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»Wir haben keins.« Das wurde leise gesagt, und zunächst fragte sich Coleman, ob er richtig gehört habe. Dann fuhr Pearson fort, fast als habe er Colemans ungläubige Überraschung erwartet: »Ich habe schon lange die Absicht, eins einzurichten... bin einfach nicht dazu gekommen.«
Coleman glaubte kaum, was er hörte. »Heißt das. wir können keine früheren Fälle studieren?«
»Es würde eine Woche dauern, bis wir sie gefunden haben.«
Pearsons Verlegenheit war nicht mehr zu verkennen. »Diese Fälle sind nicht sehr häufig, und wir haben nicht genug Zeit, danach zu suchen.«
Nichts, was Pearson sagen konnte, hätte David Coleman so schockiert wie das. Für ihn und für alle Pathologen, bei denen er gelernt und mit denen er bisher zusammengearbeitet hatte, war das Krankheitsregister ein wichtiges Arbeitsmittel. Es war die Quelle für Hinweise, ein Lehrmittel, die Ergänzung des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrung für den Pathologen, ein Detektiv, der Hinweise sammelt und Lösungen anbot, eine Rückversicherung, eine Stütze in Augenblicken des Zweifels.
Das alles bot es und mehr. Es war ein Zeichen für die Leistungen einer pathologischen Abteilung, dafür, daß sie nicht nur in den Tag hineinlebte, sondern auch Wissen für die Zukunft aufbewahrte. Es war die Garantie, daß die Patienten des Krankenhauses von morgen in den Genuß dessen kamen, was man heute lernte. Die pathologischen Abteilungen neuer Krankenhäuser betrachteten die Einrichtung eines Krankheitsregisters als eine primäre Aufgabe. In alten, lange bestehenden Instituten unterschieden sich die Register ihrer Art nach. Manche waren schlicht und einfach, andere umständlich und komplex, lieferten Daten für die Forschung und die Statistik neben den Informationen für die tägliche Arbeit. Aber einfach oder umständlich, eines hatten alle gemeinsam: ihren Nutzen für den Vergleich eines vorliegenden Falles mit gleichartigen früheren. David Coleman konnte das Fehlen des Fallregisters im Three Counties Hospital nur mit einem einzigen Wort bezeichnen: Verbrecherisch!
Bis zu diesem Augenblick hatte er trotz des vorherrschenden Eindrucks, daß die pathologische Abteilung des Three Counties Hospitals dringend einer Neuorganisation bedurfte, versucht, sich von jedem persönlichen Urteil über Dr. Joseph Pearson zurückzuhalten. Schließlich hatte der alte Mann lange allein gearbeitet, und der Arbeitsanfall in einem Krankenhaus dieser Größe konnte für einen einzelnen Pathologen nicht leicht zu bewältigen gewesen sein. Diese Belastung konnte die unzulänglichen Verfahren erklären, die Coleman in den Labors bereits entdeckt hatte, und wenn diese Mängel auch nicht entschuldbar waren, wurden sie dadurch doch wenigstens verständlich.
Es war auch möglich, daß Pearson in anderer Hinsicht Format besaß. Nach David Colemans Ansicht gingen im allgemeinen ein hoher medizinischer Standard mit einer guten Verwaltung Hand in Hand. Aber von den beiden war die Medizin - in diesem Fall die Pathologie - wichtiger. Er wußte, daß es viele weißschimmernde Abteilungen gab, die glänzendem Chrom und einer tüchtigen Verwaltung die erste Stelle einräumten und der Medizin erst in weitem Abstand die zweite. Er hatte es für möglich gehalten, daß es hier umgekehrt war - eine schlechte Verwaltung, aber gute Medizin. Das war der Grund gewesen, warum er seine natürliche Neigung unterdrückte, den alten Pathologen auf Grund dessen zu beurteilen, was er bisher gesehen hatte. Aber jetzt fand er es unmöglich, sich länger Illusionen hinzugeben. Dr. Joseph Pearson war nachlässig und unfähig.
Coleman versuchte, die Verachtung in seiner Stimme zu verbergen, und fragte: »Was beabsichtigen Sie zu tun?«
»Ich kann nur eines tun.«
Pearson war an seinen Schreibtisch zurückgegangen und hatte das Telefon abgehoben. Er drückte auf einen Knopf. Nach einer Pause sagte er: »Bannister soll kommen.«
Er legte den Hörer zurück und wandte sich an Coleman: »Es gibt zwei Männer, die Experten auf diesem Gebiet sind. Chollingham in Boston und Earnhart in New York.«
Coleman nickte. »Ja, ich habe von ihnen gehört.«
Bannister trat ein. »Sie haben mich gewünscht?« Er sah auf Coleman und ignorierte ihn dann betont.
»Nehmen Sie diese Schnitte.« Pearson schloß den Behälter und schob ihn über den Schreibtisch. »Schicken Sie heute abend noch zwei Sätze fort, mit Luftpost Eilboten und einem Schild >Dringend< darauf. Der eine Satz geht an Dr. Chollingham in Boston, der andere an Dr. Earnhart in New York. Lassen Sie die üblichen Begleitbriefe schreiben. Fügen Sie Abschriften der Krankengeschichte bei und bitten Sie beide, ihren Befund telegrafisch zu übermitteln.«
»Jawohl.« Den Behälter mit den Objektträgern unter dem Arm ging Bannister hinaus.
Wenigstens hier hat der Alte schnell und richtig gehandelt, dachte Coleman. Krankheitsregister oder nicht, die Ansicht von zwei Experten über diesen Fall einzuholen, war ein guter Gedanke.
Pearson sagte: »In zwei bis drei Tagen müßten wir Antwort haben. Inzwischen muß ich wohl mit Lucy Grainger reden.« Er überlegte. »Ich werde ihr nicht zuviel sagen, nur, daß geringe Zweifel vorhanden sind und wir« - er warf Coleman einen scharfen Blick zu - »eine Bestätigung von anderer Seite einholen.«
XIII
Vivian verhielt sich völlig still - war verwirrt, verständnislos. Das durfte ihr doch nicht geschehen. Es mußte jemand anders sein, von dem Dr. Grainger da sprach. Ihre Gedanken überstürzten sich. Ja, das war es! Irgendwie mußten die Krankenblätter von zwei Patienten verwechselt worden sein. Das war in Krankenhäusern schon vorgekommen. Dr. Grainger hatte sehr viel zu tun. Sie konnte leicht etwas verwechseln. Vielleicht wurde jetzt einem anderen Patienten gesagt, daß...
Unvermittelt brach sie diesen Gedankengang ab, hielt bewußt inne, versuchte, sich klarzuwerden. Es war keine Verwechslung. Sie wußte es. Klar und eindeutig erkannte sie es am Gesichtsausdruck von Dr. Grainger und von Mike Seddons, die Vivian jetzt von beiden Seiten ihres Krankenhausbettes beobachteten, in dem sie durch Kissen im Rücken gestützt halb lag, halb saß.
Sie wandte sich an Lucy Grainger. »Wann werden Sie es. endgültig wissen?«
»In zwei Tagen. Dr. Pearson wird uns benachrichtigen, sobald das Ergebnis vorliegt.«
»Und er weiß nicht...«
»Im Augenblick weiß er es nicht«, antwortete Lucy. »Er weiß es noch nicht mit Gewißheit.«
»Oh, Mike.« Sie griff nach seiner Hand.
Er hielt sie zärtlich. Dann sagte sie: »Entschuldigung. aber ich glaube. ich muß weinen.«
Während Seddons seinen Arm um Vivian legte, stand Lucy von ihrem Stuhl auf. »Ich komme später wieder.« Sie fragte Seddons: »Bleiben Sie noch?«
»Ja.«
Lucy sagte: »Machen Sie Vivian ganz klar, daß noch nichts Endgültiges entschieden ist. Ich wollte nur, daß sie darauf vorbereitet ist. für den Fall.«
Er nickte langsam mit seinem wirren, roten Haarschopf. »Ich verstehe.«
Als Lucy in den Gang hinaustrat, dachte sie: ja, davon bin ich überzeugt.
Gestern nachmittag, als Joe Pearson sie telefonisch benachrichtigte, konnte Lucy sich nicht entschließen, ob sie Vivian sofort darüber unterrichten solle, welche Möglichkeit bestand, oder ob sie damit bis später warten solle. Wenn sie wartete, und der pathologische Befund über die Probe lautete: >gutartig<, war alles in Ordnung, und Vivian würde nie von dem drohenden Schatten erfahren, der eine Zeitlang über ihr gelegen hatte. Aber auf der anderen Seite, wenn in zwei Tagen der pathologische Befund >bösartig< hieß, war die sofortige Amputation lebenswichtig. Konnte Vivian dann noch rechtzeitig darauf vorbereitet werden oder würde der psychologische Schock zu groß sein? Dieser Schock konnte auf das junge Mädchen, das nicht damit rechnete, daß ihr irgend etwas Ernsthaftes fehle, ungeheuer wirken, wenn er es plötzlich und unvorbereitet traf. Es konnte Tage dauern, ehe Vivian seelisch auf die große Operation vorbereitet war - Tage, die zu verlieren sie nicht riskieren durfte.
Lucy berücksichtigte dabei noch eine weitere Überlegung. Die Tatsache, daß Joe Pearson ein Gutachten von dritter Seite einholte, war an sich schon bezeichnend. Wenn es sich um eine eindeutig gutartige Geschwulst handelte, hätte er das gleich gesagt. Die Tatsache, daß er es nicht tat, trotz seiner Ablehnung, sich in der einen oder der anderen Richtung festzulegen, als er mit ihr sprach, bedeutete, daß zumindest starke Anhaltspunkte für die Bösartigkeit vorlagen.
Nach Berücksichtigung all dieser Argumente entschloß Lucy sich, Vivian gleich über die Situation zu unterrichten. Wenn das Urteil später auf gutartig lautete, hatte sie zwar unnötigerweise Ängste ausgestanden - das war richtig -, das war aber immer noch besser als ein plötzlicher, vernichtender Schlag, der sie völlig unvorbereitet traf.
Dieses unmittelbare Problem wurde auch durch das Auftreten von Dr. Seddons vereinfacht. Der junge Praktikant war am vergangenen Abend zu Lucy gekommen und hatte ihr von seinem und Vivians Plan, zu heiraten, erzählt. Er hatte zugegeben, daß es zunächst seine Absicht gewesen war, im Hintergrund zu bleiben, daß er es sich jetzt aber überlegt habe. Lucy war froh darüber. Das bedeutete wenigstens, daß Vivian nicht ganz für sich allein stand und jemand hatte, bei dem sie Trost und Unterstützung finden konnte.
Zweifellos würde das Mädchen beides in hohem Maß nötig haben. Lucy hatte ihr so behutsam, wie sie konnte, den Verdacht auf Knochenkrebs mit all seinen tragischen Konsequenzen mitgeteilt. Aber wie behutsam man seine Worte auch wählte, tatsächlich bestand keine Möglichkeit, den Schlag wirklich zu mildern. Nun überlegte Lucy den nächsten Schritt, den sie unternehmen mußte: die Eltern des Mädchens unterrichten. Sie sah auf den Zettel in ihrer Hand mit einer Adresse in Salem, Oregon, die sie von Vivians Krankenkarte als die der nächsten Angehörigen abgeschrieben hatte. Sie hatte schon Vivians Zustimmung, ihre Eltern zu benachrichtigen. Jetzt stand Lucy vor der schweren Aufgabe, ihnen die Nachricht durch ein Ferngespräch so schonend wie möglich zu übermitteln.
Sie überlegte sich, welche Schwierigkeiten sich noch ergeben konnten. Vivian war minderjährig. Nach den Gesetzen war für eine Amputation die Zustimmung der Eltern erforderlich. Wenn die Eltern beabsichtigten, sofort mit dem Flugzeug nach Burlington zu kommen, konnte sie die schriftliche Genehmigung bei ihrer Ankunft erhalten. Wenn nicht, mußten sie überredet werden, ihre Einwilligung telegrafisch zu erteilen und Lucy das Recht einräumen, notfalls davon Gebrauch zu machen.
Sie sah auf ihre Uhr. Ihr ganzer Vormittag war mit Terminen in ihrer Sprechstunde in der Stadt ausgefüllt. Vielleicht war es das beste, gleich zu telefonieren, ehe sie das Krankenhaus verließ. Im zweiten Stock betrat sie das kleine Arbeitszimmer, das sie mit Gil Bartlett teilte. Es war kaum mehr als eine Kammer - so klein, daß sie es selten gleichzeitig benutzten. Im Augenblick war es reichlich besetzt - von Bartlett und Kent O'Donnell. Als O'Donnell sie sah, sagte er: »Verzeihen Sie, Lucy, ich gehe sofort. Für drei Personen ist dieses Zimmer nicht gebaut worden.«
»Das ist nicht nötig.« Sie drückte sich an den beiden Männern vorbei und setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch. »Ich muß nur schnell ein oder zwei Dinge erledigen. Dann gehe ich sofort wieder.«
»Ich rate Ihnen, zu bleiben.« Gil Bartletts Bart vollführte das übliche hüpfende Auf und Ab. Sein Ton war scherzhaft. »Kent und ich sind heute morgen außergewöhnlich tiefsinnig. Wir diskutieren gerade über die Zukunft der Chirurgie.«
»Es gibt Leute, die behaupten, daß sie keine Zukunft hat.« Lucy paßte ihren Ton dem Bartletts an. Sie hatte ihre Schreibtischschublade geöffnet und suchte nach klinischen Unterlagen, die sie für eine Untersuchung in der Stadt brauchte. »Es wird behauptet, daß alle Chirurgen aussterben werden, daß sie in ein paar Jahren so veraltet sind wie Wudu-Zauberer oder Medizinmänner.«
Bartlett bereitete nichts größeres Vergnügen als Gespräche dieser Art. »Und wer, wenn ich fragen darf, soll unsere blutrünstige Knochenschlosserei übernehmen?«
»Die ist dann überflüssig.« Lucy hatte die Aufzeichnungen gefunden und griff nach ihrer Aktentasche. »Alles wird durch Diagnose ersetzt. Die Medizin wird die Kräfte der Natur gegen die Mißfunktionen der Natur einsetzen. Man wird beweisen, daß unsere psychische Gesundheit die Wurzel aller organischen Erkrankungen bildet. Krebs wird durch die Psychiatrie und Gicht durch angewendete Psychologie verhindert. «Sie schloß den Reißverschluß ihrer Aktentasche und fügte in leichterem Ton hinzu: »Wie Sie wohl erraten haben, zitiere ich.«
»Ich kann das kaum erwarten.« Kent O'Donnell lächelte. Wie immer freute er sich über Lucys Nähe. War es töricht oder gar lächerlich von ihm, daß er sich davor scheute, ihr Verhältnis enger und vertrauter werden zu lassen? Was fürchtete er eigentlich? Vielleicht sollten sie noch einen Abend gemeinsam verbringen und dann die Ereignisse ihren Lauf nehmen lassen. Aber hier und jetzt, in Gil Bartletts Gesellschaft, war offensichtlich keine geeignete Gelegenheit, um sich mit ihr zu verabreden.
»Ich bezweifle, daß einer von uns das noch erleben wird.« Während Lucy sprach, summte leise das Telefon auf dem Tisch. Sie nahm den Hörer auf und meldete sich, reichte ihn dann Gil Bartlett. »Für Sie.«
»Ja, bitte«, meldete sich Bartlett.
»Dr. Bartlett?« Sie konnte die Frau am anderen Ende der Leitung verstehen.
»Am Apparat.«
»Hier ist Miss Rawson in der Notaufnahme. Ich habe eine Nachricht von Dr. Clifford.« Clifford war der erste chirurgische Assistent des Krankenhauses.