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Meine Kameradin schlüpfte in ihr Nachthemd, wobei sie gedankenverloren eine fröhliche kleine Melodie vor sich her summte, und schien bester Stimmung zu sein, während sie sich für das Bett zurechtmachte.
»Ich kann dir gar nicht sagen, Em, wie froh ich bin«, sagte sie und schüttelte die Kissen mit wenigen gut plazierten Schlägen auf.
»Froh?«
»Ja. Daß wir den Mord aufgeklärt haben, zum Beispiel.«
Ich habe schon immer versucht, das Unerwartete von meiner alten Freundin zu erwarten, aber dieses Mal überrumpelte sie mich völlig. »Aufgeklärt? Meine liebe Mrs. Warner, wir haben überhaupt keinen Mord aufgeklärt.«
»Wir wissen doch nun, daß Will Tadlock es nicht war, richtig?«
»Violet, Violet, Violet«, stöhnte ich verzweifelt. »Ich denke, das Ziel der Ermittlungen ist es herauszufinden, wer es war - und nicht, wer es nicht war.«
»Ah ja, das sieht dir mal wieder ähnlich. Für dich ist die Flasche immer halbleer.«
Ich lächelte. Sie hatte natürlich recht. Zumindest hatten wir in gewisser Hinsicht einen Fortschritt gemacht. Ich setzte mich auf die Bettkante und beobachtete schweigend, wie sie an ihrer Frisierkommode herumwerkelte und zufrieden vor sich hin summte.
»Was ist das?«
»Was ist was?«
»Das Lied, das du gerade summst. Hört sich bekannt an.«
»Wüßte nicht, wie das sein könnte«, antwortete sie. »Ich hab’ es nur ein- oder zweimal gehört, als Sir Charles es am Klavier vor sich hin klimperte. Und du kennst mich ja, Em, hatte schon immer ein Ohr für Musik.«
»Trotzdem, ich kenne die Melodie«, sagte ich und ärgerte mich über diesen Gedächtnisverlust meinerseits. »Könnte es etwas von Gilbert und Sullivan sein?«
»Gilbert und Sullivan? Nicht sehr wahrscheinlich. Das wüßte ich, bei meinen musikalischen Kenntnissen. Hab’ als Kind Klavierunterricht gehabt. Hab’ ich dir das eigentlich je erzählt? Ja, hätte wohl ‘n Beruf draus machen können, da bin ich sicher, wenn ich dabeigeblieben wäre.«
»Aber diese Melodie«, beharrte ich, »es ist merkwürdig, daß sie mir so bekannt vorkommt. Ach, na ja«, ich seufzte, »ich nehme an, bei jedem setzt sich mal eine Melodie im Hirn fest, auf deren Titel man nicht kommt. Ist trotzdem merkwürdig. «
»Ich sag’ es dir, Em!« erwiderte sie und warf die Arme frustriert in die Luft. »Es ist schon ein verflixtes Wunder, daß du nicht auch noch das Verschwinden der Sonne an jedem Abend untersuchst. Du siehst in allem ein dunkles Geheimnis!«
»Vielleicht hast du recht.« Ich kicherte. »Trotzdem, es wird mich so lange ärgern, bis ich mich erinnere, wo ich es gehört habe.«
»Mhm, nun ja, wie auch immer, du hast morgen genug Zeit, um dir über alles Klarheit zu verschaffen. In der Zwischenzeit«, fügte sie hinzu und verpaßte dem Kissen einen letzten Knuff, »machst du dich am besten auch zum Schlafen fertig.«
Ich wartete, bis sie unter die Bettdecke gekrochen war, bevor ich verkündete: »Ich fürchte, ich kann nicht ins Bett kommen, zumindest noch nicht.«
»Ach, komm schon, was redest du da?«
»Da ich heute nachmittag nicht die Zeit hatte, das Schlafzimmer von Lady St. Clair zu untersuchen«, erwiderte ich und wedelte mit dem Schlüsselring von Hogarth vor ihrer Nase, »dachte ich mir, ich ergreife die Gelegenheit heute nacht.« »Das Zimmer Ihrer Ladyschaft durchsuchen - wozu, zum Teufel?« fragte sie, während sie sich aufrichtete.
»Ich hätte gedacht, das wäre offensichtlich. Um Antworten zu finden.«
Sie unterdrückte ein Gähnen. »Antworten worauf?«
»Zum einen«, antwortete ich, während ich ihre Schläfrigkeit etwas sorgenvoll bemerkte, da ich später noch ihre Dienste benötigte, »möchte ich herausfinden, wie unser geheimnisvoller Mörder es geschafft hat, das Zimmer so schnell zu verlassen, und ohne daß ihn jemand gesehen hat.«
»Und wie gedenkst du das anzustellen?«
»Das«, sagte ich und erhob mich, »weiß ich nicht. Aber ich bin fest entschlossen, es zu versuchen.«
»Ich verstehe«, antwortete sie mit einem weiteren Gähnen. »Nun, dann brauchst du mich ja wohl nicht, oder?« fragte sie und machte es sich wieder unter der Bettdecke bequem.
»Eigentlich doch«, erwiderte ich mit einem Lächeln. »Du müßtest dich für mich auf eine Reise begeben.«
Das rüttelte sie wach. »Eine Reise! Was soll das denn jetzt?« Sie beäugte mich argwöhnisch. »Worum geht’s hier überhaupt, hä?«
»Du hast mir doch«, sagte ich einleitend, »von deinen außerkörperlichen Erfahrungen erzählt. Also, Mrs. Warner«, fuhr ich mit beschleunigtem Tempo fort, bevor Einspruch ihrerseits erhoben werden konnte, »jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um deine astrale Fähigkeit wieder einmal anzuwenden.«
»Was meinst du damit?«
»Alles, was ich von dir will, ist, daß du >losschwebst<, wie du es nennst, und zwar in das Schlafzimmer von Sir Charles und Lady Margaret.«
Auf meine Bitte folgte zunächst ein verwirrtes Schweigen, bevor schließlich ein Sturm des Protestes über mich hereinbrach. »Was? Ihr Schlafzimmer? Oh, Em, das könnte ich nicht! Und überhaupt«, fuhr sie mit einem Blick auf die Kaminuhr fort, »wahrscheinlich sind sie um diese Zeit wahrscheinlich selbst schon dort.«
»In der Tat, das sind sie«, antwortete ich mit ruhiger Stimme. »Ich hörte, wie sie vor kaum fünf Minuten hineingingen.«
»Aha«, verkündete sie mit einem zufriedenen Lächeln, während sie sich erneut sorgfältig zudeckte, »na also, siehst du. Es wäre nicht richtig, oder? Und das, wo ich nicht mal anständig angezogen bin.«
Was sollte ich nur mit ihr anstellen?
»Aber, meine liebe Violet«, lautete meine verzweifelte Antwort, »sie werden dich doch weder sehen noch hören können, nicht wahr?«
Meine einzige bedeutende Kritik an meiner alten Freundin betraf ihre Unfähigkeit, sich das Gesamtbild einer Situation vor Augen zu halten. Ich erinnerte sie an die junge Frau, die an diesem Morgen ermordet aufgefunden worden war, und an die erst wenige Stunden zurückliegende Beerdigung Ihrer Ladyschaft. Ich erklärte ihr, daß diese grausigen Ereignisse noch frisch im Bewußtsein aller Beteiligten waren und daß es keines Sherlock Holmes bedurfte, um sich darüber im klaren zu sein, welches das Gesprächsthema sein würde, sobald sich Sir Charles und Lady Margaret die Gelegenheit bot, in der Ungestörtheit ihres Schlafzimmers zu reden.
Und nachdem ich sie an die Gesprächsfetzen erinnerte, die wir während des Dinners vernommen hatten und welche die Neigung sowohl des Colonels als auch des Squires zu einem Kartenspiel vor dem Schlafengehen betrafen, war ich schließlich in der Lage, Vi dazu zu bewegen, dem Spielzimmer ebenso wie dem Schlafzimmer des Baronets und seiner Gattin einen Besuch abzustatten.
Unsere Politik des »offenen Ohres«, die wir bereits bei der privaten Unterhaltung der St. Clairs im Arbeitszimmer verfolgt hatten, war durchaus appetitanregend gewesen. Da ich mir über die Unwahrscheinlichkeit im klaren war, erneut soviel Glück zu haben, faßte ich den Entschluß, daß eine etwas verborgenere Vorgehensweise unter Nutzung der astralen Fähigkeit meiner Kameradin die bessere Lösung war.
Ich konnte nicht umhin zu denken, wie sehr meine berühmten Mieter solch geistreiche Hilfe bei vielen Fällen, mit deren Aufklärung sie beauftragt gewesen waren, wohl begrüßt hätten - ungeachtet der Abneigung von Mr. H. gegenüber Angelegenheiten, die mit der Welt des Übernatürlichen in Verbindung standen.
Was mich betrifft, die ich lediglich eine gewöhnlich Sterbliche und nicht in der Lage war, meine spiritistische Mitarbeiterin auf ihren erdentrückten Streifzügen zu begleiten, so befragte ich sie nach ihrer späteren Rückkehr überaus eingehend. Und mit Hilfe der Fülle von Notizen, die ich damals machte, bin ich nun in der Lage, die folgenden Ereignisse, so wie meine alte und getreue Freundin sie erlebt hat, schriftlich festzuhalten.
Sie lag ziemlich regungslos auf dem Bett, die Handflächen nach unten gerichtet und die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Bei geschlossenen Augen atmete sie zunächst regelmäßig ein und aus, bis sich - wie sie später beschrieb - ein Gefühl der Taubheit, angefangen bei den Füßen, über ihren ganzen Körper ausbreitete. Sie erfuhr nun, wie es ist, wenn man durch geschlossene Augenlider schaut: Das Zimmer wurde von blassen, aber goldenen Strahlen erleuchtet. Während das Licht langsam verschwand, wurde Violet Warner mit einem Gefühl zurückgelassen, als wohne sie in zwei Körpern: einem physischen und einem fluidalen.
Zu diesem Zeitpunkt löste sich ihr geistiges Selbst so mühelos aus den Zwängen seiner irdischen Hülle, wie man sich von einem Stuhl erheben würde. Mit einem letzten verabschiedenden Blick auf ihr physisches Selbst, das friedvoll auf dem Bett ruhte, schwebte das erdentrückte Selbst durch den Raum und in den Flur hinaus.
Das Schlafzimmer der St. Clairs lag nur wenige Schritte von ihrem eigenen entfernt, und sie glitt geräuschlos wie mit Eulenschwingen zu der Tür hinüber, zögerte einen Augenblick, bevor sie sich zwang, durch sie hindurch zu huschen, als hätte diese solide Eichentür nie existiert.
Nachdem sie hineingelangt war, seufzte Violet erleichtert auf, als sie sah, daß die Bewohner des Zimmers noch nicht zu Bett gegangen waren.
»Oh, ich hoffe wirklich, Sie verzeihen mir, daß ich hier einfach so bei Ihnen hereintanze«, sagte sie, da sie sich genötigt sah, eine Entschuldigung für das auszusprechen, was sie für ein ungehöriges astrales Eindringen ihrerseits hielt. »Und obwohl ich weiß, daß Sie mich nicht sehen oder hören können«, fuhr sie fort, »fühl’ ich mich, nachdem ich das gesagt habe, schon viel besser.«
Die Herrin von Haddley war mit einem lavendelfarbenen Spitzennachthemd bekleidet und saß mit dem Rücken zu ihrem Gatten vor ihrer Frisierkommode. Ihr Haar war aus den hochgekämmten Zwängen des Tages befreit und hing nun in reichhaltiger Fülle über ihre Schultern. Während sie in den Spiegel starrte, kämmte sie es unablässig mit entschiedenen und präzisen Bürstenstrichen.
Der Baronet saß ohne Jackett und Krawatte mit ausgestreckten Beinen nachlässig auf einem Stuhl, während er mit einer andauernden Bewegung der Hand den restlichen Inhalt seines Whiskyglases kreisen ließ. In Abständen warf er seiner Frau mißbilligende Blicke zu.
»Margaret!« rief er schließlich. »Wie lange noch gedenkst du, so auf dein Haar einzudreschen?«
»Bis ich fertig bin!« fuhr sie ihn an. »Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, einhundert.«
Die Bürste wurde auf die furnierte Holzoberfläche niedergeknallt, als sich Lady Margaret nach links neigte, damit das reflektierte Bild ihres Mannes im Spiegel für sie sichtbar wurde. »Wenn du deinen persönlichen Gewohnheiten ebensoviel Aufmerksamkeit schenktest, Charles, würde dir das auch nicht schaden«, fuhr sie ihn an, während sich dünne, gepflegte Hände daran machten, sowohl Kinn als auch Dekollete zu massieren.
»Ja, ja, zum Glück, meine Liebe«, erwiderte ihr Gatte, während er sein Glas hinstellte und seine ausgestreckten Beine einzog, »verpflichtet mich die Position des Vorsitzenden eines Finanzinstituts mit Büros im halben Britischen Empire nicht dazu, den Großteil der Nacht mit Vorbereitungen für das Schlafengehen zu verbringen.«
»Das hält dich ganz schön auf Trab, nicht wahr? Du verbringst mehr Zeit in London als hier auf Haddley!«
»Kann ich ihm nicht übelnehmen«, sagte Vi, an keine bestimmte Person gerichtet.
»Stimmt nicht, mein Liebling. Erst vergangene Woche kam ich früher aus London zurück als geplant.«
»Ja! In dem Glauben, ich sei nicht hier!«
»Aber du warst hier, nicht wahr?« Er beugte sich nach vorn, zog sich beide Schuhe aus und stieß sie beiseite. »Mit irgendeiner Geschichte«, fuhr er fort, als er sich erneut zurücklehnte, »über einen Streit mit deiner Mutter, woraufhin du etwas verstimmt abgefahren bist, wenn ich mich recht entsinne.«
Sie drehte sich erregt wieder der Frisierkommode zu, holte ein silbernes Etui aus der untersten Schublade hervor, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an.
Das war zuviel für Vi. »Himmel, was ist das denn? Eine Dame, die raucht? Nun hab’ ich ja wohl alles gesehen, wirklich!«
»Es ist wahr, Charles«, antwortete sie, während ein Ring von Rauch in die Luft stieg. »Mutter und ich sind nie gut miteinander ausgekommen, obwohl ich es weiß Gott versuche.«
Jegliche bittere Antwort, die meine alte Freundin hätte geben können, wurde von der Herrin des Anwesens unterbrochen, die plötzlich fragte: »Und du?«
»Ich?« lautete die verdutzte Antwort ihres Gatten.
»Mit wem sonst sollte ich hier wohl reden?« fuhr sie ihn an.
»Nun, nicht mit mir, soviel ist sicher«, meinte Vi und hielt ein Kichern zurück, das ohnehin nicht gehört worden wäre.
»Warum bist du früher zurückgekommen, Charles?«
»Das ist kein Geheimnis, mein Schatz«, antwortete der Baronet mit einem lässigen Schulterzucken. »Da mein Geschäft mit Lord Harvey früher als erwartet abgeschlossen war, sah ich keinen Grund, meinen Aufenthalt in London hinauszuzögern.« Er schwieg einen Moment lang und betrachtete die Zigarette, die seine Frau unbekümmert in der Hand hielt. »Ich frage mich«, sagte er und biß sich in kontrolliertem Ärger auf die Unterlippe, »ob du vielleicht so nett wärest, das Ding auszumachen? Ich kann mir gut vorstellen, was Mutter gesagt hätte, wenn sie sähe, wie du vor dich hin paffst wie ein Varieteflittchen.«
»Gut so, Sir Charles!« schrie Violet und klatschte geräuschlos in die Hände. »Gib’s ihr!«
Recht unerwartet kam Lady Margaret seiner Bitte nach, indem sie die anstößige Zigarette ausdrückte und sich langsam von ihrem Stuhl erhob.
»Nun, wir müssen uns wirklich keine Gedanken mehr darüber machen, was sie sagen oder was sie nicht sagen würde, nicht wahr?« Es war eine rhetorische Frage, die von einer weiteren gefolgt wurde, die allerdings nach einer Antwort verlangte. »Charles, es gibt da etwas, das ich wissen muß. Sei ehrlich zu mir. Du hattest doch nicht in irgendeiner Weise mit ihrem Tod zu tun, oder?«
»Aha!« rief Vi. »Jetzt geht’s zur Sache!«
»Mit ihrem Tod zu tun! Guter Gott, Margaret! Wovon zum Teufel redest du?«
»Oh, Charles, wirklich! Dir müssen doch die Kratzer an ihrem Hals aufgefallen sein, als wäre sie in eine Art Kampf verwickelt gewesen.«
»Nun, mir sind sie nicht aufgefallen!« rief meine alte Freundin.
»Und dieser ekelhafte Geruch, der über ihrem Bett hing«, fuhr seine Frau fort, »wenn man dann noch daran denkt, was diese Warner da plapperte, von wegen, jemand sei in dem Zimmer gewesen, dann.«
»Plapperte!«
Nun war es an dem Baronet, sich von seinem Stuhl zu erheben. »Oh, ich verstehe. Das ist es! Du glaubst, ich sei für Mutters Ableben verantwortlich, nicht wahr? Und vielleicht habe ich auch diesem armen Mädchen, das dort im Garten herumlief, den Kopf eingeschlagen? Sei doch nicht so dämlich!«
Lady Margaret setzte zum Sprechen an.
»Nein! Laß mich ausreden!« rief ihr Gatte und griff nach dem Jakkett, das auf dem Bett lag. »Vielleicht erinnerst du dich gefälligst mal daran: Ich habe dir erzählt, mein Liebling«, fuhr er fort, während er in den Jackentaschen wühlte, wahrscheinlich auf der Suche nach einer Zigarette, »daß ich unten in der Bibliothek war, als ich den Tumult in Mutters Schlafzimmer hörte.«
Da er noch immer keine Zigarette gefunden hatte, warf er das Jakkett zurück auf das Bett, ging hinüber zu der Frisierkommode, holte eine aus dem silbernen Etui und zündete sie an.
»Ich gebe ja zu«, fuhr er fort, während zwei dünne Ströme von Rauch aus seinen Nasenlöchern entwichen, »daß ich das Gefühl hatte, ihr Tod sei nicht so friedvoll gewesen, wie es behauptet wurde.«
Lady Margaret setzte sich auf das Bett und ließ ihren Gatten keinen Moment aus den Augen. »Und doch hast du nichts gesagt. Warum?«
»So ungern ich es sage, altes Haus, ich hielt dich irgendwie für verantwortlich.«
»Genau das hab’ ich auch zu Em gesagt!« verkündete meine Freundin triumphierend, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt angesichts ihrer vergeblichen Versuche, zu der Konversation etwas beizutragen, bereits etwas frustriert war.
»Mich?« Ein erstaunter Aufschrei von Lady M. »Warum sollte ich.?«
»Niemand spielt gern die zweite Geige«, unterbrach sie ihr Mann. »Ohne Mutter konntest du endlich deine rechtmäßige Stellung als Lady auf dem Gut einnehmen.« Mit einem wissenden Lächeln fügte er hinzu: »Sich nie mehr jedem ihrer Befehle beugen zu müssen, oder sich sogar für eine Zigarette davonstehlen zu müssen, nicht, Margaret? Die Sache ist«, fuhr er fort, »ich hatte den Verdacht, daß es meine >zukünftige Lady< einfach satt hatte, auf die Zukunft zu warten. Wie mußt du es gehaßt haben, daß sie so über dich herrschen konnte.«
Seine Frau sprang auf, ihre Augen blitzten. »Ich gebe zu, daß Ihre Ladyschaft und ich uns nie sehr nahe standen! Aber wozu hätte ich. «
Das Wort Mord blieb unausgesprochen.
»Wenn ich ihre Anwesenheit doch diese ganze Zeit ausgehalten habe«, fing sie wieder an, »was hätten da noch einige Monate, höchstens ein Jahr, ausgemacht? Sie war doch ohnehin eine alte Frau.«
»Und du eine ungeduldige!«
»Du glaubst also wirklich, daß ich diejenige war, die.«
»Warum nicht?« antwortete er schnell. »Du hältst mich für schuldig. Obwohl ich nicht den geringsten Schimmer habe, aus welchem Grunde.«
Die astralen Augen flitzten weiterhin zwischen Ehemann und Ehefrau hin und her.
»Keinen Schimmer, sagst du! Oh, Charles«, erwiderte sie mit einem falschen Lachen, »halt mich nicht zum Narren. Ich bin mir sehr wohl darüber im klaren, daß unsere finanzielle Situation nicht so ist, wie sie sein sollte. Und da dir doch nach ihrem Tod nun zumindest das halbe Erbe zukommt. also, was soll ich da schon denken?«
Sir Charles warf seinen Kopf zurück und lachte gutgelaunt.
Die beiden Frauen beäugten ihn neugierig.
»Es tut mir leid, Liebling«, sagte er schließlich, nachdem sich sein Lachen gelegt hatte. »Aber siehst du nicht die Ironie in dem Ganzen? Du hältst mich des Muttermordes für schuldig und hast nichts gesagt, um mich zu schützen. Ich wiederum dachte, du warst es, und habe das gleiche getan.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Violet auf ihre typische sarkastische Art, »es geschah aus Liebe füreinander, nicht wahr? Daß ich nicht lache. Auf den eigenen Vorteil bedacht, aus diesem Grund habt ihr doch wohl eher den anderen geschützt.«
»Dann haben wir uns scheinbar ja wirklich gern, Charlie.« Während sie sprach, spielte ein leichtes Lächeln liebevoll um ihre Lippen.
»Natürlich tun wir das, Maggie, mein Liebling.«
»Oh, kommt schon! Sind wir jetzt etwa bei >Charlie< und >Maggie< angelangt? Nun, wenn das so aussieht, dann gehe ich wohl besser!« Und mit einem letzten Blick auf die beiden fügte sie hinzu: »Und überhaupt, ich weiß nicht, ob ich auch nur ein verdammtes Wort von dem, was ich heute abend hier von euch beiden gehört habe, glauben soll ! «
Sie trieb sich vorwärts, als sitze sie auf einem Luftkissen, und schwebte direkt auf die Tür zu, nachdem sie einen kleinen Schwenker gemacht hatte, um geradewegs durch den Körper von Lady Margaret zu huschen. In genau dem Augenblick wurde die Frau des Baronets von einem unheimlichen Kältegefühl übermannt, während ihr ganzer Körper einem unfreiwilligen Schauder nachgab.
Violet Warner lächelte zufrieden und machte sich auf den Weg in das Spielzimmer.
Als sie den Colonel über den Kartentisch gebeugt sah, mit einem Ausdruck äußerster Verzweiflung in diesem fleischigen Gesicht, war es ihr klar, daß Fortuna ihn zugunsten des jüngeren St. Clair übergangen hatte.
»Noch ein Spiel verloren!« donnerte der alte Mann durch den dichten Schnurrbart, während er seine Karten auf den Tisch knallte und dabei beinahe die vor ihnen stehenden Gläser umwarf.
Die Haltung des Squires all dem gegenüber bestand aus einer milden Belustigung, zu der sich ein sorgloses Schulterzucken gesellte.
»Niemand verpflichtet Sie zum Spielen, alter Junge.«
»Ich brauche mir von Ihnen nicht sagen zu lassen, worin meine Pflichten bestehen!« lautete die bellende Antwort auf wahrhaft militärische Weise. »Wenn Sie in der Kriegsmacht Ihrer Majestät gedient hätten, wüßten Sie, daß Pflicht und Schuldigkeit die wichtigsten Voraussetzungen für einen Offizier und Gentleman sind. Bei Gott, das wüßten Sie, Sir!«
»Und wie sieht’s mit der Ehre aus, Colonel?« fragte der Squire, während er sich daran machte, die Karten einzusammeln. »Verpflichtet die Ehre einen Offizier und Gentleman nicht dazu, für jegliche Verluste aufzukommen, die er, sagen wir mal, zum Beispiel beim Kartenspiel macht?«
»Sie bekommen Ihr Geld! Sie bekommen jeden einzelnen Penny, das versichere ich Ihnen!« donnerte der alte Soldat, während seine Hammelfinger in einer Innentasche seiner Jacke herumwühlten, bis sie schließlich eine Zigarre an den Tag beförderten.
»Du wirst doch jetzt wohl nicht 50 eine anzünden, oder?« jammerte Violet. »Da riech’ ich doch noch lieber Gummistiefel, wirklich«, fügte sie hinzu, während sie vergeblich versuchte, den störenden Duft mit einer Hand fortzuwedeln, die noch dunstiger war als die Ursache ihrer Verärgerung selbst.
»Ja, ja, ich bin sicher, ich bekomme mein Geld, lieber Colonel. Aber da gute drei Wochen vergangen sind, seit ich das letzte Mal die Farbe Ihres Geldes gesehen habe, bleibt die Frage nach dem Wann. Und obwohl ich zugeben muß«, fuhr er in einer zwanglos lässigen Art fort, »an einem einzigen Abend an den Tischen in London mehr verloren zu haben als die hundert Pfund, die Sie mir schulden, so ist doch solch ein Betrag für einen Mann in Ihrer Position. nun, Sie verstehen, was ich meine.«
Die Antwort des sichtbar erschütterten Colonels wurde dennoch in gemäßigtem Tonfall erteilt. »Ich habe Ihnen gesagt, Squire, daß Sie Ihr Geld bekommen werden. Noch vor Ende dieses Monats, wenn Sie unbedingt einen Zeitpunkt festlegen möchten.«
»Vor Ende dieses Monats. ah, ich verstehe.« Ein wohlwissendes Lächeln lag auf den Lippen seines Gegners. »Ich nehme an, Sie denken an die Verlesung des Testaments Ihrer Ladyschaft. Falls ja, dann würde ich nicht allzusehr darauf bauen, alter Junge.«
Rote Flecken erschienen auf zwei fleischigen Wangen. »Das genügt, Sir! Dieser Abend ist zu Ende!«
Der alte Soldat, der die Worte hervorstieß, als hielte er einem Offiziersburschen eine Standpauke, rückte vom Tisch ab. Aber als er versuchte, sich zu erheben, merkte er zu seinem Verdruß, daß sein stattlicher Körper nicht in der Lage war, sich so ohne weiteres aus dem Sessel zu befreien.
Der Squire versuchte, den peinlichen Moment zu überspielen, indem er ihn bat, zu bleiben und noch einen Drink zu sich zu nehmen.
Der Colonel beäugte die gereichte Karaffe wie ein Kind, das ein Glas mit Süßigkeiten anschaut, zögerte aber nur einen kurzen Moment, bevor er die riesige Masse wieder fest in den Sessel setzte.
»So ist’s richtig«, atmete Vi erleichtert auf. »Wir wollen doch nicht, daß du schon gehst. Ich hab’ von euch beiden bei weitem noch nicht genug gehört.«
»Ich möchte Ihnen nur sagen, daß Sie möglicherweise am Ende des Testaments keinen Geldtopf vorfinden werden, und zwar aufgrund -wie es innerhalb der Familie bezeichnet wird - des >Vorfalls<«.
»Vorfall? Welcher Vorfall? Keine Ahnung, wovon Sie reden, alter Junge.«
»Ah, die Unschuld in Person!« lautete die spöttische Antwort des Squires. Mit wütender Verurteilung fügte er dann hinzu: »Guter Gott, Mann! Sie haben eine Kugel durch den Kopf meines Vaters gejagt und haben den Nerv, hier zu sitzen und mich zu fragen, von welchem Vorfall ich rede?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie versetzen mich in Erstaunen, mein lieber Colonel. Wirklich.«
»Was erzählst du nun schon wieder?« rief Violet aus. »Dieser alte Colonel Windbeutel hier hat tatsächlich Seine Lordschaft erschossen?« Beide Arme flogen mit einem Ausdruck der Sinnlosigkeit in die Höhe. »Ich versteh’ überhaupt nichts mehr.« Sie seufzte. »Scheint, als habe in diesem verflixten Haushalt jeder mehr Leichen im Keller versteckt, als auf einem verfluchten Friedhof zu finden sind!«
»Wenn Sie sich auf diesen unglückseligen Jagdunfall vor einigen Jahren beziehen«, erwiderte der alte Mann kühl, »so war es genau das, ein Jagdunfall.«
»War es das wirklich? Ach ja, Sie haben meinen Vater für einen Hirsch gehalten, sagten Sie damals, wenn ich mich recht erinnere«, lautete die sarkastische Antwort.
»Dann erinnern Sie sich vielleicht auch daran«, fuhr ihn der Colonel hinter einer Wolke blauer Rauchschwaden scharf an, »daß ich es war, der das Leben Seiner Lordschaft während des Punjab-Feldzuges rettete! Und dafür.«
»Und dafür«, betete der jüngere Mann nach, »gab mein Vater Ihnen freie Kost und Logis auf Haddley, und zwar bis an das Ende Ihrer Tage. Ja, ja, ich habe all das schon oft gehört. Aber das war nicht genug, nicht wahr? Im Laufe der Jahre muß es Ihnen in den Sinn gekommen sein, daß - wenn Seine Lordschaft aus dem Weg geräumt wäre - eine Heirat zwischen Ihnen und Ihrer Ladyschaft nicht mehr unmöglich sei. Ergo: der >Jagdunfall<. Hab’ ich recht oder nicht, Colonel?«
»Bei Gott, Sir, Sie haben ja eine ganz schöne Phantasie! Sie haben Ihren Beruf verfehlt, wirklich, Sir. Sie sollten für diese Revolverblätter schreiben, das wär’ was für Sie!«
»Aber Ihre Ladyschaft hat Sie abgewiesen, nicht wahr, alter Junge?« drängte der Squire und ignorierte die spitzen Bemerkungen des Colonels.
Der ältere Offizier betrachtete ihn kühl. »Sie hat mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nicht ausführlich. Aber ich wußte es. Wir alle wußten es. Sehen Sie, während Sie die Rolle des liebeskranken Schwans gespielt haben, haben Sie nicht gemerkt, daß meine Mutter im Grunde ihres Herzens nie geglaubt hat, daß der tödliche Schuß ein Unfall gewesen war. Dennoch kam sie dem Wunsch Seiner Lordschaft, daß Sie hierbleiben durften, nach, während Sie die Situation ausgenutzt haben und unablässig um ihre Zuneigung warben. Stimmt doch, oder?«
Ein Augenblick des Schweigens folgte. »Es stimmt«, meinte der Colonel letztendlich, »daß ich Ihre Mutter immer für eine sehr schöne Frau hielt und, jawohl, es mögen sich im Laufe der Jahre vielleicht ein oder zwei Gelegenheiten ergeben haben, bei denen ich.«
»Im Laufe der Jahre! Mein lieber Kerl, Sie sollten so gut wissen wie ich, daß auf Haddley nichts heilig oder geheim ist. Ihr letztes Angebot einer ehelichen Glückseligkeit fand vor nicht einmal einer Woche statt. Das Gerücht besagt, daß Mutter Sie nicht nur abwies, sondern auch vorschlug, daß es wohl nun das beste wäre, wenn Sie sich woanders nach einem Quartier umschauten.« »Gerücht!« schnaubte der alte Soldat. »Mehr als das ist es wirklich nicht: ein Gerücht! Und Sie schulden mir eine Entschuldigung. Und das, Sir, ist ein Befehl!«
»Sie sind hier nicht beim Militär, Wyndgate! Und ich bin nicht einer Ihrer Untergebenen!«
Vi zufolge wurden diese Beschimpfungen über den Tisch geschleudert, während der Squire wütend aufstand.
»Ich wünschte bei Gott, Sie wären es, Sir«, dröhnte der Colonel. »Die Armee hat ihre Methode, mit Unverschämtheiten dieser Art umzugehen!«
»Kommt schon, regt euch ab, ihr beiden!« forderte eine unsichtbare dritte Partei.
Wie auf ein Stichwort folgte ein verlegenes Schweigen beider Herren, woraufhin der Squire schließlich wieder Platz nahm.
Ich erinnere mich daran, daß Violet mir erzählte, wie zufrieden sie mit sich war und daß sie ihren Anteil an der Beruhigung der Situation ätherischer Suggestionskraft zuschrieb.
»Sie soll mich also gebeten haben zu gehen? Haben Sie irgendeinen Beweis für das, was Sie sagen?« knurrte der alte Mann. »Nein«, fügte er hinzu, ohne auf eine Antwort zu warten. »Dachte ich mir’s doch. Beim großartigen Lord Harry, vielleicht halten Sie mich auch noch für schuldig, das alte Mädchen umgebracht zu haben!«
»Ich hielt das für offensichtlich«, bemerkte der Squire.
»Aha! Also war es der alte Junge, ich wußte es!« schrie meine alte Freundin, wobei sie bequemerweise vergaß, daß sich ihr Verdacht ursprünglich gegen Lady Margaret richtete.
»Seien wir ehrlich, Colonel, wenn Ihre Ladyschaft heute noch leben würde, liefen Sie jetzt auf der Straße herum und klopften an die Tür des Veteranenheimes - oder wohin auch immer alte Soldaten gehen. Kommen Sie schon, Mann«, höhnte er, »beichten Sie. Das soll gut für die Seele sein.«
Dicke Wurstfinger drückten den Zigarrenstummel wütend im Aschenbecher aus, während der massive Kopf nach vorne stieß, um seinem Ankläger Auge in Auge zu entgegnen: »Sie, St. Clair«, donnerte er, »sind ein verdammter Narr!«
»Andererseits«, dachte Violet, die von seinem plötzlichen Ausbruch vollkommen eingeschüchtert war, »vielleicht war er es doch nicht.«
»Auch nur anzudeuten«, schimpfte der alte Mann, »daß ich irgend etwas mit dem Tod Ihrer Ladyschaft zu tun gehabt hätte, ist absurd. Chloroform, also wirklich! Schild und Säbel sind die Werkzeuge meines Berufes, Sir.«
»Von Chloroform habe ich nichts gesagt, Colonel.«
»Was? Was?« Um Worte ringend gewann der alte Herr schnell wieder Boden unter den Füßen, indem er behauptete: »Ich gehe davon aus, daß der Geruch für jeden Anwesenden in dem Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft deutlich wahrzunehmen war, da diese Chemikalie mir aufgrund der gelegentlichen Aufenthalte in Armeekrankenhäusern nicht unbekannt ist. Sie, Sir, da bin ich mir sicher, sind mit der Chemikalie ebenso gut vertraut wie ich.«
»Ach, kommen Sie, alter Junge«, lachte der jüngere Mann, »warum zum Teufel sollte ich. «
»Geld, Sir! Geld ist öfter Grund für Morde, als es Herzensangelegenheiten jemals waren.«
»Und was soll das heißen?«
Zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, sah Violet die leichte Andeutung eines Lächelns, das sich unter dem wallenden Schnauzbart verbarg.
»Das erkläre ich Ihnen nur zu gerne, mein verehrter Sir.«
Der alte Colonel der Armee befand sich nun in der Offensive.
Nachdem er die ungeteilte Aufmerksamkeit des Squires und Violets gewonnen hatte, kostete er den Augenblick weiterhin aus, indem er sich ganz langsam noch eine Zigarre anzündete, sehr zum Ärger meiner Kameradin.
»Sie erwähnten zuvor«, stieß er zwischen kleinen Rauchwolken hervor, »daß Sie gelegentlich an einem einzigen Abend mehr verloren haben als meine angehäuften Schulden zusammengerechnet, nicht wahr?«
Ein kurzes Nicken des Squires wurde von einem amüsierten, wenn auch etwas vorsichtigen Lächeln begleitet.
»Und ich glaube Ihnen, Sir. Das tue ich wirklich«, fuhr der alte Colonel fort, nachdem er die wortlose Bestätigung erhalten hatte. »Genaugenommen«, fügte er hinzu, während er seine Masse nach vorne beugte und einen anschuldigenden Blick auf den Mann gegenüber heftete, »gehen Ihre Verluste insgesamt gut in die Tausende, stimmt’s oder stimmt’s nicht, mein lieber Squire?«
St. Clair rückte unruhig in seinem Sessel hin und her, während ein gezwungenes Lachen seiner ausweichenden Antwort folgte. »Tausende! Ach, kommen Sie, Colonel. Ich glaube, Sie sind derjenige, der sich dem Schreiben von Phantasiegeschichten widmen sollte.«
Der alte Soldat überging die Bemerkung, rollte seine Zigarre lässig zwischen Daumen und Zeigefinger und schien von dem träge nach oben schwebenden Rauch fasziniert, bis er schließlich antwortete: »Es ist leicht genug, einem alten Mann das Geld abzunehmen, aber mit den jungen Kerlen in London sieht das anders aus, nicht wahr, mein Herr?«
»Ich fürchte, Wyndgate, alter Kumpel, ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie eigentlich reden.«
»George Bascombe. Nigel Royce-Smythe.«
Die lässig eingeworfenen Namen erreichten die Wirkung, deren der alte Mann sich sicher war.
Vi berichtete, daß sie beobachtet hatte, wie St. Clairs Finger den Griff um das Glas festigten, in dem Bemühen, das Zittern der Hand zu verbergen. »Woher wissen Sie von diesen Männern?« fragte er mit einer Stimme, die nur noch ein Flüstern war.
»Ich bin nicht der Narr, für den Sie mich halten, Squire. Ich bin mir sehr wohl darüber im klaren, daß die beiden Gentlemen zwei der exklusivsten und geheimsten Spielzimmer im West End von London besitzen und daß beide Ihnen so lange den Eintritt verweigern, bis Sie Ihre Schulden beglichen haben. Was zweifellos«, fuhr er fort, »Ihre unerwartete Rückkehr erklärt. Nachdem Sie an Ihren Lieblingsplätzen hinausgeworfen worden waren, hatten Sie keine andere Alternative, als nach Haddley zurückzukehren, oder?«
Nachdem er diese Wortkanone von Informationen über den Tisch hinweg abgeschossen hatte, gab sich der alte Mann einem selbstzufriedenen Lächeln hin, lehnte sich zurück und legte seine massigen Hände auf den beträchtlichen Wanst, um die Auswirkungen seines Einschlages abzuwarten.
»Was zum Teufel soll das Ganze?« entgegnete der Squire wütend. »Wer hat Ihnen die Erlaubnis erteilt, in meinem Privatleben herumzuschnüffeln?«
Die Worte wurden so plötzlich und mit solch einer Gewalt hervorgestoßen, daß Vi nach eigener Aussage »sich vor Angst fast verflüchtigte, wirklich!«
»Eigentlich war es Ihre Ladyschaft«, antwortete der Colonel ruhig.
»Mutter? Das soll heißen, Ihre Ladyschaft ließ Sie. Ich glaube das nicht, kein einziges Wort!«
»Auf alle Fälle entspricht es der Wahrheit, junger Herr. Es scheint, ihr Verdacht wurde geweckt, als sie entdeckte, daß ein Paar goldener Kerzenständer aus dem Salon fehlte. Dann, wenn ich mich recht entsinne, ein Satz von goldenen Serviertellern aus dem 17. Jahrhundert, und so weiter und so weiter.«
Vi war entgeistert. »Plünderst das Haus leer, wie? Also Squire, ich bin enttäuscht«, meinte sie mißbilligend, während sie luftig hinüberschwebte, um einen unbesetzten Sessel am Tisch einzunehmen. »Das hätte ich ja nie von dir gedacht, niemals.«
Zigarrenasche wurde von dem alten Soldaten lässig in den Aschenbecher geschnippt, während er - ungerührt von der Erregung des jüngeren Mannes - fortfuhr. »Da Ihre Ladyschaft von Ihrer Neigung zu den Karten wußte, plus der Tatsache, daß sie Ihnen vor nicht einmal drei Monaten gesagt hatte, daß Sie mit keinem Geld zur Begleichung Ihrer ständigen Schulden mehr zu rechnen hatten, brauchte das alte Mädchen nicht lange, um eins und eins zusammenzuzählen. Daher hielt sie es für angebracht, mich zu dem Zeitpunkt in ihr Vertrauen zu ziehen. Ich wurde gebeten, gewisse Nachforschungen anzustellen, was ich auch tat, indem ich mit einem alten Bekannten in London konferierte. Er engagierte seinerseits einen Privatdetektiv, dessen detaillierter Bericht über Ihre Aktivitäten mir und somit Ihrer Ladyschaft zukam. Soll ich fortfahren?«
»Bitte, nicht so schnell, mein Lieber«, rief Vi. »Ich muß mir das doch alles für Em merken.«
Von dem Squire, der schweigend grübelte, kam keine unmittelbare Antwort.
»Ich sage Ihnen, alter Junge«, hielt ihm der Colonel spaßhaft vor, »wenn Sie schon herumschleichen und das Haus stückchenweise verkaufen mußten, dann hätten Sie das nicht so offensichtlich machen dürfen. Soweit ich weiß, befindet sich in dem oberen Geschoß dieses erhabenen Hauses ein wahrer Schatz von Kunstgegenständen.«
Henry St. Clair erhob sich langsam und begann, stillschweigend auf und ab zu gehen, bis er seine Antwort herausspuckte. »Die Hälfte von dem, was hier ist, wird sowieso eines Tages mir gehören - also, selbst wenn es wahr ist, was Sie da erzählen, was ist dabei?«
»Ah«, erwiderte er mit einem erhobenen pummeligen Finger, »aber >eines Tages< ist schon gekommen, nicht wahr? Genau das meine ich, alter Junge. Jetzt, wo Ihre Ladyschaft ihre verdiente ewige Ruhe gefunden hat, nehme ich an, daß sich Ihr Kreditrahmen bis ins Unendliche ausdehnen läßt.«
Der Squire kehrte zu seinem Sessel zurück, drehte ihn um und setzte sich seitwärts zum Tisch, wobei er die Beine auf einem kleinen ledernen Polsterhocker ausstreckte. »Sie behaupten also, daß ich meine Mutter wegen des Erbes ermordet habe, um meine Spielschulden abzubezahlen und meinen bösen, bösen Gewohnheiten weiterhin nachzugehen, ist es das? Dann erzählen Sie mir doch, Colonel, warum haben Sie dies nicht gegenüber der Polizei erwähnt? Oder die Tatsache, daß Sie Chloroform gerochen haben? Sie hatten heute morgen ausreichend Gelegenheit dazu.«
Die Fragen riefen ein großes Schnaufen auf der anderen Seite des Tisches hervor.
»Ich werde es Ihnen erzählen!« Der Squire wirbelte herum, um dem alten Soldaten direkt ins Gesicht zu blicken. »Zum einen, weil Sie wissen, daß die Anschuldigung vollkommen falsch ist. Zum anderen ist zumindest von Ihrem Standpunkt aus noch bedeutender, daß Ihnen bewußt wurde, wenn Sie mich beschuldigten, würde das dazu führen, daß Bruder Charles Ihre Stellung als ständiger Gast auf Haddley beendet. Blut ist ja bekannterweise dicker als Wasser. Und, was halten Sie davon?« fügte er spöttisch hinzu.
»Sie hatten ebenso Gelegenheit wie ich, Ihre Ansichten der Polizei mitzuteilen«, verkündete der ältere Mann. »Dennoch schwiegen auch Sie. Warum?«
»Um die Wahrheit zu sagen, alter Junge«, meinte der Schuldner lässig, »Haddley kann keinen Skandal gebrauchen. Was immer wir noch an Ansehen im Dorf genießen, wäre vollkommen zerstört - ganz davon zu schweigen, was geschehen würde, wenn die Londoner Zeitungen Wind bekämen. Ich hielt es einfach für das beste, am Status quo festzuhalten.«
»Was immer auch Ihre Gründe sein mögen, Squire, Sie schätzen meine Rolle in all dem gänzlich falsch ein. Wie vielleicht ich«, ergänzte er nachdenklich, »auch die Ihre.«
»Jedenfalls«, erwiderte der jüngere Mann, »was geschehen ist, ist geschehen.«
»Aber, St. Clair, dieses junge Ding, das sie da heute morgen gefunden haben. der Fall könnte ein wenig unangenehm für die Familie werden, oder?«
»Das denke ich nicht«, antwortete der Squire, der sich aus dem Sessel erhob und sich dabei auf den Mund klopfte, um ein Gähnen zu unterdrücken. »Soweit ich das Ganze überblicke, war es ein Mädchen aus dem Ort, das von einem der Stalljungen umgebracht wurde. Das habe ich auch dem Inspektor erzählt. Ich bezweifle, daß Twillings die Familie für irgendeine schmutzige Affäre verantwortlich macht, in die Angestellte verwickelt sind.«
Zu diesem Zeitpunkt merkte meine Freundin, daß sie ihren astralen Besuch nicht weiter in die Länge ziehen konnte, denn sie fühlte nun innerhalb ihrer ätherischen Gestalt ein Zerren unsichtbarer Seile, die sie zurückzogen - während sie gleichzeitig winzige schmerzende Stiche auf der Stirn ihres physischen Körpers wahrnahm. Da dies das erste Mal war, daß Violet über einen so langen Zeitraum hinweg durch die Gegend geschwebt war, bekam sie ziemliche Angst. Sie berichtete, daß sie einen starken Windhauch gespürt hatte, der sie durch einen schwarzen und endlosen Tunnel fegte, bevor sie wieder gesund und munter in ihr bequemes Bett gelangt war.