173819.fb2 Kein Fall f?r Mr. Holmes - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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8. Grund zum Töten

Wir folgten einem steinigen Weg, der sich durch die landschaftlich schöne Umgebung des Gutes schlängelte, und stiegen dann einige Steinstufen hinab, die in die sanft abfallenden Hügel gesetzt worden waren, bis wir schließlich auf ebener Erde standen. Bäume, die fast vollständig ihres herbstlichen Laubwerkes beraubt waren, gestatteten mir einen eingeschränkten Blick auf einen kleinen See, der in verärgerter Erregung auf einen immer stärker werdenden Ostwind reagierte. Da die Sonne in ein atmosphärisches Versteckspiel mit schiefergrauen Wolken von unheilvollem Ausmaße vertieft war, beglückwünschte ich mich innerlich, an meinen Schal gedacht zu haben. Da innerhalb der Gemäuer von Haddley nur wenig Wärme zu finden war, hatte ich ihn vorsichtshalber schon am Morgen beim Ankleiden umgelegt. Während ich ihn nun noch fester um mich wickelte, stellte ich mir vor, an einem herrlich warmen Junitag hier zu sein - ein riesiger Strohhut auf dem Kopf, Pinsel und Staffelei vor mir - und eine Unzahl von Farben glücklich auf die Leinwand aufzutragen.

»Es muß im Sommer hier sehr schön sein«, sagte ich mit einem Blick über das jetzt kahle Gelände.

»Das war es früher auch«, antwortete der Inspektor, der den Mantelkragen hochschlug und dann die Hände tief in die Taschen steckte. »Aber es wird nicht mehr so gepflegt wie einst. So wird es zumindest erzählt.«

»Von wem?«

»Von den Leuten im Dorf, Madam, aus Twillings.« Er sprach weiter, ohne langsamer zu gehen, und ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Es gab eine Zeit, als der alte Junge, Seine Lordschaft, der Earl von Haddley, sollte ich wohl sagen, die Gartenanlagen an einem Wochenende im Sommer für die Dorfleute zugänglich gemacht hat. Große Zelte wurden aufgebaut, Musiker engagiert, die über das Gelände zogen, und Erfrischungen wurden angeboten. So etwas in der Art.« »Sie selbst waren nie dabei?«

»Lord St. Clair war schon über drei Jahre tot, als ich meine Stellung hier antrat. Man sagt, seine Frau hätte die Tradition sehr gern aufrechterhalten. Aber die da«, fügte er mit einer Kopfbewegung in Richtung auf das Gutshaus hinzu, »haben den Brauch seit dem Tod Seiner Lordschaft abgeschafft.«

»Die Familie ist nicht allzu beliebt, nehme ich an?«

»Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen, Mrs. Hudson.«

Womit er meine Frage beantwortet hatte.

»Sie kommen aus London, nicht wahr, Inspektor?«

Er sah mich fragend an.

»Ihr Akzent«, antwortete ich lächelnd.

»Oh, ja. Meine Gattin stammt allerdings aus dieser Gegend. Ihr hat die schmutzige und verbrecherische Großstadt nie gefallen. Mir übrigens auch nicht. Als sich die Gelegenheit in Twillings bot, sind wir gegangen. Und es war immer recht friedlich hier - bis jetzt, kann ich nur sagen. Die Akten zeigen, daß es hier seit über fünfzehn Jahren keinen Mord gegeben hat.«

Bei dem Stichwort Mord ergriff ich die Gelegenheit, die Unterhaltung auf das junge Mädchen zu lenken. »Es ist zu schade«, sagte ich, »daß Sie noch keinen Hinweis auf die Identität des Opfer gefunden haben.«

»Als sei sie vom Himmel gefallen«, erwiderte er.

»Ein gefallener Engel, Inspektor?« fragte ich ein wenig scherzhaft.

»Engel? Das glaube ich kaum, Mrs. Hudson«, antwortete er in gleicher Manier. »In all den Jahren in diesem Geschäft bin ich noch nie einem Engel, ob gefallen oder sonstwas, begegnet. Ah, da sind wir ja. Der Pavillon«, sagte er und wies auf ein alterndes hölzernes Bauwerk, das von einem Meer aus Laub umgeben war, welches von seinem einzigen Kameraden, einem riesigen Ahornbaum, stammte. Unter dem Baum stand ein Constable mit Pferd und Karren und daneben ein Junge von etwa achtzehn Jahren, zu dessen Füßen der zugedeckte Leichnam des Opfers lag.

In der Tat ein äußerst finsteres Begrüßungskomitee.

»Wie bist du denn so schnell hierher gelangt, mein Junge?« fragte Thackeray den jungen Mann mit dem zerzausten Haar und dem verängstigten Blick.

»Ich bin gerannt. Hab’ eine Abkürzung genommen. Der Squire hat gesagt, Sie wollten mich sehen, und zwar sofort. Und hier bin ich.«

»Ich verstehe. Das ist sehr löblich von dir«, antwortete der Inspektor, während er den jungen Mann von oben bis unten taxierte. »Ich hoffe nur, daß du bei deinen Antworten ebenso schnell und entgegenkommend bist.«

»Was wollen Sie damit sagen? Antworten worauf?«:

Thackeray ignorierte den Jungen kurzfristig und wandte seine Aufmerksamkeit mir zu. »Mrs. Hudson, dies ist Constable McHeath, und der Junge hier ist Will Tadlock, der Stallbursche.«

Ich nickte dem Officer zu und sah den Jungen an. »Tadlock? Du bist der Junge, der die Leiche heute morgen gefunden hat, nicht wahr?«

Der Inspektor, nicht der Junge, antwortete schnell. »Oh, ich glaube, er hat mehr getan als sie nur gefunden, Mrs. Hudson. Es scheint, als sei unser Will nicht so ganz bei der Wahrheit geblieben, als er heute morgen befragt wurde.«

»Hab’ Ihnen alles gesagt, was ich weiß!« lautete die wütende und verwirrte Antwort des jungen Will.

»Hast du das? Hast du das wirklich?« fuhr Thackeray ihn an. Dann wandte er sich mir zu. »Vielleicht wären Sie nun so nett, Mrs. Hudson, mir mitzuteilen, worin Ihr Interesse an all dem besteht.«

Mir war bewußt, wie wichtig es war, daß meine Antwort Hand und Fuß hatte. Er hatte mir nicht so ohne weiteres gestattet, den Leichnam zu sehen. Ich entschied, daß es - sofern ich sein Vertrauen gewinnen wollte - am besten sei, zunächst den Namen jenes großartigen Mannes ins Spiel zu bringen.

»Sie haben schon einmal von Sherlock Holmes gehört, nehme ich an, Inspektor?«

Die Frage überraschte ihn etwas.

»Holmes? Sherlock Holmes? Ja, sicher habe ich von ihm gehört. Welcher Diener des Gesetzes hat das nicht? Obwohl ich nicht behaupten kann, daß ich seine Methoden billige.«

Diesmal war ich an der Reihe, überrascht zu sein.

»Warum nicht?«

»Ich halte nichts von Leuten, die außerhalb des Gesetzes arbeiten, wie ehrenhaft ihre Absichten auch sein mögen. Dafür haben wir, Madam, die Polizei. Wenn jeder durch die Straßen von London rennen würde, oder meinetwegen durch das ganze Land, und versuchen würde, auf eigene Faust Verbrechen aufzuklären, säßen wir ganz schön in der Patsche, oder? Nein«, fuhr er fort, »es ist besser, wir überlassen solche Dinge denen, die innerhalb des Systems ausgebildet wurden.«

Dies war kaum die Antwort, die ich mir gewünscht hatte, aber ich blieb beharrlich. »Aber«, entgegnete ich, »Sie wollen sicher nicht die Anzahl der Fälle leugnen, für deren Aufklärung er verantwortlich war?«

»Meine Güte, Madam! Was hat denn Sherlock Holmes eigentlich mit Ihnen zu tun? Meine Frage an Sie. «

»Ich arbeite mit Mr. Holmes zusammen«, unterbrach ich ihn ruhig. Mein Geständnis, welches nicht ganz zutreffend war, könnte man am besten als biegsame Wahrheit bezeichnen - leicht zu meinen Gunsten zurechtgebogen.

»Sie. und Sherlock Holmes!« rief der Constable aus, wobei er die Frage offen ließ, ob seine Reaktion auf meine Offenbarung von Bewunderung oder Unglauben zeugte.

Sein Vorgesetzter betrachtete mich eher mißtrauisch, wie ich bemerken konnte. »Sie arbeiten zusammen? Tatsächlich?« fragte er. »Und worin besteht Mr. Holmes’ und Ihr Interesse in bezug auf Haddley? Sicherlich nicht in dem Ableben von Lady St. Clair, es gab bei ihrem Tod keinen Verdacht auf Gewalteinwirkung. Dr. Morley selbst sagte dahingehend aus, daß Ihre Ladyschaft im Schlaf an einem Herzversagen gestorben ist. Und«, fuhr er mit einem Blick auf den vor ihm liegenden zugedeckten Leichnam fort, »diese Verstorbene wurde erst vor einigen wenigen Stunden gefunden. Schickt der große Sherlock Holmes seine Mitarbeiter inzwischen schon rechtzeitig vor einem Mord?«

Er schüttelte mitleidig den Kopf angesichts des armen - seiner Meinung nach offensichtlich irregeleiteten - Wesens, das vor ihm stand.

»Inspektor Thackeray«, verkündete ich, während ich versuchte, Haltung zu bewahren, »ich habe Grund zu der Annahme, daß der Tod Ihrer Ladyschaft nicht auf einem Herzversagen beruhte. Ich habe Grund zu der Annahme, daß sie ermordet wurde.«

»Aha, und warum nehmen Sie das an, Mrs. Hudson?«

Die Frage wurde mit einem Augenzwinkern und einem Kopfnicken in Richtung des Constables gestellt, den dieser Schlagabtausch ebenso zu amüsieren schien wie den Inspektor. Der junge Tadlock sagte während des Wortwechsels überhaupt nichts, sondern stand einfach da und versuchte die Bedeutung dessen, was er hörte, zu verstehen.

»Der Grund für meine Annahme«, antwortete ich entrüstet und mit einer Stimme, die angesichts der mir entgegengebrachten Arroganz lauter wurde, »ist. «

Ich hielt inne.

Ich mußte diesen beiden jetzt nur noch von Violets außerkörperlicher Erfahrung erzählen, und sie würden mich vollends für verrückt erklären.

»Mrs. Warner«, gab ich bekannt, »hat mich mit sehr klaren Worten darüber informiert, daß sie bei Betreten des Schlafgemaches einige Minuten nach, sagen wir mal, dem Ableben Ihrer Ladyschaft einen Geruch von Chloroform im Zimmer wahrgenommen hat.«

»Ich verstehe. Chloroform, sagen Sie. Nun, wir werden uns der Sache sicherlich annehmen, da machen Sie sich mal keine Sorgen«, antwortete Thackeray gönnerhaft. »Übrigens, Mrs. Hudson«, fügte er hinzu, »die anderen Anwesenden im Zimmer, die haben dieses. dieses Chloroform auch gerochen, oder?«

»Äh, nein«, stotterte ich. »Zumindest behaupteten sie, daß.«

»Ich verstehe«, unterbrach er mich herablassend, »und Ihre Mrs. Warner, das ist dieselbe Dame, die auch irgendeinen Fremden dabei beobachtete, wie er Ihre Ladyschaft umbrachte, während sie draußen vor der Tür stand. Ist das richtig?«

Ich konnte nichts tun oder sagen und stand einfach nur mit finsterem Blick da.

»Sie sehen, Mrs. Hudson«, fuhr er auf ebendieselbe herablassende Art fort, »ich habe meine Hausaufgaben bezüglich Mrs. Warners Sicht der fraglichen Samstagnacht gemacht.«

Wie selbstgefällig sowohl er als auch der Constable waren! Und wie gerne hätte ich mich umgedreht und die beiden stehengelassen. Aber ich spielte ein Männerspiel und war entschlossen, im Rennen zu bleiben.

»Was hat der junge Tadlock mit Ihren Ermittlungen zu tun, Inspektor? Oder handelt es sich dabei um vertrauliche Informationen?«

»Vertrauliche Informationen? Ganz und gar nicht, Madam. Zumindest nicht für jemanden, der das Glück hat, ein Kollege des berühmten Sherlock Holmes in Sachen Verbrechensaufklärung zu sein. Ist es nicht so, McHeath?«

»Oh, ja, in der Tat, Sir«, antwortete der Untergebene, wobei er versuchte, mit einer Hand das Grinsen zu verbergen, welches mit der Antwort einherging.

In Ordnung, meine Herren, halten Sie mich ruhig zum Narren, es dient meinem Zweck, nicht ihrem.

»Was Tadlock betrifft«, der Inspektor holte Pfeife und Tabaksbeutel aus seiner Tasche hervor und fuhr dann fort, »so haben Sie vielleicht von dem Gespräch Notiz genommen, welches ich unter vier Augen mit dem Squire führte, bevor ich mich von jenem Herrn verabschiedete, um Sie hierher zu begleiten.«

Ich nickte bejahend.

»Der Kern des Gespräches war der«, informierte er mich, »daß der Squire letzte Nacht sein Bett verließ, da er nicht schlafen konnte, und dann den Jungen beobachtet hat, wie er in Begleitung einer Frau durch die Gartenanlagen ging.«

Er stopfte seine Pfeife und zündete sie an, bevor er mit seiner Erzählung fortfuhr.

»Sie standen genau unter dem Fenster des Herrn und schienen, ihren Gesten nach zu urteilen, in eine Art Streit verwickelt zu sein.«

»Warum hat der Squire dies nicht früher erwähnt?«

»Eine Frage, die ich ebenfalls stellte, Madam. Seine Antwort darauf lautete, daß er es einfach vergessen hatte, als er das erste Mal befragt wurde. Es war ein Vorfall, der nur einen kurzen Moment in Anspruch nahm, und das spät in der Nacht. Das ist verständlich. Ich bat anschließend darum, daß er den Jungen hierher schicken möge.«

»Und der Squire hat sonst nichts weiter gesehen?«

»Nein. Tadlock und seine Begleiterin waren bald aus seinem Sichtfeld verschwunden. Wie ich schon sagte, er hat nicht mehr darüber nachgedacht, bis heute morgen.«

Ich wandte mich dem jungen Mann zu. »Was hast du zu all dem zu sagen, Will?«

»Es ist alles ein Mißverständnis, Lady! Das war nicht das tote Mädchen, mit dem ich zusammen war!«

»Wer dann? Nun red schon!« bedrängte ich ihn. »Dies ist eine ernste Angelegenheit!«

Mit einem tiefen Seufzer fiel sein Kopf auf die Brust. »Das war Mary.«

»Mary?«

»Mary O’Connell«, sagte er tief durchatmend, als sei ihm eine große Last von den Schultern genommen worden. »Mit Mary hat mich der Squire gesehen, nicht mit ihr«, er verzog das Gesicht und wies auf die zugedeckte Leiche.

»Mary O’Connell, wirklich? Oh, da mußt du dir schon was Besseres einfallen lassen, mein Freund«, erwiderte der uniformierte Officer hämisch.

»Sie haben dieses Mädchen O’Connell befragt, Constable?« »Das habe ich, Sir«, antwortete McHeath und holte aus seiner Brusttasche einen Notizblock hervor. »O’Connell, O’Connell«, wiederholte er, während er sorgfältig ein Blatt nach dem anderen umschlug. »Ah, hier ist es. Sie hat vergangene Nacht nichts Auffälliges gesehen oder gehört«, las er vor, »und ist um Viertel nach zehn ins Bett gegangen. Dies wurde von Molly Dwyer bestätigt«, fügte er hinzu, »dem Küchenmädchen. Die beiden teilen sich ein Schlafzimmer, Inspektor«, ergänzte er und steckte den Block wieder in die Tasche.

»Die lügen! Die beiden lügen!« schrie der Beschuldigte.

Er machte einen Schritt zurück, wurde aber von McHeath aufgehalten.

»Warum, Will?« fragte ich. »Warum sollten sie lügen?«

»Weiß ich nicht, fragen Sie doch Mary, Mrs. Hudson. Fragen Sie sie!«

Das Bitten in seinen Augen war ausdrucksvoller als alles, was er hätte sagen können. Der arme, unglückliche Kerl hatte sich in einem Netz verfangen, das er nicht selbst gesponnen hatte, dessen war ich mir sicher.

Der Inspektor stand den Unschuldsbeteuerungen des Jungen vollkommen gleichgültig gegenüber und wies den Constable an, die Leiche des Opfers auf den Karren zu legen, bevor sie sich alle drei auf den Weg nach Twillings machten, wo - so wurde Tadlock informiert

- eine offizielle Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben würde.

»Inspektor«, sagte ich, »ich denke, meiner Bitte, den Leichnam zu begutachten, wurde stattgegeben?«

»Oh, aber natürlich, Madam«, lautete die Antwort, welche von einem übertriebenen Kopfnicken begleitet wurde. »Ich möchte doch nicht, daß Ihr Mr. Holmes denkt, die Polizei von Twillings hätte Ihre Ermittlungen in einem Mordfall nicht unterstützt. Ein Mord, wie ich hinzufügen darf, der immerhin schon aufgeklärt wurde!«

Ich ignorierte den letzten Teil seiner Äußerung und kam dem ersten nach.

Nachdem ich mich hingekniet hatte, zog ich das Laken vorsichtig vom Oberkörper weg. Welch hübsches Ding sie doch war. Sogar nach dem Tod. Und so jung, nicht älter als zwanzig. Dem Leben entrissen worden zu sein, ohne es vorher wirklich erlebt zu haben, das war schon ein Verbrechen an sich.

Das Gesicht war nun alabasterweiß, wurde von dem tiefen Kastanienbraun ihrer Haare umrahmt und lag zu Füßen des Baumes gebettet auf Orange und Scharlachrot. Ich richtete ein Gebet an Gott mit dem Gedanken, wenn ein Leben nach dem Tod existiere, welch besseres Bild gäbe es dafür als die herbstlichen Blätter, die nun in ihren leuchtenden Farben auf wunderbare Weise noch lebendiger waren als in ihrem sommerlichen Grün.

Während ich das zum Schweigen gebrachte Gesicht eingehend betrachtete, drängte sich mir der Gedanke auf, daß dieses Mädchen mir irgendwie bekannt vorkam. Ich wischte die Vorstellung rasch beiseite. Unmöglich. Es gab sicherlich niemanden in ihrem Alter, der mir aus meinem kleinen Freundeskreis bekannt war. Was eigentlich sehr schade war, fand ich plötzlich. Dennoch, der Gedanke blieb hartnäk-kig wie ein Kind, das sich um Aufmerksamkeit bemühend am Ärmel festklammerte. Und dann geschah etwas sehr Außergewöhnliches. Für einen kurzen Moment schoß mir das Wort »Seemann« durch den Kopf. Seemann? Das ergab keinen Sinn. Ich schüttelte den Kopf, als wolle ich diese Störungen von der, wie ich hoffte, äußerst nüchternen und detaillierten Untersuchung fernhalten.

Wie der Lavafluß eines ausgebrochenen Vulkans war das Blut aus ihrem Hinterkopf geschossen und dann durch das nun verfilzte Haar gekrochen, bis es in geronnenen Bächen auf ihren Wangen und ihrem Hals endete. Meine Neugier wurde stärker als meine Abscheu, als ich bemerkte, daß das durchstochene linke Ohr bar jeglichen Schmuckes war. Ich drehte ihren Kopf zur Seite, schob das Haar zurück und entdeckte einen Ohrring in der Form eines Halbmondes im rechten Ohr. Ein Ohrring? Wenn der Mord hier draußen stattgefunden hatte, wie der Inspektor glaubte, mußte der in dem stattgefundenen Kampf verlorengegangene Ohrring in Reichweite liegen. Meine Hände tasteten den Boden und die Blätter ringsum sorgfältig ab. Wie ich vermutet hatte, gab es keine Spur des fehlenden Ohrrings.

Dieses Mädchen war nicht von hier. Auch keine Zigeunerin, wie der Colonel gemutmaßt hatte. Jedenfalls nicht, wenn man von ihrer Kleidung ausging, die ich unter dem halb geöffneten Mantel erkennen konnte. Nicht teuer, wohlgemerkt, aber modisch. Vielleicht aus London? Ach, wenn ich nur mehr Zeit gehabt hätte! Aber ein Husten des Inspektors, vermischt mit gelegentlichem Räuspern, zeigte mir, daß er ungeduldig wurde. Ich legte das Laken behutsam wieder über den freigelegten Teil ihres Körpers, und als ich mich erhob, bemerkte ich, daß von dem Absatz eines jeden ihrer Schuhe eine tiefe Spur durch den weichen, nassen Grund bis hin zu dem Pfad führte. Hatte nicht auch Thackeray das Offensichtliche bemerkt? Wenn ja, dann machte er diesbezüglich keine Andeutungen.

Ich kam zu dem Schluß, daß der Inspektor sich nicht mit irgendeinem Hinweis beschäftigen wollte, der seine bereits aufgestellte Theorie vielleicht umwerfen würde. Tadlock plus Mädchen plus Streit gleich Mord. Alles war in tadelloser Ordnung. Was mich betraf, so konnte ich mir allerdings nicht vorstellen, daß die Gleichung so leicht aufging. Die Scheuklappen-Mentalität eines Inspektors, ehemals Mitglied der Londoner Polizei, veranlaßte mich zu der Spekulation, ob sein Umzug von der Stadt aufs Land wirklich gänzlich auf seinem eigenen Willen beruht hatte.

»Wenn Sie dann fertig sind.«, sagte der Inspektor gelangweilt.

Ich nickte höflich.

Er wandte sich an McHeath. »Sie können dann den Leichnam auf den Karren legen, Constable. Hey du, Tadlock, hilf dem Officer mal.« An mich gerichtet sagte er: »Der Pfad führt Sie zurück, Mrs. Hudson. Es sei denn, natürlich, Sie wünschen, daß ich.«

»Danke, nein, Inspektor«, antwortete ich. »Ich finde ohne Schwierigkeiten zurück. Nochmals vielen Dank, daß Sie der Bitte einer alten Frau nachgekommen sind.«

»Bevor Sie sich verabschieden, Mrs. Hudson, eine Frage noch, wenn’s recht ist. Ich wäre daran interessiert, wie - Ihrer professionellen Meinung zufolge - Ihre Erkenntnisse hinsichtlich des Leichnams der Verstorbenen aussehen?«

Die Frage wurde mit einer allzu offensichtlichen Betonung des Wortes »professionell« gestellt.

Doch dieses Spiel konnten auch zwei spielen. »Ich habe festgestellt, daß sie ermordet wurde«, antwortete ich spaßhaft.

Der arme Mann schaute recht mißtrauisch drein und fragte sich zweifellos, ob er nun derjenige war, der zum Narren gehalten wurde.

»Die Frage bleibt, Inspektor«, fügte ich hinzu, »von wem sie ermordet wurde?«

»Von Will Tadlock!« fuhr er mich an. »Sie scheinen nicht zu verstehen, Madam, daß ich hier nicht irgendein Spiel spiele!«

»Mein lieber Inspektor«, sagte ich, wobei ich mich nicht im geringsten durch seinen plötzlichen Ausbruch verunsichert fühlte, »das Leben selbst ist ein Spiel. Warum sollte es nicht auch der Tod sein?«

Buschige Augenbrauen zogen sich zusammen, während sich seine Augen für eine, wie es schien, ewige Zeit in die meinen bohrten. Ein kurzes »Schönen Tag noch, Madam« wurde mir entgegengebracht, ebenso wie ein anschließendes kurzes Tippen an seine Melone, woraufhin er sich entschlossenen Schrittes zum Karren begab. Der Constable hatte schon die Zügel in der Hand, und Will saß niedergeschlagen hinten, während der Inspektor mühsam auf das Gefährt kletterte. Als sie ihre Reise nach Twillings begannen, schrie der junge Kerl flehend zu mir herüber: »Helfen Sie mir, Mrs. Hudson. Sie glauben mir doch, das weiß ich!«

Ihm helfen? Ich wünschte, ich könnte es. »Ich versuche es, Will Tadlock. Ich versuche es«, rief ich mit einem Lächeln, das meine Zweifel verriet.

Während sie in der Ferne verschwanden, unternahm ich noch eine letzte ausführliche Suche nach dem fehlenden Ohrring, indem ich sorgfältig den Boden in Augenschein nahm, auf dem die Leiche gelegen hatte. Unglücklicherweise fand ich nichts. Mit einem Seufzer erhob ich mich, und da ich bemerkte, daß sich der zuvor sanft prasselnde Regen nun zu einem ausgereiften stürmischen Guß entwickelte, legte ich mir rasch den Schal um den Kopf und zog mich geschwind zum Gutshaus zurück.