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Als ich Vi aus ihrem Schlafzimmer kommen sah, eilte ich - so schnell, wie es diese müden alten Beine erlaubten - den Flur entlang, um sie zu begrüßen.
»Nora Adams!« schrie ich, etwas zu impulsiv, wie ich befürchtete. Ich gab mir also Mühe, mich zurückzuhalten.
»Wer?« fragte sie, verwirrt angesichts meines Überfalls.
»Nora Adams!« wiederholte ich.
»Und wer ist das, bitte schön?« fragte meine alte Freundin, während sie mich von oben bis unten beäugte, als sei ich vollkommen verrückt geworden.
Ich ergriff ihre Hände und sagte strahlend: »Ich weiß, wer sie ist!« Und in meiner Begeisterung, so muß ich gestehen, zerrte ich sie buchstäblich in das Schlafzimmer zurück, bevor ich die Tür hinter mir wieder zuwarf.
»Wirklich, Liebes? Das ist schön, nicht wahr?« antwortete sie mit einem überaus besänftigenden Tonfall. »Warum setzt du dich nicht und entspannst dich ein wenig, so ist es gut, und ich werde Dr. Mor-ley.«
»Oh, Vi«, lachte ich. »Ich habe mich noch nicht von meinem Verstand verabschiedet, obgleich es so aussehen muß. Aber in Zeiten wie diesen«, fuhr ich fort und ging nun auf und ab, »ist es nicht so einfach, derart kühl und gesammelt zu erscheinen wie ein gewisser Detektiv, den ich jetzt erwähnen könnte.«
»In Zeiten wie welchen?« fragte sie, während sie mich Schritt für Schritt auf meinem unendlichen Pfad durch das Zimmer begleitete.
»Vi!« rief ich verärgert. »Es gibt doch wohl kaum genug Platz in diesem Zimmer, daß wir beide auf und ab gehen könnten, oder?«
»Sollen wir uns also abwechseln?«
Ich schnitt eine Grimasse.
Das Problem wurde gelöst, indem wir uns beide in zwei Sessel neben den Kamin setzten.
»So, schon besser, nicht wahr?« lächelte sie. »Und nun laß hören, was dich so aufgewühlt hat.«
»Unser unbekanntes Mordopfer«, begann ich und rückte meinen Sessel etwas näher an das warme Feuer, »war niemand anderes als Nora Adams!«
»Nora. ? Ich kenne keine. «
»Nein, natürlich nicht, meine Liebe«, antwortete ich angesichts ihres verwirrten Ausdrucks. »Das Mädchen ist, oder war, bis zu ihrem Tode der Star der Londoner Varietes. Sie war es, die das von ganz London gesungene Lied >Lebe wohl, mein Seemann< berühmt machte.«
»Du willst behaupten, daß dieses junge Ding, das da draußen lag«, staunte sie mit einer richtungsweisenden Kopfbewegung gen Fenster, »eine von diesen aufgedrehten Unterhaltungskünstlerinnen aus diesen Varietes war? Himmel! Das gibt der ganzen Sache ja ein bißchen Würze, oder? Ich meine, wo sie doch auf der Bühne stand und so.« Ihre Augen funkelten bei dem Gedanken daran. »Also, wie hast du das über diese Nora Adams herausgefunden? Durch den Inspektor?«
»Gewiß nicht!« antwortete ich äußerst entrüstet. »Ich habe es gemerkt, als ich mit dem jungen Will Tadlock von Twillings zurückfuhr. Eine recht angenehme Fahrt, übrigens. Wir haben Lieder gesungen, weißt du, und.«
»Lieder gesungen? Was, du?«
Ich ignorierte die Tatsache, daß sie mehr Verwunderung zum Ausdruck brachte, als sie herausfand, daß ich die Fähigkeit besaß, meine Stimme singend zu erheben, als sie es in dem Moment tat, in dem ich sie darüber informierte, daß ich die Identität des toten Mädchens entdeckt hatte, und fuhr unbekümmert fort: »Als Will mich fragte, ob ich irgendwelche Lieder kannte, kam mir die Melodie von >Lebewohl, mein Seemann< in den Sinn. Nach dem halben Refrain fiel mir plötzlich ein, wo ich es gehört hatte und wer es gesungen hatte. Aber um ehrlich zu sein, ich muß zugeben, daß ich nur mir selbst die Schuld geben kann, mich nicht an all das schon früher erinnert zu haben.«
»Du kanntest sie also?«
»Nein, aber ich habe sie gesehen, verstehst du, vor nicht länger als einem Monat im Empress mit Mrs. Waddell, einer alten Freundin aus der Straße. Aber von dort, wo wir saßen, konnte man die Gesichtszüge nicht allzu gut erkennen. Außerdem«, fügte ich hinzu, als ich an die Zeit zurückdachte, in der Vi und ich uns auf diese Art ab und zu die Nacht um die Ohren schlugen, »du erinnerst dich sicher, wie es in diesen Varietes ist.«
»Immer noch so schwach beleuchtet und so verraucht, wie?« fragte sie und beugte sich nach vorne, um nach einem neben dem Kamin liegenden Schürhaken zu greifen.
»Wenn nicht schlimmer«, erwiderte ich. »Ich will mich ja nicht herausreden, aber die Leiche des armen toten Mädchens zu betrachten ist schon was anderes, als sie in vollem Kostüm auf der Bühne herumtanzen zu sehen.«
»Aber natürlich, das sehe ich auch so!« versicherte mir Vi zustimmend, während sie sich daran machte, die Asche zu durchstochern. »Und der Inspektor weiß über diese Nora auch Bescheid?«
»Oh, ja«, antwortete ich. »Ich habe den Inspektor informiert, nachdem Will mich zu der Polizeistation zurückgefahren hatte. Deshalb bin ich auch etwas später zurückgekehrt, als ich wollte.«
Ich berichtete Vi dann von meinem Treffen mit Thackeray und von der weniger geneigten Reaktion dieses Herrn auf die Freilassung des jungen Tadlock. Aber dennoch, fügte ich mit berechtigtem Stolz hinzu, aufgrund der Informationen und der Beweisstücke, die ich ihm verschafft hatte, konnte ich nun behaupten, in Inspektor Jonas Thackeray einen Verbündeten gewonnen zu haben. Als ich erwähnte, daß das ermordete Opfer zum Zeitpunkt des Todes ein Kind unter dem Herzen trug, löste ich folgende Reaktion aus: »Schwanger?«
Ich schüttelte mißbilligend den Kopf. »Also wirklich, Violet!«
»Was? Was hab’ ich gesagt?«
»Nichts, meine Liebe.« Ich lächelte. »Ein Witz für Eingeweihte.«
Da sie zu sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft war, nachdem sie all dies gehört hatte, ging sie nicht weiter darauf ein.
»Nun, damit ist Lady Wichtig aus dem Schneider. Das kann man ihr jedenfalls nicht zuschreiben. Das heißt aber natürlich noch nicht, daß sie das Mädchen nicht umgebracht haben könnte, falls sie herausgefunden hat, daß Sir Charles. du weißt schon.«
»Du glaubst, der Baronet war in irgendeine schmutzige Affäre mit der Adams verwickelt?«
»Könnte sein. Warum nicht, hm? Allerdings, bei dem Haufen kann man nie wissen. Mit Ausnahme von Dr. Morley natürlich.«
»Dr. Morley?«
»Mhm. Er ist der einzige von allen, der kein Motiv zu haben scheint.«
»Jedenfalls keines, von dem du gehört hast«, entgegnete ich.
»Nein, doch nicht unser Dr. Morley«, behauptete sie recht unnachgiebig. »So ein überaus netter Mann. Und noch dazu ein so gutaussehender. Nein, das ist nicht der Typ dazu, weißt du.«
»Aber, Violet«, antwortete ich mit einem Lachen, »ich habe das Gefühl, du bist in unseren Doktor verliebt!«
»Verliebt?« rief sie aus und richtete sich in ihrem Sessel auf, wobei sie mit den Händen nervös ihren Kragen zurechtzupfte. »Aber so etwas hab’ ich ja noch nie gehört! Du mußt verrückt geworden sein!«
»Ich ziehe dich nur auf«, tröstete ich sie lächelnd und tätschelte ihre Hand, woraufhin ich dann taktvoll das Thema wechselte. »Erinnerst du dich daran, mir gesagt zu haben, welch gutes Ohr für Musik du hättest?«
»Was soll das denn nun?«
»Hier ist eine Melodie, die du dir mal anhören sollst.«
»Du wirst doch jetzt nicht singen, oder?«
»Sag mir, ob du Sie wiedererkennst«, sagte ich und ignorierte ihre spitze Bemerkung.
Ich hatte kaum angefangen zu summen, als Vi mich mit der Bemerkung unterbrach: »Natürlich erkenne ich die. Du hast neulich abend gehört, wie ich sie summte. Es ist die gleiche Melodie, die Sir Charles vor sich hin klimperte«, antwortete sie recht zufrieden mit sich selbst.
»Genau«, erwiderte ich. »Und obwohl mir das bis heute nachmittag nicht klar war, ist diese Melodie, meine Liebe, keine andere als die von >Lebe wohl, mein Seemann<.«
Ihr zufriedener Gesichtsausdruck verschwand rasch.
»Was? Die gleiche Melodie wie die von deiner Nora Adams? Aber woher könnte Sir Charles. ?«
Die Frage sollte nicht beantwortet werden, denn in genau dem Moment war mein Blick auf einen Schatten gefallen, der zwischen Tür und Fußboden zu erkennen war und dessen Ursprung im Flur zu suchen war. Ich warnte Vi, indem ich zur Tür wies und unhörbare Worte von mir gab: »Da - lauscht - jemand.«
Daraufhin ergriff sie den neben dem Kamin liegenden Schürhaken, und zusammen pirschten wir vor. Während Vi den Schürhaken fest umklammerte und ihn zur Verteidigung über dem Kopf hielt, griff ich nach dem Knauf, riß die Tür auf und wurde mit einem weißen Schnauzbart konfrontiert. Hinter dem herabhängenden Gestrüpp war ein erschütterter Colonel Wyndgate zu sehen.
»Um Himmels willen, Madam! Was beabsichtigen Sie damit zu tun?« stieß er mit einem mißtrauischen Blick auf den erhobenen Schürhaken hervor.
»Das ist jetzt unwichtig, aber was haben Sie vor der Tür gemacht?« fragte Vi. »Den Wald nach Termiten abgesucht?«
»Den Wald nach.? Meine liebe Frau«, entgegnete er wütend und mit bebenden Wangen, »ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«
»Aber Sie haben doch vor der Tür gestanden, Colonel. Warum?« fragte ich.
»Warum? Warum, Mrs. Hudson? Ich wollte einfach nur, ich meine.«, stotterte er, bis er letztendlich seine Haltung wiedergewann. »Ich war auf dem Weg nach unten, als ich mir dachte, ich könnte um das Vergnügen bitten, die Damen zum Dinner begleiten zu dürfen. Hatte noch nicht einmal Zeit zu klopfen, als. «
»Nun, es ist doch wirklich merkwürdig, daß Sie bisher noch nie darum gebeten haben!« erwiderte Violet unwirsch und wenig überzeugt.
»Und ich bezweifle sehr wohl, daß ich es jemals wieder tun werde!« brummte das Rote-Bete-Gesicht.
»Du kannst den Schürhaken wieder hinlegen, Vi«, lächelte ich. »Ich denke, im Moment sind wir sicher. Und«, sagte ich zu dem alten Soldaten, »da wir tatsächlich gerade großen Hunger verspüren und da es tatsächlich Zeit für das Dinner ist, Colonel, begleiten wir Sie nur zu gern.«
Was die am Tisch Anwesenden betraf, so war ihre Unterhaltung zwar schleppend, aber doch freundlich. Die unterschwelligen Spannungen, die noch herrschten, als ich das letzte Mal mit ihnen zusammensaß, waren von der Speisetafel verschwunden. Es schien, als versuchten sie, die Ereignisse der letzten Tage hinter sich zu lassen. Auch wenn dies an sich lobenswert war, so sollte es sich doch noch vor dem Ende dieses Abends als verfrüht herausstellen.
Nachdem ich Lady Margaret mein Kompliment für das Mahl ausgesprochen hatte und dabei heimlich die übriggebliebenen Reste eines allzu gummihaften Yorkshire-Puddings unter meinem Kartoffelpüree versteckt hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Baronet zu.
»Dr. Morley leistet uns heute abend keine Gesellschaft, Sir Charles?«
»Heute abend nicht, Mrs. Hudson. Er ließ uns ausrichten, daß er bedauerlicherweise ein wenig unter dem Wetter leidet.«
»Vielleicht sollte er einen Arzt aufsuchen!« meinte der alte Colonel mit schallendem Gelächter.
Es folgte ein peinlich berührtes, höfliches gedämpftes Lachen am Tisch.
»Noch Wein, Margaret?«
»Ja, ein wenig, Henry.«
Hogarth, der schweigsam hinter dem Stuhl von Sir Charles gestanden hatte, war augenblicklich neben ihr.
»Die Damen?« Ein fragender Blick des jüngeren St. Clair.
»Für mich nicht mehr, Squire«, sagte Vi.
»Für mich auch nicht«, erwiderte ich, woraufhin ich dem Fuß meiner Kameradin einen verschwörerischen Tritt verpaßte und hoffte, sie würde nicht widersprechen, als ich mich erhebend verkündete: »Wirklich, ein herrliches Mahl, Lady Margaret. Wenn Sie uns nun entschuldigen möchten?«
Während wir uns vom Tisch verabschiedeten, erlangte ich Hogarths Aufmerksamkeit mit einer Kopfbewegung in Richtung Tür. Er verstand mein Anliegen und antwortete gleichermaßen mit einem leichten und heimlichen Kopfnicken seinerseits.
Als wir draußen waren, wandte ich mich Vi zu. »Wenn sie sich ins Musikzimmer zurückziehen, wie verbringen sie dann ihre Zeit?« fragte ich.
»Nun, Sir Charles spielt vielleicht ein wenig Klavier. Lady Margaret macht ein wenig Handarbeit. Der Squire und der Colonel lesen vielleicht eine Zeitlang, bevor sie sich zum Kartenspielen davonmachen.«
»Und wie lange bleiben sie ungefähr in dem Zimmer?«
»Höchstens eine Stunde, würde ich sagen. Warum fragst du?«
»Ich möchte, daß du ins Musikzimmer gehst und dort auf sie wartest«, teilte ich ihr mit und ignorierte ihre Frage. »Leiste ihnen Gesellschaft, bis ich komme.«
»Das wird ihnen mit Sicherheit gefallen. Und wo gehst du hin?«
»Zu Dr. Morley«, antwortete ich. »Ich möchte herausfinden, wie sehr er wirklich unter dem Wetter leidet. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er vom Dinner fernbleibt.«
Sie trat mit einem fragenden Blick einen Schritt zurück.
»Ach, komm schon, du hast doch etwas vor. Was soll das alles?«
Bevor ich Zeit hatte zu antworten, schloß Hogarth, nachdem er sich aus dem Speisezimmer verabschiedet hatte, die Tür hinter sich und kam näher. »Sie wollten mich sprechen, Mrs. Hudson?« flüsterte er in einem überaus vertraulichen Tonfall.
Am Glanz in seinen Augen konnte ich erkennen, daß er recht ergriffen davon war, Teil eines geheimen Triumvirats zu sein.
»Ja, Hogarth, das wollte ich«, antwortete ich und zog ihn näher heran. »Inspektor Thackeray wird in der nächsten Stunde am Hintereingang eintreffen. Es ist wichtig, daß niemand von seiner Ankunft erfährt, außer Mary.«
»Ich verstehe vollkommen, Madam«, erwiderte er, wobei er versuchte, seine Aufregung zu verbergen. »Gibt es etwas Bestimmtes, was ich tun soll?«
»Geben Sie ihm nur jede mögliche Unterstützung«, antwortete ich. »Wenn alles wie geplant verläuft, werden wir das düstere Geheimnis noch heute abend lüften. Wenn nicht, so fürchte ich, werde ich mich vollkommen zur Närrin machen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Hudson, alles wird gut verlaufen«, lautete die beruhigende und entschiedene Antwort des ehrwürdigen Herrn. »Aber ich muß zurück.
Sie werden sich fragen, wo ich bin, Sie verstehen. Viel Glück«, flüsterte er und schloß die Tür hinter sich.
»Vielleicht erzählst du mir nun endlich mal, was genau hier vor sich geht!« rief eine frustrierte Violet und stampfte verärgert auf den Boden.
»Es tut mir leid, Violet, wir haben einfach nicht die Zeit dafür«, antwortete ich und warf einen argwöhnischen Blick zur Tür des Speisezimmers. »Sie könnten jede Minute herauskommen. Bitte, tu einfach, um was ich dich gebeten habe.«
»Nun gut«, lautete die verschlossene Antwort. »Aber wenn ich Dr. Watson wäre.« Sie murmelte weiter vor sich hin, während sie auf den Hacken kehrtmachte und auf dem Flur davonstürzte.
Während ich insgeheim Mitgefühl für meine alte Freundin verspürte, so hatte es doch seit meiner Rückkehr nur sehr wenig Gelegenheit gegeben, sie mit den Antworten auf die vielen Fragen vertraut zu machen, die bisher ein Rätsel geblieben waren.
Daisys quälend schleppende Gangart hatte sich im nachhinein als Segen herausgestellt, da sie mir genügend Zeit verschaffte, im Geiste langsam, aber sicher alle losen Enden der Geschichte ordentlich zusammenzufügen. Während ich bereitwillig zugebe, daß es bei dem Fall noch gewisse Aspekte gab, die ich der Vermutung überlassen mußte, blieb ich gänzlich überzeugt, daß ich nun das Warum, Wie und Wer in der Hand hatte.
»Dr. Morley?«
Keine Antwort.
Da die Tür angelehnt war, stieß ich sie auf, steckte meinen Kopf um die Ecke und rief nochmals: »Dr. Morley, geht’s Ihnen gut?«
»Ah, Mrs. Hudson? Bitte, kommen Sie herein.«
Ich betrat ein spärlich eingerichtetes Zimmer, in dem der Kamin die einzige Lichtquelle war. Zwei Ohrensessel, von denen einer vom Doktor besetzt war, standen vor den tanzenden Flammen, während düstere Schatten über sein Gesicht flackerten. Eine Whisky-Karaffe, die auf einem kleinen Beistelltisch neben dem Sessel stand, fing den Schein des Feuers mit dem Prisma ihres geschliffenen Glases ein und produzierte lautlose Farbexplosionen.
Während die eine Hand den Drink fest umklammerte, wies mir die andere einen Platz im gegenüberstehenden Sessel.
»Sir Charles sagt, daß Sie sich nicht gut fühlen«, bemerkte ich und nahm meinen Platz im Sessel ein.
Eine kleine Spur von einem Lächeln erschien. »Immer noch die Lady mit der angeborenen Neugier für alles Medizinische, wie ich sehe«, meinte er mit Bezug auf unsere erste Begegnung und fügte mit einem leichten Klaps auf seinen Magen hinzu: »Um ehrlich zu sein, ich leide an nichts anderem als an einer kleinen Verdauungsstörung, Mrs. Hudson. Dennoch, ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen.« »Ich dachte, Sie leiden vielleicht statt dessen unter einem Schuldgefühl«, erwiderte ich ruhig.
Es war keine Reaktion zu erkennen, nicht einmal ein Zucken der Augenbrauen. Seine einzige Reaktion bestand darin, sein Glas aufzufüllen, bevor er schlicht und einfach und beinahe gefühllos sagte: »Sie wissen es, nicht wahr?«
Ich nickte. »Ja, Dr. Morley, ich weiß es.«
»Ich vermutete es an dem Morgen, als Mrs. Warner von dem Chloroform sprach. Aber ich war nicht sicher. Wußten Sie es da schon?«
»Nein, nicht wirklich«, gestand ich. »Aber ich dachte mir, daß die einzige Person, die freien Zugang zu Chloroform hat, ein Arzt sein muß. Allerdings brachte mich vom Kurs ab, daß so viel angewandt wurde. Meinem Urteil zufolge schien es, als sei eine viel größere Menge benutzt worden, als normalerweise nötig.«
»Das geschah nicht aufgrund eines ärztlichen Fehlers meinerseits«, unterbrach er mich barsch. »Es gab einen Kampf, verstehen Sie, die Flasche lief aus.«
»Dr. Morley«, stieß ich hervor, »es handelt sich hier nicht um einen Fall von falscher ärztlicher Behandlung, sondern um Mord!«
»Wie? Oh, ja, ich weiß, was Sie meinen. Das Ego eines Arztes meldet sich hier zu Wort, Mrs. Hudson.« In spöttisch-theatralischem Tonfall fügt er dann hinzu: »Sie können einem Arzt alles vorwerfen, nur nicht mangelnde Fachkompetenz, selbst wenn es sich um das Beenden eines Lebens handelt.«
»Ich finde Ihren Humor nicht angebracht«, meinte ich kühl.
»Sie haben natürlich recht, Mrs. Hudson. Ein Witz, der anscheinend so übel ist wie dem Arzt selbst.«
Er stöhnte leicht auf.
»Sie sind ja wirklich krank!«
»Das ist nichts. Das geht bald vorbei.«
Er hob das Glas an die Lippen, aber anstatt den Drink hinunterzustürzen, nippte er nur daran.
»Eine Frage, Madam.«
»Ja?«
»Woher in aller Welt wußte Mrs. Warner, daß jemand im Zimmer war?«
Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Meine Gedanken drehten sich im Kreis wie Miniaturzahnräder, bis sie letztendlich bei der angemessenen Antwort einrasteten. »Spielt das jetzt wirklich noch eine Rolle?« fragte ich.
Er seufzte resigniert. »Nein, wohl nicht«, antwortete er.
Ich seufzte erleichtert.
Außer einem gelegentlichen Knacken der brennenden Holzscheite folgte ein Moment der Stille.
»Ich bin so ein Narr gewesen«, murmelte er schließlich, während er tief in die Flammen starrte. »Das erkenne ich jetzt. Ich weiß nicht einmal, warum ich es tat. Nein«, sagte er und wandte mir den Blick zu, »selbst das ist eine Lüge. Ich weiß es nur allzugut.«
»So wie ich«, bemerkte ich leise. »Obwohl ich mich zuerst fragte, wie es einem Mann, dessen ganze Karriere der Pflege und Heilung anderer gewidmet war, möglich war, jemandem das Leben zu nehmen. Ich kam zu dem Schluß, daß das Motiv wirklich übermächtig gewesen sein muß. Sie sind kein reicher Mann, nicht wahr, Doktor?«
Er scharrte verlegen mit den Füßen und verdeckte mit seiner Hand einen abgetragenen Armelaufschlag.
»Es tut mir leid«, sagte ich, »aber Ihre Kleidung verrät es.«
»Nein, Mrs. Hudson«, erwiderte er und langte hinüber, um den Rest der Karaffe in sein Glas zu füllen, »ich bin kein reicher Mann. Stellung - ja, Ansehen - ja, aber Geld - nein. Dr. Thomas Morley, Hausarzt auf Gut Haddley«, verkündete er mit erhobenem Glas, als sei es eine Fahne. »Hört sich hübsch an, nicht wahr, Madam? Eine mündliche Visitenkarte, die mir einen bevorzugten Tisch und Service in unseren besten Restaurants verschaffte, ebenso wie die Ehre, als Mitglied in verschiedenen gesellschaftlichen Komitees auf regionaler Ebene zu dienen.«
Er senkte langsam sein Glas.
»Aber bedenken Sie, verehrte Dame«, fuhr er fort, »dies ist keine große Gemeinschaft, und ich praktiziere wenig. Von gesellschaftlicher Stellung allein wird man nicht reich.«
»Aber«, entgegnete ich, »es scheint, als führten Sie ein angenehmes Leben, und Ihre Zeit wird nicht sehr in Anspruch genommen. Woher dieses besessene Verlangen nach Geld?«
Er beugte sein schönes Gesicht vor und warf mit einer weitschweifenden Geste die Arme um sich.
»Sehe ich etwa aus wie der nette alte Landarzt? Ach, in London wäre das etwas ganz anderes.«
»London?«
»Mit dem richtigen Kapital, Mrs. Hudson, könnte ich meine eigene Praxis kaufen, mich in einem vornehmen Viertel einrichten und mich dann um die Beschwerden, echte oder eingebildete, der Oberschicht kümmern.«
»Also«, sagte ich, »wurde Ihnen Geld geboten, um Ihre Ladyschaft zu beseitigen, zweifellos mit dem Bonus, Sie mit all den richtigen Leuten bekannt zu machen.«
»Ja. Vollkommen richtig.«
Bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, faßte er sich an den Leib und biß sich vor Schmerz auf die Unterlippe.
»Dr. Morley!« schrie ich auf. »Bitte, lassen Sie mich Ihnen etwas holen!«
Er winkte mein Angebot ab und sank noch tiefer in den Sessel.
Die Hitze des Feuers war viel zu unangenehm für mich, und hätte ich die Kraft gehabt, hätte ich den Sessel weiter weggeschoben. So saß ich da und wartete, bis er sich wieder gefangen hatte, bevor ich fragte: »Und wieviel bekamen Sie, um sich meiner zu entledigen?«
Er mied meinen Blick und indirekt auch meine Frage, indem er selbst eine stellte: »Sie wußten also, daß ich es war?«
»Rückblickend ja«, antwortete ich. »Etwas an der unangenehmen Geschichte war besonders auffallend.«
»Ja? Und das war.?«
»Sie haben meinen Puls gefühlt, als ich auf dem Boden lag. Damit haben Sie sich, wenn Sie mein Wortspiel entschuldigen möchten, Doktor, Ihr eigenes Grab geschaufelt.«
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen.« Ein tiefer Seufzer und ein mutloses Kopfschütteln folgten. »Aber in einer Hinsicht liegen Sie falsch, Mrs. Hudson. Er war kein Geld im Spiel. Ich allein habe entschieden, Sie loszuwerden. Als selbsterhaltende Maßnahme, wenn Sie so wollen. Sie schienen überall zu sein, zu vielen Leuten zu viele Fragen zu stellen. Und als Sie hierblieben, anstatt am Begräbnis teilzunehmen, machte sogar das mich mißtrauisch. Später an dem Tag untersuchte ich das Zimmer im oberen Stockwerk und fand frische Abdrücke von Frauenschuhen. Ich wußte, daß dies die Ihren sein mußten. Zu dem Zeitpunkt schien alles auseinanderzufallen. Alles.«
Er verbarg sein Gesicht hinter den Händen, während sein Körper vor Pein und Reue bebte.
»Aber Sie waren nicht für den Tod des jungen Mädchens verantwortlich«, bemerkte ich leise.
»Nein«, bestätigte er, als seine Hände herabfielen und rotunterlaufene Augen offenbarten, »aber wenn ich bekannt gemacht hätte, wer dafür verantwortlich war, hätte es nur meine Beteiligung am Tode Ihrer Ladyschaft verraten. Was habe ich nur für einen Schlamassel aus meinem Leben gemacht«, fügte er mit einer vor Ergriffenheit versagenden Stimme hinzu. »Welch riesigen, vollkommenen Schlamassel.«
Diesen Dr. Morley hätte Violet nicht wiedererkannt. Dies war ein durch seine Taten gebrochener Mann. Ein Mann, für den ich weder Wut noch Verachtung, sondern lediglich Mitleid empfinden konnte.
»Aber was meinen Angriff auf Ihr Leben betrifft, Mrs. Hudson, so müssen Sie mir glauben«, flehte er mich an, wobei sein Blick nach irgendeinem Zeichen der Absolution meinerseits suchte, »es tut mir wahrlich leid, daß es je geschehen ist. Niemand ist dankbarer als ich, daß Sie noch leben.«
»Eine Person wohl doch, Dr. Morley.«
Ein trauriges und verständnisvolles Lächeln war zu erkennen. »Ja, sicher«, erwiderte er, nachdem er noch einen Schluck seines Drinks zu sich genommen hatte.
»Ich möchte Ihnen ein Geheimnis anvertrauen«, sagte er dann sehr leise und mit offensichtlichem Ernst. »Obwohl es möglich ist, daß Sie mich für verrückt halten, wenn Sie es hören. Aber in jener Nacht ist mir etwas passiert. Etwas, das ich nur als tiefe religiöse Erfahrung bezeichnen kann. Während ich in dem dunklen Zimmer über Ihnen stand, erschien ein Licht vor mir. Ein schillernd blaues Licht, das von einer vor mir stehenden Gestalt ausgestrahlt wurde. Es war ein Engel, Madam. Ein vom Himmel gesandter Engel.«
Guter Gott, er sprach von Violet!
»Ich wußte, daß es ein Zeichen sein mußte. Ich eilte aus dem Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft in mein Zimmer zurück und fiel betend auf die Knie. Aber nachdem himmlische Mächte selbst eingetreten waren, um meine Taten zu verurteilen, welche Hoffnung hatte ich da noch auf Erlösung?«
»Dr. Morley«, unterbrach ich ihn, »ich halte es nur für fair, Sie zu warnen, daß Inspektor Thackeray jede Minute hier eintreffen wird, wenn er nicht schon da ist. Ich habe keine andere Wahl, als ihm von unserem Gespräch zu erzählen.«
»Tun Sie das, Mrs. Hudson«, antwortete er mit einem müden Seufzer. »Was mich betrifft, meine verehrte Dame, so ist es wohl an der Zeit, daß ich mich verabschiede.«
Er trank den übrigen Inhalt seines Glases in einem Zug aus, bevor mir die Grausamkeit dessen bewußt wurde, was er getan hatte.
»Dr. Morley!« schrie ich und sprang aus dem Sessel auf.
Er fiel vornüber, faßte sich mit beiden Händen auf den Leib, und in dem Versuch aufzustehen taumelte er benommen von einer zur anderen Seite, während seine nun glasigen Augen wild durch das Zimmer jagten. Der Körper fiel unbeholfen in den Sessel zurück, während willkürliche Krämpfe die leblose Gestalt weiterhin wie eine Marionette durchrüttelten. Dann war es, so schnell wie es begonnen hatte, vorbei.
Erschüttert schloß ich die Tür hinter mir, ging nach unten und überließ Dr. Morley und sein Geständnis einer höheren Autorität.