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Lucy sah ihn an. Sie fragte: »Ist das endgültig? Ganz eindeutig?«
»Ganz eindeutig.« Die Stimme des Pathologen verriet nicht eine Spur des Zweifels oder des Zögerns. Er fuhr fort: »Ich war von Anfang an davon überzeugt. Ich hoffte, das hier« - er deutete auf die Röntgenfilme - »würde uns eine zusätzliche Bestätigung geben.«
»Also gut.« Lucy nickte ergeben. Ihre Gedanken richteten sich auf die unmittelbaren nächsten Dinge.
Pearson fragte sachlich: »Wann werden Sie amputieren?«
»Morgen vormittag, denke ich.« Lucy nahm die Röntgenfilme an sich>und ging zur Tür. Sie sah auch Coleman an, als sie sagte: »Jetzt muß ich ihr wohl die Nachricht bringen.« Sie verzog das Gesicht etwas. »Das ist eine der schwersten Aufgaben.«
Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wandte Pearson sich an Coleman. Überraschend höflich sagte er: »Einer mußte es entscheiden. Ich bat Sie jetzt nicht um Ihre Ansicht, weil ich nicht wagen durfte, durchblicken zu lassen, daß Zweifel bestanden. Wenn Lucy Grainger das erfuhr, war sie verpflichtet, das Mädchen und seine Eltern darüber zu unterrichten. Und wenn sie das hören, werden sie die Operation hinauszögern wollen. Das wollen alle immer hinausschieben. Man kann ihnen daraus keinen Vorwurf machen.« Er schwieg und fügte schließlich hinzu: »Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was eine Verzögerung bei einem Osteosarkom bedeutet.«
Coleman nickte. Er konnte Pearson keinen Vorwurf daraus machen, daß er eine Entscheidung gefällt hatte. Wie der alte Mann richtig sagte: Einer mußte es tun. Dennoch fragte er sich, ob die Amputation, die morgen vollzogen wurde, unerläßlich notwendig war oder nicht. Gewiß, am Ende würde man es erfahren. Wenn das amputierte Glied in das Labor herunterkam, würde sich bei der Sektion zeigen, ob die Diagnose >bösartig< richtig oder falsch war. Unglücklicherweise war es dann zu spät, der Patientin noch zu helfen, wenn sie auf einem Irrtum beruhte. Die Chirurgie hatte viele Methoden gelernt, Glieder zu amputieren, aber sie besaß kein Verfahren, sie wieder anzusetzen.
Das Nachmittagsflugzeug von Burlington landete kurz nach vier auf dem La Guardia-Flughafen, und vom Flugplatz nahm Kent O'Donnell ein Taxi nach Manhattan. Auf dem Weg in die Stadt lehnte er sich zurück. Zum erstenmal seit einigen Tagen fühlte er sich entspannt. Er bemühte sich immer, in den New Yorker Taxis abzuschalten, hauptsächlich, weil jeder Versuch, den Verkehr oder das Vorwärtskommen durch die Straßen zu beobachten, ihn im allgemeinen nervös werden ließ. Er hatte schon vor langem erkannt, daß hier Fatalismus die einzig richtige Einstellung war. Man fand sich mit der Möglichkeit eines Unfalls ab. Wenn er dann nicht eintrat, gratulierte man sich selbst zu seinem großen Glück.
Ein weiterer Grund für seine Entspannung war, daß er in den vergangenen Wochen mit höchster Anstrengung gearbeitet hatte, sowohl im Krankenhaus selbst als auch außerhalb. Seine Privatpraxis war gewachsen, und er hatte ein paar zusätzliche Operationen angesetzt, um für die vier Tage, die vor ihm lagen, vom Three Counties Hospital abwesend sein zu können. Ferner hatte er vor zwei Tagen eine Sondersitzung des Ärztestabes des Krankenhauses geleitet, auf der er mit Hilfe der von Harry Tomaselli ausgearbeiteten Unterlagen den Umfang der vorgeschlagenen Spenden der Ärzte für den Baufonds des Krankenhauses bekanntgegeben hatte. Seinen Erwartungen entsprechend, wurde reichlich dagegen gemurrt, aber er zweifelte nicht, daß die Verpflichtungserklärungen und anschließend auch das Geld eingehen würden.
Obwohl O'Donnell bewußt den lebhaften Straßenverkehr New Yorks nicht beachtete, sah er die vertraute, gezackte Silhouette Manhattans näher kommen. Sie überquerten die Queensborough Bridge. Die Strahlen der warmen Nachmittagssonne stießen wie Lanzen zwischen den schmutziggrünen Stahlträgern hindurch, und tief unten konnte er Welfare Island mit seinen finster und nüchtern zusammengedrängten städtischen Kliniken mitten im grauen East River liegen sehen. Er überlegte, daß ihm New York jedesmal, wenn er es wieder sah, häßlicher erschien und seine Unordnung und sein Schmutz auffälliger zutage traten. Und dennoch wurde das alles selbst dem Nicht-New Yorker nach einiger Zeit geläufig und vertraut. Es schien den Reisenden wie ein altvertrauter Freund dem für den Empfang des Gastes ein alter, abgetragener Anzug gut genug ist, ihn willkommen zu heißen. Er lächelte, hielt sich selbst sein unmedizinisches Denken vor - die Art Denken, die die Überwachung der Luftverschmutzung und die Beseitigung von Slums behinderte. Den Gegnern des Fortschritts ist Sentimentalität eine Hilfe und ein Trost, dachte er.
Das Taxi ließ die Brücke hinter sich und fuhr durch die 60th Street zur Madison Avenue, mühte sich dann einen Block weiter, bog nach Westen in die 59th Street ein. An der Ecke Seventh Avenue und Central-Park bog es wieder links in den dichten Verkehr ein und hielt vier Blocks weiter vor dem Park Sheraton Hotel.
O'Donnell trug sich in dem Hotel ein, anschließend duschte er und zog sich um. Aus seinem Koffer nahm er das Tagungsprogramm des chirurgischen Kongresses, den äußeren Anlaß für seine Reise nach New York. Drei der Vorträge wollte er sich anhören, zwei über Herzchirurgie und einen dritten über die Ersetzung erkrankter Arterien durch Verpflanzung. Aber der erste Vortrag war erst für elf am nächsten Vormittag angesetzt. Das ließ ihm morgen reichlich Zeit. Er sah auf seine Uhr. Es war kurz vor sieben, noch über eine Stunde, bis er mit Denise verabredet war. Er fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter, schlenderte durch das Foyer zur Pyramid Lounge.
Es war die Cocktailstunde, und die Bar begann sich mit Gästen zu füllen, die später essen und ins Theater wollten, die meisten, vermutete er, wie er fremd in der Stadt. Ein Kellner führte ihn zu einem Tisch, und während er durch den Raum ging, bemerkte er eine anziehende Frau, die allein an einem Tisch saß und ihn interessiert betrachtete. Das war ihm nicht ungewohnt, und in der Vergangenheit hatten ähnliche Begegnungen gelegentlich zu willkommenen Erlebnissen geführt. Aber heute dachte er: bedaure, ich habe andere Pläne.
Der Kellner nahm seine Bestellung für einen Whisky Soda entgegen, und nachdem er den Drink erhalten hatte, trank er ihn langsam und ließ gelassen seine Gedanken wandern.
Solche Minuten, dachte er, gibt es in Burlington zu selten. Darum war es ganz gut, ein paar Tage herauszukommen. Es schärfte den Sinn für die Perspektive, ließ einen erkennen, daß manche Dinge der eigenen Umgebung aus einiger Distanz betrachtet sich als bedeutend weniger wichtig erwiesen, als man sie sonst einschätzte. Erst kürzlich war ihm die Vermutung gekommen, daß die Nähe zu dem Krankenhaus sein Denken in manchem aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er blickte sich um.
Seit er in die Bar gekommen war, hatte sie sich gefüllt. Kellner eilten umher, um die Getränke zu servieren, die drei Mixer in Gläser füllten. Eine oder zwei Gruppen der ersten Gäste gingen gerade. Wie viele dieser Leute, fragte er sich - der Mann und die Frau am Nebentisch etwa, der Kellner bei der Tür, die Vierergruppe, die gerade ging - hatten je etwas vom Three Counties Hospital gehört? Und falls doch, interessierte es sie wirklich, was dort vorging? Trotzdem schien ihm selbst das Krankenhaus mit seinen Problemen in letzter Zeit fast zum Lebensinhalt geworden zu sein. War das ein gutes Zeichen? War es für seinen Beruf gut? O'Donnell hatte immer Menschen mißtraut, die sich restlos hingaben. Sie neigten zur Besessenheit, ihre Urteilskraft wurde durch die Begeisterung für ihre Sache beeinträchtigt. Stand er in Gefahr, selbst so zu werden?
Beispielsweise das Problem Joe Pearson. War O'Donnell durch seine Nähe zu den Vorgängen hier fehlgeleitet worden? Für das Krankenhaus war es notwendig, daß ein zweiter Pathologe eingestellt wurde. Davon war er überzeugt. Aber hatte er sich dazu verleiten lassen, den alten Mann ungerecht zu kritisieren und die Mängel bei der Leitung seiner Abteilung -und in jeder Abteilung eines Krankenhauses bestanden Mängel -ungerechtfertigt scharf zu beurteilen? Zeitweise hatte O'Donnell schon erwogen, Pearson zum Rücktritt aufzufordern. War das etwa ein Symptom für ein unausgeglichenes Urteil, die voreilige Verdammung eines älteren Mannes durch einen viel jüngeren?
Selbstverständlich war das, bevor Eustace Swayne ihm klargemacht hatte, daß seine Viertelmillion-Dollar-Spende davon abhing, ob Pearson die Leitung der Pathologie beibehielt oder nicht. Über dies hatte Swayne seinen Beitrag noch nicht bestätigt. Aber O'Donnell glaubte, in seinem Urteil von Überlegungen dieser Art, so wichtig sie dem Anschein nach auch waren, unabhängig zu sein. Höchstwahrscheinlich konnte Joe Pearson dem Three Counties Hospital noch vieles geben. Seine reiche Erfahrung besaß zweifellos ihren Wert.
Es stimmt schon, entschied er, man dachte klarer, wenn man fort war - selbst wenn man sich in eine Cocktailbar setzen mußte, um in Ruhe zu überlegen.
Ein Kellner war an seinem Tisch stehengeblieben: »Noch einmal das gleiche, Sir?«
O'Donnell schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Der Kellner legte ihm seine Rechnung vor. O' Donnell fügte ein Trinkgeld hinzu und zeichnete sie ab.
Es war sieben Uhr dreißig, als er das Hotel verließ. Er hatte immer noch reichlich Zeit und ging über die 55th Street quer durch die Stadt bis zur Fifth Avenue. Dann winkte er einem Taxi und fuhr weiter hinaus zu der Adresse, die Denise ihm angegeben hatte.
Der Fahrer hielt nahe der 86th Street vor einem Apartmenthaus aus grauem Stein. O'Donnell bezahlte und trat ein.
Er wurde von einem uniformierten Portier respektvoll in der Halle begrüßt, der ihn nach seinem Namen fragte, dann in eine Liste sah und sagte: »Mrs. Quantz hat hinterlassen, Sie möchten bitte hinaufkommen, Sir.« Er deutete auf einen Fahrstuhl, neben dem ein Liftboy in der gleichen Uniform wie er stand. »Es ist das oberste Stockwerk, das zwanzigste, Sir. Ich werde Mrs. Quantz benachrichtigen, daß Sie kommen.«
Im zwanzigsten Stockwerk glitten die Fahrstuhltüren leise vor einem breiten, mit Teppichen ausgelegten Gang auf. Den größten Teil der einen Wand bedeckte ein Gobelin mit einer Jagdszene. Gegenüber befanden sich geschnitzte, eichene Doppeltüren. Eine von ihnen öffnete sich und ein Diener erschien. Er sagte: »Guten Abend, Sir. Mrs. Quantz läßt Sie in die Diele bitten. Sie wird sofort kommen.«
Er folgte dem Mann durch einen Gang und in einen Wohnraum, der fast so groß wie sein gesamtes Apartment in Burlington war. Er war in beigen, braunen und korallenfarbenen Tönen dekoriert. Eine Reihe Sessel ohne Armstützen war zu einem Sofa zusammengeschoben, das an beiden Seiten durch Walnußtische begrenzt wurde. Das reiche Dunkelbraun des Holzes hob sich wirkungsvoll von dem blassen Beige des schweren Teppichs ab. An den Wohnraum schloß sich eine gepflasterte Terrasse an, hinter der er die letzten Strahlen der Abendsonne wahrnahm.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Sir?« fragte der Diener.
»Nein, danke«, antwortete er, »ich werde auf Mrs. Quantz warten.«
»Das brauchst du nicht«, sagte eine Stimme. Und da war Denise. Mit ausgestreckten Händen kam sie auf ihn zu. »Kent, mein Lieber, ich freue mich so, dich zu sehen.«
Einen Augenblick betrachtete er sie, dann sagte er langsam: »Ich mich auch.« Und wahrheitsgemäß fügte er hinzu: »Bis zu diesem Augenblick habe ich nicht gewußt, wie sehr.«
Denise lächelte und beugte sich vor, um ihn leicht auf die Wange zu küssen. O'Donnell verspürte den plötzlichen Impuls, sie in seine Arme zu nehmen, unterdrückte ihn aber.
Sie war noch schöner, als er sich erinnerte, von einem lächelnden Strahlen, das ihm den Atem benahm. Sie trug ein kurzes Abendkleid mit weit schwingendem Rock aus jetschwarzer Spitze über einem schulterfreien Unterkleid aus schwarzer Seide. Der Hauch der Spitzen über ihren Schultern hob den sanften Schimmer ihrer weißen Haut darunter hervor. An ihrem Gürtel steckte eine einzelne rote Rose.
Sie ließ seine Hand los, und sie traten auf die Terrasse. Der Diener war ihnen mit einem silbernen Tablett mit Gläsern und einem Cocktailshaker vorausgegangen. Jetzt zog er sich unauffällig zurück.
»Die Martinis sind schon gemixt.« Denise sah O'Donnell fragend an. »Aber wenn du willst, kannst du etwas anderes trinken.«
»Martini ist ausgezeichnet.«
Denise füllte zwei Gläser und reichte ihm das eine. Sie lächelte mit einem warmen Leuchten in den Augen. Leise sagte sie: »Als mein persönliches Empfangskomitee heiße ich dich in New York willkommen.«
Er schlürfte an dem Martini, er war kühl und trocken. Unbeschwert antwortete er: »Ich danke dem Komitee für den Empfang.«
Für einen kurzen Augenblick hielt ihr Blick den seinen fest. Dann nahm sie ihn am Arm, führte ihn über die Terrasse auf die niedrige Säulenbalustrade zu, die sie abschloß.
»Wie geht es deinem Vater, Denise?« fragte O'Donnell.
»Danke, es geht ihm gut. Wie alle echten Konservativen hat er sich natürlich eingegraben, aber gesundheitlich geht es ihm gut. Manchmal glaube ich, er wird uns alle überleben.« Sie fügte hinzu: »Ich liebe ihn sehr.«
Sie waren stehengeblieben und blickten hinunter. Die Dämmerung hatte eingesetzt, die warme, milde Spätsommerdämmerung, und die Lichter New Yorks leuchteten auf. Von der Straße unten drang das stetige und durchdringende Pulsieren des Abendverkehrs herauf, von dem plötzlichen Aufbrausen der Dieselbusse und dem Stakkato ungeduldiger Hupen synkopisiert. Gegenüber lag der Central-Park, dessen Umrisse im Schatten verschwanden. Nur die in das Dunkel hineingestreuten Straßenlampen ließen den Verlauf der hindurchführenden Straßen erkennen. Jenseits lösten sich die Straßen der West-Side im Dunkel zum Hudson River auf, und auf dem Fluß schlugen die Lichtpünktchen der Schiffslampen eine Brücke zwischen der Schwärze und den fernen Lichtern des Ufers von New Jersey. Oberhalb der Stadt konnte O'Donnell die George-Washington-Brücke erkennen, ihre hochgespannten Bogenlampen eine Kette heller, weißer Perlen, und darunter die Scheinwerfer der Wagen, die in mehreren Reihen nebeneinander über die Brücke aus der Stadt hinausströmten, Menschen, die nach Hause fahren, dachte O'Donnell.
Eine sanfte, warme Brise umstrich sie, und er spürte Denises Nähe. Leise sagte sie: »Das ist doch schön, nicht war? Selbst wenn man weiß, daß unter diesen Lichtern schlechte und abscheuliche Dinge geschehen. Es ist trotzdem schön. Ich liebe das alles, besonders um diese Tageszeit.«
»Hast du je daran gedacht, zurückzugehen - nach Burlington, meine ich?« fragte er.
»Um dort zu leben?«
»Ja.«
»Man kann nie zurück«, antwortete Denise ruhig. »Das ist eines der wenigen Dinge, die ich gelernt habe. Oh, ich meine damit nicht nur Burlington, sondern alles andere auch - die Zeit, Menschen, Orte. Man kann sie wieder besuchen oder Bekanntschaften erneuern, aber es ist niemals wirklich das gleiche. Man hat sich gelöst, ist darüber hinausgewachsen. Man gehört nicht mehr dazu, weil man weitergegangen ist.« Sie schwieg. »Ich gehöre jetzt hierher. Ich glaube nicht, daß ich New York je verlassen könnte. Klingt das furchtbar unrealistisch?«
»Nein«, antwortete er, »es klingt schrecklich weise.«
Er spürte ihre Hand auf seinem Arm. »Laß uns noch einen Cocktail trinken«, sagte sie, »dann kannst du mich zum Essen mitnehmen.«