174189.fb2 Letzte Diagnose - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 39

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Die frühere Feindschaft war zurückgekehrt. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

»Ja?« Pearsons Antwort war zwar schroff, aber sein Ausdruck besänftigte sich, während er zuhörte. Dann sagte er: »Also gut, Lucy. Das beste ist, Sie kommen herunter. Ich warte hier auf Sie.« Er legte den Hörer zurück und starrte auf einen Punkt in der Mitte des Schreibtisches. Dann sagte er, ohne den Kopf zu heben, zu Coleman: »Lucy Grainger ist auf dem Wege hierher. Sie können bleiben, wenn Sie wollen.«

Fast als ob er ihn nicht gehört habe, sagte Coleman nachdenklich: »Wissen Sie, es gibt vielleicht noch einen anderen Weg, der uns einen brauchbaren Hinweis liefern kann.«

»Welchen?« Pearson hob scharf den Kopf.

»Diese Röntgenaufnahmen.« Coleman sprach immer noch langsam, als überlegte er, während er sprach. »Sie wurden schon vor zwei Wochen aufgenommen. Wenn ein Tumor vorliegt, und wenn er sich weiterentwickelt hat, könnte eine neue Röntgenuntersuchung das zeigen.«

Ohne ein Wort beugte Pearson sich wieder vor und griff noch einmal nach dem Telefon. Das Knacken in der Leitung war zu hören. Dann sagte er: »Geben Sie mir Dr. Bell in der Röntgenabteilung.«

Während der alte Mann wartete, musterte er Coleman mit seltsamem Ausdruck. Dann bedeckte er die Sprechmuschel und sagte widerwillig anerkennend: »Das muß man Ihnen lassen. Sie denken nach - ständig.«

In dem Zimmer, das der Krankenhausstab scherzhaft als den >Schwitzkasten für werdende Väter< bezeichnete, drückte John Alexander eine halbgerauchte Zigarette in einem Aschenbecher aus. Er stand auf, klopfte auf den Ledersessel, in dem er die letzten anderthalb Stunden gesessen hatte, und von dem er jedesmal, wenn sich die Tür öffnete und jemand von dem Gang draußen hereinkam, aufgefahren war. Aber immer war die Nachricht für einen anderen bestimmt gewesen, und jetzt waren von den fünf Männern, die sich vor neunzig Minuten in dem Raum aufgehalten hatten, nur noch er und ein anderer übriggeblieben.

Er trat an das große Fenster, von dem man den Vorhof des Krankenhauses überblickte und über andere Gebäude hinweg auf das Industrieviertel Burlingtons sah, und stellte fest, daß Straßen und Dächer naß waren. Seit er hierhergekommen war, mußte es also geregnet haben, ohne daß er es bemerkt hatte. Jetzt bot die Umgebung des Krankenhauses den unerfreulichsten Anblick. Schmutzig und deprimierend erstreckten sich die Dächer vernachlässigter Häuser und billiger Wohnblocks bis zu den Fabriken mit ihren verrußten Schloten zu beiden Ufern des Flusses. Ab er auf die Straße vor dem Krankenhaus hinunterblickte, sah er eine Gruppe Kinder, die aus einer Seitengasse herausgelaufen kam und über die Pfützen, die auf dem unebenen, zerrissenen Pflaster des Bürgersteiges standen, hinweghüpfte oder sie umging. Während er die Kinder beobachtete, bemerkte er, wie ein größerer Junge stehenblieb und einem Kind hinter sich ein Bein stellte. Es war ein kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf. Sie fiel mit dem Gesicht in eine große Pfütze. Schmutziges Wasser spritzte um sie auf. Weinend erhob sie sich, wischte sich Schlamm aus dem Gesicht und versuchte, das Wasser aus ihrem verdreckten, durchnäßten Kleid zu wringen. Die anderen waren stehengeblieben, sprangen im Kreis um sie herum, ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen hingerissen vor Schadenfreude.

»So sind Kinder.« Die angewiderte Stimme sprach unmittelbar neben ihm, und erst jetzt bemerkte John, daß der andere Mann in dem Raum neben ihn ans Fenster getreten war. Er blickte zur Seite und sah eine große, spindeldürre Gestalt vor sich. Das Gesicht mit den hohlen Wangen war ungewöhnlich hager. Der Mann war unrasiert. Vermutlich war er zwanzig Jahre älter als John. Er trug eine fleckige Cordjacke über einem schmutzigen Overall. John nahm einen Dunst von Schmieröl und abgestandenem Bier wahr, der den Mann umgab.

»Kinder sind alle gleich.« Der Mann wendete sich vom Fenster ab und wühlte in seinen Taschen. Gleich darauf zog er Papier und Tabak heraus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er sah John scharf an, als er fragte: »Ihr erstes?«

»Eigentlich nicht. Es ist unser zweites. Unser erstes Baby starb.«

»Wir verloren auch eins in dem Alter, das zwischen dem vierten und dem fünften. Ganz gut so.« Der Mann suchte wieder in seinen Taschen. Er fragte: »Haben Sie Feuer?«

John zog sein Feuerzeug heraus und hielt es ihm hin. »Sie erwarten schon Ihr sechstes?«

»Nein - das achte.« Der hagere Mann hatte jetzt seine Zigarette in Brand. »Manchmal finde ich, es sind acht zuviel.« Dann fragte er schroff: »Sie wollten Ihres wohl, was?«

»Meinen Sie das Kind?«

»Ja.«

»Selbstverständlich.« John war überrascht.

»Wir wollten sie nie. Nach dem ersten nicht mehr. Das hat mir gelangt.«

»Warum haben Sie dann acht?« John konnte die Frage nicht unterdrücken. Die Unterhaltung übte einen fast hypnotischen Zwang auf ihn aus.

»Fragen Sie besser meine Frau. Bei der ist es immer heiß in der Hose. Wenn sie zwei Glas Bier in sich hat und mit ihrem Hintern eine Weile über eine Tanzfläche gewackelt ist, muß sie es immer gleich besorgt haben. Dann kann sie einfach nicht warten, bis sie zu Hause ist.« Der Hagere stieß Rauch aus und fuhr ruhig fort: »Wir haben alle unsere Kinder an den komischsten Stellen gemacht. Einmal waren wir im Warenhaus Macy einkaufen, und da trieben wir es in einer Besenkammer im Souterrain. Da kommt unser viertes her, glaube ich. Aus dem Souterrain bei Macy. War aber kein Gelegenheitskauf. «

John war nahe daran, laut herauszulachen, aber dann fiel ihm wieder ein, weshalb er hier war. Statt dessen sagte er: »Ich hoffe nur, daß bei Ihnen alles gut geht - ich meine dieses Mal.«

Der Hagere antwortete finster: »Es geht immer gut. Das ist ja unser Ärger.« Er ging auf die andere Seite des Zimmers zurück und nahm eine Zeitung.

Als John wieder allein am Fenster stand, sah er noch einmal auf seine Uhr. Nun wartete er schon eindreiviertel Stunden hier oben. Bestimmt mußte er bald etwas erfahren. Er wünschte, er hätte Elizabeth gesehen, bevor sie in das Entbindungszimmer gebracht worden war. Aber alles ging so schnell, daß er keine Gelegenheit mehr dazu hatte. Er befand sich in der Krankenhausküche, wohin er auf Dr. Pearsons Anweisung gegangen war, als Carl Bannister ihm die Nachricht überbrachte. Pearson hatte ihm befohlen, von den Tellern Kulturen abzunehmen, nachdem sie durch die Geschirrspülmaschinen gelaufen waren. John vermutete, daß der Verdacht bestand, die Maschinen würden nicht hygienisch einwandfrei arbeiten. Aber sobald Bannister ihn über Elizabeths Aufnahme im Krankenhaus benachrichtigt hatte, ließ er die Arbeit liegen und lief in die Aufnahme, in der Hoffnung, sie dort noch anzutreffen. Sie war aber schon im Krankenwagen angekommen und in die Entbindungsstation gebracht worden. Danach war er sofort hier hinaufgekommen, um zu warten.

Jetzt öffnete sich wieder die Tür, und diesmal war es Dr. Dornberger. John versuchte, auf seinem Gesicht zu lesen, aber vergeblich. Dornberger fragte: »Sind Sie John Alexander?«

»Ja, Sir.« John hatte den alten Geburtshelfer schon mehrere Male im Krankenhaus gesehen, aber es war das erstemal, daß er mit ihm sprach.

»Ihre Frau wird alles gut überstehen.« Dornberger war erfahren genug, um keine langen Umschweife zu machen.

Johns erste Reaktion war die Empfindung überwältigender Dankbarkeit. Dann fragte er: »Und das Kind?«

Dornberger antwortete ruhig: »Sie haben einen Jungen. Er ist natürlich zu früh geboren, und ich muß Sie darauf aufmerksam machen, John, daß er sehr schwach ist.«

»Ist er lebensfähig?« Erst als er die Frage ausgesprochen hatte, wurde ihm bewußt, wieviel für ihn von der Antwort abhing.

Dornberger hatte seine Pfeife aus der Tasche gezogen und stopfte sie. Ruhig antwortete er: »Wir wollen sagen, daß seine Chancen nicht so günstig sind, als wenn er voll ausgetragen wäre.«

John nickte betrübt. Mehr gab es nicht zu sagen, jedenfalls nichts, was jetzt Bedeutung hatte.

Der alte Arzt schwieg, während er seinen Tabaksbeutel wieder einsteckte. Dann sagte er im gleichen bedachtsamen Ton: »Soweit ich es beurteilen kann, ist Ihr Kind zweiunddreißig Wochen alt, das heißt, es wurde acht Wochen zu früh geboren.« Mitfühlend fügte er hinzu: »Der Junge ist für die Welt noch nicht fertig, John. So früh ist das keiner von uns.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.« John war sich kaum bewußt, was er antwortete. Seine Gedanken waren bei Elizabeth und bei dem, was dieses Kind ihnen beiden bedeutete.

Dr. Dornberger hatte Streichhölzer aus der Tasche gezogen und zündete seine Pfeife an. Als sie brannte, sagte er: »Ihr Kind wog bei der Geburt tausendfünfhundertfünfzig Gramm. Das sagt Ihnen vielleicht mehr, wenn ich Ihnen erkläre, daß wir heute jedes Kind unter zweitausendfünfhundert Gramm Gewicht bei der Geburt als nicht ausgetragen ansehen.«

»Ich verstehe.«

»Wir haben das Baby natürlich in einen Brutkasten gelegt. Selbstverständlich tun wir alles, was in unserer Macht steht.«

John sah den Geburtshelfer fest an. »Dann besteht also Hoffnung?«

»Hoffnung besteht immer, mein Sohn«, sagte Dornberger still. »Wenn wir auch sonst nicht viel haben, hoffen dürfen wir wohl immer.«

Es entstand eine Pause. Dann fragte John: »Kann ich meine Frau jetzt sehen?«

»Ja«, antwortete Dornberger, »ich komme mit Ihnen auf die Station.«

Als sie hinausgingen, bemerkte John, daß der große, hagere Mann ihn neugierig musterte.

Vivian begriff nicht ganz, was geschah. Sie wußte nur, daß eine der Stationsschwestern in ihr Zimmer gekommen war und ihr gesagt hatte, sie würde sofort in die Röntgenabteilung gebracht. Mit Hilfe einer Lernschwester war sie auf eine Trage gebettet worden und wurde durch den Gang gerollt, durch den sie vor kurzer Zeit erst selbst noch gegangen war. Ihr Weg durch das Krankenhaus erschien ihr wie ein Traum, brachte die Unwirklichkeit von allem, was bisher geschehen war, auf den Höhepunkt. Vivian entdeckte, daß ihre Angst sie im Augenblick verlassen hatte, als ob alles, was folgte, sie letzten Endes nicht berührte, weil das, was kam, unvermeidlich und unabänderlich war. Sie überraschte sich bei der Frage, ob diese Empfindung das Ergebnis ihrer Depression sei ob sie die Hoffnung aufgegeben habe. Sie wußte bereits, daß dieser Tag das Urteil bringen mußte, das sie fürchtete: das Urteil, das sie zum Krüppel machte, ihr die Bewegungsfreiheit raubte, ihr mit einem harten Schlag so vieles nahm, was sie bisher als selbstverständlich hingenommen hatte. Bei diesem letzten Gedanken verließ ihre Gelassenheit sie wieder, und die Angst kam zurück. Sie wünschte verzweifelt, daß Mike in diesem Augenblick bei ihr wäre.

Lucy Grainger erwartete sie am Eingang der Röntgenabteilung.

»Wir haben beschlossen, noch einmal zu röntgen, Vivian«, sagte sie »Es dauert nicht lange.« Sie wandte sich an den Arzt im weißen. Mantel neben ihr. »Dies ist Dr. Bell.«

»'n Tag, Vivian.« Bell lächelte ihr durch seine dicken, horngefaßten Brillengläser zu, wandte sich dann an die Schwester: »Kann ich bitte das Krankenblatt haben?« Während er es durchsah, die daran geklammerten Befunde schnell durchblätterte, drehte Vivian den Kopf hin und her und sah sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Empfangsraum, ein durch Glaswände abgeteiltes Schwesternzimmer in der Ecke. An der Wand erblickte sie andere Patienten - zwei Männer in Rollstühlen, die Pyjamas und Krankenhausmäntel trugen, und eine Frau und einen Mann in Straßenkleidung, der Mann mit einem Gipsverband um ein Handgelenk. Diese beiden, das wußte sie, mußten entweder aus der ambulanten Abteilung oder von der Notaufnahme hergeschickt worden sein. Dem Mann mit dem Gipsverband war sichtlich unbehaglich, und er wirkte fehl am Platz. In seiner gesunden Hand hielt er ein vorgedrucktes Formular. Er schien sich daran zu klammern, als sei es ein Paß, den er brauche, um aus dieser fremdartigen Umgebung wieder hinauszugelangen.

Bell hatte die Krankenpapiere durchgesehen und reichte sie zurück. Er sagte zu Lucy: »Joe Pearson hat mich schon angerufen. Wenn ich richtig verstanden habe, wollen Sie durch die zweite Röntgenaufnahme feststellen, ob an dem Knochen inzwischen eine Veränderung eingetreten ist?«

»Ja«, nickte Lucy. »Es ist Joes Gedanke, daß in der Zwischenzeit etwas« - sie zögerte, weil Vivian sie hören konnte - »etwas erkennbar geworden sein könnte.«

»Es wäre möglich.« Bell war zu dem Schwesternzimmer hinübergegangen und füllte eine Röntgenanforderung aus. Er fragte das Mädchen hinter dem Schreibtisch: »Welche Techniker sind frei?«

Sie sah in eine Liste. »Jane und Mr. Firban.«