174189.fb2 Letzte Diagnose - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 41

Letzte Diagnose - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 41

»Es ist jetzt schon gut.« Sie wischte sich über die Augen. »Es ist manchmal nur so.«

Liebevoll erwiderte er: »Wenn es dir hilft, Liebling, dann weine soviel, wie du willst.«

Sie lächelte unsicher und gab ihm das Taschentuch zurück. »Ich fürchte, du kannst es nicht mehr gebrauchen.« Dann sagte sie in gefaßterem Ton: »Johnny, während ich hier lag, habe ich nachgedacht.«

»Worüber?«

»Ich möchte, daß du Medizin studierst.«

Vorsichtig protestierte er: »Aber, Liebling, darüber haben wir schon so oft.«

»Nein«, unterbrach Elizabeth ihn. Ihre Stimme war immer noch schwach, hatte aber einen entschiedenen Klang. »Ich habe es immer gewünscht, und jetzt sagt auch Dr. Coleman, du solltest es tun.«

»Hast du denn eine Vorstellung, was das kosten würde?«

»Ja, das habe ich. Ich kann mir ja wieder eine Stellung suchen.« Behutsam warf er ein: »Aber mit einem Baby?« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann antwortete Elizabeth leise: »Vielleicht behalten wir es nicht.« Die Tür öffnete sich geräuschlos, und Schwester Wilding kam herein. Sie bemerkte Elizabeths rotgeränderte Augen und vermied taktvoll, sie anzusehen. Zu John sagte sie: »Wenn Sie wollen, Mr. Alexander, zeige ich Ihnen jetzt Ihr Baby.«

Nachdem Dr. Dornberger John Alexander auf der Pflegestation zurückgelassen hatte, ging er zu dem Säuglingszimmer.

Der Raum lag am Ende eines langen, hellen, in fröhlichen Pastelltönen gestrichenen Ganges. Er lag in einem Teil des Krankenhauses, der vor zwei Jahren renoviert worden war und in dem der neue Zug zur Geräumigkeit und Helligkeit sich durchgesetzt hatte. Auf seinem Weg durch den Gang vernahm Dornberger wie immer das Schreien der Säuglinge, dessen Ausdruck und Tonstärke von einem kräftigen, ungehaltenen Protest bis zum schwächlichen Vorsichhinwimmern reichte. Mehr aus Gewohnheit als aus einem unmittelbaren Anlaß blieb er stehen und sah durch die dicken Glasscheiben, die das Säuglingszimmer auf drei Seiten abschlossen. Der gleiche Andrang wie immer, ging es ihm durch den Kopf, als er bemerkte, daß die meisten Bettchen belegt waren, und ließ seinen Blick über die ordentlich ausgerichteten Reihen wandern.

Das hier sind die normalen, gesunden Wesen, dachte er. Zunächst haben sie ihren Kampf ums Dasein einmal gewonnen.

Und in ein paar Tagen ziehen sie weiter in die auf sie wartende Welt hinaus. Vor ihnen liegt das Zuhause, die Schule, der Lebenskampf, der Wettstreit um Ruhm und Besitz. Manche von ihnen werden Erfolge genießen und unter Niederlagen leiden. Da waren welche, die, wenn sie alles überstanden, sich ihrer Jugend erfreuen, sich mit den mittleren Lebensjahren abfinden und traurig altern würden. Da waren welche, für die stärkere und glänzendere Autos entworfen wurden, denen schnellere und weiter fliegende Flugzeuge dienen, denen jedes Bedürfnis und jede Anwandlung von anderen ihresgleichen erfüllt werden würden. Sie würden alle einer unbekannten Zukunft gegenübertreten, die meisten mit Unbehagen, viele tapfer, ein paar zaghaft und ängstlich. Vielleicht würden einige von ihnen die Grenzen des Weltraums durchbrechen, andere durch die Gabe der Rede ihre Mitmenschen vielleicht zu Wut und Verzweiflung anstacheln. Die meisten würden in zwanzig Jahren erwachsen sein und dem gleichen uralten, angeborenen Drang, der ihren eigenen Samen gesät und sie wimmernd und begehrend in diese Welt gebracht hatten, gehorchen und sich paaren. Im Augenblick waren sie aber die Sieger, die Geborenen, die Fordernden. Das erste und größte Hindernis hatten sie überwunden, die anderen Kämpfe standen ihnen noch bevor.

Auf der anderen Seite des Ganges befand sich eine andere Abteilung, an die sich ein kleineres Säuglingszimmer anschloß. Dort lagen still und für sich, jede in einem Brutkasten, die Frühgeburten. Sie, über deren Anfang Fragezeichen standen, deren Existenz ungewiß war, hatten ihre erste Schlacht noch nicht gewonnen. Dr. Dornberger wandte sich von dem Hauptsäuglingszimmer ab und ging in diese Abteilung.

Als er seinen jüngsten Patienten betrachtete - ein winziges Fragment schwacher Menschlichkeit -, schob er die Lippen vor und schüttelte zweifelnd den Kopf. Dann schrieb er, methodisch wie immer, sorgfältig seine Behandlungsvorschriften auf.

Später, als Dornberger die Abteilung verließ, traten Schwester Wilding und John Alexander zusammen durch eine andere Tür ein.

Wie jeder, der in die Station der Frühgeburten kam, hatten sie sterile Kittel und Gesichtsmasken angelegt, obwohl gläserne Trennwände sie von dem Raum, dessen Wärme und Luftfeuchtigkeit streng kontrolliert wurde, abschlossen. Als sie jetzt stehenblieben, beugte Schwester Wilding sich vor und klopfte leicht an das Glas. Die junge Schwester in dem abgeteilten Raum blickte auf und trat mit fragenden Augen über ihrer Maske vor sie.

»Baby Alexander.« Schwester Wilding erhob ihre Stimme laut genug, daß die andere Schwester sie verstehen konnte, und deutete auf John. Die Schwester nickte und winkte ihnen. Sie folgten ihr auf der anderen Seite der Glaswand und blieben mit ihr stehen. Sie deutete auf einen Brutkasten - einen von dem Dutzend in dem Raum - und drehte ihn etwas, damit sie hineinsehen konnten.

»Mein Gott, ist das alles?« rief John unwillkürlich aus.

Schwester Wilding sah ihn mitfühlend an. »Er ist wirklich nicht sehr groß.«

John starrte ungläubig auf sein Kind. »Ich habe noch nie ein so unglaublich kleines Kind gesehen.«

Gebannt blickte er in den Isolette-Brutkasten. Konnte das ein Mensch sein? Dieses winzige, runzlige, affenartige Etwas, nur wenig größer als seine beiden Hände?

Das Baby lag völlig still, mit geschlossenen Augen. Nur ein leichtes, regelmäßiges Heben und Senken der winzigen Brust verriet, daß es atmete. Selbst in dem Brutkasten, der für kleinste Säuglinge gebaut war, wirkte der kleine, hilflose Körper verloren. Es schien unverständlich, daß es bei seiner Schwächlichkeit überhaupt leben konnte.

Die jüngere Schwester war zu ihnen hinausgekommen.

Schwester Wilding fragte: »Wie hoch war sein Gewicht bei der Geburt?«

»Drei Pfund und fünfzig Gramm.« Die junge Schwester wandte sich an John. »Verstehen Sie, was hier vor sich geht, Mr. Alexander? Wie Ihr Kind versorgt wird?«

Er schüttelte den Kopf. Es fiel ihm schwer, seine Augen auch nur für einen Augenblick von dem winzigen Körper abzuwenden.

Die junge Schwester sagte sachlich: »Manche wollen es gern wissen. Sie fühlen sich dann ruhiger.«

John nickte. »Ja, wenn Sie mir es bitte erklären wollen.«

Die Schwester deutete auf den Brutkasten. »Die Temperatur in dem Kasten beträgt immer 36,7 Grad. Der Luft wird Sauerstoff zugeführt, etwa vierzig Prozent. Der Sauerstoff erleichtert dem Kind das Atmen. Seine Lungen sind zu klein, verstehen Sie? Sie waren noch nicht fertig entwickelt, als es zur Welt kam.«

»Ja, ich verstehe.« Seine Blicke ruhten wieder auf der schwachen, pulsierenden Bewegung der Brust. Solange sie anhielt, bezeugte sie Leben, daß das winzige, schwerbelastete Herz schlug, daß der Lebensfaden nicht gerissen war.

Die Schwester fuhr fort: »Ihr Kind hat nicht so viel Kraft, daß es saugen kann, darum wird es durch einen dünnen Schlauch ernährt. Sehen Sie ihn?« Sie deutete auf einen Plastikschlauch, der von oben von dem Brutkasten in den Mund des Säuglings führte. »Er geht direkt in den Magen. Alle anderthalb Stunden bekommt er dadurch Dextrose und Wasser. «

John zögerte, ehe er fragte: »Haben Sie viele solcher Fälle gesehen?«

»Ja.« Die Schwester nickte ernst, als wenn sie die kommende Frage erraten hätte. Er bemerkte, daß sie klein und hübsch war, mit rotem Haar unter ihrer Haube. Sie war auch überraschend jung, vielleicht zwanzig, sicherlich nicht viel älter. Aber ihr Auftreten verriet Fähigkeit und Erfahrung.

»Glauben Sie, daß er am Leben bleibt?« John sah wieder durch die Glasscheibe.

»Das kann man nicht mit Sicherheit sagen.« Die junge Schwester zog nachdenklich die Stirn kraus. Er spürte, daß sie versuchte, ehrlich zu sein, seine Hoffnungen weder zu zerstören noch zu heben. »Manche kommen durch, andere nicht. Manchmal scheint es, daß Babys den Willen zum Leben haben. Sie kämpfen um ihr Leben.«

Er fragte sie: »Und er - kämpft er?«

Vorsichtig antwortete sie: »Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Aber die acht Wochen, die er zu früh geboren wurde, fehlen ihm sehr.« Still fügte sie hinzu: »Es wird ein harter Kampf werden.«

Wieder wanderten seine Blicke zu dem winzigen Körper zurück. Zum erstenmal wurde ihm klar bewußt: Das da ist mein Sohn, mein eigen, ein Teil meines Lebens. Plötzlich wurde er von einer überwältigenden Liebe für dieses gebrechliche Wesen ergriffen, das seinen einsamen Kampf in dem kleinen gewärmten Kasten da unten führte. Der absurde Impuls packte ihn, ihm durch das Glas zuzurufen: Du bist nicht allein, Junge, ich bin hier, um dir zu helfen. Er wünschte, er könnte zu dem Brutkasten laufen und sagen: Hier sind meine Hände, nimm sie, um Kraft zu schöpfen, hier sind meine Lungen, benutze sie und laß sie für dich atmen. Gib nicht auf, Junge, gib nur nicht auf! Vor uns liegt so viel, was wir zusammen tun können, wenn du nur lebst. Hör auf mich und halte durch. Ich bin dein Vater, und ich liebe dich.

Er konnte nicht verhindern, daß ihm die Tränen aus den Augen traten. Er spürte Schwester Wildings Hand auf seinem Arm. Freundlich sagte sie: »Es ist besser, wir gehen jetzt.«

Unfähig zu sprechen, nickte er. Nach einem letzten Blick durch die Glaswand wendeten sie sich ab.

Lucy Grainger klopfte und trat in das Arbeitszimmer des Pathologen. Joe Pearson saß hinter seinem Schreibtisch. David Coleman auf der anderen Seite des Zimmers studierte ein Aktenstück. Er drehte sich um, als Lucy eintrat. »Ich habe die neuen Röntgenfilme von Vivian Loburton«, sagte sie.

»Was zeigen sie?« Pearsons Interesse war sofort geweckt. Er schob ein paar Papiere beiseite und stand auf.

»Sehr wenig, fürchte ich.« Lucy war vor den Filmbetrachter getreten, der an der Wand hing, und beide Männer folgten ihr. Coleman streckte die Hand aus und knipste einen Schalter an. Nach ein oder zwei Sekunden begannen die Leuchtröhren hinter der Mattscheibe aufzuflackern.

Paarweise verglichen sie die Röntgenaufnahmen. Lucy wies, wie Dr. Bell in der Röntgenabteilung, auf das Gebiet, wo nach der Probeexcision an der Knochenhaut Wachstum erkennbar war. Im übrigen, berichtete sie, habe sich nichts verändert. Schließlich rieb sich Pearson nachdenklich das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Er sah Coleman an und sagte: »Mir scheint, Ihr Gedanke hat uns nicht geholfen.«

»Offenbar nicht.« Colemans Ton verriet nichts. Trotz aller Bemühungen standen sie vor dem gleichen Problem: sie waren entgegengesetzter Meinung. Er war gespannt, wie sich der alte Mann entscheiden würde.

»Der Versuch war es auf jeden Fall wert.« Pearson hatte eine eigentümliche Art, die geringste Anerkennung widerwillig klingen zu lassen, aber Coleman vermutete, daß er nur sprach, um Zeit zu gewinnen und seine Unschlüssigkeit zu verbergen.

Jetzt wandte sich der alte Mann an Lucy. Fast höhnisch sagte er: »Die Röntgenabteilung weiß also auch nichts?«

Sie antwortete ausdruckslos: »Man kann es so bezeichnen.« »Und damit bleibt es an mir hängen, an der Pathologie?«

»Ja, Joe«, sagte sie ruhig und wartete.