Wie ein sterbender Körper, der die letzten mitleiderregenden Atemzüge und Seufzer von sich gibt, so knisterte und zischte der im Kamin liegende verkohlte Holzscheit gelegentlich vor sich hin, bis noch einen kurzen Moment lang ein einziger Funke zu sehen war. Dann war auch er verschwunden. Wie auf Kommando ergriff der Wind, der jenseits des Schlafzimmerfensters wild aufheulte, diese Gelegenheit, um seine frostige Gegenwart im ganzen Zimmer spüren zu lassen.
Ich rutschte tiefer unter die Bettdecke.
»Also, Vi«, sagte ich zu meiner neben mir liegenden Kameradin, »wag es ja nicht einzuschlafen, bevor du mir nicht alles, was du über den Mord an Lady St. Clair weißt, erzählt hast.«
»Kann das denn nicht bis morgen früh warten?« lautete die schläfrige Antwort.
»Bis morgen früh! Im Leben nicht! Glaubst du denn, ich könnte schlafen, bevor ich nicht die ganze Geschichte gehört habe?« Ich stieß sie an der Schulter an. »Vi, bitte!«
Widerwillig setzte sie sich im Bett auf, und ich tat es ihr gleich.
»Ich nehme an«, sagte sie und zog die Decke weiter zu uns hoch, »es ist wohl am besten, wenn ich am Anfang beginne, denn sonst.«
»Du kannst anfangen, wo es dir gefällt! Nur fang endlich an!« Ob es auf die späte Stunde zurückzuführen war, weiß ich nicht, aber meine Geduld ließ langsam nach.
»Also wirklich, du gefällst mir!«
»Es tut mir leid, Vi«, hoffte ich sie zu besänftigen. »Bitte erzähl es so, wie du möchtest.«
»Mhm, das hab’ ich ja gerade versucht, oder?« erwiderte Violet auf eine Art, die mein verstorbener Mann immer ihre »süß-saure Antwort« genannt hatte. Das Lächeln war süß, aber die Worte waren sauer. Ich schwieg, während meine Kameradin ihre Augen von mir abwandte und in ihre eigenen, persönlichen Gedanken vertieft zu sein schien.
Schließlich war ein Räuspern ihrerseits zu vernehmen, was bei Violet immer bedeutete, daß sie etwas von immenser Bedeutung zu sagen hatte. Sie sprach zunächst recht leise: »Das heißt natürlich, daß ich dir etwas erzählen muß. etwas von meiner. «
Die restlichen Worte murmelte sie gänzlich unverständlich.
»Verzeih mir, Liebes. Ich habe dich nicht verstanden.« Ich rückte etwas näher an sie heran. »Du sagtest, du müßtest mir etwas erzählen über deine.?«
»Meine Gabe.«
Um sicherzugehen, daß ich sie richtig verstanden hatte, wiederholte ich das Wort. »Gabe?«
»Mhm. Meine Gabe, so nennt man das. Versprich mir, daß du nicht lachst.«
Ich antwortete, indem ich ihr versichernd die Hand drückte.
»Also gut.«
Sie suchte sich eine bequemere Position und begann, ihre Geschichte zu erzählen.
»Du erinnerst dich doch, Liebes, wie wir immer zur Wohnung der alten Bessie hochgegangen sind, um uns wahrsagen zu lassen?«
»Bessie - Bessie Muldoon.« Ich sprach den Namen eher für mich als für Vi aus, und während ich das tat, öffnete sich das Tor der Zeit, und herein flossen meine Erinnerungen mit einer Reihe von Szenen weit zurückliegender Tage. Als Witwe beschränkte sich ihre einzige Einkommensquelle auf das Wahrsagen, entweder indem sie Karten legte oder die am Boden einer leeren Tasse zurückgebliebenen Teeblätter las.
Wenn ich heute darauf zurückschaue, erscheint mir dies alles recht albern. Aber die Abende, die wir mit Bessie verbrachten, hatten wir für uns. Sowohl William als auch Albert wollten natürlich nichts damit zu tun haben und setzten uns beide einer Menge gutmütiger Nek-kereien aus. Doch da sie andererseits ehemalige Seefahrer waren (eine überaus abergläubische Spezie), unterließen sie es nie, sich zu erkundigen, was uns die alte Dame offenbart hatte. Das waren, so fürchte ich, nichts weiter als allgemeine Phrasen darüber, was sich innerhalb eines beliebigen Zeitraumes zutragen könnte oder auch nicht.
»Ja, genau, Bessie Muldoon«, bestätigte Vi mein Erinnerungen nik-kend. »Sie war eine gute alte Seele, unsere Bessie«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu und war zufrieden, daß sie mein Interesse geweckt hatte. »Nachdem du weggezogen warst, habe ich diese merkwürdigen Besuche allein gemacht. Nicht oft, aber gelegentlich schaute ich bei ihr vorbei, eigentlich eher, um zu sehen, wie’s dem alten Mädchen so ging.«
Sie schwieg einen Moment lang und hielt ihren Zeigefinger in die Luft. Der Grund dafür lag, so nehme ich an, darin, daß sie ihre Segel in eine andere gedankliche Richtung setzen wollte, bevor sie einen neuen Kurs einschlug. Ich wartete und versuchte, meine Wut über ihre Abschweifungen unter Kontrolle zu bringen. Was, zum Teufel noch mal, all dies mit dem Tod von Lady St. Clair zu tun hatte, wollte mir beim besten Willen nicht einleuchten, und ob es meiner alten Freundin klar war, blieb abzuwarten. Ich versuchte dennoch, meine Verärgerung so gut wie möglich zu verbergen, während ich darauf wartete, daß sie fortfuhr.
»Nein, das ist nicht wahr«, sagte sie schließlich. »Die Sache war die, daß ich da immer weiter hineingezogen wurde, könnte man sagen, in all diesen psychischen Firlefanz. Bessie hat mir sogar - mehr als einmal - gesagt, ich selbst hätte auch die Gabe.«
»Und worin genau besteht deine Gabe?«
»Man nennt das so, Liebes, wenn du psychische Kräfte hast. Also, das war so: Eines Abends - das war kaum einen Monat, bevor sie starb, die Arme - tranken Bessie und ich eine schöne Tasse Tee oben in ihrem Wohnzimmer, und ich erzählte ihr etwas, das ich keiner Menschenseele je zuvor erzählt hatte.«
»Aha, und was war das?«
»Nun, ich lag einmal nachts in meinem Bett, hab’ nicht geschlafen, war aber auch nicht so richtig wach, wenn du weißt, was ich mein’, als ich dieses merkwürdige Gefühl hatte, nach oben zu schweben. Wie ich sagte, ich lag noch immer im Bett. Da war ich absolut sicher, denn als ich nach unten schaute - da lag ich!«
»Da lagst du?«
»Ja! Ich lag noch immer in meinem Bett! Aber mein Geist, oder was auch immer, schwebte oben an der Decke und schaute auf mich runter! Du kannst dir vorstellen, was ich für’n Bammel hatte.«
»Ich hatte auch schon so manchen Alptraum«, sagte ich.
»Alptraum!« rief sie aus. »Das war kein verflixter Alptraum. Das ist wirklich passiert!«
Ich wollte etwas erwidern, verpaßte aber die Gelegenheit. Wenn Vi erst einmal mit vollen Segeln fuhr, gab es kein Aufhalten mehr.
»Und das ist lange noch nicht alles«, fuhr sie in eben solch beseelter Art und Weise fort. »Wie kann ich zu ein und derselben Zeit an zwei Orten gleichzeitig sein, frag’ ich mich. Das ist doch nicht natürlich. Und dann denk’ ich, genau, das ist es, altes Mädchen, du bist tot. Aber ich konnte nicht im Himmel oder dem anderen Ort sein, denn ich war ja immer noch in meinem Schlafzimmer! Das war alles sehr verwirrend. Aber ich wußte einfach, frag mich nicht woher, wenn ich nur zurück in meinen Körper kommen könnte, wäre alles wieder in Ordnung. Und mit dem Gedanken im Kopf, war ich - schneller als du denken kannst - wieder im Bett. Nun, was hältst du davon?«
»Außergewöhnlich!« rief ich, was das erste zutreffende und gleichzeitig unverbindlichste Wort war, welches mir in den Sinn kam.
»Tja, das kann man wohl sagen. Also, so was konnte ich natürlich nicht lange für mich behalten, oder? Da mein Bert nicht mehr lebte, war Bessie die einzige, an die ich mich wenden konnte. Sie schien nicht im geringsten überrascht. Sagte, ich hätte eine A.K.E. gehabt. Komm, fragte ich, was soll das denn heißen - Absolut Komische Erhebung? Ich dachte, das alte Mädchen war’ jetzt vollkommen übergeschnappt. >Nein, meine Liebe<, sagt sie mit ihrem breiten zahnlosen Lächeln, >eine außerkörperliche Erfahrung, das hattest du.<«
»Natürlich!« antwortete ich aufgeregt. »Astrale Projektion!«
»Ja, genau, astrale Projektion. Weiß ich jetzt alles drüber, dank Bessie. Die hat mir das alles erklärt. Aber du«, erkundigte sie sich, »woher kennst du das?«
»Meine liebe Violet«, verkündete ich in einem recht überheblichen Ton, »du mußt mir schon ein Wissen zugestehen, welches sich auch auf Bereiche ausdehnt, die sich außerhalb der im gesellschaftlichen Leben allgemein diskutierten befinden.«
Eigentlich war die Behauptung, eine Frau zu sein, die sich im Bereich des Okkultismus sehr gut auskennt, etwas weit hergeholt. Um ehrlich zu sein, hatte ich erst wenige Monate zuvor ein Buch über psychische Phänomene mit nach Hause genommen, und aus unerklärlichen Gründen fand ich das Kapitel über astrale Projektion äußerst faszinierend. So sehr, daß ich Mr. Holmes darauf ansprach.
Seine Antwort bestand, wie ich mich nur allzugut entsinne, darin, daß er das gesamte Thema als nichts anderes als einen unbewußten Wunschgedanken des Individuums abtat, die Existenz eines geistigen Selbst zu beweisen. Er war der Ansicht, daß die sogenannte Trennung der Seele vom Körper lediglich eine Selbsttäuschung seitens des Gläubigen war. Er, so versicherte er mir, hielte sich an die Fakten. Und da es für die Existenz des Übernatürlichen keine wissenschaftlichen Beweise gebe, sei die ganze Diskussion seiner Meinung nach höchstens von theoretischem Nutzen. Ich dagegen näherte mich dem Thema weniger auf analytischer als auf humanistischer Ebene.
»Um es zusammenzufassen: Du willst also sagen, Vi«, sagte ich und rückte das Kissen in meinem Rücken zurecht, »daß du dich in einem Zustand tiefer Meditation befandest und dein Geist in der Lage war, sich aus der Gefangenschaft deines physischen Selbst zu lösen, und daß es dir somit möglich war, deinen irdischen Körper ebenso einfach zu beobachten, wie du sonst das sich im Spiegel reflektierende Bild deines Selbst betrachtest.«
»Ja!« stieß sie hervor. »So ist es, genau so!«
»Und in einem solchen Zustand«, fuhr ich fort, »ist es dem geistigen Selbst möglich, selbst durch Wände hindurch zu schweben und sogar große Entfernungen zurückzulegen.«
»Dann glaubst du mir also!« rief Vi und schlug vor Freude, eine geistige Mitstreiterin gefunden zu haben, die Hände zusammen.
»Nun«, ich versuchte, mich vorsichtig auszudrücken, »sagen wir, ich stehe dem Thema unvoreingenommen gegenüber.« Meine etwas zweideutige Antwort führte zu einer heftigen Reaktion meiner Kameradin.
»»Unvoreingenommen^ sagt sie! Oh ja, ich sehe schon, wie unvoreingenommen du bist! Nun, ich erzähl’ dir was, Emma Hudson«, fuhr sie noch immer sehr gereizt fort, »ich bin schon durch so manche Tür und Wand gegangen, damit du’s weißt!«
Ich war vollkommen überrascht. »Was sagst du da, Violet? Du willst doch nicht behaupten, daß du wirklich. «
Ein selbstgefälliges und zufriedenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
»Genau das«, sagte sie. »Ich hab’ geübt. So wie die alte Bessie es mir gesagt hat. Ich mein’, was soll so ‘n altes Weib wie ich sonst mit den langen Abenden anfangen, hä? Das war so was wie ein Zeitvertreib für mich, könnte man sagen. Natürlich bin ich nie allzuweit weg geschwebt. Manchmal nicht weiter als bis ans Ende der Porter Street und zurück.« Sie saß mit verschränkten Armen da und fügte hinzu: »Und es ist mir vollkommen egal, ob du mir glaubst oder nicht!«
Guter Gott, dachte ich, wie hätte Mr. Holmes auf solch ein Eingeständnis astraler Abenteuer reagiert? Ich wette, daß Vi nicht mehr als ein kurzes Händeschütteln und ein Dankeschön von einem amüsierten und zynischen Mr. H. erhalten hätte, bevor sich der Herr aus dieser, wie er sie beschreiben würde, Geschichte einer Verrückten herausgewunden hätte. Welch glücklicher Umstand für meine Kameradin, daß sie sich mir und nicht Sherlock Holmes anvertraut hatte!
»Violet, Violet, Violet«, redete ich auf sie ein, während ich ihre Hände ergriff, »ich glaube dir, wirklich. Du bist schon immer merkwürdig gewesen, mein Mädchen, aber gelogen hast du meines Wissens noch nie.«
Eine Träne quoll hervor und machte sich auf den wäßrigen Weg über die Wange hinunter auf eine bebende Lippe.
»Oh, Em«, schluchzte sie, »ich bin so froh, daß du hier bist.«
Wie auf ein zuvor abgesprochenes Zeichen hin fielen wir uns in die Arme und widmeten uns einer herzlichen und Trost spendenden Umarmung. Doch obwohl auch ich innerlich sehr gerührt war, brach ich das Schweigen und wandte mich kühl und gefaßt an meine Freundin.
»Also, Mrs. Warner, schießen Sie los: der Rest der Geschichte, bitte.«
»Nun gut«, antwortete sie, trocknete sich die Augen und richtete sich wieder zu einer sitzenden Position auf. Während sie damit beschäftigt war, wischte auch ich rasch und unauffällig eine Träne fort. Violet räusperte sich. Sie war bereit loszulegen.
»Es begann alles Samstag nacht«, verkündete sie. »Ich lag in genau diesem Bett. Natürlich wußte ich zu der Zeit noch nicht, daß das die Nacht des Mordes sein würde, das war erst später, du verstehst schon.«
»Ja, ja. Erzähl weiter«, trieb ich sie an.
»Also, ich hab’ mich ganz gemütlich ins Bett gekuschelt, als mir einfiel, daß ich vergessen hatte, noch mal nach Ihrer Ladyschaft zu sehen, so wie ich es abends immer machte, nur um zu sehen, ob alles in Ordnung war und so. Ich lag also da, wie ich schon sagte, nett und lauschig und fühlte mich ziemlich müde, als mir der Gedanke kam, daß es ja wahrscheinlich nicht schaden könnte, wenn ich einfach zu ihrem Zimmer schweben würde, wenn du weißt, was ich mein’. Ansonsten hätte das bedeutet, das Bett zu verlassen, den Hausmantel anzuziehen und den Flur entlang zu laufen. Also, da frag ich dich, kann man mir das übelnehmen?«
»Mit anderen Worten«, kommentierte ich mit unbewegtem Gesichtsausdruck, »der Geist war willig, nur das Fleisch war schwach.«
Das provozierte ein Kichern bei Vi.
»Oh, das gefällt mir, wirklich. Der Geist war willig.« Noch ein Kichern. »Du überrascht mich, wirklich, Em.«
»Weißt du, Violet«, antwortete ich, unsicher, ob ich mich verletzt fühlen sollte oder nicht, »ich habe schon einen gewissen Sinn für Humor.«
»Richtig«, sagte sie und versuchte, ihr Lächeln zu unterdrücken. »Wo war ich doch gleich? Ah ja. Also, ich schwebte den Flur entlang zum Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft.«
»Einfach so?«
»Ja. Wenn ich es mir erst einmal in den Kopf gesetzt hab’, brauch’ ich nicht lang, um loszuschweben.«
Obwohl es mir immer noch schwer fiel zu glauben, was ich hörte, gab es keinen naheliegenden Grund, warum es nicht so sein sollte. Eine ehrliche Haut, dieses Mädchen aus Manchester. Wie auch immer, es gab einige Fakten, die ich durch ihre Geschichte zu erfahren hoffte.
»Wo genau liegt das Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft von hier aus?«
»Drei Türen weiter. Aber nachts ist der Flur kälter als ‘ne Eskimonase. Das war noch ein Grund, einfach dahin zu schweben. Wenn ich in meinem geistigen Körper bin, fühl’ ich weder Kälte noch Wärme. Irgendwie komisch, oder?«
Sie redete weiter, ohne auf eine Antwort zu warten. Zumal ihre Frage ja ohnehin rhetorischer Art war.
»Da war ich also in ihrem Schlafzimmer, und es war schwärzer als ‘n Schornsteinfegerohr. Und wär’ da nicht ein klitzekleiner Schimmer vom Mondlicht durch die nur halb zugezogenen Vorhänge gedrungen, hätte ich ihn nie gesehen.«
»Ihn gesehen? Wen hast du gesehen?«
»Hm, das ist es ja gerade. ich weiß es nicht! Ich konnte nur ‘nen dunklen Schatten sehen, der sich gerade über Ihre Ladyschaft beugte. Aber soweit ich erkennen konnte, hielt er ein weißes Tuch oder so was über das Gesicht des alten Mädchens.«
Ich muß gestehen, daß mich ihre Geschichte mit Entsetzen erfüllte. »Was passierte dann?« stieß ich hervor.
»Verdammt noch mal, ich hab’ einfach nur geschrien. Und als ich sah, wie sie mit den Armen fuchtelte und versuchte, sich freizukämpfen, hab’ ich mich selbst auf ihn gestürzt. Hat allerdings verflixt wenig genützt. Ich hatte nämlich vergessen, mußt du wissen, wenn ich geistig unterwegs bin, kann man mich nicht sehen, hören oder fühlen. Schoß geradewegs durch ihn durch, echt, wie ein verfluchtes Gespenst!«
»Du redest über diese Person, als sei es ein Mann gewesen. Bist du dir da sicher?«
»Hm, weiß nicht. Hab’ ich jedenfalls angenommen.«
»Ach, meine liebe Violet«, antwortete ich schulmeisterlich, wie es sich für meine neue Rolle als Privatdetektivin gehörte, »man darf nie etwas annehmen. Eine Annahme hat überhaupt keine Grundlage, da sie höchstens auf Intuition beruht. Wir brauchen Fakten, Mädchen. Fakten.«
»Zu dem Zeitpunkt war ich aber nicht an verflixten Fakten interessiert!« lautete die wütende Replik. »Ich wußte nur, daß ich Ihrer Ladyschaft nicht helfen konnte, wenn ich weiter wie so ‘n blöder Schmetterling durch das Zimmer flog! Also schwebte ich zurück, und«, fuhr sie fort und ergriff meine Hand, »frag mich nicht, woher ich die Nerven dazu hatte, aber sobald ich wieder in meinem Körper war, hab’ ich mir den Hausmantel übergeworfen und bin den Flur entlang zum Schlafzimmer des alten Mädchens gestürmt.«
»Vi!« rief ich aus. »Das hätte überaus gefährlich sein können. Du hast niemanden informiert?«
»Oh, doch. Das ganze verdammte Haus, so wie ich geschrien und an die Tür gehämmert habe. >Hey<, hab’ ich gerufen, >ich weiß, daß Sie da drin sind!<«
»Die Tür war also verschlossen?«
»Ja. Das hat mich um so mehr aufgeregt, denn Ihre Ladyschaft hatte die Regel aufgestellt, sie nie abzuschließen. Hatte Angst vor Feuer, verstehst du. Wollte in dem Fall nicht krampfhaft versuchen, sie aufzukriegen. Da stand ich also und keifte wie eine Todesfee, bis der alte Hogarth mit einer Kerze und seinem Schlüsselring herbeikam.«
»Ist es dir nicht merkwürdig erschienen, daß er zu dem Zeitpunkt dort auftauchte?« fragte ich.
»Nein, eigentlich nicht«, lautete ihre arglose Antwort. »Der alte Junge macht jeden Abend seine Runde, um zu sehen, ob alles so ist, wie es sein sollte.«
»Aha.«
Ich war von ihrer Antwort enttäuscht, tröstete mich aber mit dem Gedanken, daß seine Ankunft vielleicht wirklich auf eine Routine zurückzuführen sei, es aber durchaus richtig gewesen war, den Punkt anzusprechen. Nach dem Motto: »Nichts unversucht lassen.« Ich bat sie fortzufahren.
»Wir gehen also hinein, Hogarth hält die Kerze hoch, um mehr Licht zu haben, und ich warte darauf, daß jeden Augenblick jemand aus dem Dunkel hervorspringt. Und als ich mich umschaue, da war er weg!«
»Da war er - weg? Also wirklich, Vi!«
»Na, du weißt schon, was ich meine.« Sie fuchtelte verzweifelt mit den Armen, weil ich den Anker an dieser Stelle geworfen hatte, während sie anscheinend mit voller Kraft voraus wollte. Nachdem sie mir einen Blick zugeworfen hatte, den sie für angemessen verärgert hielt, fuhr sie fort.
»Zu diesem Zeitpunkt kam die ganze verfluchte Familie, die das Spektakel, das ich im Flur veranstaltet hatte, gehört hatte, in das Zimmer gerannt und sah mich am Bett stehen und Hogarth mit der Kerze über dem Gesicht der alten Lady. Dann schritt Lady Margaret herbei, und so ruhig wie nur irgendwas verkündet sie: >Ich fürchte, Ihre Ladyschaft ist tot.< Also kämpft sich der Doktor durch die Menge vor und untersucht sie. >Ja<, sagt er, >es scheint, ihr Herz habe sie im Stich gelassen. Zumindest können wir dankbar sein, daß sie in Ruhe verstorben ist.< >In Ruhe!< schrei’ ich. Oh, ich war so sauer. >Vor nicht einmal einer Minute sah ich einen Kerl hier drinnen<, sag’ ich. >Der hat sie umgebracht. Das war kein verflixtes Herzversagen!< >Die Frau hat sich offensichtlich von ihrem Verstand verabschiedet^ sagt da Lady Arrogant. Der Squire fragt Hogarth, was er von all dem weiß, und Hogarth.«
»Einen Moment, Vi«, sagte ich. »Bevor du mit deiner Geschichte weitermachst, halte ich es für das beste, wenn du mich mit den im Zimmer Anwesenden vertraut machst. Ich hätte dann ein besseres Verständnis.«
»Oh, richtig, du kennst sie ja nicht, nicht wahr, Liebes? Also, paß auf. Da waren Sir Charles, natürlich, und Lady Margaret, die hast du kennengelernt. Dann noch Dr. Morley, er ist der Hausarzt der Familie, und der Squire, das ist Henry St. Clair, der Bruder von Sir Charles. Und wer sonst noch? Ach ja, der Colonel.«
»Der Colonel?«
»Colonel Wyndgate, obwohl ich schon mehrmals gehört habe, wie die Bediensteten ihn hinter seinem Rücken Colonel Windbeutel nennen - zu recht, wenn du mich fragst. Er war ein alter Freund Seiner Lordschaft aus der Militärzeit. Wohnt immer noch hier auf Haddley.«
»Und dieser Henry St. Clair, der Squire, was weißt du über ihn?«
»Der muß ungefähr ein oder zwei Jahre jünger als Sir Charles sein. Leitet das Gut, auch wenn man’s nicht merkt. Verbringt die meiste Zeit in London am Spieltisch. So wie auch Sir Charles. Nicht am Tisch, mein’ ich, aber in London. Der ist im Vorstand irgendeiner großen Bank. Ich weiß nicht, welcher. Die erzählen mir nie viel. Und das war’s.«
»Außer Hogarth«, erinnerte ich sie.
»Oh ja, Hogarth. Nun, den vergißt man schnell, oder? Gehört fast zur Einrichtung, könnte man sagen. Den gibt’s länger als Stonehenge. Man kann wohl sagen, daß er mehr über die Familie weiß als sonst jemand.«
Ich machte über die Information eine geistige Notiz und ermahnte mich stumm, sie morgen früh auf Papier festzuhalten.
»Gut, erzähl weiter, Vi.« Da ich merkte, daß sie etwas müde wurde, verpaßte ich ihrem Arm einen kleinen Stupser. »Du erzähltest gerade, daß der Squire Hogarth fragte.?«
»Ja, richtig«, sagte sie und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. »Hogarth erzählt ihm, daß er mich an die Tür Ihrer Ladyschaft hatte hämmern sehen, daß er die Tür aufgeschlossen und mir hineingefolgt war. >Haben Sie in dem Zimmer außer Lady St. Clair jemanden gese-hen?< fragt ihn der Squire. >Nein, Sir<, antwortet er. Dann meldet sich Sir Charles zu Wort: >Warum, um Himmels willen<, fragt er mich, >haben Sie gesagt, Sie sahen jemanden im Zimmer, wenn das, was Hogarth uns gerade erzählt hat, ganz deutlich macht, daß Sie draußen vor der Tür standen, als er hier eintraf?<
Nun, da hatte er mich, oder? Ich mein’, ich konnte denen doch nicht erzählen, daß. du weißt schon. Die hätten mich nach Bedlam in die Irrenanstalt verfrachtet, ohne auch nur zu fragen. Das ging mir in aller Schnelle durch den Kopf, und so sag’ ich, ich hätt’ einfach so’n Gefühl gehabt. So was wie weibliche Intuition, wenn man will. Das beeindruckte die Lady Wichtig nicht allzusehr. >Mrs. Warner<, sagt sie auf ihre schnippische Art, >es scheint, als hätten Sie entweder einen schlechten Traum gehabt oder als bauten ihre geistigen Fähigkeiten mit zunehmendem Alter extrem ab. In jedem Fall wäre es besser, Sie ließen uns nun allein. <«
»Was hast du darauf geantwortet?«
»Nichts. Ich hab’ sie ignoriert, wie immer. Und so bestürzt wie ich war, wegen dem Tod meiner Herrin und so, hab’ ich mich zu ihr runtergebeugt, um Ihrer Ladyschaft einen letzten Kuß auf die Wange zu geben. Also, meine Nase ist ja nun nicht allzugut. Kann nicht mehr so gut riechen wie früher. Aber, oh, als ich mich über sie beugte, roch ich etwas ziemlich Komisches. >Hier<, sag’ ich, >riecht das nicht merk-würdig?< Nun, die stellten sich alle drumherum, und nicht einer von ihnen wollte zugeben, etwas zu riechen. Kein einziger!«
»Äußerst rätselhaft. Nicht einmal der Doktor?«
»>Dies ist ein altes muffiges Zimmer, Mrs. Warner. Das könnte alles Mögliche sein.< Das war alles, was ich von ihm zu hören bekam.«
»Und Hogarth?«
»Er war da schon fort. Ich glaube, Sir Charles hatte ihn gebeten, sich darum zu kümmern, daß einer der Bediensteten sich gleich am nächsten Morgen auf den Weg zu einem Bestatter machte.«
»Was war das, deiner Ansicht nach, für ein Geruch?« fragte ich, obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon meine eigene Vermutung hatte. Aber falls Vi sie in irgendeiner Hinsicht bestätigen konnte, um so besser.
»Erst am nächsten Morgen fiel mir plötzlich ein, wo ich das schon mal gerochen hatte. Das war zu der Zeit, als Bert im Krankenhaus war. Chloroform war’s. Nun, also, ich wußte ja nicht, was ich tun sollte. Dann dachte ich an dich und an Mr. Holmes. Da beschloß ich dann, das Telegramm zu senden.«
»Chloroform - das habe ich mir doch gedacht!« Ich gebe zu, ich rieb mir vor Freude die Hände. Ein in Chloroform getränktes und auf das Gesicht der alten Dame gepreßtes Tuch genügte, um die Tat zu vollbringen. Ich fing an zu verstehen, warum sowohl Mr. Holmes als auch Dr. Watson die Aufklärung von Kriminalverbrechen für ein solch faszinierendes Abenteuer hielten.
Violet hatte mir genügend Anlaß zum Grübeln gegeben. Ich hielt es für das beste, alle Informationen noch einmal zu durchdenken, bevor ich mich dem nötigen Schlaf hingab. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß tatsächlich jemand Lady St. Clairs Schlafzimmer betreten und dem Leben der alten Dame ein Ende bereitet hatte. Aber warum hatte keiner der Anwesenden - außer Vi - zugegeben, den Geruch einer verdampfenden Chemikalie im Zimmer wahrnehmen zu können? Und wenn Violet es riechen konnte, dann mußte der Geruch tatsächlich sehr streng gewesen sein. Vertrackt. Äußerst vertrackt. Und was den Ort des Verbrechens angeht, so wäre es dem Mörder nicht möglich gewesen, eine gelungene Flucht vorzunehmen, ohne von Vi oder Ho-garth im Flur gesehen zu werden, insbesondere wenn man berücksichtigt, wie wenig Zeit vergangen war. Diesem Gedankengang folgend, ergab sich, daß der Mörder noch im Zimmer gewesen sein muß, als Violet und der Butler hereinkamen. Und dann.? Eine Geheimtür?
Vielleicht. Fragen auf Fragen. Von denen keine, so sagte ich mir, noch in dieser Nacht beantwortet werden konnte.
Ich war nun an einem Punkt angelangt, an dem ich den Schlaf wie einen alten Freund willkommen hieß. Ich schaute zu Vi hinüber und war nicht überrascht, daß sie schon in tiefen Schlummer verfallen war: mit offenem Mund und - obwohl sie es nie zugegeben hätte - in unregelmäßigen Abständen leicht schnarchend. Ich blies die Kerze aus, rutschte unter die Decke und schlief sofort ein.
Da die Uhr auf dem Kaminsims in dem dunklen Zimmer für mich nicht sichtbar war, hatte ich keine Ahnung, wie lange ich schon geschlafen hatte, als ich von dem Geräusch wütender, aber gedämpfter Stimmen geweckt wurde. Vi schlief noch, wie mir ihr Schnarchen verriet, und ich hatte nicht die Absicht, sie zu wecken.
Ich stützte mich auf den Ellbogen. Da war’s wieder! Nur daß jetzt jemand schrie. Eine junge Frau oder ein Junge vielleicht. Woher kam das? Die qualvollen Schreie waren zu leise, als daß ich hätte beurteilen können, aus welchem Teil des Hauses sie kamen. Das Zimmer über uns? Vielleicht.
Ich erinnere mich, daß ich vollkommen erschöpft war. Das letzte Geräusch, das ich noch wahrnahm, bevor ich erneut dem Schlaf nachgab, war ein dumpfer Schlag, so als fiele ein Körper zu Boden.