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In diesem Augenblick füllte ihre umfangreiche Gestalt einen Sessel im Büro des Verwaltungsdirektors mehr als aus. Sie kämpfte verbissen. »Ich frage mich, ob Ihnen klar ist, Mr. T., wie ernst der Fall ist.« Mrs. Straughan verwendete stets den Anfangsbuchstaben des Familiennamens, wenn sie Leute ansprach, die sie kannte. Sie hatte auch die Gewohnheit, ihren eigenen Mann als >Mr. S.< zu bezeichnen.

»Ich glaube schon«, erwiderte Harry Tomaselli.

»Die Geschirrspülmaschinen, die ich habe, sind mindestens schon seit fünf Jahren veraltet. In jedem Jahr, das ich jetzt hier bin, wurde mir versichert: Im nächsten Jahr bekommen Sie neue. Und als das nächste Jahr kam, wo blieben meine Geschirrspülmaschinen? Sie wurden einfach um weitere zwölf Monate aufgeschoben. Das geht nicht, Mr. T., das geht einfach nicht.«

Mrs. Straughan verwendete immer das besitzanzeigende Fürwort >mein<, wenn sie sich auf Dinge bezog, die ihr unterstellt waren. Tomaselli hatte dagegen nichts einzuwenden. Wogegen er allerdings etwas einzuwenden hatte, das war Hilda Straughans mangelhafte Bereitschaft, auch anderer Leute Probleme zu berücksichtigen. Er fand sich damit ab, noch einmal das anzuführen, was er ihr erst vor ein oder zwei Wochen auseinandergesetzt hatte.

»Es steht außer Frage, Mrs. Straughan, daß die Geschirrspüler eines Tages erneuert werden. Mir ist das Problem, vor dem Sie in der Küche stehen, geläufig. Aber es handelt sich dabei um große, teure Maschinen. Erinnern Sie sich doch, nach der letzten Schätzung beliefen sich die Kosten allein für den Umbau der Heißwasseranlage auf knapp elftausend Dollars.«

Mrs. Straughan beugte sich über den Schreibtisch. Mit ihren gewaltigen Brüsten schob sie einen Ablegekorb beiseite. »Und je länger Sie warten, um so teurer wird es werden.«

»Das ist mir zu meinem Bedauern nur zu gut bekannt.« Die steigenden Kosten für alles, was das Krankenhaus brauchte, gehörten zu Tomasellis täglichem Brot. Er fügte hinzu: »Aber gerade in diesem Augenblick sind die Mittel des Krankenhauses für große Anschaffungen sehr begrenzt. Das hängt zum Teil natürlich mit dem geplanten Erweiterungsbau zusammen. Es ist einfach eine Frage der Zuteilung von Prioritäten, und manchen medizinischen Anlagen muß einfach der Vorrang eingeräumt werden.«

»Was nützen Ihnen medizinische Anlagen, wenn die Patienten keine sauberen Teller bekommen, von denen sie essen können.«

»Mrs. Straughan«, antwortete er fest, »ganz so schlimm ist die Lage nicht, und das wissen wir beide genau.«

»Es ist aber nicht sehr weit davon entfernt.« Die Küchenleiterin beugte sich vor, und der Aktenkorb erhielt einen weiteren Stoß. Harry Tomaselli wünschte im stillen, sie würde ihren Busen von seinem Schreibtisch nehmen. Sie fuhr fort: »In der letzten Zeit kamen verschiedentlich ganze Stöße von Tellern schmutzig aus meinen Maschinen heraus. Wir versuchen es zu kontrollieren, so gut wir können, aber wenn großer Andrang beim Essen herrscht, ist das einfach nicht immer möglich.«

»Ja«, antwortete er, »das glaube ich gern.«

»Was mich beunruhigt, ist die Gefahr einer Infektion, Mr. T. Unter unseren Angestellten sind in letzter Zeit viele Fälle von Darmgrippe aufgetreten, und natürlich gibt jeder dann der Küche die Schuld. Aber es würde mich nicht überraschen, wenn da die Ursache läge.«

»Um das sicher zu wissen, brauchen wir erheblich mehr Beweise.« Harry Tomasellis Geduld begann sich zu erschöpfen. Mrs. Straughan war an einem ungewöhnlich arbeitsreichen Morgen zu ihm gekommen. Für den Nachmittag war eine Sitzung des Krankenhausausschusses angesetzt, und im Augenblick hatte er gerade mehrere dringliche Fragen vorliegen, die vorher geklärt werden mußten. In der Hoffnung, damit das Gespräch zu beenden, fragte er: »Wann hat die Pathologie die Geschirrspüler zum letztenmal auf Bakterien untersucht?«

Hilda Straughan überlegte: »Ich kann nachsehen, aber ich glaube, es ist etwa sechs Monate her.«

»Dann wäre es gut, wenn es wieder geschähe. Wir wissen dann, woran wir sind.«

»Also gut, Mr. T.« Mrs. Straughan fand sich damit ab, daß sie heute nicht mehr erreichen konnte. »Soll ich mit Dr. Pearson sprechen?«

»Nein, ich werde es tun.« Der Verwaltungsdirektor machte eine Notiz. Wenigstens, dachte er, kann ich Joe Pearson dadurch eine ähnliche zeitraubende Unterhaltung sparen.

»Danke, Mr. T.« Die Küchenleiterin stemmte sich aus dem Sessel hoch. Er wartete, bis sie aus dem Zimmer war, und schob dann sorgfältig den Aktenkorb an seinen ursprünglichen Platz zurück.

David Coleman kam vom Essen in der Kantine in die Pathologie zurück. Auf seinem Weg durch die Gänge und über die Treppe in das Souterrain dachte er über die Zeit nach, die er bisher mit Dr. Pearson verbracht hatte. Er kam zu dem Ergebnis, daß sie bis zu diesem Augenblick unbefriedigend und ergebnislos verstrichen war.

Pearson hatte sich zwar höflich gezeigt, wenn auch nicht von Anfang an, so doch später. Als er Coleman in seinem Zimmer auf ihn wartend vorfand, war seine erste Bemerkung gewesen: »Sie haben es also ernst gemeint, als Sie schrieben, Sie wollten sofort anfangen.«

»Es schien mir nicht viel Sinn zu haben, länger zu warten«, antwortete Coleman und fügte hinzu: »Ich habe mich inzwischen in den Labors umgesehen. Hoffentlich hatten Sie nichts dagegen.«

»Das ist Ihr gutes Recht.« Pearsons Antwort kam halb knurrend, als ob es sich um eine Invasion handele, die ihm zwar nicht gefiel, mit der er sich aber abfinden mußte. Dann, als ob er seine Unfreundlichkeit erkenne, sagte er: »Nun, ich muß Sie wohl wenigstens willkommen heißen.«

Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, fügte der alte Mann hinzu: »Als erstes muß ich jetzt einen Teil von dem hier aufarbeiten.« Er deutete auf einen unordentlichen Stapel von Behältern mit Objektträgern, Aktendeckeln und einzelnen Papieren auf seinem Schreibtisch. »Vielleicht können wir uns anschließend über Ihre Arbeit hier unterhalten.«

Coleman hatte dagesessen, ohne daß er etwas anderes zu tun hatte, als eine medizinische Zeitschrift zu lesen, während Pearson sich durch einen Teil der Papiere wühlte. Dann kam ein Mädchen zum Diktat, und anschließend begleitete er Pearson zu einem Kolloquium im Nebenzimmer des Obduktionsraumes. Als er Pearson und den beiden Assistenten - McNeil und Seddons - an dem Sektionstisch gegenübersaß, kam er sich weitgehend wie ein jüngerer Assistent vor. Er konnte zu dem Kolloquium fast nichts beitragen. Pearson führte das Kolloquium durch, als ob Coleman lediglich ein Zuschauer sei, und der alte Mann erkannte auch mit keiner Andeutung Colemans Stellung als neuer stellvertretender Leiter der gesamten Abteilung an.

Später gingen er und Pearson gemeinsam zum Essen, und im Verlauf der Mahlzeit stellte Pearson ihn ein paar Mitgliedern des Ärztestabes vor. Dann entschuldigte sich der alte Pathologe mit der Bemerkung, er habe eine dringende Arbeit zu erledigen, und verließ den Tisch. Jetzt kehrte Coleman allein in die Pathologie zurück und erwog in Gedanken das Problem, das vor ihm zu stehen schien.

Natürlich hatte er bei Dr. Pearson einen gewissen Widerstand erwartet. Aus den verschiedensten fragmentarischen Informationen hatte er sich zusammengereimt, daß Pearson keinen zweiten Pathologen wünschte, aber auf diese Behandlung war er nicht gefaßt gewesen. Als das mindeste hatte er vorausgesetzt, daß bei seiner Ankunft ein Arbeitszimmer für ihn bereitstand und sein Aufgabengebiet klar umrissen war. Gewiß, er hatte nicht erwartet, daß ihm sofort eine große und wichtige Verantwortung übertragen würde. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, daß der alte Pathologe ihn eine Zeitlang kontrollierte. Er selbst hätte an Pearsons Stelle einem Neuling gegenüber die gleiche Vorsichtsmaßnahme ergriffen. Aber darüber ging die Situation, wie die Dinge lagen, weit hinaus. Dem Anschein nach hatte sich trotz Colemans Brief niemand mit der Frage abgegeben, worin seine Pflichten bestehen sollten. Anscheinend herrschte die Vorstellung, daß er herumsitzen solle, bis seine Post und seine anderen Pflichten Dr. Pearson genügend Zeit ließen, um ihm ein paar Aufgaben zu übertragen. Nun, in diesem Falle mußten einige Vorstellungen korrigiert werden - und das bald.

David Coleman kannte die Schwächen seines eigenen Charakters seit langem. Aber ebenso war er sich seiner Qualitäten bewußt; die wichtigsten darunter waren seine Kenntnisse und seine Fähigkeiten als Arzt und Pathologe. Kent O'Donnell hatte nur eine Tatsache festgestellt, als er Coleman als hochqualifiziert bezeichnete. Trotz seiner Jugend verfügte er bereits über ein Können und einen Schatz an Erfahrungen, denen viele praktizierende Pathologen kaum Gleichwertiges gegenüberzustellen vermochten. Gewiß bestand für ihn kein Grund, vor Dr. Joseph Pearson in Ehrfurcht zu erstarren, und wenn er auch gewillt war, das Alter und die vorgesetzte Stellung des alten Pathologen zu respektieren, hatte er andererseits aber nicht die Absicht, sich als unerfahrener Grünschnabel behandeln zu lassen.

Er besaß noch eine andere Stärke: ein Gefühl, das alle anderen Überlegungen, ob es nun den Charakter, den Versuch zur Duldsamkeit oder irgend etwas anderes betraf, beiseite schob. Das war seine Entschlossenheit, Medizin kompromißlos, sauber, ehrlich zu praktizieren - und sogar exakt, soweit Exaktheit auf medizinischem Gebiet möglich war. Für jeden, der sich mit weniger begnügte - und selbst in den kurzen Jahren seiner eigenen Erfahrungen hatte er derartige Leute getroffen und kennengelernt: die Kompromißler, die Politiker, die Trägen, die um jeden Preis Ehrgeizigen -, empfand David Coleman nur Zorn und Abscheu.

Wenn man ihn gefragt hätte, woher dieses Gefühl stammte, wäre ihm die Antwort schwergefallen. Keinesfalls war er sentimental, noch hatte er sich der Medizin zugewandt, weil er offensichtlich von dem Wunsch getrieben wurde, der Menschheit zu helfen. Der Einfluß seines Vaters mochte eine gewisse Rolle spielen, aber, wie David Coleman vermutete, keine allzu große. Sein Vater, das war ihm jetzt bewußt, war innerhalb der Grenzen eines praktischen Arztes ein durchschnittlich guter Arzt gewesen, aber im Wesen der beiden bestand ein auffallender Unterschied. Der ältere Coleman war eine warme, aufgeschlossene Persönlichkeit gewesen, die viele Freunde besessen hatte. Der Sohn war kühl, schwer zugänglich, häufig zurückhaltend. Der Vater hatte mit seinen Patienten gescherzt und ihnen mühelos sein Bestes gegeben. Der Sohn hatte als Praktikant, ehe die Pathologie ihn von den Patienten absonderte, nie mit ihnen gescherzt, sondern ihnen gewissenhaft, exakt und überlegen etwas mehr gegeben, als viele andere als ihr Bestes zu geben hatten. Und wenn sich als Pathologe sein Verhältnis zu den Patienten auch verändert hatte, seine Einstellung war die gleiche geblieben.

Manchmal empfand David Coleman in Augenblicken ehrlicher Selbstprüfung den Verdacht, seine Einstellung wäre nicht anders, wenn er statt der Medizin irgendeinen anderen Beruf ergriffen hätte. Im Grunde genommen vermutete er, werde sie durch seine Genauigkeit in Verbindung mit seiner Unduldsamkeit gegenüber Fehlern oder Versagern bestimmt -durch das Gefühl, daß die Person oder die Sache, der immer man dienen wolle, berechtigt sei, das Äußerste zu verlangen, das man geben konnte. In gewisser Weise widersprachen sich diese Gefühle vielleicht. Wahrscheinlich war er von einem Studienkameraden treffend charakterisiert worden, der einmal einen angeheiterten Trinkspruch ausbrachte: »Auf David Coleman - den Burschen mit dem antiseptischen Herz.«

Während er jetzt durch den Gang im Souterrain ging, kehrten seine Gedanken zur Gegenwart zurück, und sein Instinkt warnte ihn, daß ein Zusammenstoß nahe bevorstand.

Er trat in das Arbeitszimmer der Pathologie und fand Pearson über ein Mikroskop gebeugt, vor sich einen geöffneten Behälter mit Objektträgern. »Kommen Sie, und sehen Sie sich das an. Was halten Sie davon?« Er machte vor dem Mikroskop Platz und winkte Coleman heran.

»Was ist das für ein Fall?« Coleman schob den ersten Objektträger unter die Halteklammer und stellte das Okular ein.

»Eine Patientin Lucy Graingers. Lucy ist Chirurgin bei uns. Sie werden sie noch kennenlernen.« Pearson blickte in seine Notizen. »Der Fall betrifft ein neunzehnjähriges Mädchen, Vivian Loburton, eine unserer Lernschwestern. Sie hat eine Schwellung unter dem linken Knie, anhaltende Schmerzen. Die Röntgenuntersuchung ergab eine Mißbildung am Knochen. Die Schnitte stammen von der Probeexcision.«

Es waren acht Schnitte, und Coleman studierte sie nacheinander. Er wußte sofort, warum Pearson nach seiner Meinung fragte. Das war ein Grenzfall, so schwierig wie er nur sein konnte. Schließlich sagte er: »Meiner Meinung nach gutartig.«

»Ich halte es für bösartig«, entgegnete Pearson ruhig. »Für ein Osteosarkom.«

Wortlos nahm Coleman noch einmal den ersten Schnitt vor. Geduldig und sorgfältig untersuchte er ihn wieder, wiederholte das gleiche mit den sieben anderen. Bei seiner ersten Untersuchung hatte er die Möglichkeit eines Osteosarkoms erwogen. Jetzt tat er es wieder. Während er die rot und blau eingefärbten, durchscheinenden Schnitte studierte, die dem ausgebildeten Pathologen so vieles verrieten, prüfte er in Gedanken noch einmal die Für und Wider. Alle Schnitte zeigten umfangreiche Bildung von neuem Knochengewebe -osteoblastisches Wachstum mit Knorpeleinsprengseln dazwischen. Eine Verletzung mußte in Betracht gezogen werden.

Hatte die Verletzung einen Bruch verursacht? War die neue Knochenbildung das Ergebnis der Regeneration - des Versuchs des Körpers, sie zu heilen? Wenn ja, war das Wachstum zweifellos gutartig. Bestanden Anzeichen für eine Knochenmarkentzündung? Unter dem Mikroskop konnten sie leicht mit dem gefährlichen Osteosarkom verwechselt werden. Aber nein, es waren keine polymorphokernigen Leukozyten in der charakteristischen Weise in dem Mark zwischen den Knochenfasern vorhanden. Es lagen keine vordringenden Blutgefäße vor. Folglich hing die Entscheidung von der grundsätzlichen Untersuchung der Osteoblasten, der Knochenbildungszellen, ab. Das war die ewige Frage, vor der alle Pathologen standen. Stellte die Wucherung an einer Verletzung einen natürlichen Heilungsprozeß dar, um eine Lücke in der Abwehr des Körpers auszufüllen? Oder wucherte die Verletzung, weil ein Neoplasma vorhanden war, und war sie folglich bösartig? Bösartig oder gutartig? Man konnte sich so leicht irren, und alles, was man tun konnte, war, sich darauf zu beschränken, die vorliegenden Erscheinungen gegeneinander abzuwägen und dementsprechend zu urteilen.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht zustimmen«, sagte er höflich zu Pearson. »Ich möchte immer noch sagen, daß dieses Gewebe gutartig ist.«

Der alte Pathologe stand schweigend und nachdenklich da, offensichtlich wog er seine Ansicht gegen die des jüngeren Mannes ab. Nach einem Augenblick sagte er: »Sie werden aber wohl zugeben, daß man in diesem Fall zweifeln kann, in der einen, wie in der anderen Richtung.«

»Ja, das ist richtig.« Coleman wußte, daß es in Situationen, wie der vorliegenden, Anlaß zu Zweifeln gibt. Die Pathologie war keine exakte Wissenschaft. Sie kannte keine mathematischen Formeln, durch die man beweisen konnte, daß eine Ansicht falsch oder richtig war. Manchmal konnte man sein Urteil nur auf eine wohlerwogene Schätzung stützen. Man konnte es kluges Raten nennen. Er verstand Pearsons Zögern. Auf dem alten Mann lag die Verantwortung für die endgültige Entscheidung. Aber Entscheidungen dieser Art gehörten zur Arbeit des Pathologen. Vor ihnen gab es kein Ausweichen. Man mußte sie auf sich nehmen. Nach einer Pause fügte Coleman hinzu: »Falls Sie recht haben und es tatsächlich Knochenkrebs ist, bedeutet das natürlich Amputation.«

»Das weiß ich.« Die Worte kamen heftig, aber ohne Feindschaft. Coleman erkannte: Wie vernachlässigt die Abteilung in anderer Hinsicht auch sein mochte, Pearson war ein zu erfahrener Pathologe, um eine ehrliche abweichende Meinung zu verübeln. Außerdem wußten sie beide, wie trügerisch die Voraussetzungen bei jeder Diagnose waren. Jetzt ging Pearson durch das Zimmer. Als er sich umdrehte, sagte er grimmig: »Diese verfluchten Grenzfälle. Ich hasse sie. Immer wieder, wenn ich darauf stoße. Man muß eine Entscheidung treffen und weiß genau, daß sie falsch sein kann.«

Ruhig antwortete Coleman: »Gilt das nicht für einen großen Teil der Pathologie?«

»Aber wer weiß das sonst? Das ist doch der springende Punkt.« Pearsons Erwiderung war laut, fast leidenschaftlich, als ob der Jüngere eine empfindliche Stelle getroffen habe. »Die Öffentlichkeit weiß nichts - nichts ist gewisser als das. Sie sieht den Pathologen nur im Kino oder im Fernsehen, einen Wissenschaftler im weißen Mantel, der vor ein Mikroskop tritt, kurz hineinblickt und dann verkündet: >gutartig< oder >bösartig<. Das ist alles. Die Leute glauben, wenn man da hineinsieht« - er deutete auf das Mikroskop, mit dem sie untersuchten -, »hätte man auch ein Schema, das alles klar und übersichtlich einteilt wie bei einer Ziegelmauer. Aber sie haben keine Ahnung, daß es Fälle gibt, bei denen wir nicht im entferntesten sicher sein können.«

David Coleman hatte oft das gleiche gedacht, wenn er es auch nicht so eindeutig formuliert hatte. Ihm kam der Gedanke, daß dieser Ausbruch vielleicht durch etwas verursacht wurde, was der alte Mann schon lange in sich herumtrug. Schließlich war das eine Überlegung, die nur ein Pathologe wirklich verstehen konnte. Behutsam warf er dazwischen: »Sind Sie nicht der Meinung, daß wir meistens richtig urteilen?«

»Gewiß, das stimmt schon.« Pearson ging im Zimmer umher, während er sprach. Jetzt standen sie dicht beieinander. »Aber wie ist es mit den Fällen, bei denen wir uns irren? Was ist mit diesem Fall hier, wie? Wenn ich erkläre: bösartig, wird Lucy Grainger amputieren. Ihr bleibt gar keine andere Wahl. Und wenn ich mich irre, verliert ein neunzehnjähriges Mädchen umsonst ein Bein. Und andererseits: wenn es bösartig ist und keine Amputation vorgenommen wird, stirbt sie wahrscheinlich innerhalb von zwei Jahren.« Er schwieg. Nach einer Pause fügte er bitter hinzu: »Vielleicht stirbt sie auch so. Eine Amputation bedeutet nicht immer die Rettung.«

Damit offenbarte Pearson eine Seite seiner Persönlichkeit, die Coleman nicht bei ihm vermutet hatte: eine tiefe innere Anteilnahme an dem einzelnen Patienten. Selbstverständlich ließ sich dagegen nichts einwenden. Für den Pathologen war es gut, wenn er sich daran erinnerte, daß er es in vielen Fällen nicht lediglich mit Gewebestückchen zu tun hatte, sondern mit lebenden Menschen, deren Geschick er durch seine Entscheidung im Guten oder im Bösen beeinflußte. Wenn man diese Tatsache nicht vergaß, blieb man wachsam und gewissenhaft. Das heißt, solange man sorgfältig darauf achtete, daß man sein wissenschaftliches Urteil nicht durch seine Gefühle beeinflussen ließ. Coleman hatte schon einige der Zweifel, die Pearson aussprach, selbst erfahren mü ssen, obwohl er viel jünger war. Seinem Wesen gemäß, behielt er sie für sich selbst. Das besagte aber nicht, daß sie ihn weniger bedrückten. In dem Versuch, dem alten Mann bei seinen Überlegungen zu helfen, sagte er: »Wenn es bösartig ist, darf keine Zeit verloren werden.«

»Ich weiß.« Pearson dachte wieder angestrengt nach.

»Darf ich vorschlagen, daß wir uns einige frühere Fälle ansehen«, sagte Coleman. »Fälle mit den gleichen Symptomen?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Das dauert zu lange.«