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Mit dem Schlüssel in einer Hand, der Kerze in der anderen, einer Handtasche, die an meinem Gelenk hing, und einem Gefühl der Beklommenheit im Herzen ging ich vorsichtig einen scheinbar nie enden wollenden Flur entlang, der in Schwärze und böse Vorahnung getaucht war.
Ich erinnerte mich daran, daß Hogarth erwähnt hatte, daß es über anderthalb Jahrhunderte her war, seit diese oberen Räume zuletzt bewohnt gewesen waren, und ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen Zeittunnel betreten, in dem jeden Moment eine Tür aufgerissen werden würde, und zwar von einer nebligen Erscheinung aus dem 17. Jahrhundert, die eine Erklärung für meine unerwünschte Anwesenheit forderte.
So, wie die Dinge lagen, tröstete mich der Gedanke nur wenig, daß mein Schatten, der durch die flackernde Flamme in Größe und Gestalt verzerrt wurde, mein einziger Begleiter war. Wie sehr ich mir doch aus tiefstem Herzen wünschte, daß Vi bei mir gewesen wäre!
Wenn die Stimmen, die mich geweckt hatten, in der Tat aus dem Raum über dem Schlafzimmer von Violet gekommen waren, dann mußte die Tür, vor der ich nun stand, gezwungenermaßen diejenige sein, die ich suchte. Ich drückte mein Ohr dagegen und lauschte -warum, weiß ich wirklich nicht. Ich nehme an, es war eine natürliche Reaktion, aber ich hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß sich noch jemand darin aufhalten sollte.
»Bitte, Herr«, sagte ich in einem stillen Gebet, »wenn doch, mach, daß sie noch leben.« Bei meiner augenblicklichen Verfassung konnte ich nur den Anblick einer einzigen Leiche pro Tag vertragen.
Ich steckte den Schlüssel ins Schloß.
Ich drehte den Knauf und war überrascht, wie lautlos die Tür aufging. Dies war keine knarrende Tür - eine stillschweigende Huldigung an die Qualität der Handarbeit eines anderen Zeitalters.
Verschüchtert stand ich in der halboffenen Tür.
Während sich das Tageslicht langsam im Abend verlor, versuchte es mit geringem Erfolg, ein mehrfach verglastes, stark verschmutztes Fenster zu durchdringen, das sich am anderen Ende des Zimmers befand. Dieses wenige Licht, zusammen mit dem der Kerze, genügte mir, um ein Zimmer zu erkennen, das bis unter die Decke mit großen Holzkisten und Kartons unterschiedlicher Formen und Größen vollgestellt war. Kleinere Kunstgegenstände und unzählige goldgerahmte Gemälde lagen verlassen auf verschiedenen Sofas, Diwanen, Couches und Stühlen, die mit Bettlaken abgedeckt waren. Ein gräulicher Alptraum von einem Zimmer, das in den Staub vergangener Jahrzehnte eingehüllt war.
Guter Gott! Während ich auf die Artefakte vor mir starrte, ging mir durch den Kopf, daß dieser Ort ein Miniaturmuseum sei. So großartige Schätze wie diese sollten ordentlich ausgestellt werden. Der Gedanke, daß es einem Publikum vorbehalten blieb, das aus Ratten, Mäusen und Spinnen bestand, war unerträglich!
Ich war nun eher verärgert als verängstigt und fragte mich, ob es sich überhaupt lohnte einzutreten, als ich durch Zufall nach unten schaute und auf dem staubbedeckten Boden verblüffenderweise unmißverständliche Abdrücke sah, welche deutlich erkennen ließen, daß sie von Schuhen beider Geschlechter stammten.
Ich ging hinein und folgte der Spur so mühelos wie ein Jäger, der einem Eselshasen in frischem Puderschnee nachspürt. Ich marschierte durch das Labyrinth von Kisten und Kartons, bis der verräterische Pfad hinter einer großen Holzkiste endete, die als Trennwand für das eiserne Feldbett dahinter diente. Selbst für Thackeray wäre es zu erkennen gewesen, daß die letzte Person, die sich in dieses Feldbett mit seinen zerknitterten Bettlaken und zerknüllten Kissen gelegt hatte, diesem Jahrhundert entstammte, nicht dem letzten.
Ich hegte keinen Zweifel mehr daran, daß dies das Zimmer war, aus dem in der Nacht zuvor die Stimmen gedrungen waren. Eine Haarnadel, die halb versteckt unter dem Kissen lag, fiel mir ins Auge. Eine Flasche Wein, dreiviertelleer, stand auf einem kleinen Tisch neben dem Feldbett. Ein umgekipptes Glas schaute auf seinen zerbrochenen • Kameraden herunter, der auf dem Boden lag.
Als ich das Fenster untersuchte, sah ich, daß in einer Ecke der Scheibe eine kleine Fläche vom Schmutz befreit worden war, was den Blick auf einen Teil der Gartenanlagen erlaubte. Während ich dort stand, verharrte eine Maus - vollkommen gleichgültig angesichts meiner Anwesenheit - lange genug zu meinen Füßen, um an einem Krümel zu knabbern, bevor sie ins Dunkel huschte. Ich hob die Überreste ihres Mahls auf und sah, daß es ein Kuchenrest war: alt, sicher, aber keine hundertfünfzig Jahre alt.
Hier hatte also unser mysteriöser Besucher gewohnt, geschlafen und gegessen, wobei nichts darauf hinwies, daß sie - denn es konnte niemand anderes als die tote junge Frau gewesen sein - ein unfreiwilliger Gast gewesen war. Sicher, denn hätte sie gegen eine lange und gewaltsame Gefangenschaft schreiend protestieren wollen, dann wären ihre Rufe gehört worden. Warum war sie dann hiergeblieben? Und wie lange? Länger als vierundzwanzig Stunden, dessen war ich mir sicher, aufgrund der Überreste des Mahls und der braunhäutigen Apfelkerne, die verstreut auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lagen. Aber warum wurde sie in einem unbenutzten Zimmer versteckt? Und auf wessen Geheiß? Erst jetzt wurde mir bewußt, daß Ermittlungen zur Aufklärung von Verbrechen eine recht frustrierende Beschäftigung sein konnten.
Ich stellte die Kerze auf den Tisch, kniete mich nieder und fuhr mit einer Hand blind über den Boden unter dem Feldbett, in der Hoffnung, daß meine Finger etwas fühlen würden, was meine Augen nicht sehen konnten. Wenn ich nur den zweiten Ohrring dieses armen unglückseligen Geschöpfes finden würde, wäre das ein Beweis, der von jedem Gericht anerkannt würde - im Gegensatz zu meiner lediglich persönlichen Annahme, daß das ermordete Opfer vor ihrem frühzeitigen Tod auf dem Gut gewohnt hatte. Aber leider fand ich keinen solchen Ohrring.
Meine Hand traf allerdings auf einen Gegenstand weitaus größeren Ausmaßes. Ich zog sie zurück und sah, daß ich eine kleine Marmorstatue in Form eines Engels mit einer Höhe von ungefähr achtzehn Zoll hervorgeholt hatte. Ich stellte sie vorsichtig auf den Tisch, setzte mich auf das Feldbett und rückte die Kerze etwas näher an meinen Fund heran. Da saß ich nun, fasziniert von der äußeren Schönheit eines unschuldigen kleinen Engels, welcher in den sanften Schein des Kerzenlichts gehüllt war und den Blick gen Himmel gerichtet und die Arme vor Freude und Verehrung ausgestreckt hatte, als hieße er den Schöpfer persönlich zu einer Audienz willkommen. Als ich den Sockel langsam drehte, um dieses vorzügliche Exemplar einer Skulptur - nach meiner Schätzung aus dem 17. Jahrhundert - besser bewundern zu können, war ich entsetzt, als ich an der Seite des Kopfes einen Makel entdeckte, der sich noch weiter über den Rücken ausdehnte. Die Sache weckte mein Interesse in einem solchen Maße, daß ich die Kerze noch ein wenig näher rückte, um eine genauere Untersuchung vorzunehmen. Es schien, als habe der kleine Engel einen tödlichen Schlag auf den Kopf erlitten und als sei der seine Vollkommenheit ruinierende rotbraune Fleck Blut, das aus der Wunde geflossen war.
Wenn ich heute zurückdenke, so glaube ich, es war meine Analogie von Blut und Fleck, die mich zurück in die Realität holte. Wie begabt jener Künstler dieses jahrhundertealten Werkes auch gewesen sein mag, nicht einmal Michelangelo hätte diesen marmornen Körper zum Leben erwecken können. Oh nein, es war wirklich Blut. Das konnte ich durch eine nähere Untersuchung feststellen. Und zwar nicht des Engels.
Die nähere Untersuchung, auf die ich anspiele, bezieht sich auf meinen Gebrauch des Vergrößerungsglases von Mr. Holmes. Oder zumindest auf eines der vielen solcher Gläser, die der Herr sich über die Jahre hinweg zugelegt hat. Sollte Mr. H. jemals diese Zeilen lesen, die ich nun schreibe, dann kann er versichert sein, daß sich der besagte Gegenstand schon seit langer Zeit wieder in der Kommode vor dem Fenster befindet. Daß ich ihn an mich genommen habe, kann ich nur damit erklären, daß ich Mr. Holmes nun mal auf Haddley vertreten wollte und ich das Gefühl hatte, der fragliche Gegenstand, mit dem er seit langem assoziiert wurde, verleihe mir ein gewisses Maß an Professionalität. Ein glücklicher Zufall jedenfalls, denn nachdem ich das Glas aus meiner Handtasche hervorgeholt hatte, merkte ich, daß seine Vergrößerung es müden Augen erlaubte, feine Haare zu erkennen, welche in den Fleck auf der Statue eingebettet waren.
Ich nahm den marmornen Engel vorsichtig hoch, wiegte ihn auf meinem Arm, wie eine Mutter es mit ihrem Kinde täte, und verließ den Tatort des Mordes, wobei ich mir innerlich zu dem Fund des stumpfen Gegenstandes gratulierte, der für den Tod der jungen Frau, deren Leichnam ich erst an diesem Morgen untersucht hatte, verantwortlich war.
Nach dem Dinner verzichteten Vi und ich auf ein Dessert von Fruchteis, zogen uns diskret vom Tisch zurück und begaben uns in das Arbeitszimmer.
»Die Mahlzeit war in etwa so lustig wie eine Abendmahlsfeier!« sagte meine Freundin und ließ sich in den Sessel mir gegenüber fallen. »Wirklich, ich hätte es sogar begrüßt, wenn der Colonel ein oder zwei Äußerungen von sich gegeben hätte“: Obwohl er sonst ein ziemlicher Trottel ist.«
»Ich denke«, antwortete ich, »der Mangel an Konversation war verständlich. Es war für keinen von uns ein sehr angenehmer Tag.«
»Mhm, besonders für sie - falls die überhaupt irgendein Gewissen haben. Hättest Lady Margaret bei dem Gottesdienst sehen sollen, Em. Heulte vor sich hin und wischte sich die Augen, als wäre sie ach wie untröstlich. Mensch, man hätte denken können, sie wohnt dem Begräbnis vom Weihnachtsmann persönlich bei! Und ich sag’ dir noch was«, fügte sie mit erhobenem Finger hinzu. »Es würde mich nicht im geringsten überraschen, wenn Lady Arrogant selbst meine Herrin umgebracht hätte.«
»Es ist recht leicht«, entgegnete ich, »jemanden zu verdächtigen, vor dem man wenig Achtung hat, aber das bedeutet nicht unbedingt, daß Lady Margaret für alles verantwortlich ist, außer für ihr wirklich unangenehmes Benehmen.«
»Du hast wahrscheinlich recht«, antwortete sie seufzend. »Aber nun sag mal«, meinte sie und betrachtete mich aufmerksam, »was hältst du von all dem, was hier so vor sich geht?«
»Nichts«, gestand ich. »Außer daß wir innerhalb von zwei Tagen nicht nur mit einem, sondern mit zwei Morden konfrontiert wurden, die nach allem, was wir wissen, miteinander in Zusammenhang stehen
- oder auch nicht.«
»Ich verstehe«, antwortete sie erneut mit einem Seufzer. »Dann sind wir nicht viel weiter als vorher, richtig?«
»Das würde ich nicht behaupten«, erwiderte ich. »Denn das, was ich heute nachmittag entdeckte, hat mir sehr dabei geholfen, eine Beweisgrundlage zu schaffen, auf der wir nun aufbauen können.«
»Was du heute entdeckt hast? Heute nachmittag? Was hat das denn zu bedeuten? Dachte, du bleibst hier, um ein kleines Nickerchen zu machen.«
Ich bat sie um Entschuldigung, daß ich sie nicht früher über meine Aktivitäten aufgeklärt hatte, aber dies - so erklärte ich ihr - war schließlich meine erste richtige Gelegenheit seit ihrer Rückkehr von dem Begräbnis, mich in Ruhe hinzusetzen und die Ereignisse des Tages, so wie sie sich abgespielt haben, mit ihr zu diskutieren.
Ich erzählte ihr in allen Einzelheiten von meiner Untersuchung des Leichnams des ermordeten Mädchens, von der anschließenden Verhaftung von Will Tadlock, von dem geheimen Zimmer, in dem sich das Opfer aufgehalten hatte, und von meinem Fund, dem blutbefleckten Engel, den ich später für sie aus seinem jetzigen Versteck unter den zusammengelegten Kleidungsstücken in der untersten Schublade ihrer Kommode hervorholen würde.
Sie hörte mit offenem Mund erstaunt zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen, bis die ganze Geschichte erzählt war, und meinte dann: »Du warst wirklich fleißig, das kann man wohl sagen! Du liebe Güte, Mr. Holmes wäre sicher so stolz auf dich!«
Auch wenn ich mich geschmeichelt fühlte, so blieb doch jegliche Antwort, ob bescheiden oder auch nicht, unausgesprochen, da sie unmittelbar fortfuhr:
»Und der arme Will, wegen Mordes verhaftet!« rief sie aus. »Mensch, der könnte ebenso wie du oder ich keiner Fliege etwas zuleide tun. Und stell dir vor, er und Mary. Haben sich heimlich getroffen, sagst du?«
»Wenn man dem jungen Mann glauben kann, ja. Hat das Mädchen dir gegenüber jemals erwähnt, daß sie sich mit ihm traf?«
»Nein, kein Wort. Aber es sieht Will nicht ähnlich zu lügen. Nicht daß er so ehrlich ist, wohlgemerkt. Er ist einfach nur nicht so schlau, wenn du weißt, was ich meine.«
»Und doch sagt Mary, daß sie ihn in der vergangenen Nacht überhaupt nicht gesehen hat.«
»Nun, schau mich nicht an«, erwiderte sie verzweifelt. »Ich hab’ keine Ahnung, was ich von all dem halten soll.«
»Ich auch nicht«, antwortete ich. »Deshalb habe ich zuvor die Gelegenheit ergriffen und Hogarth gebeten, das Mädchen nach dem Mahl zu uns zu bringen.« Da der Butler erwähnt hatte, daß sich die Familie gewohnheitsmäßig nach dem Dinner zusammen mit dem Colonel und dem Doktor in das Musikzimmer zurückzog, hielt ich das Arbeitszimmer für den sichersten Ort, um ein Treffen mit Mary zu arrangieren.
»Nach dem, was du mir so erzählt hat, scheint es, als hättet ihr, du und Hogarth, euch gleich richtig gut verstanden. Etwas zu alt für dich, findest du nicht, meine Liebe?«
»Oh, Vi, also wirklich!« Was ich sonst noch hätte hinzufügen wollen, wurde durch ein leichtes Klopfen an der Tür unterbunden.
»Die O’Connell!« flüsterte ich aufgeregt. »Ich denke, es würde unserer Absicht am dienlichsten sein, wenn wir so tun, als wüßten wir mehr, als es der Fall ist, wenn wir sie befragen.«
»So tun, als wüßten. ?«
»Psst! Mach einfach mit.«
Ein hübsches Mädchen, nicht älter als zwanzig, wenn überhaupt, bekleidet mit dem obligatorischen schwarzen Kleid, der weißen Schürze und mit einem Spitzenhäubchen auf der hochgekämmten Frisur, betrat schüchtern das Zimmer, lächelte Vi erkennend an und warf mir einen fragenden Blick zu.
»Mrs. Hudson, nicht wahr? Mir wurde gesagt, daß Sie mich sprechen wollten.«
»Ja, Mary«, antwortete ich herzlich. »Mrs. Warner und ich würden uns gern, wenn du erlaubst, ein klein wenig mit dir unterhalten.« Ich wies mit einer Handbewegung auf den Sessel zu meiner Linken. »Bitte, setz dich doch.«
Sie zögerte und warf Vi einen hilfesuchenden Blick zu, so als wolle sie fragen, ob ihr dies anstünde.
»Setz dich ruhig, Mary, sei ein gutes Mädchen«, bestätigte meine alte Freundin mit einem freundlichen Lächeln. »Laß dir keine Gelegenheit entgehen, um deine Füße zu entlasten, sag’ ich immer.«
Kaum war sie meiner Bitte nachgekommen, rutschte sie auch schon so unruhig in ihrem Sessel hin und her, wie es ein vor den Direktor gezerrter Schüler tun würde. Da wir uns nun auf gleicher Höhe befanden, konnte ich verblüfft eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihr und dem ermordeten Mädchen erkennen.
Guter Gott, dachte ich, als mir die Erinnerung an meinen verstorbenen Gatten durch den Kopf schoß, der von den Gesichtern seiner toten Schiffskameraden verfolgt wurde, würde ich von nun an das Gesicht des armen toten Mädchens in dem Gesicht jeder jungen Frau sehen?
»Stimmt etwas nicht, Mrs. Hudson?«
»Wie?«
Ich war tief in Gedanken versunken und hatte nicht bemerkt, daß sie mein Starren, so unbeabsichtigt jene Unhöflichkeit war, unnötig in Verlegenheit brachte.
»Nein, nein. Nichts«, erwiderte ich lächelnd. »Nun erzähl mir doch«, fragte ich, »wo ist dein Zuhause?«
»Zuhause? County Clare in Irland, Mrs. Hudson.« »County Clare«, wiederholte ich. »Schon der Name hat so etwas Schwungvolles an sich. Es muß dort sehr schön sein.«
»Schön, sagten Sie? Davon weiß ich nichts.«
»Oh.« Ich wußte nicht so recht, was ich sonst sagen sollte.
»Man hat nicht allzuviel Gelegenheit, die Gegend zu bewundern, wenn man die Älteste von acht ist, gnädige Frau. Hab’ mein ganzes Leben lang schwer gearbeitet, wirklich. Mein Vater ist gestorben, und meine Mutter ist zwar ‘ne liebe Frau, aber sie hat keinen Tag, ohne daß ihr irgendwas weh tut, da blieb es an mir hängen, mich um die ganze Schar zu kümmern! Kochen, waschen, schrubben, und nie einen Tag für mich allein. Sehen Sie«, rief sie und streckte ihre Arme vor uns aus, »neunzehn bin ich, und ich habe Hände wie ‘ne alte Frau! Oh«, stammelte sie mit hochroten Wangen, »du meine Güte, Madam, ich wollte nicht sagen.«
Wir beiden älteren Damen lächelten.
»Na, komm, mach dir keine Sorgen, Mary«, antwortete meine Freundin mit einem Kichern. »Em und ich machen uns keine Hoffnungen, daß wir in dieser Phase unseres Lebens noch zur Maikönigin gekürt werden könnten.«
»Und so bist du nach England gekommen, um ein Vermögen zu machen«, sagte ich, noch immer über Violets letzte Bemerkung lächelnd.
»Unsereins denkt nicht an ein Vermögen, Mrs. Hudson. Einen ehrlichen Tageslohn für eine ehrliche Tagesarbeit, das ist alles, was ich verlangen oder erhoffen kann.«
»Und Haddley Hall - dir gefällt es gut hier, nicht wahr?«
»Recht gut.«
Sie gab mir Gelegenheit einzuhaken, und ich warf sofort den Anker. »Und Will Tadlock, der gefällt dir auch recht gut?«
Ihr Mund stand offen, während sie die Augen verwirrt und überrascht weit aufriß. Sie rutschte unruhig in ihrem Sessel hin und her, wandte sich erst Vi und dann mir zu. »Will Tadlock? Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mrs. Hudson, und das ist die Wahrheit.« »Ach, komm schon, Mary, du und Will - das weiß doch jeder.« Ich warf Violet rasch einen Blick zu. »Stimmt’s nicht, Mrs. Warner?«
»Mhm, das ist schon richtig«, antwortete sie und half, der Lüge Glaubwürdigkeit zu verschaffen. »Ist kein Geheimnis für mich. Auch nicht für andere.«
»Andere, sagen Sie?« rief sie aus und packte die Armlehnen des Sessels mit Fingern, die sich tief in den Stoff bohrten. »A. aber Lady Margaret«, stammelte sie, »sie weiß doch nichts, oder?«
»Nein«, sagte ich, »sie zumindest weiß nichts.« Was aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich der Fall war.
Ihr Körper, den sie noch Augenblicke zuvor so aufrecht gehalten hatte wie ein Leibgardist, fiel plötzlich mit einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung wie eine Stoffpuppe in sich zusammen.
»Gott sei’s gedankt!« rief sie aus.
Meine Freundin und ich tauschten verwunderte Blicke aus.
»Warum sorgst du dich so im Hinblick auf Lady Margaret?« fragte ich.
Keine Antwort.
Wir saßen schweigend da, bis sich die junge Frau recht unerwartet erhob. »Wenn Sie sonst nichts mehr wünschen, Mrs. Hudson, Mrs. Warner, sollte ich wohl besser wieder an meine Arbeit gehen.«
Ich war durch ihren spontanen Abbruch der Unterhaltung einen Augenblick lang verwirrt. Aber bevor ich sie aus dem Zimmer hinaussegeln ließ, legte ich mich ins Zeug und hoffte, ihre Verteidigung zu entwaffnen.
»Ich glaube nicht, daß dir der Ernst der Situation bewußt ist«, begann ich, als sie sich von mir zur Tür wandte. »Squire St. Clair hat Inspektor Thackeray erzählt, daß er Will und eine junge Frau vergangene Nacht in dem Garten des Gutes gesehen hat. Will sagt, daß du es warst. Der Inspektor hat seine Geschichte dank deiner Aussage, daß du zu der fraglichen Zeit geschlafen hast, ignoriert. Er ist der Ansicht, daß Will Tadlock in Begleitung des Mädchens war, das ermordet wurde. Es tut mir leid, Mary, aber ich denke, du solltest wissen, daß dein junger Freund heute vormittag wegen eines Mordverdachtes verhaftet wurde. Und ich fürchte, der Junge wohnt zur Zeit in einer Zelle in Twillings.«
Mit einem Gesicht, das nun so weiß war wie die Schürze, die sie trug, stolperte Mary einige Schritte rückwärts und schlug eine Hand vor den Mund, als wolle sie einen Aufschrei unterdrücken, während ihr Körper von einer Seite zur anderen taumelte. Ich fürchtete, sie würde ohnmächtig werden.
» Schnell, Vi, fang sie auf!« rief ich.
Bevor jedoch eine von uns die Gelegenheit hatte, etwas zu unternehmen, fiel sie in den Sessel zurück, wobei ihr Körper in zügellosem Kummer bebte.
»Will, wegen Mord verhaftet! Aber er ist doch unschuldig, Mrs. Hudson. Ich schwöre es, bei all den Heiligen im Himmel!« stöhnte sie, wobei Tränen in die blauen irischen Augen traten.
»Dann war er gestern nacht mit dir zusammen«, stellte ich fest.
Sie bestätigte dies unter herzzerreißenden Schluchzern.
»Komm, komm, Mary«, sagte ich und tätschelte ihr sanft die Hand, »es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen.«
Ich gab ihr einen Moment, sich zu sammeln, bevor ich sie fragte, ob sie sich in der Lage fühlte, mir dabei zu helfen, die Ereignisse der Vornacht zu rekonstruieren.
Sie holte ein kleines Leinentaschentuch aus ihrem Ärmel hervor, putzte sich die Nase und tat ihr Bestes, um ein Lächeln aufzubieten.
»Du hast dein Zimmer gestern abend verlassen und bist vom dem Gutshaus hinüber zu Wills Zimmer gegangen, das über dem Stall liegt. Ist das richtig?«
Ich erhielt ein bestätigendes Nicken.
»Zu welcher Zeit ungefähr?«
»Gegen elf, nehm’ ich an. Aber ich bin nicht lange geblieben.«
»Bis wann?«
»Es war nicht später als kurz nach zwölf.« »Bist du allein zurückgekommen?«
»Allein? Nein. Will hat mich zurückbegleitet. Normalerweise macht er es nicht, aber gestern nacht hatten wir, nun, so was wie ‘ne Kabbelei unter Liebenden, wenn Sie so wollen. Er folgte mir nach Hause und versuchte mit seinem honigsüßen Gerede, die Wogen wieder zu glätten.«
»Aber dann«, drängte ich sie, »habt ihr eure Kabbelei bis vor die Tür fortgeführt, nicht wahr?«
»Ich fürchte, das haben wir.«
»Und das«, sagte ich und warf Violet ein triumphierendes Lächeln zu, »bestätigt die Geschichte von Will und die Ereignisse, so wie der Squire sie gesehen hat!«
»Aber Mary«, fragte Vi, »warum hast du denn gelogen, Liebes?«
»Wegen Lady Margaret«, antwortete sie und wischte sich mit dem Zipfel ihrer Schürze über die nun rot unterlaufenen Augen. »Sie hatte diese Regel, wissen Sie. Sie wollte keine. keine« - sie hielt inne -»F raterni si erung? «
» Fraternisierung, ja.«
»Fraternisierung zwischen den Bediensteten - Männern und Frauen, wenn Sie wissen, was ich mein’. Eines der ersten Dinge, die man mir sagte, als ich hier anfing, war, daß sie keine merkwürdigen Verhältnisse auf Haddley duldete, mit den Dienern und so. Wenn Ihre Ladyschaft je etwas von mir und Will erfährt, würde ich sofort mit all meinen Siebensachen auf der Straße stehen. Wirklich.«
»Aber wäre das denn so schrecklich?« fragte ich.
»Schrecklich, sagt sie!« Ihre Augen blitzten auf, sie konnte nicht fassen, daß ich überhaupt auf den Gedanken kam, so eine Frage zu stellen. »Ich mit meinen sieben Geschwistern und einer sterbenden Mutter, für die ich sorgen muß! Das wenige Geld, das ich von meinem Lohn nach Hause schicken kann, erhält sie am Leben!«
»Oh, das tut uns leid«, bedauerte meine Freundin. »Nun, aber das wußten wir ja nicht, oder?« »Deshalb also«, unterbrach ich sie, »sollte das andere Mädchen, Molly...?«
»Molly Dwyer.«
»Ja, Molly Dwyer. Deshalb sollte sie für dich deine Geschichte gegenüber dem Constable bestätigen. Du hattest Angst, deine Anstellung zu verlieren.«
»Und Molly«, fragte Mary, »sie bekommt doch jetzt keinen Ärger, oder?«
Ich antwortete, daß ich dem guten Inspektor am folgenden Tag einen Besuch abzustatten gedachte und alles in meiner Macht Stehende tun würde, um die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Und nun, da die Wahrheit über ihre und Wills Liaison bewiesen werden konnte, versicherte ich ihr, daß die Polizei keine Alternative mehr hätte, als ihn freizulassen.
Daraufhin mußten Vi und ich einen Ausbruch der Dankbarkeit von einem glücklichen jungen Mädchen über uns ergehen lassen, das -bevor es ging - sich uns noch einmal hoffnungsvoll, wenn auch zögernd zuwandte.
»Lady Margaret«, stammelte sie, »sie wird nicht. ich mein’. sie muß doch nichts. «
»Ach, mach dir um sie keine Sorgen«, versicherte Violet. »Von uns erfährt die nichts.«
Bevor sie die Tür hinter sich schloß, wurden zwei ältere Damen mit einem Lächeln, so riesig wie das Irische Meer, belohnt.