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Das Telegramm stellte aus zweierlei Gründen ein Rätsel für mich dar. Violets kurzgefaßte Sätze liefen auf die Bitte hinaus, ich möge mich dafür einsetzen, daß Mr. Holmes aufgrund einer sehr dringlichen Angelegenheit unverzüglich nach Haddley Hall käme. Haddley Hall, kaum zu glauben! War das Geschäft der Warners im Laufe der Jahre so gediehen, daß sie sich nun einen Landsitz leisten konnten? Wie Violet selbst gesagt hätte: »Verflixt unwahrscheinlich!« Warum also Haddley Hall? Und was könnte von einer solchen Wichtigkeit sein, daß es die Dienste von Sherlock Holmes erforderte?
Aufgrund der Dringlichkeit der Nachricht und der Tatsache, daß Mr. Holmes und Dr. Watson zu einer vierzehntägigen Reise nach Schottland aufgebrochen waren, machte ich mich am folgenden Morgen selbst auf den Weg nach Haddley Hall.
Meine Reise war äußerst mühsam. Ich hatte einen Zug bis zu dem nächstgelegenen Dorf genommen, und da meine Ankunft auf dem Gut nicht erwartet wurde, weil ich keine telegraphische Antwort geschickt hatte, mußte ich mich nach örtlichen Transportmitteln für den Rest meines Weges umsehen. Nachdem ich in einer Teestube vor Ort einen kleinen Imbiß zu mir genommen hatte, war ich in der glücklichen Lage, auf einen Bauern mit Pferd und Wagen zu treffen, der mir versicherte, er würde auf seinem Heimweg an Haddley Hall vorbeikommen. Da der alte Bauer nicht sehr gesprächig war, fuhren wir schweigend durch eine Landschaft, wie John Constable sie gemalt haben könnte: über staubige, zerfurchte Wege und Hügel in gedämpftem Grün und düsterem Braun. Schließlich trafen wir auf eine Feldsteinmauer, der wir eine gute Viertelmeile folgten, bis wir an einem eher Unheil verheißenden, schwarzen, gußeisernen Tor ankamen.
Der Kerl zog heftig die Zügel an, womit er das arme Tier abrupt zum Anhalten veranlaßte, und mit einem kurzen Fingerzeig in Richtung auf das Tor murmelte er: »Haddley Hall.« Da mir keine hilfreiche Hand zum Aussteigen gereicht wurde, kletterte ich so gut wie nur irgend möglich hinunter und holte mir meinen Koffer aus dem hinteren Teil des Wagens. Nach einem Abschied, der nur aus einem kurzen Kopfnicken und einem flüchtigen Berühren der Mütze mit Daumen und Zeigefinger bestand, trieb der alte Bauer das Pferd an, und zusammen setzten Mann und Tier ihren schweigsamen Weg nach Hause fort.
Ich hatte noch einen Fußweg von gut fünfzehn Minuten auf einem Privatweg vor mir, an dessen Seiten in regelmäßigen Abständen gewaltige Pappeln im italienischen Stil landschaftlicher Gestaltung gepflanzt waren. Was mich betrifft, so hätte ich lieber gute, starke englische Eiche gesehen. Nichtsdestotrotz erreichte ich schließlich mit schmerzenden Füßen, erschöpft und mit Staub bedeckt mein Ziel.
Haddley war ein riesiger Steinbrocken in betont einfachem Stil. Georgianisch, sagte ich mir, obwohl ich zugeben muß, daß das Erkennen unterschiedlicher architektonischer Stile keine meiner Stärken ist. Eines der Gebiete, ermahnte ich mich, denen ich mich nach meiner Rückkehr nach London etwas mehr widmen sollte. Nicht, daß meine Eltern es versäumt hätten, mir eine ordentliche Ausbildung zukommen zu lassen, aber die Pflanze des Wissens muß fortwährend gewässert werden, und ich halte eine hinterfragende Haltung für die notwendige Nahrung, wenn sie wachsen und gedeihen soll.
Ich rühme mich damit, die Beherrschung zweier Fremdsprachen erlangt zu haben, ebenso die Kenntnis historischer Daten, das Verständnis verschiedener Bereiche der Medizin und das Vermögen, die Künste zu schätzen. In meiner Freizeit gehe ich auch der Malerei nach, meine Versuche, Öl auf die Leinwand zu bringen, verschafften mir -wie laienhaft das Ergebnis auch sein mochte - viele angenehme Nachmittage. Es wäre allerdings unrecht, wenn ich nicht mit aller Offenheit eingestehen würde, daß all mein Wissen, welches ich mir in den Jahren nach dem Ableben meines Mannes angeeignet hatte, Mr. Holmes zu verdanken war.
Wenn er nach der Aufklärung eines besonders schwierigen Falles nicht so recht wußte, was er mit sich anfangen sollte, fühlte er sich berufen, einen Nachmittag an meinem Küchentisch zu verbringen und sich Kekse und Tee zu gönnen.
Einmal, nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte, lehnte sich dieser große Mann mit seinem hageren Körper über den Tisch und ermahnte mich mit erhobenem Zeigefinger und einem strengen, sachlichen Tonfall: Wenn ich mein Verständnis der Welt als Ganzes erweitern wolle, ». dann, so glaube ich, Mrs. Hudson, lautet mein bester Ratschlag für Sie - wenn ich Shakespeare heranziehen darf -, begebt Euch in eine Bibliothek.«
Dies war ein vernünftiger Ratschlag, den ich eifrig befolgen sollte. Leider führte dies mehrere Male zu Unannehmlichkeiten. Mitunter war ich mir der späten Stunde nicht bewußt, wenn ich mich von der Bibliothek, Kunstgalerie oder dem Museum auf den Weg nach Hause machte, so daß ich bei meiner Heimkehr Dr. Watson antraf, der im Flur auf und ab ging und etwas Dahingehendes in sich hinein murmelte, nicht zur rechten Stunde sein Abendessen serviert bekommen zu haben. Dennoch war dies eine lohnende Ausbildung, und selbst wenn die angeeigneten Kenntnisse zu nichts nutze gewesen wären, so genügte mir doch die Tatsache selbst, daß ich wußte, was ich wußte.
Auf alle Fälle fand ich Haddley Hall sehr beeindruckend. So sehr, daß ich am Fuße der Treppe, die zum Eingang führte, zögerte und einen verstohlenen Blick auf die obligatorischen Steinlöwen auf beiden Seiten warf, die mich - wie ich fand - ihrerseits recht mißtrauisch anblickten.
Als ich oben angelangt war, stand ich dort mit einem schief sitzenden Hut, von Staub bedeckt, und sah in jeder Hinsicht sicherlich so aus wie ein lang verloren geglaubtes und verwahrlostes Waisenkind oder, im günstigsten Fall, wie eine arme Verwandte zu Besuch.
Nun komm schon, altes Mädchen, sagte ich mir, als nächstes siehst du noch das Gesicht Marleys in dem starr blickenden Türklopfer aus Messing.
Bei diesem eher drolligen Gedanken erlaubte ich mir ein kleines Lächeln, langte nach »Marley« und ließ das Messing ertönen - zuerst etwas schüchtern, dann aber, als die Tat begangen und keine Reaktion zu vernehmen war, klopfte ich noch einige Male recht kräftig und wartete. Die Tür öffnete sich, und hinter der erhabenen hölzernen Konstruktion schaute das Gesicht eines älteren und sehr vornehmen Butlers mit weißen Handschuhen hervor.
»Ja?«
»Ich möchte zu Mrs. Violet Warner«, sagte ich mit einem, wie ich hoffte, energischen Tonfall.
Schweigen.
»Ich verstehe.. .ja. Treten Sie bitte ein.«
Er trat zurück und öffnete die Tür etwas weiter, während ich eintrat.
»Erlauben Sie, Madam?« Seine Augen huschten zwischen Mantel und Hut hin und her.
»Oh ja, gewiß«, antwortete ich und fühlte mich ein wenig entspannter, nachdem Kleidung und Koffer in einem kleinen Nebenschrank verstaut waren.
»Wenn Sie die Güte hätten, hier zu warten, Madam. Ich werde Mrs. Warner von Ihrer Gegenwart in Kenntnis setzen.«
Ich blickte ihm nach, als er lautlos den glänzenden Parkettfußboden überquerte, und obwohl sein Gang sicher und präzise war, so konnte ich doch eine gewisse Schwermut darin erkennen. Die Schultern hingen nicht aufgrund des fortgeschrittenen Alters herab, dachte ich mir, sondern aufgrund einer anscheinend übermächtigen Depression. Als er eine direkt an der Eingangshalle liegende Schiebetür erreicht hatte, hielt er inne, bevor er sie öffnete.
»Verzeihen Sie«, sagte er mit einem entschuldigendem Lächeln. »Wie war der Name doch gleich?«
Ich richtete mich zu meiner gesamten Größe von fünf Fuß auf. »Hudson«, sagte ich. »Mrs. Emma Hudson.«
Der alte Herr nickte bestätigend, bevor er leise hinter der Tür verschwand.
Hm, dachte ich, die Warners haben vom Hafengelände Londons bis zu einem solchen palastähnlichen Landsitz einen langen Weg zurückgelegt - nicht nur in Meilen. Falls meine Reise jedoch nur durch irgendeinen verlorenen Gegenstand begründet sein sollte, wäre ich überaus verärgert, auch wenn sich daraus die Gelegenheit ergab, alte Bekanntschaften aufzufrischen.
Ich wurde von dem Geräusch der Schiebetür aus meinen Gedanken gerissen, als der Butler mit den weißen Handschuhen und den traurigen, aber freundlichen Augen wieder erschien. »Bitte hier entlang, Madam.«
Als ich den Raum betrat, schritt er beiseite, schob die Tür lautlos hinter mir zu und ließ mich zum ersten Mal nach fast zwanzig Jahren allein mit Violet Warner.