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»Nicht völlig.« Er blieb im Schatten, studierte die Position des Gegners, erwog die vorhandenen Möglichkeiten. Dann griff er wieder behutsam nach den Figuren und schob seinen Turm ein Feld nach links, so daß er eine offene Linie beherrschte.
Eustace Swayne wartete. Eine Minute verging, eine zweite, dann eine dritte. Schließlich griff er nach seinem Turm zu einem ähnlichen Zug auf die gleiche offene Linie, um den Angriff seines Gegners abzuwehren, und sagte: »Sie haben in Zukunft die Möglichkeit, Ihr Veto einzulegen, falls Sie davon Gebrauch machen wollen. «
»So? Was für eine Art Veto?« Die Frage kam beiläufig, aber die Handlung, die sie begleitete, erfolgte schnell. Pearson ergriff seinen Damenspringer und placierte ihn auf eines der Mittelfelder.
Während Swayne das Brett studierte und die Stärke seiner Stellung erwog, antwortete er: »Ich habe Orden Brown und eurem Chef der Chirurgie gesagt, daß ich bereit bin, eine Viertelmillion Dollars für den Baufonds zu geben.« Mit dem letzten Wort machte er einen Zug, der dem Pearsons entsprach, und setzte seinen Königsspringer vor, neben das Feld mit dem stark placierten Springer seines Gegners.
Diesmal dauerte das Schweigen lange. Am Ende nahm der Pathologe seinen Läufer, zog ihn über das ganze Feld und schlug einen Bauern. Ruhig sagte er: »Schach.« Dann: »Das ist viel Geld.«
»Ich habe eine Bedingung daran geknüpft.« Swayne, jetzt in der Defensive, zog seinen König ein Feld nach rechts. »Das Geld wird nur gegeben, wenn Sie freie Hand behalten, Ihre Abteilung im Krankenhaus in der Weise und so lange zu leiten, wie Sie wünschen.«
Dieses Mal macht Joe Pearson keinen Zug. Er schien nachzudenken, blickte in die Dunkelheit über dem Kopf des anderen. Dann sagte er einfach: »Sie beschämen mich.« Seine Augen wendeten sich wieder dem Schachbrett zu. Nach einer Weile setzte er seinen Springer auf ein Feld, so daß die Figur Swaynes jetzt den in die Enge getriebenen König angriff.
Eustace Swayne hatte den Zug sorgfältig beobachtet. Aber vor seinem Gegenzug griff er nach der Kognakkaraffe, füllte Pearsons Glas, dann sein eigenes. Als er die Karaffe abstellte, sagte er: »Wir leben in einer Welt der jungen Männer, und ich nehme an, daß sie immer eine Welt der jungen Männer war, selbst wenn alte Männer manchmal noch Macht besitzen. und den Verstand, sie zu benutzen.« Dann griff er mit funkelnden Augen vor, nahm den Bauern vor seinem König und schlug damit den lästigen Springer.
Nachdenklich strich Pearson mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn. Dann nahm er seine Dame, zog sie sechs Felder auf der offenen Line vor und schlug den Bauern des schwarzen Königs. »Sie sagen. Orden Brown und O'Donnell wissen das?«
»Ich habe es ihnen eindeutig klargemacht.«
Der alte Finanzmann schlug mit seinem Königsläufer den Läufer seines Gegners auf g5.
Plötzlich schmunzelte Joe Pearson. Es war nicht zu erkennen, ob das Spiel oder die Unterhaltung seine Heiterkeit verursachte. Aber schnell griff er vor. Er schob seine Dame neben den schwarzen König, sagte leise: »Matt.«
Eustace Swayne verhehlte seine Bewunderung für den entscheidenden Überraschungsangriff nicht. Er nickte, wie um sein eigenes Urteil zu bestätigen.
»Ja«, sagte er, »Sie sind ohne Zweifel so gut wie eh und je.«
Die Musik endete, und die Paare auf der Tanzfläche des kleinen, aber eleganten Nachtlokals - eines der wenigen, die Burlington aufweisen konnte - begaben sich langsam zu ihren Tischen zurück.
»Verraten Sie mir, was Sie denken«, forderte Denise Quantz O'Donnell auf. Sie lächelte ihm über die schwarze Platte des kleinen Tisches zu, der zwischen ihnen stand.
»Ehrlich gesagt, ich dachte gerade, daß es hübsch wäre, wenn wir diesen Abend wiederholen könnten.«
Ganz leicht hob sie das Glas in ihrer Hand. Es enthielt den Rest ihres zweiten Old Fashioned. »Hoffentlich denken Sie es noch öfter.«
»Darauf trinke ich gern.« Er leerte seinen Scotch und Soda, winkte dann dem Kellner und bestellte das gleiche. »Wollen wir tanzen?« Die Musik hatte wieder eingesetzt.
»Sehr gern.« Sie erhob sich, wendete sich ihm halb zu, als er ihr zu der kleinen, gedämpft beleuchteten Tanzfläche folgte. Er hob seine Arme, und sie legte sich in sie hinein. Sie tanzten dicht aneinander.
O'Donnell war nie ein guter Tänzer gewesen, die Medizin hatte ihm dazu zuwenig Zeit gelassen. Aber Denise Quantz folgte jedem seiner Schritte. Während die Minuten verstrichen, spürte er ihren Körper, schlank, biegsam, ihm gehorsam folgend, die Musik und seine Bewegungen vorausahnend. Einmal strich ihr Haar leicht über sein Gesicht und brachte einen Hauch des gleichen Parfüms mit sich, das er schon bei ihrer ersten Begegnung wahrgenommen hatte.
Das Fünf-Mann-Orchester, gedämpft und unaufdringlich, seine Arrangements sorgfältig auf die intime Umgebung abgestimmt, spielte ein einschmeichelndes, ein paar Jahre altes Lied von Pyramiden am Nil, Tropeninseln, Sonnenaufgängen und ewiger Liebe. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, als lebe er von geliehener Zeit, als ob er sich in einem Vakuum befinde, als ob er von allem abgeschlossen sei, fern von der Medizin, von dem Three Counties Hospital und den anderen Dingen, mit denen er täglich lebte. Dann ging die Musik in ein schnelleres Tempo über, und er mußte über seine Sentimentalität lächeln.
Während sie tanzten, fragte er: »Kommen Sie oft hierher -nach Burlington, meine ich?«
»Eigentlich nicht«, antwortete sie. »Gelegentlich, um meinen Vater zu besuchen, aber das ist auch alles. Offen gesagt, kann ich die Stadt nicht leiden.« Dann lachend: »Ich hoffe, daß ich damit nicht Ihren Bürgerstolz verletze.«
»Nein«, antwortete er. »Ich bin in der einen oder anderen nicht unabhängig geblieben. Aber sind Sie nicht hier geboren worden...« Er fügte hinzu: »Denise - wenn ich darf?«
»Selbstverständlich, wir wollen nicht formell miteinander sein.« Sie sah gerade zu ihm auf und lächelte. Als Antwort auf seine Frage sagte sie: »Ja, ich wurde hier geboren. Ich bin hier aufgewachsen und ging hier auch zur Schule. Meine Mutter lebte damals noch.«
»Und warum wohnen Sie jetzt in New York?«
»Ich glaube, ich bin New Yorkerin aus Instinkt. Außerdem wohnte mein Mann in New York; er lebt immer noch dort.« Es war das erstemal, daß sie ihren Mann erwähnte. Sie tat es leichthin und ohne Verlegenheit. »Nachdem wir uns trennten, stellte ich fest, daß ich New York nicht mehr verlassen wollte. Es gibt keine Stadt, die man mit New York vergleichen kann.«
»Ja«, antwortete er, »das stimmt wohl.« Er dachte wieder: Wie schön diese Frau ist. Sie besaß ohne jeden künstlichen Zwang jene Sicherheit, die jüngere Frauen selten erreichen. Aber nichts an ihr ließ erkennen, daß sie auf ihre Fraulichkeit verzichtete, eher im Gegenteil. Kent O'Donnell, der sie jetzt umfaßt hielt, während ihr Körper sich im gleichen Rhythmus mit seinem bewegte, erschien sie unendlich begehrenswert.
Bewußt änderte er die Richtung seiner Gedanken, Sie waren voreilig. Wie schon früher, fiel ihm wieder ihr Kleid auf, das sie an diesem Abend trug. Es ließ ihre Schultern frei und bestand aus leuchtend roter, schwerer Peau de Soie, umhüllte eng ihre Figur und fiel erst unter den Hüften weit auseinander. Es wirkte gleichzeitig dramatisch, vornehm und teuer.
Das erinnerte ihn an einen anderen Gedanken, der ihm an diesem Abend zum erstenmal durch den Kopf ging: an die Tatsache, daß Denise offensichtlich reich war. Sie waren vor dem Regency Room fast gleichzeitig angekommen. Er hatte seinen eigenen Wagen geparkt und ging gerade auf den Eingang des Nachtklubs zu, als ein glänzender Cadillac vorfuhr und der uniformierte Chauffeur schnell ausstieg, um für Denise die Tür zu öffnen. Nach der Begrüßung drehte sie sich zu dem Chauffeur um, der diskret zurückgetreten war. »Danke, Tom, Sie brauchen nicht noch einmal herzukommen. Ich nehme an, daß Dr. O'Donnell mich nach Hause bringen wird.«
Höflich hatte der Mann »Danke, Madam« geantwortet, dann zu O'Donnell »Guten Abend, Sir« gesagt und war davongefahren.
Wenn er darüber nachgedacht hätte, wäre O'Donnell selbstverständlich klargewesen, daß die Tochter von Eustace Swayne zweifellos ein großes Vermögen erben würde. Nicht daß diese Erkenntnis ihn sonderlich beeindruckte. Sein eigenes Einkommen reichte für ein bequemes, angenehmes Leben gut aus, und zu mehr als das. Dessenungeachtet war eine wirklich reiche Frau für ihn eine neue Erfahrung. Wieder stellte er fest, daß er in Gedanken Denise und Lucy Grainger miteinander verglich.
Mit einem gedämpften Crescendo beendete das Orchester die Musik. O'Donnell und Denise klatschten kurz, ehe sie die Tanzfläche verließen. Er faßte sie leicht am Arm und führte sie zu ihrem Tisch. Der Kellner wartete schon. Er schob ihnen die Stühle zurecht und servierte die Drinks, die O'Donnell bestellt hatte.
Denise nahm einen Schluck von ihrem neuen Old Fashioned und sagte: »Jetzt haben wir über mich gesprochen. Nun erzählen Sie mir etwas von sich.«
Er goß mehr Soda in seinen Scotch. Er trank seinen Whisky gern mit viel Wasser - eine Praxis, die die meisten Kellner zu verabscheuen schienen. »Bei mir ist alles ziemlich alltäglich.«
»Ich kann gut zuhören, Kent.« Denise war mit ihren Gedanken nur halb bei ihren Worten. Die andere Hälfte dachte: Das ist ein Mann - ein ganzer Mann. Ihre Blicke liefen über die große Gestalt, die breiten Schultern, das kräftige Gesicht. Sie fragte sich, ob er sie zum Abschied küssen werde und zu was das später führen könnte. Sie kam zu der Ansicht, daß Dr. Kent O'Donnell interessante Möglichkeiten bot.
O'Donnell erzählte ihr vom Three Counties Hospital, von seiner Arbeit dort und von dem, was er zu vollbringen hoffte. Sie fragte ihn nach seiner Vergangenheit, seinen Erlebnissen, Menschen, denen er begegnet war, und war von der Tiefe seiner Gedanken und Empfindungen, die aus allem sprach, was er sagte, stark beeindruckt.
Sie tanzten wieder. Der Kellner brachte ihnen frische Drinks. Sie unterhielten sich, sie tanzten, der Kellner kam zurück. Die Reihenfolge wiederholte sich. Denise erzählte ihm von ihrer Ehe. Sie hatte vor achtzehn Jahren geheiratet, die Ehe hatte zehn Jahre gedauert. Ihr Mann war Rechtsanwalt mit einer großen Praxis in New York. Sie hatte zwei Kinder-Zwillinge, Alex und Philippa -, die in Denises Obhut geblieben waren. In ein paar Wochen wurden die Kinder siebzehn.
»Mein Mann ist ein vollkommen rationales Wesen«, sagte sie. »Wir waren einfach völlig unvereinbar miteinander und verschwendeten viel Zeit darauf, zu der offensichtlichen Lösung zu gelangen.«
»Sehen Sie ihn jetzt noch?«
»Ja, oft. Auf Partys und in der Stadt. Gelegentlich verabreden wir uns zum Mittagessen. In mancher Weise kann Geoffrey bezaubernd sein. Ich bin überzeugt, er würde Ihnen gefallen.«
Beide sprachen jetzt unbefangener. Der Kellner brachte ihnen jetzt frische Drinks, ehe er dazu aufgefordert wurde. O'Donnell fragte sie nach einer Scheidung; ob es Hinderungsgründe dafür gebe.
»Eigentlich nicht«, antwortete sie offen. »Geoffrey ist durchaus bereit, sich scheiden zu lassen, besteht aber darauf, daß ich den Scheidungsgrund stelle. Wie Sie wissen, muß das im Staate New York Ehebruch sein. Und so weit bin ich bisher noch nicht gekommen.«
»Hatte Ihr Mann nie den Wunsch, sich wieder zu verheiraten?«
Sie schien überrascht. »Geoffrey? Das kann ich mir nicht vorstellen. Im übrigen ist er mit der Jurisprudenz verheiratet.«
»Ah so.«
Denise drehte ihr Glas am Fuß. »Geoffrey glaubte immer, das Bett sei der richtige Platz, um seine Akten zu studieren.« Sie sagte es leise, fast vertraulich. O'Donnell verstand den Hinweis, weshalb ihre Ehe scheiterte. Er fand den Gedanken erregend.
Der Kellner stand neben ihm. »Verzeihen Sie, Sir, die Bar schließt in ein paar Minuten. Wollen Sie jetzt noch einmal bestellen?«