dringen. Ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich gewahr wurde, dass die nächtlichen Stimmen nicht den Ziegeln entsprangen. Vor den Wänden, fast ganz verborgen im Schatten, erkannte ich zwei schemenhafte Gestalten, verschlungen in einem Ringen, von dem ich glaubte, dass es ein Kampf auf Leben und Tod sein müsse. Erschrocken wollte ich zurückweichen, doch dann erkannte ich, dass da nicht einer dem anderen an die Gurgel fassen wollte. Es war die Umarmung der Wollust, in der die beiden vereint waren — so vereint in ihrem sündigen Treiben, dass sie uns nicht einmal bemerkt hatten.

Als ich endlich verstanden hatte, was die beiden Unbekannten da taten, war ich noch erschrockener, als hätten sie miteinander gekämpft. Jetzt erst begriff ich, warum mich Klara Helmstede hier hineingezogen hatte.

Ich blickte sie an und sie musste wohl in meinem Gesicht den Ausdruck der Furcht gelesen haben. Sie hielt einen Finger an die Lippen und bedeutete mir so, zu schweigen. Dann drängte sie mich tiefer hinein bis ans Ende der Sackgasse.

Was sollte ich tun? Klara Helmstede stand zwischen mir und dem Ausgang der Gasse auf den Platz. Mein Mund war trocken, meine Hände zitterten, meine Beine wollten sich nicht rühren.

Sie warf mit einer achtlosen Geste den Umhang ab. Ihr blondes Haar hatte sich gelöst und floss nun auf ihre Schultern - zwei im Schimmer der fernen Johannisfeuer rötlich leuchtende Schleier, die ihr Gesicht umspielten. Klara Helmstede kam mir ganz nah und flüsterte: »Bruder Ranulf, wisst Ihr es nicht, obzwar Ihr doch so gelehrt seid? Das Gebot der Keuschheit gilt nicht in der Johannisnacht!«

*

Noch heute zittert meine Hand, da ich die Erinnerung an jene Nacht niederschreibe. An jene Nacht, da ich, hingesunken im Schmutz der Gosse, von Klara Helmstede lernte, welche Macht doch das Weib über den Mann hat. Oh ja, sie war erfahren in den Künsten der Lust und ich ergab mich ihren Küssen, wie ich mich nie zuvor einem Menschen ergeben hatte. Sie lehrte mich, dass es auch in dieser Welt einen Garten Eden gibt — und dass er nicht in fernen Ländern zu finden sei, sondern in der Umarmung einer Frau. Sie lehrte mich, dass man sündigen konnte, ohne auch nur an die Sünde zu denken, ohne Gewissensqualen und Not. Sie lehrte mich, dass ich bis zu jener Nacht nichts gewusst hatte vom Leben der Menschen, ja, dass ich mich nicht einmal selbst gekannt hatte.

Wir tranken einander wie zwei Verdurstende. Wir umklammerten uns wie zwei Ertrinkende. Ich atmete den süßen Duft ihrer Haut ein, Rosenwasser und Schweiß.

Ich weiß nicht, wie lange wir so beieinander lagen, die Welt vergessend und vergessen von der Welt. Wir sprachen nicht mit Worten, sondern nur mit unseren Händen, mit denen wir unsere Leiber umfassten.

Irgendwann lagen wir Seite an Seite auf dem Straßenpflaster. Die Steine kühlten meine glänzende Haut, doch ich fröstelte nicht. Oben am schwarzen Nachthimmel war, im Rahmen der Hauswände, ein einziger Stern aufgegangen.

Dann spürte ich, wie sich Klara schweigend erhob. Rasch suchte sie ihre Kleider zusammen und streifte sie sich über. Ich wagte nicht, mich zu regen - aus Angst, irgendeinen Zauber zu zerstören. Erst als sie alle Gewänder angelegt und sich sogar den weiten Umhang übergeworfen hatte, richtete ich mich auf.

Sie beugte sich zu mir hinunter und küsste mich. Dann hauchte sie: »Ich werde dir eine Nachricht senden, wann und wo wir uns wiedersehen können, mein Geliebter.« Klara drehte sich um und eilte aus der Gasse.

Ich blickte ihr nach. Im rötlichen Schein der Johannisfeuer war sie wie eine Spukgestalt, die plötzlich vom Erdboden verschwand.

*

Ich lag noch eine Weile regungslos da und dachte an nichts. Doch nein, ich will nicht lügen: Ich erinnerte mich an Klaras Liebkosungen, ich formte mit meinen Händen ihren Körper nach, den ich vor kurzem noch umfasst hatte. Ich hatte eine Todsünde begangen — und doch reute mich nichts, nichts, nichts. Und so, als predigte ich zu mir selbst, sprach ich im Geiste die Worte aus der Heiligen Schrift: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.« Später warf ich meine Gewänder über, auch den grauen Umhang, den Klara mir gegeben hatte. Als ich aus der Sackgasse schlich, warf ich einen verstohlenen Blick auf jene Stelle an der Mauer, an der sich das andere Paar in Wollust umschlungen gehalten hatte, doch war das Straßenpflaster leer.

Als ich den Platz von Les Halles betrat, blieb ich erschrocken stehen. Noch immer loderten die Feuer hoch, ja höher vielleicht noch als zuvor. Wilder auch schien mir der Reigen der Tanzenden zu sein, lauter und stampfender die Musik der Vaganten. Ich wusste kaum, wohin ich meinen schamhaften Blick wenden sollte, denn viele Weiber und Männer hatten sich schon der Wollust ergeben. Doch hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, sich in den Schatten der Gassen zu verstecken. Sie frönten ihrer Lust vielmehr dort, wo sie gerade niedergesunken waren, mitten auf dem Platz und auf den größeren Straßen, die zu ihm führten. Neben den Unzüchtigen lagen Gestalten, die vom Wein niedergestreckt worden waren. Durch ihr Erbrochenes wateten Straßenhunde und Schweine und schleckten es auf. Ich schlug mir den Umhang vor das Gesicht. Der Rausch der Liebe war verflogen und auch die Sinnesverwirrung, welche der Wein in mir verursacht hatte. Ich wollte zurück ins Kloster - wenn ich auch nicht wusste, wie ich es bewerkstelligen sollte, unbemerkt in meine Zelle zu gelangen.

Durch Seitengassen entkam ich den Johannisfeuern und den Tanzenden bis zur Seine. Am morastigen Ufer sah ich mich um. Einige hundert Schritt entfernt brannten die Feuer auch hier. Doch dort, wo ich mich befand, war es düster und still. Ich hatte gehofft, dass endlich ein Regenguss die schwüle Luft klären würde — und auch mich reinigte, der ich den süßen Duft der Reedersgattin auf der Haut trug. Zwar grollte Donner in der Ferne, es leuchtete fahl am Himmel, doch gewittern wollte es nicht. Also entledigte ich mich an jener dunklen Stelle meiner Gewänder, taumelte vorsichtig einige Schritte am abfallenden Grund hinein in den Fluss und tauchte meinen Leib unter. Schaudernd, doch zugleich erfrischt und zumindest am Leib, wiewohl nicht an der Seele, gereinigt, schlich ich anschließend zurück. Meine Müdigkeit war verflogen. Ich kleidete mich an. Dann rannte ich über den Grand Pont, wo auch ein Feuer leuchtete und viele Menschen sangen und tanzten. Niemand achtete auf mich - glaubte ich wenigstens. So gelangte ich unbehelligt auf die Ile de la Cite. Ich wollte über den Platz vor Notre-Dame hasten, der still und leer dalag, da die Domherren im Angesicht der Kathedrale keine Feiern duldeten, als ich plötzlich stehen blieb.

Ein schwerer Donner rollte über Paris, so wuchtig, dass ich glaubte, die Mauern der Häuser zittern zu sehen.

Doch das war es nicht. Verwundert blickte ich mich um. Irgendetwas war anders als sonst. Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte. Ich starrte auf die dunklen Häuserzeilen, hinter denen die Feuer aufleuchteten. Ich blickte zurück auf den Grand Pont. Wieder rollte ein Donner heran, noch erschütternder als der zuvor. Dann zuckte ein Blitz über den Himmel, als wäre das Gewölbe, das sich über die Weltenscheibe spannt, mit Riesenhand gespalten worden. Da entdeckte ich es: Notre-Dame!

Im rechten Turm, ganz oben, direkt unter der wuchtigen Spitze, die eher einem Burgturm zugehörig schien, denn einem Hause GOTTES, flackerte ein gelbliches Licht. Einen Augenblick glaubte ich, dass es vielleicht der Widerschein irgendeines der unzähligen Johannisfeuer sei, doch dafür war dieses Leuchten, wiewohl schwach, trotzdem zu hell und gleichmäßig. Dort oben leuchtete eine Kerze. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Wer mochte um diese Stunde oben im Turm sein? Noch dazu in der Johannisnacht? Warum sollte jemand dort oben sein? Und — ich erschauderte - war derjenige, wer immer es sein mochte, womöglich nicht nur in dieser Nacht auf dem Turm der Kathedrale? Vielleicht hatte er schon manche Nacht so zugebracht? Vielleicht auch die Nacht, da Heinrich von Lübeck ermordet wurde? Müsste man von dort oben denn nicht hinunterblicken können bis vor das Portal, wo die Untat verübt wurde? Ich schwankte, ob ich zur Kirche schleichen sollte. Da rollte wieder der Donner heran, gefolgt von einem Blitz, der ein feuriges Netz auf das Firmament zauberte, bevor er erlosch. Bevor er erlosch …

Im wirren Licht des Blitzes sah ich, dass ich nicht mehr allein war auf dem Platz vor Notre-Dame.

Der Schattenmann war da. Der Unbekannte, von dem Jacquette mir erzählt hatte.

Satan.

Das fahle Licht im Turm zu Notre-Dame bekümmerte mich nicht mehr. Ich dachte nur noch an die Todsünde, die ich kurz zuvor mit Klara Helmstede begangen hatte. Ich fürchtete, dass der Antichrist mich nun holen würde, gleich jetzt, um mich in die Hölle zu reißen. Und ich Narr - ich floh!

Die ersten schweren Regentropfen klatschten auf das Pflaster, dann mehr und immer mehr, bis dichte Schleier aus Wasser vom Himmel fielen und die Johannisfeuer zischend verdampften.

Ich rannte und rannte. Ich blickte mich nicht um, ich achtete kaum meines Weges. Einfach nur weiter und weiter! Ich wäre bis ans Ende der Welt gerannt, nur um dem Unbekannten zu entkommen.

Der Regen trieb aber auch das Volk zur Flucht. Plötzlich drängten sich Männer und Frauen auf den Gassen, ernüchtert, furchtsam nach oben blickend, wo Donner und Blitz vom Himmel hernieder fuhren, als wollte GOTT Paris für seine Sünden strafen.

Ich drängte mich durch die Menschenmassen hindurch, stieß Gestalten um mit einer Kraft, von der ich bis dahin nicht wusste, dass sie in mir schlief, und rannte und rannte. Irgendwann, ich weiß nicht, auf welchen Wegen ich dorthin gelangte, stand ich mit schmerzenden Lungen vor der Pforte des Klosters in der Rue Saint-Jacques. Rote Schleier tanzten vor meinen Augen, mein Herz raste. Zitternd stand ich so da, ließ den Regen auf mich niederprasseln und drehte mich dann langsam, ganz langsam um.

Einen Augenblick glaubte ich, dass der düstere Unbekannte direkt hinter mir stünde, um mich zu holen. Doch da war niemand. Langsam atmete ich aus.

Dann weinte ich, weinte so hemmungslos wie ein kleiner Junge. Meine Tränen vermischten sich mit dem Regen und ich hörte nicht auf, bis die Quelle meiner Tränen in meinem Innern versiegt war. Ich wusste nicht, ob ich dem Düsteren entkommen war oder ob er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, mich zu verfolgen. Ich dankte GOTT nur dafür, dass er mich vor dem Unbekannten bewahrt hatte. Für diese Nacht wenigstens.

*

Nach all den Abenteuern jener Stunden war es dann geradezu ein Kinderspiel, wieder in das Kloster zu schlüpfen. Der Portarius hatte, wohl angesteckt von der Ausgelassenheit der Johannisnacht, einen Weinschlauch mit in seine Stube genommen. Nun schlief er tief im Rausch und zuckte nicht einmal, als ich das leise knarrende Portal aufdrückte, hineinglitt und das schwere Schloss hinter mir vorsichtig wieder zuschnappen ließ.

Ich schlich in meine Zelle und streifte den grauen Umhang ab, den mir Klara gegeben hatte. Er hatte mich nicht vor dem Regen geschützt, denn auch meine Kutte darunter war nass. Doch ich fröstelte nicht, zu heftig klopfte mir das Herz. Ich hatte schon auf der Straße kurz daran gedacht, den Umhang einfach irgendwo wegzuwerfen — doch dann hatte ich mir gesagt, dass ich ihn vielleicht wieder benötigen würde. Ich muss nicht niederschreiben, an welche heimlichen Treffen ich dabei dachte. Also drückte ich nun den nassen Wollumhang zu einem kleinen Klumpen Stoff zusammen und schob ihn so tief wie möglich unter meine Pritsche. Das mochte gehen.

Ich zuckte zusammen, als ich eine dünne Glocke erklingen hörte: Nocturnes, das Nachtgebet!

Mit den vielen Dominikanern, die vor der Seuche geflohen waren, hatte sich die Zahl unserer Brüder im Kloster erhöht. Niemand wusste genau zu sagen, wie viele Mönche zur Kirche gehen konnten und wie viele gerade zu krank oder geschwächt waren, um zum Hause GOTTES zu kommen. So mochte meine Abwesenheit bei den Kirchgängen des Nachmittages und Abends niemandem aufgefallen sein. Auch jetzt würde man mich wohl kaum vermissen. Doch ich wollte kein unnötiges Risiko mehr eingehen. So trat ich denn aus der Zelle und schloss mich den Reihen der Mitbrüder an. Ich sang die Hymne und murmelte das Gebet. Doch während ich noch die vertrauten Worte sprach, erschrak ich. Denn wie ich demutsvoll zu Boden blickte, da erkannte ich im flackernden Licht der Kerzen, dass der Regen nun aus meiner Kutte tropfte. Eine kleine Wasserlache hatte sich rings um mein Gewand gebildet. Schwitzend stand ich da und wagte kaum zu atmen. Hatte jemand ein Auge auf mich? Wurde ich beobachtet? Alle Mönche hielten den Kopf gesenkt und beteten.

Nach einer kleinen Ewigkeit kam endlich der Segensspruch und wir wandten uns dem Ausgang zu. Ich suchte in den Reihen der verhüllten Mönche nach Meister Philippe, konnte ihn jedoch nicht erkennen. Doch ich war mir sicher, dass dem Inquisitor die Wasserlache zu meinen Füßen nicht entgangen war.